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Das Kreuz auf der Stirn

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 158

 

Das Kreuz auf der Stirn

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

 

Leider ist es uns nicht möglich, die in Heft 157 angekündigte Erzählung: „Die Insel der Verstorbenen“[1] zu bringen. Wir veröffentlichen anstatt dessen in diesem Heft aus den Erlebnissen des Detektivs Harald Harst die Erzählung: „Das Kreuz auf der Stirn“.[2]

Der Verlag.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

In den folgenden Seiten veröffentliche ich ein Manuskript, das mir durch einen Zufall in die Hände geriet. Ich kaufte bei einem Fliegenden Buchhändler Ecke Potsdamer Straße und Lützowstraße einen uralten, Schmöker, an dem mich eigentlich nur der Einband reizte. Daheim entdeckte ich, daß hinten in dem Buche Blätter modernen Papiers eingeheftet waren, die mit einer überaus zierlichen Schrift bedeckt waren. Ich las, – und was ich las, fesselte mich derart, daß ich es hier mit geringfügigen Abänderungen wörtlich wiedergebe. – Meine Bemerkungen zu den tagebuchähnlichen Aufzeichnungen eines Mörders von seltenem Raffinement will ich dem Leser durch Einrücken besonders kenntlich machen.

* * *

Das Tagebuch lautet:

In einer deutschen Stadt, Juli 1924.

Mein Name soll geheim bleiben, muß es bleiben. Und ich hoffe, daß dieser mein erster schriftstellerischer Versuch mir keine Ungelegenheiten bereiten wird. Ich lege keinen Wert darauf, wegen Mordes angeklagt zu werden. Das wären nämlich die Ungelegenheiten.

Ich bin von Beruf Maler. Einer jener Maler, die Dutzendware liefern. Ich werde es auch nie weiterbringen, denn mir fehlt zum wahrhaft großen Künstler das Genie. Ich bin nur Handwerker. –

Im April dieses Jahres bezog ich ein neues Heim draußen in der Vorstadt in einem älteren, einstöckigen Hause, das nur vier Mietsparteien beherbergte. Der Wirt, ein alter Herr namens Winter (er hieß anders) überließ mir die beiden Mansardenzimmer für einen lächerlich geringen Preis, nachdem ich ihm mein Leid geklagt hatte: dauernde Geldknappheit!

Am 3. April zog ich mit meinem elenden Hausrat ein. Und dieser 3. April sollte entscheidend für mein ganzes ferneres Leben werden.

Denn: ich lernte Hilde kennen, Hilde Winter, Tochter des verwitweten Hausbesitzers, einen blonden Engel, der sehr bald mein ganzes Seelenleben in andere Bahnen lenkte.

Hilde öffnete mir die Haustür, als ich mit meinen Sachen anrückte. Der Handwagen, den ein Dienstmann schob, war draußen auf der Straße stehen geblieben, und der Dienstmann trocknete sich den Schweiß von der Stirn, während ich mich Hilde vorstellte …

„Ich weiß Bescheid, Herr Hubert,“ nickte sie. (Ich heiße natürlich nicht Hubert.) „Papa hat mir gesagt, daß wir Sie heute erwarten könnten. Bitte, hier sind die Schlüssel zu den beiden Stübchen.“

Ich war entzückt über diese Hausgenossin. Noch nie sah ich soviel Liebreiz in einem Mädchenantlitz vereinigt.

Ich winkte dem Dienstmann, und Hilde zog sich mit einem freundlichen „Möge es Ihnen hier gut gehen bei uns, Herr Hubert“ in die Behausung ihres Vaters zurück.

Als ich nun die Treppen emporstieg, als ich oben im Flur an den beiden Türen zu den hier gelegenen Wohnungen vorüberkam, öffnete sich die linke dieser Türen und eine alte Frau reichte mir einen Zettel, indem sie dabei wie warnend den Zeigefinger auf die Lippen legte. Dann zog sie die Flurtür lautlos wieder zu.

Ich war im ersten Moment vollkommen verwirrt über diesen Zwischenfall.

Noch verwirrter wurde ich, als ich oben in der Mansarde flüchtig den Zettel las …

„Halten Sie hier die Augen gut offen! Hier ist nicht alles so, wie es sein soll. Hilde Winter ist niemals des Alten Tochter. Wenn Sie Näheres erfahren wollen, kommen Sie heute nacht zwölf Uhr in den Pavillon auf den Brauberg. – Verbrennen Sie den Zettel. – Eine, die es gut mit Ihnen meint.“

Ich habe den Zettel verbrannt.

Und ich habe zwei Stunden nach meinem Einzug in das Wintersche Haus dann folgendes erlebt.

Ich läutete unten im Erdgeschoß rechts bei Winters an. Hilde ließ mich ein …

„Fräulein Winter, ich möchte Sie bitten, mir vielleicht eine Aufwartefrau zu empfehlen …“ – So eröffnete ich das Gefecht.

Und Hilde berichtete mir harmlos so allerlei über die Mitbewohner …

So hörte ich denn, daß oben linker Hand ein Rentner namens Garbrich wohne …

Also dort, wo das alte Weib mir den Zettel gegeben …

„Herr Garbrich hat wohl eine Schwester?“ fragte ich beiläufig.

„Nein …! – Wie kommen Sie denn darauf, Herr Hubert?! Eine Schwester?! Keine Rede!“ Hilde lachte … „Der alte Herr ist Weiberfeind … Noch nicht ein einiges Mal bin ich bei ihm gewesen, obwohl mein Vater mir die Hausangelegenheiten ganz allein überläßt …“

„So – – Weiberfeind?! Mir war’s vorhin, als erblickte ich eine ältere Frau in der halb geöffneten Tür …“

„Ausgeschlossen!! Sie müssen sich getäuscht haben …“

Gleich darauf verabschiedete ich mich und stieg wieder die Treppen empor …

Sah mir oben die Flurtür linker Hand an … War ein Porzellanschild daran:

M. Garbrich.

Ich mußte der Sache auf den Grund gehen, läutete …

Ein mumienhaftes altes Männchen öffnete …

„Verzeihen Sie,“ sagte ich, „ich wollte mich nur als neuer Mitbewohner vorstellen: Fritz Hubert, Kunstmaler …“

„Ich verkehre mit niemandem!“ – und der Alte schlug mir die Tür vor der Nase zu … –

Oben in meinem sogenannten Atelier sank ich in den Schaukelstuhl, zündete mir eine Zigarette an und dachte angestrengt nach …

Mein neues Heim gab mir Rätsel auf …

Wer in aller Welt war das Weib gewesen, das mir den niederträchtigen Zettel zugesteckt hatte?!

Ich beschloß, nachts in dem Pavillon des Brauberges mich pünktlich einzufinden – schon in Hilde Winters Interesse. –

Vormittags elf Uhr war ich eingezogen. Nachmittags drei Uhr verließ ich mein neues Heim, um in einer Kneipe Mittag zu essen.

Und als ich den oberen Flur erreicht habe, öffnet sich blitzschnell die rechte Flurtür, an der ein Messingschild mit der Aufschrift „Fiedler, Privatgelehrter“ hängt, und ein hagerer älterer Mann von typisch gelehrtenmäßigem Äußeren drückt mir ebenso blitzschnell ein Brieflein in die Finger und verschwindet wieder …

Ich lächele voller Galgenhumor …

Steige die Treppe tiefer hinab. Meinetwegen mag mir jetzt noch jemand auf diese geheimnisvolle Art eine Botschaft zukommen lassen – meinetwegen …!!

Aber – ich lächle nicht mehr, als ich dann in der Kneipe sitze, am Fenster, und den Brief geöffnet habe … Nein, da vergeht mir das Lachen …

Draußen auf dem Markplatz auf dem Rande des altertümlichen Brunnens tummeln sich die Spatzen im Aprilsonnenschein …

Kein Aprilwetter ist’s … Nein, wie Maienahnen liegt’s in der Luft … Der Frühling ist da … Die Menschen schreiten mit blanken Augen dahin … Die Kinder jubeln, rollen ihre Holzreifen, rollen auf schnarrenden Räderschuhen über den Asphalt …

Und ich lese – lese immer wieder, während die Suppe erkaltet, die mir der Kellner hingestellt hat:

„Ich mische mich nicht in fremde Angelegenheiten. Wenn ich es heute tue, so geschieht es nur, weil ich als Mensch mich verpflichtet fühle, Sie zu warnen. Hüten Sie sich vor Winter und seiner Tochter! und – schweigen Sie! Wenn Sie Näheres erfahren wollen, dann finden Sie sich bitte heute nacht um ein Uhr morgens im Garten hinter dem Hause ein, – dort, wo die alte verfallene Holzlaube steht.“

Ich lese – und bedauere, daß ich den Zettel, den mir die unbekannte Frau zugesteckt hatte, vernichtet habe, denn – der Wortlaut dieser beiden „Warnungen“ ist zum Teil derselbe …

Freilich – die Schrift vollständig verschieden, vollständig! Die der Frau grob und ungewandt, die des Privatgelehrten dagegen überaus fein, wie gestochen, und deshalb etwas charakterlos.

Ich beginne meine Suppe zu löffeln – ganz mechanisch … So recht wie ein Mensch, der mit den Gedanken andere Wege geht.

Ich habe bisher in meinem Leben nichts Seltsames erfahren. Mein Dasein war das eines Menschen, der mit in der großen Herde der Arbeitstiere läuft …

Und jetzt ist mit einem Schlage das Außergewöhnliche auf mich eingedrungen wie ein unliebsames, fremdes, drohendes Wesen.

Was bedeutet dies alles?!

Ich, Fritz Hubert, Maler ohne Namen, Handwerker, Fabrikant von Kopien, mit denen sich Herr Neureich und Herr Raffke die Salonwände behängen, - ich bin plötzlich in eine mir bis dahin verschlossene romantische Welt versetzt worden …

Diese Welt ist das Wintersche Haus, Promenadenweg Nr. 2 …

Und – ich weiß mit dieser Romantik (oder dieser Sensation, vielleicht ist das richtiger!) vorläufig nichts anzufangen …

Ich bin doch kein Detektiv …! Im Gegenteil! Ich bin ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsmensch, der nur etwas vielleicht vor anderen voraus hat: eine schlanke, biegsame Gestalt und ein Gesicht, das zuweilen von Frauen beachtet wird …! –

Ich bin mit der Suppe fertig …

Ich verzehre das Fleischgericht und grübele … grübele …

Nein: schlechte Scherze können diese beiden Warnungen nicht sein!

Dahinter steckt irgend etwas!

Und – ich werde dieses Etwas kurzerhand ans Licht zerren …

Nehme mir vor, jetzt gleich nach der Mahlzeit den Herrn Privatgelehrten Fiedler zu überfallen …

Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn der Mann mir nicht auch am Tage Rede und Antwort stehen sollte! Weshalb bestellt er mich um ein Uhr nachts in den Garten?!

Und – weshalb warnte er mich vor Winters, die ich doch kaum kenne – – kaum! Denn Hilde, – – na ja, – wenn sie mir auch gefallen hat – – gewiß, sogar sehr gefallen, – – aber wo ich erst heute in das verd… Haus eingezogen bin …!

* * *

Als ich, der ich Fritz Huberts Tagebuch hier veröffentliche, so weit gelesen hatte, ließ ich das Buch unwillkürlich in den Schoß sinken und suchte nun darüber klar zu werden, wie man am leichtesten eine Erklärung für diese beiden geheimnisvollen Warnungen finden könnte.

Hubert war doch offenbar rein zufällig zu Winters als Wohnungsuchender gekommen. Er war Winters genau so wie den anderen Bewohnern des Hauses ein Fremder. Er hatte durchaus recht, wenn er in seinem Tagebuch betonte, daß doch in dem Hause niemand an ihm ein besonderes Interesse nehmen könnte.

Nur eins hätte er noch stärker betonen sollen, was mir sehr wichtig erschien und erscheint: daß der Rentner Garbrich keine Frauensperson in seiner Wohnung duldet und daß trotzdem eine Frau dem Hubert den Zettel zusteckte!

Ich kann wohl sagen, daß ich außerordentlich gespannt auf die weitere Entwicklung der Dinge bin – außerordentlich gespannt!

* * *

Mein Atelier ist eines der Mansardenstübchen …

Die Sonne scheint durch die unverhältnismäßig großen Fenster herein … Mein Schaukelstuhl schaukelt … Ich sitze darin … Und meine Gedanken schaukeln gleichfalls …

Mit Recht! – Wer hätte das voraussehen konnen – – das?

Also – ich bin bei Fiedler gewesen … Ich habe an seiner Tür geläutet … Ich habe hinter der Tür schlurfende Schritte vernommen …

Und als diese Tür dann aufging, da stand nicht etwa derselbe Herr vor mir, der mir vor anderthalb Stunden den Brief gegeben hatte …

Nein – ein Mensch war’s, den ich in meinem ganzen Leben noch nicht erblickt habe …

Ich fragte:

„Herr Fiedler?“

„Zu dienen … – Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ich bin Ihr neuer Hausgenosse Fritz Hubert, Kunstmaler … Ich wollte mir erlauben, Ihnen meine Aufwartung zu machen …“

„Bitte – treten Sie näher, Herr Hubert …“

Und dann saß ich einem älteren Herrn gegenüber, der mir mit einer wahrhaft wohltuenden zwanglosen Liebenswürdigkeit eine Zigarre anbot und … mit mir über Kunst plauderte …

Ich hörte kaum hin …

Ich dachte nur immer: „Wenn dies also nun Herr Fiedler ist, wer in aller Welt hat Dir dann den Brief übergeben?!“

Ja – – wer?!

Und plötzlich sagte Fiedler:

„Herr Hubert, Sie sind sehr zerstreut …“

Da gab ich mir einen Ruck …

„Herr Fiedler, mir ist heute hier etwas ganz Merkwürdiges passiert …“

„So?!“ Und sein gutes, altes Gesicht wurde ernster … Hinter der altmodischen goldenen Brille kniff er die Augen ein wenig zusammen …

„So?! Hier – etwas Merkwürdiges …?! Hier in diesem stillen, friedlichen Hause? Da bin ich wirklich gespannt, – – neugierig, obwohl man das in meinen Jahren nicht mehr sein sollte …“

„Herr Fiedler, hatten Sie heute nachmittag Besuch?“

„Ich – – Besuch?! Nein, nein … Ich lebe ganz für mich – ganz … – Wie … wie kommen Sie auf diese Frage, Herr Hubert?“

„Weil mir heute nachmittag hier aus Ihrem Flur ein älterer Herr heimlich diesen Brief zusteckte … Bitte – lesen Sie nur …“

Er starrt mich an …

Wiederholt kopfschüttelnd:

„Wie – aus meiner Tür – – ein älterer Herr?!“

Und lächelt …

„Sie scherzen wohl, Herr Hubert …“

„Nein! Bei Gott nicht, Herr Fiedler. Mir ist nach Scherzen gar nicht zumute … – Lesen Sie nur …“

Er tut’s …

Schüttelt wieder das greise Haupt …

Schaut mich an …

„Herr Hubert, daraus werde ich nicht klug …“

„Ich auch nicht!“

Unsere Augen ruhen ineinander …

In den seinen ist kein Falsch … In den meinen ein Forschen und Bohren …

Da sagt er leise:

„Nein, daraus werde ich nicht klug …“

Und steht auf und geht an seinen Schreibtisch …

Reicht mir ein paar beschriebene Blätter …

„Das ist meine Handschrift, Herr Hubert … Sie sehen, ich arbeite gerade an einer wissenschaftlichen Abhandlung über die große französische Revolution … Und Sie sehen auch, daß meine Handschrift mit der des Unbekannten keinerlei Ähnlichkeit hat …“

„Allerdings nicht …“

„Mithin … – er macht eine Gedankenpause – „mithin, Herr Hubert: Sie müssen sich irren! Diesen Brief haben Sie wahrscheinlich anderswo erhalten und bilden sich nur ein, ihn hier …“

„Pardon, – ich weiß, was ich weiß …! Ich bin nicht betrunken, bin im Besitz meiner gesunden fünf Sinne … – Ich betone, Herr Fiedler: der Fremde reichte mir den Brief aus Ihrer Tür! Mein Wort darauf! – und damit Sie merken, daß in diesem Hause noch mehr Dinge passieren, die die Bezeichnung „unerklärlich“ verdienen, hören Sie folgendes …“

Und ich erzählte ihm die Geschichte von dem Zettel und der alten hageren Frau, deren Existenz Herr Garbrich drüben geleugnet hatte …

Jetzt saß Fiedler schier als Salzsäule da …

„Mein Gott, was bedeutet das, – was bedeutet das …?!“

Und er blickte mich so hilflos an, daß er mir geradezu leid tat … –

Was soll ich meinen Besuch bei ihm hier noch weiter schildern?!

Wir haben eine Stunde lang all die dunklen Fragen, die mit diesen beiden rätselhaften Botschaften zusammenhängen, gründlich durchgesprochen, ohne zu einem Resultat zu kommen …

Und nun – sitze ich hier mutterseelenallein in meinem neuen Atelier …

Sitze im Schaukelstuhl …

Schaukle …

Meine Gedanken schaukeln mit …

Ich bin wie seekrank … Ich bin im Hirn seekrank …

Was bedeutet das alles?!

Und – soll ich nun nachts wirklich die beiden Stelldichein einhalten?!

Soll ich …?!

Und – ich springe empor …

Teufel noch mal, – bin ich nicht ein junger Kerl von achtundzwanzig Jahren, habe ich nicht Muskeln und Fäuste, habe ich nicht sogar eine wunderbare kleine Mauserpistole?!

Ich werde gehen …

Ich werde!

Und – wenn die beiden fragwürdigen Herrschaften sich wirklich an Ort und Stelle einfinden sollten, dann … mögen sie sich hüten! Fritz Hubert hat Zähne – – kann beißen! Fritz Hubert läßt sich nicht zum Narren halten!

* * *

Ich, der Huberts Aufzeichnungen hier wiedergibt, möchte mir an dieser Stelle eine Bemerkung erlauben …

Ich glaube nämlich eine Erklärung für einen Teil der Rätsel gefunden zu haben …

Vielleicht hat sich auch bereits einer der Leser dasselbe gesagt – dasselbe: der Privatgelehrte Fiedler steckt mit dem Rentner Garbrich unter einer Decke! Vielleicht ist ihnen Hubert als Mitbewohner aus irgend welchen Gründen unbequem, und sie wollen ihm das Haus verleiden.

Sehen wir, ob ich recht habe.

Ich lese weiter:

* * *

Nachts drei Uhr …

Ich sitze hier in meinem Atelier an dem wackeligen Tisch …

Vor mir eine halb geleerte Kognakfasche …

Ich habe sie so weit ausgetrunken … und bin nicht die Spur betrunken …

Nein – nach solchen Aufregungen verträgt man unheimliche Mengen Alkohol …

Aufregungen …!

Nein – das ist ja gar keine Bezeichnung für das grauenvolle, das hinter mir liegt …

Grauenvoll!!

Vielleicht ist selbst das noch nicht genug!

Man denke: ich habe … mit zwei Toten ein Rendezvous gehabt – mit … zwei Menschen, die vielleicht ermordet worden sind … –

Bevor ich weiterschreibe, fülle ich das Kognakglas von neuem, da mir die Hand noch immer zittert – – wie im Krampf … –

So – jetzt also die Schilderung des ersten Stelldicheins …

Der bewaldete Brauberg bildet mit seiner Umgebung eine Art Stadtpark. Ich kenne ihn sehr genau, da ich dort häufig nach der Natur gemalt habe …

Die Nacht war mondhell. Ich langte kurz vor zwölf in der Nähe des Pavillons an und hatte in der Linken meine eingeschaltete Taschenlampe, die Rechte aber in der Manteltasche an der Mauserpistole …

Der Pavillon ist nach Norden zu offen, und bei klarem Wetter sieht man in der Ferne die See, das Meer …

Ich nähere mich etwas vorsichtig … Trete ein … Stutze … Pralle zurück …

Vor mir liegt die alte hagere Frau, die mir den Zettel gab …

Auf dem Rücken liegt sie …

Mit verzerrtem Gesicht, verdrehten Augen …

Tot …

Tot – denn ich habe wirklich den Mut gefunden, mich über sie zu beugen … und da habe ich an ihrem Halse die entsetzliche Wunde und auf dem Boden die Unmenge Blut gesehen … Da bin ich davongerannt wie ein Wahnsinniger …

Wahnsinniger …

Ein Wunder das?!

Und bin erst ruhiger geworden, als ich die erste erleuchtete Straße erreichte …

Bin zum Bahnhof gegangen, der in der Nähe liegt, und habe dort drei Schnäpse getrunken …

Ich bin hierdurch wieder Mensch geworden … –

Und habe lange, lange gezögert, ob ich nun wirklich auch noch in den Garten hinter unserem alten Hause mich hineinwagen solle – zum zweiten Stelldichein …

Ich habe es gewagt …

Der Garten stößt hinten an Äcker und Felder. Das Haus liegt ja in der Vorstadt. Man atmet hier frische, freie Luft. Deshalb bin ich ja auch aus der Stadt in diese friedliche Oase geflüchtet, die mir jetzt leider nicht das beschert hat, was ich erhoffte.

Doch – zum zweiten Stelldichein …!

Zum zweiten … Toten … –

Weshalb soll ich hier im einzelnen schildern, was ich im Garten an Empfindungen durchlebte, als ich über den niederen, morschen Staketenzaun geklettert war und vor der Laube stand …!

Es möge dies genügen: dicht vor der Laube, wo Fliederbüsche eine Art Vorplatz umrahmen, lag der mumienhafte Alte, der mir aus Fiedlers Wohnung den Brief reichte …

Ich war auf Ähnliches vorbereitet. Und doch packte mich abermals dasselbe Entsetzen … Ich wollte fliehen … Meine Beine waren wie gelähmt. Ich wollte diesmal den Lichtstrahl der Taschenlampe nicht auf die Gestalt am Boden richten, um nicht wiederum eine so furchtbare Wunde zu entdecken wie am Halse der Frau vor dem Pavillon …

Und doch: ich tat’s! Ein unerklärlicher Zwang, der stärker war als mein Wille, ließ mich die Lampe einschalten …

Ich sah – – Blut … ein fahles Antlitz mit gebrochenen Augen …

Und – rannte davon …

Traf in der nächsten Straße einen Polizeibeamten …

Der hielt mich an …

Mit Recht, – denn ich machte ja ohne Zweifel den Eindruck eines Menschen, der ein schlechtes Gewissen hat …

Der Beamte faßte meinen Arm … Fragte, forschte …

Ich glotzte ihn wie blöde an …

Und schließlich nahm er mich mit zur Wache …

Ich hatte Papiere bei mir, konnte mich ausweisen. Ich folgte der Eingebung des Augenblicks, als ich angab, ich litte an Schlaflosigkeit und sei daher noch spazieren gegangen. In den Feldern hätten mich zwei Leute überfallen … Ich sei vor ihnen geflüchtet.

Die Beamten glaubten mir schließlich, zumal ich mich auf die persönliche Bekanntschaft mit einem höheren Polizeibeamten berufen konnte, den ich im Künstlerverein kennen gelernt hatte.

Ich ging heim.

Nun sitze ich hier in meinem Atelier und schreibe …

Und lasse die Feder wieder ruhen und denke nach …

Wenn heute der Tote vor der Laube gefunden wird, dann wird der Polizist sich daran erinnern, daß ich aus jener Richtung herbeigestürmt kam. Dann wird man mich verhaften, und dann werde ich doch die Wahrheit sagen müssen.

Weshalb eigentlich habe ich die Beamten belogen?! Ich weiß es nicht … Als ich log, war’s in mir wieder wie ein Zwang … ein Zwang, all diese Dinge noch geheim zu halten.

Zum Glück habe ich ja den Brief noch als Beweisstück, den mir der vertrocknete alte Mann reichte … Und – Fiedler kennt alles, Fiedler wird mich schützen. Man kann mir kaum etwas anhaben, so hoffe ich.

Nun will ich schlafen gehen …

Vielleicht kann ich schlafen – vielleicht … – –

* * *

Es wird wohl der überreichlich genossene Kognak gewesen sein, der mir die Wohltat des Schlummers vermittelte. Ich habe bis zehn Uhr ganz fest geschlafen. Meine Nerven haben sich beruhigt. Ich sehe die Geschehnisse sehr kühl und gleichgültig an … Mir kann nichts geschehen, nichts …

Ich habe mir mein Frühstück bereitet und habe dabei wiederholt zum Fenster hinausgeschaut – in den verwilderten Garten hinab …

Dann habe ich festgestellt, daß ich den Vorplatz vor der Laube übersehen kann …

Und – ich sah nichts, gar nichts … Keinen Toten – nichts …

Nur zwei Krähen hockten oben auf der Laube …

Krächzten …

Ob man die Leiche schon gefunden hat?!

Merkwürdig ist’s daß dann im Garten so gar niemand von der Polizei sich zeigt …

Ich begreife das nicht …

Jedenfalls, – der Tote ist nicht mehr da! Das steht fest …

Ob ich nicht nachher zu Herrn Fiedler hinabgehe und mit ihm alles durchspreche? Vielleicht, daß er mir einen Rat geben kann, ob ich die Erlebnisse der verflossenen Nacht nicht noch nachträglich der Polizei melden soll … –

Es hat geklopft …

Hilde Winter bringt mir die Anmeldeformulare …

Sie ist entzückend in ihrer sicheren Zwanglosigkeit … Ihr erscheint es offenbar durchaus nicht „unfein“, allein einen Junggesellen zu besuchen. Sie hat mit mir eine ganze Weile geplaudert, hat meine Bilder sich angesehen und hat mir bewiesen, daß sie auch von Kunst etwas versteht …

Ich aber habe heute mit dem scharfen Auge des Malers festgestellt, daß dieses junge liebliche Geschöpf zweifellos vor aller Welt einen großen Kummer verbirgt …

Sie hat zuweilen einen so verzweifelten Ausdruck in den Augen, daß es mir wehtut … –

Ja – sie spielt Komödie, sie gibt sich anders, als es in ihrem Innern aussieht. Sie hat sich mir gegenüber verraten …

Und das kam so …

Ich lobte diese neue Wohnung, den freien Blick über die Felder und die friedliche Stille …

Da lachte sie mit einem Male …

Oh – es war ein Lachen, das tief ins Herz schnitt, ein Lachen, das mein Lob dieses Heims völlig austilgte …

Ich war über dieses Lachen so Verwirrt, daß ich Hilde nur ängstlich anschaute …

Und da fühlte sie wohl, daß sie sich eine Blöße gegeben hatte … Da sagte sie schnell, um diese ihre schreckliche Heiterkeit zu bemänteln:

„Herr Hubert, verzeihen Sie … Aber das Haus ist doch derart baufällig, daß man es wirklich nicht loben kann …“

Worauf sie sich hastig verabschiedete …

Viel zu hastig, als daß es mir nicht hätte auffallen sollen … –

Ich war wieder allein …

Ich war allein und merkte, das meine Ruhe und meine Gleichgültigkeit diesem Lachen Hildes nicht gewachsen waren …

Ich fühlte jetzt mit aller Deutlichkeit: die beiden warnenden Mitteilungen sind berechtigt gewesen!! Hier ist nicht alles so, wie es sein soll! Hier gehen unsichtbare Gespenster um! Hier wird sich noch mehr ereignen als das, was ich bisher erlebte …!

Was aber – – was?! –

Ich werde zu Fiedler hinabgehen …

Ich muß …

Ich halte es hier allein in meinen vier Wänden nicht mehr aus … – –

Ich habe umsonst bei Fiedler geläutet. Er war nicht daheim.

Und da kam mir der Gedanke, Herrn August Winter zu besuchen, ihn mir einmal mit meinen jetzigen Augen anzusehen – den durch Mißtrauen geschärften Augen. Einen Vorwand für diesen Besuch hatte ich unschwer gefunden, indem ich die ausgefüllten Anmeldungen mit hinunter nahm … –

August Winter ist ein großer, starkknochiger Mensch mit bartlosem, frischem Gesicht …

Schon als ich mietete, hatte er mir erzählt, er sei früher Steuermann bei der Handelsmarine gewesen. Sein Heim ist denn auch mit allerlei Andenken an seine weiten Reisen angefüllt.

Er lud mich freundlich ein Platz zu nehmen …

Wir unterhielten uns über allerlei …

Seltsam: der Mann war so überaus sprunghaft in seiner Art zu sprechen, erschien mir krankhaft nervös, und auch seine Augen verrieten eine merkwürdige Unrast. In ihren Tiefen lag ein Flimmern wie bei einem Fieberkranken.

Bei meinem ersten Besuch vorgestern, als ich mietete, war mir all dies gar nicht aufgefallen.

Ich beobachtete ihn unausgesetzt …

Als er mich fragte, wie ich die erste Nacht unter seinem Dache geschlafen habe, kam es mir vor, als ob um seine Mundwinkel ein blitzschnelles hämisches Lächeln zuckte …

Vielleicht täuschte ich mich …

Und ich erwiderte, ich hätte allerdings sehr schwer geträumt, was bei mir sonst nicht der Fall sei …

Da fragte er:

„Leiden Sie an Kopfschmerzen, Herr Hubert?“

„Nein …!“

„Ich sehr – – sehr!!“ Und er seufzte, nahm vom Tische einen Migränestift und schraubte von der Holzkapsel den Oberteil ab, rieb sich dann mit der weißen Masse die Stirn und die Schläfen ein …

„Ah, das tut wohl, Herr Hubert …! Das hilft für kurze Zeit … Nur für kurze Zeit leider …“

Und er stellte den Migränestift wieder weg …

Fragte:

„Hm – was haben Sie denn geträumt, Herr Hubert? Sehr aufregend, meinten Sie … Jeder Traum enthält ein geringes Teilchen Wahrheit …“

Ich weiß nicht, aus welchem Grunde ich nun ihm mein Erlebnis am Pavillon des Brauberges als Traum erzählte …

Vielleicht, um seine Mienen dabei zu studieren …

Ich erzählte also, ich hätte noch spät abends einen Spaziergang gemacht … Und sei gegen zwölf an den Pavillon gelangt – – alles im Traum … und vor dem Pavillon habe ein totes Weib gelegen … Da sei ich dann vor Entsetzen ausgewacht … –

August Winter sagte zu alledem nur ein paarmal „Ja – ja … Träume – – Träume!!“ Aber was er nicht sagte, stand in den ruhelosen flirrenden Augen zu lesen …

Diese Augen verrieten ihn …

Diese Augen höhnten und spotteten …

Und – mit einem Schlage wurde mir dieser Mensch geradezu unheimlich - unheimlich wie ein geriebener Verbrecher, wie ich sie aus englischen Kriminalromanen kannte, die mit Vorliebe derartige verkappte Übeltäter mit dem biederen Äußeren ehrbarer Bürger als Hauptpersonen bringen …

Ich traute jetzt diesem Winter alles Schlechte zu … –

Eine Weile sprachen wir noch über meinen Traum. Dann aber nahm er an seinem Schreibtisch Platz und unterschrieb die Anmeldungen für die Polizei, wie er dies als Hauswirt tun mußte, bat mich, die Anmeldungen vielleicht selbst auf dem Polizeirevier abzugeben, da er dazu heute keine Zeit habe …

Ich verabschiedete mich. Hilde bekam ich nicht zu Gesicht.

Da ich zum Ausgehen fertig angezogen war, begab ich mich auch sofort zur Polizeiwache. Unterwegs zog ich die Formulare aus der Tasche, um nochmals zu prüfen, ob meine Eintragungen auch stimmten oder ob ich vielleicht irgendeinen Fehler gemacht hätte.

Ein Zufall: ich schaute auf Winters Unterschrift …

Als Maler hat man ein Auge für Handschriften …

Ich stutzte sofort …

Und – ging nicht zur Polizei, sondern in ein Cafee am Markt und verglich bei einer Tasse Fleischbrühe Winters Namenszug mit dem Briefe, den mir der „Tote“ zugesteckt hatte …

Ich verglich und gelangte zu der mich völlig verwirrenden Überzeugung, daß nur August Winter diesen Brief mit tadellos verstellter Handschrift angefertigt haben könnte …

Tadellos verstellt, aber doch nicht so, daß er mich täuschen konnte.

Es war dieselbe Schrift … Es waren da geringfügige Ähnlichkeiten beider Handschriften, die jedem Schreibsachverständigen genügt hätten … Mir auch!

Ich sah nun die Dinge in ganz anderem Lichte an …

Winter hatte fraglos irgend etwas mit mir vor … irgend etwas …! Hatte er mich etwa an die Plätze locken wollen, wo er selbst zwei Menschen ermordet hatte?! Sollte ich etwa als Mörder verhaftet werden sollen?!

Mir schwirrte der Kopf …

Es war mir ganz unmöglich, Klarheit in meine Gedanken zu bringen.

Was sollte ich tun?!

Noch weiter schweigen?! Oder Anzeige erstatten?! – War ich hierzu nicht verpflichtet?!

Ich zauderte, überlegte …

Da sah ich draußen Hilde Winter den Markt überqueren …

Ich zahlte hastig, eilte ihr nach und sprach sie an …

„Fräulein Winter …“

Sie fuhr zusammen, als ob sie tödlich erschrocken sei …

„Ah – – Herr Hubert …“ Sie konnte nur stammeln …

„Mein Gott, habe ich Sie denn so sehr erschreckt, Fräulein Hilde …!“ Ganz unbewußt kam mir ihr Vorname über die Lippen …

„Ich war so in Gedanken …“

Und sie schaute mich an, und in den lieben Augen war ein so bekümmerter Ausdruck, daß ich leise bat:

„Was quält Sie? Vertrauen Sie sich doch mir an … betrachten Sie mich als Ihren guten Freund … Ich bin’s, Fräulein Hilde … Ich kann schweigen …“

Wir bogen in die enge Gasse ein, die hier nach dem Brauberg emporläuft …

Gesenkten Kopfes ging sie neben mir her …

Schwieg …

Aber ich sah die Tränen, die sie verstohlen wegtupfte …

Um uns her war der Frühlingsduft der Gärten und der lachende Sonnenschein …

Und wieder bat ich:

„Sie müssen sich doch einmal das Herz erleichtern, Fräulein Hilde … Sie müssen sich sagen, daß Sie jetzt nicht mehr so allein dastehen wie bisher. Sie erklärten mir ja, daß Sie keinerlei Verkehr hätten, keine Freundin, niemanden …“

„Oh – da habe ich doch so etwas übertrieben, Herr Hubert,“ unterbrach sie mich. „Eine Freundin habe ich doch … Unten im Erdgeschoß wohnt bei uns die pensionierte Lehrerin Fräulein Wendig, Charlotte Wendig … Bei der bin ich sehr häufig … Sie ist ein herzensgutes Geschöpf, Herr Hubert …“

„Nur – Ihre Sorgen und Kümmernisse würde sie wohl nicht verstehen … So alte Damen sind zumeist etwas weltfremd …“

„Das ja … das ja,“ nickte sie traurig …

Derweil hatten wir beinahe den Pavillon erreicht …

Und – ich wurde nervös, aufgeregt …

Ich wollte abbiegen, wollte einen Seitenweg einschlagen, aber Hilde meinte:

„Vom Pavillon aus haben wir heute bestimmt eine gute Fernsicht, Herr Hubert …“

Abermals redete ich dann auf sie ein …

Und redete überhastet – mit der Angst im Herzen, dass dort oben vor dem Pavillon noch die Tote liegen könnte …

Jetzt machte der Weg eine Krümmung … Da war der Pavillon … und – leer … leer …

Da war auch nicht eine Spur von Blut auf dem Boden.

Ich fühlte, wie sich mir die Gedanken verwirrten …

Hilde blieb stehen …

Deutete in die Ferne, wo das Meer glänzte, wo der weiße Leuchtturm auf der Spitze der dunklen Steinmole wie ein Strich sich abzeichnete gegen den leicht dunstigen Horizont.

Ich horchte …

Denn Hilde flüsterte jetzt plötzlich mit halb erstickter Stimme:

„Herr Hubert, seien Sie barmherzig …!“

„Ich – – barmherzig?! Inwiefern?“

Und ich nahm ihre Hand …

Inwiefern? So sprechen Sie doch, Fraulein Hilde …!“

„Sie … Sie … sollen … bitte nichts … zur Anzeige bringen …!!“

Nun war’s heraus …

Endlich!!

Und ihre Tränen tropften wieder …

Ich drückte ihre Hand …

„Fräulein Hilde, Sie müssen ehrlich sein … Wer – – sind die Toten?“

Da schnellte ihr Kopf herum …

Leichenblässe überzog ihr Gesicht … Ihre Augen waren wie erloschen …

„Mein Gott – – mein Gott, – – Tote … Tote?! Wo …?! Ich …“

Sie wankte …

Ich stützte sie … Sie ruhte an meiner Brust …

Und – ruhte dort ganz still, wie ein krankes Vögelchen …

Weinte … stöhnte nur …

Bis sie sich schließlich durch meine innigen Worte beruhigen ließ … –

Und trotzdem: sie hat dann über all das, was ich ihr nun mitteilte, kein Wort mehr geäußert, hat nur wieder gebeten:

„Schweigen Sie, Herr Hubert …! Und – gehen Sie nie wieder zu Fiedler … Und – – fragen Sie nichts! Sie machen mich nur noch unglücklicher dadurch!“

Ich habe auch nichts gefragt …

Sie ist dann allein heimgeeilt und hat mich vor dem Pavillon mit diesem dumpfen, zwecklosen Grübeln mir selbst überlassen …

* * *

Ich, der ich bis hierher Huberts Niederschrift gelesen habe, – ich stehe vor einem Rätsel, – – genau wie Hubert selbst. Was nur wird aus dieser Geschichte werden?! Unsereiner als Schriftsteller findet doch leichter als jeder andere einen Weg, der sich zum Kern geheimnisvoller Vorgänge durchwindet. Hier ist kein Weg – alles nur Dickicht – undurchdringlich …! – Nur eins erscheint mir gewiß: Winter hat zwei Personen ermordet und die Leichen nachher beiseite geschafft! –

Ich lese weiter:

– Nun ist ein voller Tag vergangen, ohne daß sich etwas Neues ereignet hätte.

Und ich – bin zum Mitschuldigen eines Mörders geworden, denn ich habe Hildes Bitte erfüllt und geschwiegen.

In den Zeitungen steht nichts von einem Morde – nichts von der Auffindung zweier Toten – nichts!

Winter hat seine Opfer also irgendwo verscharrt, nachdem er mir in jener Nacht das Grauen ins Blut getrieben hatte …

Verscharrt – – wo?! Und – wer waren die beiden Toten?!

Ich werde es herausbringen. Ich habe es mir fest vorgenommen. Ich will Klarheit haben. In aller Stille werde ich Nachforschungen anstellen. Und schon in der verflossenen Nacht habe ich damit begonnen, indem ich zum Fenster meines Schlafstübchens hinauskletterte und mich auf den dicken Ast des Kastanienbaumes schwang, der wohl noch älter als das Haus ist.

Ich hatte mir diesen heimlichen Weg in den Garten schon am Tage genau angesehen. Und als ich dann bis zu den untersten Ästen hinabgelangt war, da habe ich (es war gegen elf Uhr) etwas beobachtet, das meine Abneigung gegen Winter noch verstärkte, – falls man hier nur von Abneigung sprechen kann!

Ich konnte in Winters Arbeitszimmer hineinschauen …

Denn die Fensterladen sind oben etwas kurz geraten …

Was ich sah, war folgendes …

Winter saß im Schreibsessel, die Zigarre im linken Mundwinkel, und rieb sich mit dem Migränestift mit hastigen Bewegungen die Stirn ein …

Sein Gesicht war vor Wut verzerrt …

Und ihm gegenüber lehnte Hilde am Schreibtisch …

Auch ihr Gesicht sah ich …

Tiefe Falten lagen um ihren Mund … Schmerz, Verzweiflung, Angst sprachen aus ihren Mienen …

Mit einem Male hob sie wie flehend die Hände …

Sagte etwas …

Da schmetterte Winter in toller Wut die Faust auf die Tischplatte …

Ich hörte ihn etwas brüllen … Es klang wie: „Halt’s Maul, Dirne!“

Und dann nochmals:

„Dirne, – – scher’ Dich zum Teufel!!“

Er holte aus …

Warf mit dem Migränestift nach ihr …

Die helle Holzkapsel sauste dicht an Hildes Kopf vorüber, traf ein Bild an der Wand, dessen Glas zersplitterte … Hilde war davongeeilt. Und hinter ihr her schüttelte August Winter drohend die geballte Faust …

Ich blieb auf meinem Aste sitzen. Vielleicht gab es noch mehr zu sehen …

Und – meine Geduld wurde belohnt. Nachdem Winter etwa fünf Minuten lang finster vor sich hingestarrt hatte, erhob er sich schwerfällig, hob den Migränestift auf und stellte ihn auf den Schreibtisch mitten unter allerlei ausländische Reiseandenken: geschnitzte Elefanten aus Siam, Elfenbeinfiguren aus China, Buddha-Statuen aus Indien, kleine Messingräucherbecken aus den Malaienstaaten – und anderes. Die Hälfte der Schreibtischplatte war mit diesen wohl zum Teil recht wertvollen Sächelchen bedeckt.

Dann verschwand er … Ließ aber die Schreibtischlampe und die elektrische Krone brennen.

Ich wartete geduldig …

Zehn Minuten später jedoch erloschen diese Lichter …

Ich sah nichts mehr … Ich hielt es daher für angebracht, wieder in mein Heim zurückzukehren.

Und – verharrte dennoch regungslos auf meinem Lauscherposten, weil (die Hinterfenster der Wohnung des Rentners Garbrich lagen in einer Höhe mit meinem Baumast) plötzlich zwei dieser Fenster hell wurden.

Die Vorhänge waren zugezogen. Aber auf diesen gelben Vorhängen zeichnete sich nun ganz scharf der Schatten eines Mannes ab, der eine Laterne in der Hand trug …

Der Lichtkegel der Laterne fuhr hin und her …

Und – wieder wurden die Fenster mit einem Schlage dunkel …

Ich hatte den Atem vor Spannung angehalten …

Denn – ich hatte in dem Schatten August Winter erkannt!

Was bedeutete dies nun wieder?! Was hatte Winter bei Rentner Garbrich zu dieser späten Stunde zu suchen?!

Seltsam genug war dieses Erscheinen meines Hauswirts in des Rentners Schlafzimmer. (Ich wußte, daß sowohl Garbrich wie auch Fiedler die Hinterzimmer als Schlafräume benutzten.) –

In dieser Lage, angesichts dieser neuen Beobachtungen bedauerte ich außerordentlich, mich bisher niemals mit jenem besonderen Gebiet menschlicher Denktätigkeit beschäftigt zu haben, das man „Kombinieren“ nennt.

Ich war überzeugt, daß ein Kriminalbeamter oder ein Privatdetektiv ohne Zweifel meine heutigen Beobachtungen ganz anders bewertet hätte als ich.

Nun – daran ließ sich nichts ändern. Ich mußte mich zufrieden geben, etwas als bestimmt voraussetzen zu können: Rentner Garbrich und Winter mußten miteinander sehr intim sein, obwohl Hilde den alten Herrn als menschenscheu und unzugänglich hingestellt hatte! –

Nach einiger Zeit kletterte ich dann wieder in mein Schlafstübchen zurück.

Das war die zweite Nacht, die ich unter Winters Dach zugebracht habe. Eine Nacht, die zweierlei mir schenkte: die Gewißheit, daß ich Hilde liebte (denn wie hätte ich sonst ihren brutalen Vater derart hassen können!) und zweitens die andere Gewißheit, daß Garbrich und Winter jene Frau gemeinsam beseitigt hatten, weil diese eben ihnen irgendwie gefährlich werden konnte.

* * *

Hier möchte ich als der, dem Huberts Tagebuch in die Hände geriet, bemerken, daß des Malers zweite Annahme sehr wenig begründet erscheint. Ich finde, daß die Dinge noch viel zu ungeklärt sind, um sich auf einen solchen Verdacht festzulegen. Fritz Hubert hat wenig Zeug zum Detektiv. –

Ich lese weiter:

– Ich habe an diesem Nachmittag Besuch gehabt. Gegen fünf Uhr klopfte es, und das alte Fräulein Charlotte Wendig trat ein. Ich hatte sie schon einmal flüchtig im Hausflur gesehen und sie höflich gegrüßt.

Sie nahm Platz, schaute sich im winzigen Atelier um und begann dann:

„Herr Hubert, Hilde Winter hat Sie mir gegenüber sehr gelobt … Sie meinte, man müßte zu Ihnen Vertrauen haben, wenn man auch nur kurze Zeit mit Ihnen zusammen gewesen ist …“

Ich verbeugte mich nur …

Das feine, blasse, alte Gesicht gefiel mir … Die Augen waren so ehrlich und kindlich …

„Herr Hubert,“ fuhr sie leiser fort, „ich möchte mit Ihnen daher gern über Dinge sprechen, die mich seit langem beunruhigen … Dinge, die hier mit unseren Hausgenossen zusammenhängen. Sie wissen, unten im Erdgeschoß wohnen Winters und ich, oben Garbrich und Fiedler und hier oben Sie, Herr Hubert, dann noch im Seitenanbau der Straßenbahnschaffner Kirch mit Familie …“

„Ja – ich weiß, Fräulein Wendig … Und ich weiß auch, daß hier im Hause nicht alles so ist, wie es sein soll …“

Sie schaute mich prüfend an …

Flüsterte jetzt:

„Haben Sie es auch schon bemerkt, Herr Hubert?“

„Was denn?! Ich habe manches gemerkt … So zum Beispiel, daß das Verhältnis zwischen Hilde und ihrem Vater sehr schlecht ist …“

„Allerdings … leider, leider … Das arme Mädchen! Sie ist unendlich zu bedauern … Sie hat nichts vom Leben – nichts! Und wenn sie wenigstens noch den Mut fände sich auszusprechen! Aber – die Angst verschließt ihr den Mund …!“

Das alte Fräulein hatte die welken Hände im Schoße gefaltet …

„Herr Hubert,“ begann sie nach kurzer Pause abermals, „ich … ich wollte Sie fragen, ob Ihnen schon aufgefallen ist, daß unser Haus ständig bewacht – beobachtet wird …“

„Nein!“ Und ich muß ein recht verblüfftes Gesicht gemacht haben, denn die alte Lehrerin flüsterte hastig:

„Es ist wirklich so, Herr Hubert … Drüben über der Straße liegt doch die neue große Mietkaserne … und dort wohnen seit acht Tagen zwei Herren bei der Witwe Raschke im ersten Stock … Von den beiden sitzt immer einer am Fenster mit einem Fernglas - hinter den Gardinen, und wenn Winter ausgeht, ist stets einer der Herren sofort hinter ihm her. Ich glaube fast, es sind Kriminalbeamte … Ob Sie das nicht feststellen könnten, Herr Hubert, – schon in Hildes Interesse?“

„Oh – das werde ich … Gern sogar, sehr gern … Für Fräulein Hilde tue ich alles – mit Freuden!“

„Das ist lieb von Ihnen …“

„Nein, – das ist Pflicht, Fräulein Wendig … denn Hilde rechnet auf mich als Freund … und sie soll sich in mir nicht getäuscht haben … Ich werde mir schon einend Plan zurechtlegen, wie ich mir über diese Spione Aufschluß verschaffen kann …“

Dann fiel mir etwas ein …

„Weiß Hilde von diesen beiden Leuten etwas?“ fragte ich besorgt …

„Nein, nein …! Sie darf auch nichts davon erfahren … um keinen Preis, Herr Hubert …! Das arme Kind würden noch weniger Ruhe finden als bisher …“

„Sie wird nichts erfahren …“ Und ich fügte hinzu, indem ich das alte Fräulein scharf anblickte: „Wenn Sie fürchten, daß diese Spione Schaden anrichten könnten, Fräulein Wendig, dann – – hat August hinter diese Spione auch zu fürchten, dann hat er eben … etwas auf dem Gewissen!“

Sie errötete flüchtig und schaute zur Seite …

„Ersparen Sie mir eine Antwort, Herr Hubert …“ bat sie widerwillig. „Ich gebe zu, daß ich mancherlei Ihnen noch mitteilen könnte … Aber – ich will es nicht …! Ich darf es nicht …“

Sie stand auf …

Wir schieden mit einem herzlichen Händedruck … –

Kaum hatte sie mich verlassen, als ich auch schon alle nötigen Vorbereitungen traf … Das heißt, ich suchte aus einer Schublade, in der ich allerlei selten benutzte und auch in einem Maleratelier notwendige Dinge aufbewahrte, eine fuchsige Perücke und anderes heraus … Ich hatte einmal einen Strolch gemalt, und das Modell hatte diese Perücke getragen. – Ein schäbiger Anzug nebst dazu passendem Hut und Schuhen war ebenfalls vorhanden, so daß ich abends gegen neun Uhr in einer recht gut gelungenen Verkleidung in aller Stille mich aus dem Hause schlich … Mein falscher rötlicher Vollbart tat seine Schuldigkeit: ich hatte kaum den Marktplatz erreicht, als ich auch schon feststellte, daß mir ein schlanker älterer Herr auf Schritt und Tritt folgte.

Mein Plan war geglückt. Es war einer der Spione, der in mir August Winter vermutete.

Dieser Abend war wolkig, dunkel und stürmisch. Ich schlug den Weg nach dem Bahnhof ein. Die Reihen von Kastanien hier machten die Finsternis noch drückender. Die wenigen Laternen hatten zumeist defekte Glühstrümpfe …

Und so gelang es mir denn, hinter einem Baume Posto zu fassen, ohne daß der Schleicher hinter mir dies gewahr wurde …

So glaubte ich wenigstens …

Denn er schritt ruhig vorüber und machte erst vor dem Bahnhof halt, zündete sich hier eine Zigarette an und stellte zum Schein seine Uhr nach der Bahnhofsuhr …

Ich beobachtete ihn …

Und – urplötzlich da hinter mir eine Stimme …

Die Stimme eines zweiten Mannes, der sich lautlos an mich herangepirscht hatte …

„Würden Sie mir vielleicht mit einem Zündholz aushelfen können?“ fragte der kleine Blondbärtige höflich …

Ich schnellte förmlich herum …

Ich prallte zurück …

Denn der Fremde hatte eine winzige Taschenlampe eingeschaltet und leuchtete mir ins Gesicht …

Dann meinte er ebenso höflich:

„Entschuldigen Sie … Ich habe Sie erschreckt … Ich wollte nur sehen, ob ich Ihnen vielleicht als Gegengabe für ein brennendes Zündholz eine Kleinigkeit schenken darf … Es scheint Ihnen nicht zubest zu gehen … Da, bitte, – eine Mark …“

Und ich – zog mein Feuerzeug hervor …

Der Herr rauchte seine Zigarre an, drückte mir die Mark in die Hand …

„Nehmen Sie nur …!“

Ich bedankte mich stotternd …

Ich mußte wohl oder übel den Pennbruder weiterspielen …

Und der kleine Blondbärtige sagte nun: „Wollen Sie noch mehr Geld verdienen? Ich hätte Beschäftigung für Sie …“

Das war eine böse Klemme, in der ich mich da befand …

Denn – jetzt kam der lange Herr vom Bahnhof auf uns zu – der Spion … Und – im selben Moment ging mir ein Licht auf …! Ich hatte es hier fraglos mit den beiden Kerlen aus dem Hause gegenüber zu tun!

Ich überlegte schnell …

Erwiderte: „Ja – natürlich möchte ich mir etwas verdienen … Mir geht es schlecht …“

„Dann begleiten Sie mich,“ nickte der Blonde … „Sie sollen zehn Mark erhalten, wenn Sie mich mit dem Maler Fritz Hubert bekannt machen …“

Ich war starr …

Ich hörte, wie der Blonde leise lachte …

Und da war auch schon der Lange neben uns …

Meinte kühl: „Herr Hubert, wer hat Sie auf uns aufmerksam gemacht? – Bitte – – lügen Sie nicht … Denn wenn Sie lügen, werden wir dafür sorgen, daß Sie diese und die nächsten Nächte nicht in Ihrem Schlafstübchen zubringen …!“

Nun – Fritz Hubert ist denn doch kein solcher Waschlappen, daß er sich so leicht ins Bockshorn jagen läßt – o nein! Keineswegs! Wenn die beiden Leutchen geglaubt hatten, daß ich nun sofort zu allem Ja und Amen sagen würde, so hatten sie sich böse geirrt … – Hilde – der Gedanke an Hilde gab mir Mut und Geistesgegenwart …

Ich erwiderte keck:

„Wer sind Sie eigentlich? Dies hier ist ja beinahe Vergewaltigung! – Hier haben Sie Ihre Mark zurück, und damit trennen sich unsere Wege …!“

Ich hatte dem kleineren den Geldschein in die Hand gepreßt – nicht gerade sanft …

Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich nicht mit zwei solchen infamen Spitzeln fertig werden sollte!! Noch besser!!

Und ich wollte weiter dem Bahnhof zu …

Wollte …

Da meinte der Größere:

„Herr Hubert, wissen Sie auch, daß Ihr Leben in jenem Hause stündlich bedroht ist?!“

Ich blieb stehen …

Der Ton, in dem der Mann das sagte, war derart, daß wohl jeder gezögert hätte …

„Bedroht?!“ fragte ich unsicher. „Ich wüßte nicht, wer an meinem Tode ein Interesse haben könnte …“

„Nun – wir wissen es, Herr Hubert …! Und das genügt …“

Ich hatte mich wieder gefaßt …

„Oho – Sie wollen mich mit Redensarten ködern! Da verrechnen Sie sich! Ich kann mich nötigenfalls allein schützen …!“

Der Größere legte mir da die Hand auf die Schulter …

„Herr Hubert, rennen Sie nicht in Ihr Verderben! Ich warne Sie! Sie ahnen nicht, was Ihnen droht …!“

Aber ich blieb jetzt bei der einmal eingeschlagenen Taktik …

„Redensarten!! – Geben Sie mir Beweise!“

„Gern, Herr Hubert … Sie wären schon vorgestern nacht auf dem Brauberg für immer verschwunden, wenn wir nicht den … Mörder verscheucht hätten …! Besinnen Sie sich: Als Sie die Leiche der Frau beleuchteten, hörten Sie den Ruf einer Nachteule …“

„Ja – allerdings …!“

„Nun – die Eule war ich! Und diese Eule zwang den Mann zum Verzicht auf seine Pläne …“

Jetzt wurde mir doch unbehaglich zumute …

Ich erwiderte höflicher:

„Dann – kennen Sie auch den … Mörder …! Es … war Winter, August Winter …“

„Es gibt noch keinen Mörder, Herr Hubert … Die Dinge liegen doch etwas anders als Sie glauben … – Also – wer hat Sie auf uns aufmerksam gemacht?“

„Fräulein Wendig, die alte Lehrerin … Ihr sind Sie beide aufgefallen …“

„Und Fräulein Hilde?“

„Weiß nichts und soll nichts wissen! – Sie können mir Vertrauen schenken … Ich lüge nicht …“

„Das hoffen wir …“

Dieser Schlanke hatte eine ganz besondere Art Menschen zu behandeln …

Man bezeichnet derartige Leute, deren geistiges Übergewicht man so deutlich spürt, mit dem Ausdruck „Persönlichkeit“ …

Und das war dieser Mann …

Sein Ton mir gegenüber änderte sich jetzt. Er wurde liebenswürdig und beinahe herzlich …

„Herr Hubert,“ meinte er, „begleiten Sie uns bitte. Diese Straße ist kaum der rechte Ort dazu, derartige Dinge zu besprechen. Gehen wir weiter …“

Die Vorstadt hat viele stille Wege mit uralten Baumeinfassungen. Ich habe diese Vorstadt stets geliebt. Sie ist für mich landschaftlich das Schönste, was ich kenne …

Und so schritten wir drei denn nun durch den frischen Aprilabend … dem Brauberg zu …

Ausgerechnet dem Brauberg …

Der lange Blonde fragte allerlei … und ich – wie es kam, weiß ich nicht – öffnete ihm nun mein Herz, begann von Hilde Winter, von den beiden Warnungen, von meiner Feststellung, daß der Brief ohne Zweifel von Winter selbst geschrieben worden sei …

Und da sagte der Lange zu seinem kleineren Kollegen:

„Wieder ein Beweis mehr, mein Alter …!“

Nur eins verschwieg ich: daß ich von dem Kastanienbaum aus in Winters Arbeitszimmer hineinschauen konnte und daß ich beobachtet hatte, wie brutal Winter seine Tochter behandelte. Das behielt ich für mich … –

Mir schien’s, als ob diese beiden Detektive (das waren sie ja fraglos!) mich über ihre Namen und den Zweck ihres Aufenthaltes hier in der Vorstadt möglichst im Dunkeln lassen wollten. Anderseits wieder erklärte der Größere, als wir nun den Pavillon erreicht hatten:

„Herr Hubert, wir möchten Sie über einen Punkt beruhigen … Sie glauben, daß Winter zwei Menschen ermordet hat … Sie irren sich. Es ist überhaupt niemand ermordet worden …“

Ich stand mit einem Ruck still …

Der Mond war gerade hinter ziehenden Wolken hervorgekommen … Beleuchtete das blondbärtige Gesicht dieser „Persönlichkeit“ …

„Es ist so …!“ nickte er mir zu. „Winter hat Sie absichtlich erschrecken wollen … Die Frau war … Winter, die Tote ebenfalls, – natürlich keine Tote, sondern eine … zurechtgemachte Tote – sehr geschickt …! Als Winter dann hier seine Rolle als Ermordete gespielt hatte, führte er auch die zweite Rolle genau so raffiniert durch: als Toter!“

„Mein Gott – das ist ja unmöglich!“ entfuhr es mir …

„Nein, Tatsachen sind’s, Herr Hubert … Denn wir haben Winter beobachtet …“

„Aber – – aber die Halswunden – – das Blut …!“

„Schminke – rote Farbe … nichts weiter … Die rote Farbe hat Winter nachher sauber weggewaschen …“

„Unmöglich!“ stammelte ich wieder …

Ich war wie vor den Kopf geschlagen …

„Herr Hubert, Sie können sich schon darauf verlassen: es ist so! Es war ein freches Spiel, das Winter mit Ihnen trieb … Nur – den Zweck durchschauen wir noch nicht völlig …“

„Ich gewiß nicht! Ich war Winter bis vor wenigen Tagen ein Fremder! Weshalb also …“

„Oh – mein Freund und ich haben schon andere Dinge aufgeklärt, noch verzwicktere, Herr Hubert, noch gefährlichere … Vorläufig nehmen wir an, daß Winter Ihnen hier am Pavillon damals nachts eine Falle gestellt hat … Er lockte Sie hierher … Er hatte in seiner Verkleidung als „tote Frau“ ein langes indisches Dolchmesser bereit … Ich sagte ja schon: eine Nachteule schrie! Ich!! – Was ich nicht sagte: ich raschelte in den Büschen unterhalb der Terrasse, und mein Freund lag auf dem Pavillondach. Zu einem Dolchstoß wäre es nicht gekommen. Ebensowenig nachher vor der Laube hinten im Garten …“

Ich war vollständig verwirrt … So verwirrt, daß ich nur fühlte, wie mir der kalte Schweiß über das Gesicht perlte …

Und stockend fragte ich:

„Wer sind Sie, meine Herren?!“

„Zwei, die einen Beruf gewählt haben, der abenteuerlich und interessant ist … Zwei, die hier nach der großen Hafenstadt gerufen worden sind – durch ein anonymes Schreiben … Wollen Sie es lesen, Herr Hubert?“

Und er gab mir einen Brief …

Sein Freund leuchtete mit der Taschenlampe …

Ich las:

Sehr geehrter Herr Harst …!

Und ließ die Hand mit dem Briefe sinken …

Harst – Harald Harst?!

Ich starrte den berühmten Detektiv sekundenlang an …

Er lächelte: … „Lesen Sie!“

„Hier in der Vorstadt unseres großen Hafenortes geschehen im Hause Promenadenweg Nr. 2 allerlei Dinge, die …“

Und – abermals ließ ich die Hand und den Brief sinken …

Platzte heraus:

„Herr Harst, diese Handschrift ist verstellt! Und doch – es ist August Winters Handschrift! Jede Wette gehe ich darauf ein … Sie können nachher meinen Warnungsbrief mit diesem hier vergleichen …!“

Jetzt erlebte ich den Triumph, daß die beiden Detektive Harst und Schraut mich verdutzt anschauten …

Und der kleinere, Herr Schraut, meinte mit einem geradezu bestürzten Gesicht:

„Harald, dann sind all Deine Theorien falsch! Dann stimmt nichts von dem, was wir bisher angenommen haben.

Mich aber trieb die Neugier, Kenntnis von dem weiteren Inhalt des Briefes zu erhalten … Hastig las ich:

„… allerlei Dinge, die vielleicht auf mehrere Kapitalverbrechen hindeuten. In dem erwähnten Hause wohnten noch vor einem halbem Jahr im ersten Stock zwei Herren namens Grimm und Goster, beides ehemalige Seeleute. Angeblich sind sie nach Hamburg verzogen – am ersten Oktober des vorigen Jahren. Ich weiß, daß … sie das Haus nicht verlassen haben, daß sie nicht in Hamburg eingetroffen sind, daß sie sich zwar nach Hamburg abmeldeten, sich dort aber nicht anmeldeten. Angeblich haben sie ihre Möbel an den Hauswirt Winter verkauft. – Mehr sage ich nicht. – Ihre Vornamen waren Jakob und Knud. – – Einer, der aus dem Spiele bleiben möchte.“

Und als ich dies gelesen, erklärte Harald Harst:

„Sehen Sie, Herr Hubert, Schraut und ich hatten gerade nichts zu tun, als dieser Brief vor zwei Wochen uns erreichte. Derartige Ferien sind uns nicht angenehm. Wir sind eben an Tätigkeit gewöhnt. Und so haben wir denn zunächst durch Anfragen festgestellt, wie es sich mit den beiden Seeleuten Jakob Grimm und Knud Goster verhält. Beide sind spurlos verschwunden … Deshalb sind wir hier.“

Dann ließ er sich von mir den Warnungsbrief geben …

Verglich die Schrift … Meinte: „Sie haben recht, Herr Hubert … Winter hat diesen Brief an mich verfasst. Jetzt stehen Schraut und ich vor einem vollkommenen Rätsel …“ –

Was wir sonst noch sprachen, ist unwichtig. Um Mitternacht war ich daheim und habe hier meinem Tagebuch anvertraut, was ich erlebt hatte. – –

Ich als Schriftsteller, der Huberts seltsame Aufzeichnungen hier der Öffentlichkeit übergibt, möchte nur eins bemerken: Wenn Fritz Hubert überrascht war, Harst und Schraut in den beiden Detektiven vor sich zu sehen, – ich war nicht überrascht. Als Hubert den „langen Blondbärtigen“ als „Persönlichkeit“ bezeichnete, ahnte ich, daß Harald Harst dort an der Arbeit war.

Und jetzt weiter … Jetzt wird der Leser sofort erfahren, weshalb ich diesem Tagebuch den Titel „Das Kreuz auf der Stirn“ gegeben habe. – –

– – August Winter ist gerichtet, ist tot …

Heute vormittag elf Uhr hat Hilde ihn tot in seinem Schreibsessel vorgefunden – mit einem schwach blutigen Kreuz auf der Stirn, das aus zwei feinen Schnitten bestand.

August Winter ist nicht mehr …

Bevor ich jedoch Einzelheiten über seinen Todestag bringe, muß ich noch erwähnen, daß inzwischen drei Tage verflossen waren – seit meinem Beisammensein mit den beiden Berliner Berühmtheiten … Drei Tage, in denen manches geschah was ich vielleicht später hier anführe – vielleicht … –

Ich arbeitete gerade in meinem Atelier, als Hilde leichenblaß kurz nach elf Uhr vormittags hereingestürmt kam …

Sie wäre ohnmächtig umgesunken, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte …

So erfuhr ich von ihr, daß ihr Vater tot sei …

So … haben wir uns verlobt …

Denn um ihr Entsetzen über dieses furchtbare Ereignis zu lindern, habe ich Hilde noch fester in die Arme genommen und sie zart geküßt …

Kein Wort sprach ich von Liebe …

Das war zwischen uns nicht mehr nötig … Wir wußten beide, wie es um uns stand. –

Dann brachte ich Hilde zu Fräulein Wendig und lief zur Polizei …

Lief …!! Fernsprecher haben wir ja leider nicht im Hause.

Die Polizei kam …

Der Polizeiarzt hat festgestellt, daß das Kreuz auf der Stirn des Toten, diese feinen sich kreuzenden, etwa fünf Zentimeter langen Schnitte mit einem vergifteten Messer ausgeführt worden sind.

Und vor der im Schreibsessel zusammengesunkenen Leiche lag auf der Tischplatte ein Blatt Papier, worauf August Winter mit letzter Kraft mit Bleistift gekritzelt hatte:

„Ich bin ermordet worden durch St …“

Das, was hinter diesem „St“ folgte, waren nur Krähenfüße, völlig unleserlich … –

Also ermordet! –

Hilde wurde vernommen. Sie gab an, daß sie um zehn Uhr vormittags auf den Wochenmarkt gegangen sei. Da sei ihr Vater allein gewesen …

Und als sie um elf heimkehrte, fand sie ihn tot vor …

Fräulein Wendig wurde gleichfalls vernommen …

Aber sie hatte zwischen zehn und elf keinen Fremden das Haus betreten sehen.

Ich mußte ebenfalls zu Protokoll geben, was ich wußte. Das heißt: ich sagte nur das, was ich sagen durfte …!!

Und dann sollten Fiedler und Garbrich geholt werden, die beiden Herren aus dem ersten Stock …

Beide jedoch waren nicht daheim und sind auch, was der Polizei sehr zu denken gibt, bis jetzt nicht nach Hause gekommen, – jetzt, elf Uhr abends, wo ich dies niederschreibe.

Es ist also nicht weiter wunderbar, daß die Kriminalpolizei den Rentner Garbrich und den Privatgelehrten Fiedler aufs eifrigste sucht, obwohl doch August Winter ausdrücklich angegeben hat, sogar schriftlich, daß er durch St. ermordet worden ist … –

Nun, an diesem Todestage Winters ist noch mehr geschehen …

Nachdem die Polizei die ersten Vernehmungen erledigt hatte, nachdem der Tote photographiert und dann weggeschafft worden war, wurde ich, der ich mich zumeist bei Fräulein Wendig aufhielt und Hilde zu trösten suchte, die im übrigen recht gefaßt erscheint, wiederum hinüber in die Wintersche Wohnung geholt und traf jetzt hier auch die beiden Berliner Detektive an.

Sie hatten sich sehr verändert, da sie ihre Verkleidungen abgelegt hatten und durchaus den von ihnen häufig veröffentlichten Bildern glichen.

Ich glaube, ich kann mir eine Beschreibung des Äußeren der beiden Herren schenken, da Leute von ihrer internationalen Berühmtheit jedem bekannt sind, der sich nur etwas um sensationelle Ereignisse kümmert. Außerdem – ich schreibe dies hier nur für mich – – aus sehr triftigen Gründen. Und wenn ich jemals daran denken sollte, diesem Tagebuch anonym einem Verleger einzusenden oder es sonstwie der großen Menge zugänglich zu machen, so kann jeder, der es liest, sich bequem die Bilder von Harst und Schraut beschaffen.

Also ich wurde durch einen Kriminalbeamten geholt …

In dem Mordzimmer waren versammelt:

Kriminalinspektor Tiedjen von unserer Polizei, zwei weitere Beamte, die beiden Berliner und der Polizeiarzt.

Ich fühlte mich ein paar Minuten durch die Feierlichkeit dieser um den Sofatisch sitzenden Versammlung leicht beunruhigt. Aber das verging ebenso schnell wieder. Ich lächelte innerlich, als ich vor Tiedjen das Blatt Papier liegen sah, auf dem August Winter seinen Mörder wenigstens mit dem Anfangsbuchstaben benannt hatte.

Tiedjen wies mir meinen Platz auf einem Stuhle links vom Tische an, wo das Licht der beiden Fenster voll auf mein Gesicht fiel.

Bevor das neuerliche Verhör begann, sagte Harst zu dem Kriminalinspektor:

„Sie gestatten wohl, daß ich rauche … Ich bin so sehr daran gewöhnt …“

„Aber bitte, verehrtester Herr Harst …“

Und der „große“ Detektiv entnahm seinem goldenen Zigarettenetui eine seiner Spezialzigaretten. Die Marke heißt Mirakulum und duftet etwas parfümiert. Man behauptet, Harst ließe sich diese Zigaretten eigens anfertigen – mit Opiumbeimischung. Ob es wahr ist, weiß ich nicht.

Dann wandte sich der Inspektor an mich.

„Herr Hubert, wir wollen Ihnen gegenüber, dem man volles Vertrauen schenken darf, ruhig eingestehen, daß wir bisher auch nicht im entferntesten Klarheit über dieses Kapitalverbrechen gewonnen haben. Im Gegenteil, sowohl über die Motive als auch über den Mörder sind wir gänzlich im Ungewissen geblieben.“

Ich … grinste innerlich … Dieses „volle Vertrauen“, das man mir schenkte, erschien mir recht spaßig …

Äußerlich verneigte ich mich nur höflich und blieb stumm.

Tiedjen, ein korpulenter Herr, nahm nun den Zettel in die Hand …

„Herr Hubert, kennen Sie jemand, der mit Winter verkehrte und dessen Name mit St. beginnt?“

Worauf ich erwiderte: „Ich wohne erst eine Woche hier, Herr Kriminalinspektor. Winters waren mir bis zu meinem Einzug völlig fremd. Sie haben ja bereits dieselbe Frage an Fräulein Winter gerichtet, und wenn diese sie verneinen mußte, so muß ich es erst recht.“

Tiedjen nickte.

Harst lehnte in der Sofaecke und blies Rauchringe, spielte den gänzlich Unbeteiligten …

Der Inspektor dann:

„Herr Harst hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß dieses St. hier auf dem Blatt vielleicht auch ein M. sein kann, da Winter nur mit äußerster Energie imstande war, die letzten Buchstaben auf das Papier zu bringen …“

Einen Moment wurde mir wieder schwül zumute …

M, – – dieser Harst macht seinem Namen alle Ehre …!

Aber – innerlich zuckte ich die Achseln … Nun gut, – – wenn schon ein M! Das blieb sich gleich!

Tiedjen hielt mir das Papier hin …

„Was meinen Sie als Maler dazu? Ist es ein M …?“

Ich trat mit dem Zettel ans Fenster …

„Ja, es kann ein M sein,“ erklärte ich nach längerer Prüfung … „Das deutsche St und das M können, wenn eine zitternde Hand sie schreibt, leicht ähnlich geraten.“

Ich setzte mich wieder und gab das Papier zurück …

Der Kriminalinspektor räusperte sich … Seine Augen wurden lauernd. Er hatte seine Augen schlecht in der Gewalt – sehr schlecht …

„Herr Hubert, wir sind gezwungen, mit aller Genauigkeit hier vorzugehen … Ich muß Sie also fragen: Wo waren Sie heute vormittag zwischen zehn und elf Uhr?“

„Bei Fräulein Wendig drüben, Herr Inspektor … Ich ging kurz vor zehn Uhr zu ihr und brachte ihr ein Buch über moderne Maltechnik. Wir unterhielten uns bis elf. Dann sahen wir durch das Fenster Fräulein Hilde heimkehren, und ich ging in mein Atelier nach oben, arbeitete wenige Minuten und wurde dann durch Fräulein Winter …“

„Danke, das wissen wir … Ihr Alibi für die fragliche Zeit ist also einwandfrei bewiesen … Sie dürfen es uns nicht verargen, daß wir gegen jeden vorläufig Verdacht hegen, der zu Winter irgendwie Beziehungen unterhielt …“

Ich verbeugte mich …

Schwieg erst und meinte dann:

„Fräulein Wendig hat doch wohl zu Protokoll gegeben, daß ich bei ihr war …“

„Allerdings … Nur nicht wie lange.“

„Dann können Sie sie ja nochmals fragen, Herr Inspektor …“

„Das ist nicht nötig … Wir glauben Ihnen … – Nur – noch etwas, Herr Hubert … Sie haben bei Ihrer ersten Vernehmung auf mich den Eindruck gemacht, als ob Sie sich Ihre Angaben sehr genau überlegten, besonders all das, was mit den beiden schriftlichen Warnungen zusammenhing …“

„Ich pflege stets zu überlegen, Herr Inspektor …“

„Und … Sie haben nichts vergessen?“

„Nein … Ich glaube nicht …“

Da mischte sich Harst ein.

Seine grauen Augen ruhten fest in den meinen …

Ich spürte: Das war ein anderer Gegner als Tiedjen!

Und – blickte ihn kühl und abwartend an …

„Herr Hubert,“ meinte er, „Sie haben doch etwas vergessen …“

„So?!“ – Und ich glaube, der erstaunte Ton gelang mir recht gut …

„Ja, Herr Hubert … Den Kastanienbaum vor Ihrem Schlafstubenfenster haben Sie vergessen …“

Ich zuckte leicht zusammen …

Lächelte dann jedoch sofort harmlos …

„Ganz recht … Ich scheine ihn vergessen zu haben … Und Sie, Herr Harst, haben mich wohl nachts auf dem Baume bemerkt …“

„Drei Mal, Herr Hubert …“

„Nun, ich hielt diese meine Spioniererei, deren ich mich heute schäme, für zu unwichtig, Herr Harst, denn ich habe dabei nichts erreicht …“

„Und doch haben Sie drei Mal je eine Stunde auf dem Baumast zugebracht …“

„Weil ich etwas beobachten zu können glaubte … Und ich bin zäh und geduldig …“

„Sie haben also nichts beobachtet?“

„Nichts, was irgendwie von Wichtigkeit sein könnte …“

„Aber Schraut und ich,“ meinte Harst hartnackig, „hörten vorgestern, als wir in den Gartenbüschen versteckt waren und als Sie auf Ihrem Lauscherposten saßen, sehr laute Stimmen in dem Arbeitszimmer … Winter und seine Tochter schienen sich zu streiten. Wir konnten kein Wort verstehen, Sie jedoch müssen etwas verstanden haben, Herr Hubert …“

„Bedauere, Herr Harst. Mein Gehör ist nicht besonders gut …“

„So?! – Ich habe soeben ziemlich leise gesprochen …“

„Das ist doch wohl ein Unterschied, Herr Harst,“ meinte ich achselzuckend. „Sie sitzen hier drei Meter von mir entfernt … Auf dem Baumast war ich von den Streitenden durch ein Fenster und einen Fensterladen getrennt …“

„Nun gut, Herr Hubert … Die Sache ist ja auch nur deshalb von Bedeutung, weil das Verhältnis zwischen Winter und seiner Tochter recht schlecht war, was auch Fräulein Hilde zugegeben hat …“

Pause …

Ich starrte ihn an …

Ich merkte, er würde nun zu einem Hiebe ausholen …

Und so war’s …

„Fräulein Hilde war die letzte Person, die Winter lebend sah,“ warf er hin …

Ich hielt den Atem an …

Und er fügte hinzu: „Fräulein Hilde ist auf den Vornamen Mathilde getauft – mit M. … Mathilde!!“

Ich sprang auf …

„Herr Harst, haben Sie etwa auf … auf Hilde Verdacht?! – Das wäre ja …“

„Bitte – regen Sie sich nicht auf, Herr Hubert … Mir und in meiner Praxis Fälle vorgekommen, wo die sanftesten Mädchen, durch einen brutalen Vater zur Verzweiflung getrieben, zu Mörderinnen wurden …“

Ich hielt die Stuhllehne umklammert …

So fest, daß ich den Schmerz als Wohltat empfand …

Denn – – mit diesem Verdacht brach ja alles um mich her und unter mir zusammen!

Ich hatte mir da eine Verteidigungsstellung konstruiert gehabt, die ich uneinnehmbar glaubte. Ich hatte mich auf einem festen, sicheren Wall stehend gewähnt, umgeben von ebenso festen Wällen!

Und – – jetzt mußte ich diese Festung vielleicht verlassen – der Geliebten wegen!!

Wohltat war mir der Schmerz in den Innenflächen der Hand …

Wohltat, weil er mich aufpeitschte zu einer Energie, die ich in diesem Moment nur zu nötig hatte …

„Das – ist ja Wahnwitz!!“ rief ich … Wahnwitz!! Hilde, dieses gute, liebe Geschöpf, soll …“

Harst winkte mir begütigend zu …

„Ruhe, Ruhe, Herr Hubert! Verstehen Sie mich doch richtig! Deshalb fragte ich Sie ja, ob Sie nicht irgend etwas von dem Streit zwischen Vater und Tochter erlauscht hätten – deshalb, – um eben jeden Verdacht gegen Fräulein Hilde zu entkräften …“

Oh – ich war schon wieder ruhig geworden …! Dieser Berliner sollte merken, daß er hier einen Gegner hatte, der nicht so leicht die Flinte ins Korn warf …!!

Ich mußte heucheln … Ich haßte diesen Mann von diesem Augenblick an … Er war mein Feind … So etwas fühlt man … Mein Feind, der vielleicht manches ahnte, denn – klug ist er ja! Man nennt ihn ein Genie. Man wirft ihm das Geld nach. Er soll Honorare erhalten, die fürstlich sind. Er ist in allen Weltteilen daheim … Er ist bald in Indien, bald droben am Nordkap … Und gerade weil er so ist, wie er ist, weil er über Erfahrungen verfügt, die ihm die Verbrecherjagd erleichtern, weil er schließlich auch Kenntnisse besitzt, deren Vielseitigkeit erstaunlich sein soll, muß ich … meine Festung verstärken …! In keinen dieser Wälle darf eine Bresche gelegt werden … Die kleinste Bresche, und – – alles ist aus!

Also – – Vorsicht, Wachsamkeit, Schlauheit …!! Fritz Hubert, raffe zusammen, was Du an diesen Eigenschaften besitzt!

Und – – ich erwidere ihm:

„An mir soll’s wahrlich nicht liegen, Hilde Winter zu entlasten … Denn, damit Sie auch dies jetzt wissen, meine Herren: Hilde Winter ist seit heute elf Uhr meine Verlobte!“

Kriminalinspektor Tiedjen machte ein sehr verdutztes Gesicht …

Schraut desgleichen …

Harst verneigte sich:

„Meinen Glückwunsch, Herr Hubert …“

Das klang unangenehm kühl … Pflichtgemäß – nichts weiter.

Und ebenso kühl dann:

„Ich bin selbst auf dem Baume gewesen, Herr Hubert, auf demselben Ast … Der Fensterladen reicht nicht ganz bis oben … Man kann in das Zimmer hineinschauen … Was sahen Sie vorgestern nacht, – falls Sie nichts gehört haben?!“

Ah – also auch das!!

Er war oben auf dem Baume gewesen! Eigentlich hätte ich’s mir denken können …!

Nun – damit fing er mich nicht, wenn ich auch nicht auf diesen Angriff vorbereitet war …

Ich antwortete plötzlich:

„Was ich sah, war bedeutungslos … Winter ging sehr erregt auf und ab … Hilde saß in einem der Sessel … – Wir befinden uns hier ja in demselben Zimmer … Dort saß sie …“ Und ich zeigte auf den Platz, den Herr Schraut innehatte … „Übrigens – wäre es nicht am einfachsten, Hilde zu fragen, weshalb dieser Streit stattfand …“

Harst meinte nur: „Jemand, der vielleicht etwas zu verbergen hat, würde kaum die Wahrheit sagen, Herr Hubert.“

Also – – er blieb bei seinem Verdacht! Und – wie unsinnig dies war, wußte ich am allerbesten …!

Ich zuckte die Achseln …

„Die Zeit wird ja wohl auch diesen Mord aufklären, Herr Harst … Mit der Zeit kommt alles an den Tag … Jetzt sind seit dem Verbrechen kaum sechs Stunden verstrichen, und …“

Er unterbrach mich …

„Sechs Stunden sind übergenug, um Beweise herbeischaffen und Belastungsmaterial zu … beseitigen, Herr Hubert … –“ Er wandte sich an Tiedjen: „Ich hätte Herrn Hubert vorläufig nichts mehr zu fragen …“

Der Inspektor machte ein sehr offizielles Gesicht …

„Wir danken Ihnen, Herr Hubert …“

Ich ging …

Ging wieder zu Fräulein Wendig hinüber … Zu Hilde …

Und in ihrer Gegenwart vergaß ich die Sorgen, die jetzt zentnerschwer auf mir lasteten … – –

Vielleicht hat der Leser jetzt genau wie ich einen ganz bestimmten Argwohn geschöpft. Ich, in diesem Falle nicht der Erfinder einer Kriminalgeschichte, sondern nur ihr Herausgeber, möchte diesen Argwohn nicht näher bezeichnen, denn sehr vieles spricht dagegen, eine Person des Mordes zu verdächtigen, die recht sympathische Züge aufweist. Dieser Verdacht erscheint außerdem durch die Todesart Winters und durch die ganzen Begleitumstände sehr schwach begründet. Immerhin – ich werde den Gedanken nicht los, daß ich doch recht habe.

Lesen wir also weiter … Die Aufklärung muß ja kommen. – –

– Vier Tage sind abermals verflossen. Ich bin in dieser Zeit nicht dazu gekommen, meine Niederschrift fortzusetzen. Hilde und all das, was diesem Todesfalles wegen zu erledigen war.

Ich habe Hilde all die Gänge und Besorgungen abgenommen, und heute mittag ist August Winter beerdigt worden.

Ein großes Gefolge von Neugierigen … Und – auch Harst und Schraut, die ich inzwischen nicht mehr gesehen hatte.

Als ich mit Hilde am Grabe stand und ihren Arm zärtlich an mich drückte, da ist in meiner Seele flüchtig die Erkenntnis aufgegangen, daß ich niemals imstande sein werde, das zu vollenden, was mit dieser Verlobung begonnen hat …

Nein – ich kann es nicht! Es geht über meine Kraft! Es wäre – – ein Verbrechen! Und ich will kein … – Hier zögert meine Feder, den begonnenen Satz zu vollenden … –

Wir haben in Fräulein Wendigs behaglichem Heim nach dem Begräbnis über unsere Zukunft gesprochen. Fräulein Wendig meinte, es sei am besten, wenn Hilde und ich in aller Stille recht bald heirateten. – August Winter hat kein Testament hinterlassen. Hilde ist sein einziges Kind und somit Erbin des Hausen und eines Vermögens von rund dreißigtausend Mark, das Winter schon 1912 in holländischen Papieren festgelegt hatte. Wir könnten also von den Zinsen und dem Ertrag meiner Arbeit recht gut leben, da wir beide sehr anspruchslos sind.

Hilde war mit Fräulein Wendigs Vorschlägen durchaus einverstanden. Sie saß neben mir, Hand in Hand, und in ihren lieben Augen war so viel Zärtlichkeit, daß … es mir fast weh tat!

Wenn sie ahnen würde!!

Und ich tat gleichfalls so, als ob ich mich innig freute, Hilde recht bald für alle Zeit Stütze und Schutz sein zu können …

Ich tat so …! In meinem Innern tummeln sich Gespenster …

Ich war froh, als ich dann gegen drei Uhr nachmittags in mein Atelier flüchten konnte …

Allein sein – nur allein sein!!

Ich habe mich vor den Wandspiegel gestellt und mein Gesicht geprüft …

Man sieht mir an, daß ich nächtelang nicht geschlafen habe … So gut wie nicht – denn ein durch Schlafmittel herbeigezwungener Schlummer ist stets nur ein kläglicher Ersatz …

Ich bin blaß und schmal geworden.

Ich habe in den Augen ein Flimmern wie von stetem Fieber … Und mein Herz flattert in nervöser Unrast … –

Ich habe mich dann in den Schaukelstuhl gesetzt und, um mich abzulenken, die Zeitungen der letzten Tage durchblättert …

Ich will hier einen der Artikel über den Mord wörtlich anführen, da er alles enthält, was ich nachzuholen hätte …

Der rätselhafte Mord in der Vorstadt L. … – Das mag wie der Titel eines Kriminalromans klingen. Und doch: das Leben schreibt geheimnisvollere Geschichten, als dies je die Phantasie eines Schriftstellers tun könnte. Beweis: Die Ermordung des früheren Steuermannes Winter!

Man denke: Winter wird mit einer merkwürdigen Wunde auf der Stirn aufgefunden – einem Kreuz, das aus zwei feinen Schnitten besteht.

Die Obduktion hat festgestellt, daß das Messerchen, mit dem diese geringen Wunden hervorgerufen wurden, vergiftet war. Das Gift ist als das bekannte Nervengift Curare erkannt worden. Es wirkt sehr rasch. und trotzdem hat Winter noch die Kraft gehabt, den Zettel zu schreiben …

Diesen Zettel, der den Mörder nennt – mit dem Vornamen … Ein St oder ein M?! Man weiß es nicht …

Was weiß man überhaupt?! So gut wie nichts …, Nichts über den Täter. Niemand ist zwischen zehn und elf Uhr bei Winter gewesen. Das ist erwiesen. Und erwiesen ist auch, daß von einem Selbstmord keine Rede sein kann. – Nichts weiß man, nur daß Winter ein sehr merkwürdiger Mensch war. Wir haben ja schon gestern eingehend berichtet, was er seinem Mieter, dem Kunstmaler Fritz Hubert, durch die Warnungen antat und was er sonst noch an Unbegreiflichem trieb. – Weshalb machte er den Berliner Detektiv Harst auf das Verschwinden seiner beiden früheren Mieter aufmerksam?! – Rätsel überall – überall!

Und auch Harst hat unserem Berichterstatter gegenüber zugegeben, daß er vor einem geradezu undurchdringlichen Rätsel steht! Auch Harst! Und das will doch etwas bedeuten! Das ist mehr, als ob ein gewöhnlicher Sterblicher über diese Dinge urteilt. Das ist die Meinung eines Fachmannes, einer Persönlichkeit. – Unser Berichterstatter fragte Harst unter anderem, was er von der Mordart, von dem Kreuz auf der Stirn, hielte. Darauf hat der berühmte Detektiv erwidert: „Ein Seemann wie August Winter, der überall in der Welt herumgekommen ist, kann sich Feindschaften zugezogen haben, deren wahre Bedeutung erst jetzt zutage getreten sein mag. Ich glaube, daß die wahren Ursachen dieses Verbrechens in der Vergangenheit zu suchen sind.“

Soweit der berühmte Detektiv.

„Zu erwähnen wäre jetzt noch, daß das Verschwinden der beiden letzten Mieter Winters, der Herren Garbrich und Fiedler, bisher nicht hat aufgeklärt werden können. Die Kriminalpolizei hat in den Wohnungen der beiden in Gegenwart Harsts alles durchsucht und lediglich dafür Anzeichen gefunden, daß die Verschwundenen ohne Zweifel ihr Heim ganz plötzlich verlassen haben. Wohin sie sich gewandt haben, weiß niemand. Niemand hat sie mehr gesehen. Sehr eigenartig ist, daß diese alten Herren sehr wenig Garderobe besaßen. Überhaupt scheint es sich hier um etwas geheimnisvolle Persönlichkeiten gehandelt zu haben, die ohne Zweifel miteinander eng befreundet waren, wenn man auch im Interesse der Untersuchung hierüber nichts weiter verlauten lassen darf.

Alles in allem: dieses Verbrechen verdient die Bezeichnung „rätselhaft“ im vollen Umfang!

Wir werden unsere Leser über die Fortschritte der polizeilichen Ermittlungen dauernd auf dem Laufenden halten.

– Als ich, Fritz Hubert, dies gelesen hatte, konnte ich mich eines traurigen Lächelns nicht erwehren … Traurig war dieses Lächeln, genau so traurig, wie es überhaupt in mir aussah …

In Winters Vergangenheit sollte die Ursache zu diesem Verbrechen zu suchen sein …! – Ja – – das stimmte nur zu sehr! Aber – es stimmte anders, als Harald Harst es dachte!

So saß ich denn also nun in meinem alten Schaukelstuhl und grübelte vor mich hin …

Immer dunkler wurde es in mir und um mich her …

Es war noch heller Tag, und doch war ich in Finsternis gehüllt …

Arme Hilde, mein armes Lieb! Arme, arme Hilde …!!

Wie tapfer hatte sie gekämpft … Wie tapfer!! Und jetzt, wo sie im stillen hoffte, daß die Sonne einer besseren Zukunft ihr aufgegangen sei, mußte ich ihr auch diese Hoffnung zertrümmern …!

Ich darf niemals ihr Gatte werden, ich darf nicht! Das wäre mehr als ein Verbrechen, das wäre eine abgrundtiefe Gemeinheit! Und – dazu bin ich doch nicht fähig! –

So habe ich lange, lange Zeit still vor mich hin gesonnen und habe mir vieles überlegt …

Mein Plan ist fertig. Ich will jedoch noch ein paar Tage warten – ein paar Tage, damit Hilde nicht gleichzeitig zweierlei Schweres zu tragen hat. –

Der Abend kam allmählich … und dann klopfte es … Dann traten Harst und Schraut bei mir ein …

Im ersten Moment packte mich jähe Angst …

Nur im ersten Moment …

Ich habe nichts zu fürchten. Meine Festung ist stark und zuverlässig. Ich allein bin der Verteidiger, und ich werde mich nicht verraten … –

Nachdem ich das elektrische Licht eingeschaltet hatte - alle vier Lampen, die ich als Maler brauche –, bat ich die Herren Platz zu nehmen …

Harst war liebenswürdig, aber zurückhaltend …

„Herr Hubert,“ begann er, nachdem er sich eine der dargebotenen Zigaretten angezündet hatte, „Herr Hubert, ich möchte gern über einen ganz bestimmten Punkt von Ihnen Aufschluß erbitten … Wenn Sie Ihren Lauscherposten draußen im Kastanienbaum innehatten, dann müssen Sie doch auch die Hinterfenster des Rentner Garbrich haben beobachten können …“

„Gewiß, Herr Harst …“

„Und haben Sie dort nicht etwas bemerkt, was Ihnen auffiel?“

„Doch – gewiß habe ich etwas bemerkt …“ – Und ich erzählte, daß ich auf dem Fenstervorhang Garbrichs August Winters Schattenbild erkannt hätte … Fügte hinzu: „Ich bin ganz ehrlich, Herr Harst … Ich vergaß dies vor der Polizei zu Protokoll zu geben …“

„Oh – Sie haben manches anzugeben vergessen, Herr Hubert,“ nickte er ohne besondere Betonung.

Seine grauen Augen starrten mich durch die Rauchwölkchen der Zigarette lange an …

„So – manches vergessen?!“ Ich schüttelte sehr energisch den Kopf. Ich mußte es tun. Das war ich meiner eigenen Sicherheit schuldig.

Harst sagte da: „Schraut und ich kommen von Fräulein Wendig, wo wir eine längere Unterredung mit Fräulein Hildegard hatten …“

„Und – das Ergebnis?!“ – Ich brachte es wirklich fertig, leidlich ruhig zu erscheinen …

„Ich habe Fräulein Hilde auf den Kopf zugesagt, daß sie gewußt hat, daß ihr Vater geisteskrank war …“

Ich grub die Zähne in die Unterlippe … Ich wollte mir Schmerz bereiten … Ich wollte es, weil nur dieser Schmerz mich fähig machen würde, auch diesen Angriff abzuschlagen …

Und versuchte ein ungläubiges Lächeln …

Meinte dann: „Winter – geisteskrank?! Unmöglich!“

„Herr Hubert, – mich täuschen Sie nicht!“ Harsts Stimme schwoll an. „Herr Hubert, Sie wußten, daß dieser Mann an einer unheimlichen fixen Idee litt!“

„So?! Woher denn?! – Sie verdächtigen mich ja geradezu, Herr Harst! Weshalb sollte ich dies wohl verschwiegen haben, wenn ich’s auch nur geahnt hätte?! Aber – ich ahnte es nicht! Nein, nein, – Winter hat auf mich einen durchaus gesunden Eindruck gemacht …!“

Harst dann – wieder milder und freundlicher:

„Ich habe mich in Winters Arbeitszimmer sehr genau umgesehen, Herr Hubert … Was der Kriminalpolizei gleichgültig erschien, war mir von Wichtigkeit …“

Wieder grub ich die Zähne in die Unterlippe … Sollte Harst etwa doch aus dem Vorhandensein „verbrauchter Dinge“ die Spur zur Wahrheit herausgefunden haben?!

Aber – ich durfte aufatmen, denn er fuhr fort:

„Als Detektiv muß man alles berücksichtigen … In Winters Bücherschrank gibt es nur zwei Arten Lektüre: seemännische Fachwerke und – Kriminalromane! Von letzteren fand ich weit über zweihundert Bände. Das ist vielsagend. Zumal in allen diesen Büchern – fünfzig habe ich zur Probe durchgesehen! – gewisse Stellen angestrichen sind und zwar stets die, wo ein gewiegter Verbrecher seine „Fachgeheimnisse“ gleichsam preisgibt … – Und auf Grund dieser auffälligen Neigung Winters für Morde, Diebstähle, Betrügereien habe ich Fräulein Hilde, wie ich schon erwähnte, auf den Kopf zugesagt, daß ihr Vater an der fixen Idee litt, selbst ein Verbrecher größten Stils zu sein, … ein Kranker, der keine Verbrechen beging, aber solche vortäuschte, Herr Hubert, wie zum Beispiel die Morde, die keine Morde waren und bei denen Sie anscheinend die abgeschlachteten Opfer sahen … – Und weiter fragte ich Fräulein Hilde, ob sie nun mir gegenüber zugeben wolle, daß ihr Vater auch hier im Hause aus demselben traurigen Grunde Personen darstellte, Mieter vortäuschte, die es ebenfalls nicht gab, so den Rentner Garbrich, so den Gelehrten Fiedler und vorher noch zwei andere Männer, die angeblichen früheren Bewohner des ersten Stockes …“

Jetzt war’s an mir, aufrichtig zu rufen: „Herr Harst, das … das ist doch einfach unmöglich!“

„Nein, Herr Hubert, es ist Tatsache! Denn Fräulein Hilde wußte von alledem … Fräulein Hilde hat freilich nur zufällig gemerkt, daß diese vier Mieter ein und dieselbe Person waren – eben ihr Vater. Zufällig ist sie dahinter gekommen … Und hat umsonst ihren Vater angefleht, dies gewagte, zwecklose Spiel aufzugeben, hat auch vor einem halben Jahre erreicht, daß Winter … die beiden angeblichen Seeleute Grimm und Goster … verschwinden ließ, indem er auf diese dreifache Rolle als Winter, Grimm, Goster verzichtete … – Aber diese Besserung hielt nicht lange an … Er ließ neue Mieter auftauchen: Garbrich und Fiedler! – Armes Fräulein Hilde, was muß sie gelitten haben …!! Mit einem Manne zusammenzuhausen, der ihr Vater und der … ein Geistesgestörter war!! – Wenn Sie nun, Herr Hubert, Ihre Erlebnisse hier unter Berücksichtigung dieser Tatsachen nochmals prüfen, dann entwirren sich all die dunklen Punkte ganz von selbst. Ein Weib reichte Ihnen aus Garbrichs Wohnung den Zettel: Das Weib war Winter! – Ein Mann gibt Ihnen aus Fiedlers Wohnung einen Brief: es war Winter! - Sie sehen Winters Schatten auf Garbrichs Fenstervorhängen, – einfach genug, denn Winter hatte sich von seiner Wohnung eine Falltür nach Garbrichs Küche angelegt, so daß er nach oben konnte, ohne die Treppe zu benutzen!“

Ich saß wie erschlagen da …

Ich konnte nicht daran zweifeln: Harst hatte recht!

Und ich rief staunend:

„Winter war ein Verkleidungskünstler und ein Schauspieler, wie es selten …“

„… wie es oft unter Geisteskranken vorkommt,“ fiel mir Harst ins Wort. „Gewisse Geistesgestörte besitzen einen krankhaft gesteigerten Intellekt für Täuschungen, Lügen, Schauspielern und Ähnliches … Und Winter wollte eben „Verbrecher“ sein … Er begann damit, daß er Grimm und Goster auftreten ließ … Das war noch harmlos … Das war Spielerei … Nachher genügte ihm das nicht mehr. Er schuf die Herren Garbrich und Fiedler als Ersatz … Und hat dann mich auf sich selbst aufmerksam gemacht, weil er eben auch „verfolgt“ werden wollte … Als Sie hier mieteten, Herr Hubert, ging er noch einen Schritt weiter … Er täuschte zwei Morde vor …“

Pause … – Ich nickte jetzet zögernd, denn ich mußte zugeben, daß Harald Harst die Dinge bis auf den Grund durchschaut hatte … – Ja – – wirklich bis auf den Grund?! – Ich bezweifelte es … Wartete …

Und dann beugte er sich wirklich halb über den Tisch …

Seine Augen fraßen sich förmlich in die meinen hinein …

„Herr Hubert, Winter täuschte zwei Morde vor! Sie aber haben einen Mord wirklich begangen!!“

Nun war’s heraus …

Und ich – ich … lächelte ihn an …

„Ein gewagter Scherz, Herr Harst …!“

„Kein Scherz!! Sie haben Winter ermordet – nur Sie! Sie haben sich damals verraten, als ich den Verdacht scheinbar auf Hilde lenkte …! Da sah ich das Entsetzen in Ihren Augen. Da wußten Sie nicht, wie Sie diesen Schlag abwenden sollten … Da waren Sie kleinmütig und verzagt, wenn auch nur kurze Zeit … Denn Sie sind ein Mensch von bewundernswerter Energie und Selbstbeherrschung … Sie sind der Täter, Herr Hubert!“

Ich lächelte …

Energie … Selbstbeherrschung!! Die bewies ich jetzt – das stimmte!

Ich lächelte …

„Herr Harst, wollen Sie mir bitte Ihre Beweise nennen!“

Ich war überaus gespannt auf seine Antwort …

„Diese Beweise werde ich herbeischaffen …!“ meinte er mit einer sehr selbstsicheren Handbewegung …

„Was Ihnen schwerfallen dürfte, Herr Harst …! Ich begreife nicht, wie ein Mann von Ihren Erfahrungen, der genau weiß, daß ich zu der einzig in Betracht kommenden Zeit bei Fräulein Wendig weilte, überhaupt einen so unmöglichen Gedanken erwägen kann! Wie soll ich Winter ermordet haben?! Ich kann jeden Eid darauf ablegen, daß ich zwischen zehn und elf nicht in Winters Wohnung war!“

„Aber nach elf, Herr Hubert!!“

„Da war Winter bereits tot!“

„Gewiß, – aber da hatten Sie Gelegenheit, belastende Dinge beiseite zu schaffen, denn – Sie waren allein in das Mordzimmer gegangen, nachdem Hilde Sie gerufen hatte. Sie blieben dort nur ganz kurze Zeit … Und doch wird Ihnen diese Zeit genügt haben, manches verschwinden zu lassen!“

Ich … lächelte …

„Aber Herr Harst, – was sollte ich denn verschwinden lassen?! Die Mordwaffe, die ich nicht kenne, die ein Messer gewesen sein soll …?! Soll …!! – Herr Harst, ich kann nur annehmen, daß Sie scherzen … Tatsächlich!! Oder daß Sie andere Absichten mit dieser Verdächtigung meiner Person verfolgen! Bitte, reden Sie offen mit mir!“

Er erhob sich. „Das tue ich!! Und daher sage ich Ihnen: versuchen Sie nicht zu entfliehen! Es wäre zwecklos! Ich habe Vorsorge getroffen, daß Sie keinen Schritt mehr unbeobachtet tun können! Und – als letztes: Sie haben Winter aus Rache, aus Haß ermordet, weil er Hilde schlecht behandelte …!“

Und er und Schraut schritten zur Tür … An der Tür machte er nochmals halt und wandte sich um … – „Herr Hubert, noch ist es Zeit …! Reden Sie jetzt ganz offen, und ich will …“

Ich hob die Hand … „Sie sind wahnsinnig, Herr Harst!! Ich ein Mörder?! Ich?! Soll ich etwa das Kreuz auf der Stirn durch Fernwirkung hervorgerufen haben?! – Gehen Sie …!!“

Die Tür schlug zu …

Ich stand da – als Sieger …!

Denn jetzt wußte ich, daß Harald Harst … nichts wußte – – gar nichts!! Daß er auch nie etwas wissen würde! Daß ich – – klüger war wie er!!

Klüger …

Denn – ich bin Winters Mörder …!

Und jetzt bin ich so weit, Schluß zu machen mit allem …

Mit allem …!! Hilde wird mich vergessen … Hilde ist jung … Sie wird eine andere reinere Liebe finden, denn ich bin ihrer nicht wert, obwohl ich ihr Befreier bin! –

Schluß machen …! Also auch alles bekennen …!

Ich bin Winters Mörder! Meine Hand tötete ihn nicht, aber mein Verstand! Ich habe ihn mit dem Geist getötet!! Und das kam so …

Zwei Tage vor seinem Tode war’s …

Da hockte ich wiederum auf meinem Baum an …

Da wurde ich Zeuge, daß Hilde vor ihrem Vater auf den Knien lag … flehte: „Vater, Du bist krank …! Geh’ in eine Anstalt! Vater, dort wirst Du gesund werden!“

Und er … schlug sie mitten ins Gesicht … Trat nach ihr mit den Füßen …

Ich glaubte, er würde sie töten …

Sie lief davon …

Und er … sank erschöpft in seinen Schreibsessel, griff nach dem Holzbüchschen, das den Migränestift enthielt … rieb die Stirn ein … tat dies, indem er einmal von oben nach unten die Stirn entlangfuhr und dann von links nach rechts – – langsam, mit starkem Druck …

In dem Augenblick kam mir der Gedanke, wie ich ihn, den ich damals noch für einen Mörder hielt, aus dem Wege räumen könnte … –

Ich habe diesen Plan dann in stiller Nachtstunde bis ins einzelne überlegt …

Habe ihn am nächsten Tage vorbereitet. –

Meine Eltern hatten mich ursprünglich für den Apothekerberuf bestimmt. Ein Jahr habe ich Lehrling gespielt und dabei einiges von der Chemie mir angeeignet.

Ich kaufte einen großen Migränestift, wie Winter sie benutzte.

Aus dem Unterteil der Holzbüchse, in den der eigentliche Mentholstift eingeleimt ist, entfernte ich die kegelförmige weiße Masse und bohrte ein Löchlein hinein, in das ich nachher die kleine Klinge eines winzigen Federmessers so befestigte, daß die Spitze kaum sichtbar war.

Diese Spitze hatte ich mit Curare vergiftet, von dem ich ein geringes Quantum besaß. Den Rest des Giftes habe ich im Ofen verbrannt.

So leimte ich denn den Mentholstift in dem Unterteil wieder fest.

Und am nächsten Tage – das war Winters Todestag – habe ich morgens acht Uhr Hilde besucht und dabei meinen Migränestift gegen den auf Winters Schreibtisch stehenden ausgetauscht, ohne daß jemand dies sah. Winter schlief noch. Er stand selten vor neun Uhr auf.

Und – was ich erwartet hatte, geschah: Winter benutzte zwischen zehn und elf Uhr in Hildes Abwesenheit seiner Kopfschmerzen wegen das gefährliche Menthol und ritzte sich die Stirn …

Konnte dann nur noch dem Zettel anvertrauen, daß St ihn ermordet habe: St = Stift, der Migränestift! –

Hilde holte mich …

Und Harst hat recht: ich steckte die Mordwaffe zu mir, denn ich war zwei Minuten mit dem Toten allein. Ich habe das Holzbüchschen samt Inhalt verbrannt und die kleine Messerklinge auf der Straße weggeworfen. –

Ich bin Winters Mörder …

Und – – Hildes Verlobter …

Ich habe einen Mörder zu beseitigen geglaubt … und habe nur einen armen Irrsinnigen getötet!

Ich – muß Schluß machen …

Mein Hirn ist mir wie ausgebrannt …

Mörder – – Mörder …!!

Mir gellt’s in den Ohren …

Mir ist zumute, als ob ich selbst nicht mehr ganz bei Sinnen …

Bin ich vielleicht wirklich … verrück?!

Ist nicht auch mein armer Vater im Irrenhause gestorben?! –

Soll ich mich den Häschern freiwillig ausliefern?

Nein – – niemals!

Ich hänge am Leben …

Auch mein Selbstmord würde keine Sühne sein! Sühnen kann ich nur, indem ich arbeite … arbeite und der Geringsten einer werde!

Und deshalb werde ich fliehen …

Ich werde unbemerkt entkommen … Ich werde selbst Harst täuschen … In meinem Schrank hängen Frauenkleider eines Modells … Ich werde in den ersten Stock hinabschleichen und dort Garbrichs Flurtür öffnen, dann durch die Falltür in Winters Wohnung gelangen und von dort durch ein Fenster ins Freie …

Ich werde verschwinden, ohne von Hilde Abschied zu nehmen …

Sofort verschwinden …! –

Hiermit schließe ich meine Aufzeichnungen.

Es ist ein dünnes Heft. Ich stecke es zu mir. Und auch die kleine Repetierpistole. Lebend fängt mich niemand!! –

Lebe wohl, Hilde! Ich habe Dich über alles geliebt! Deinetwegen bin ich zum Mörder geworden!! – –

* * *

Auch ich, der hier Fritz Huberts Bekenntnis veröffentlicht, habe nur noch wenig hinzuzufügen.

Ich habe mich mit Harald Harst in Verbindung gesetzt, und von ihm erfuhr ich folgendes:

Der Ort dieses Verbrechens war die Vorstadt Langfuhr bei Danzig.

All das, was der Maler Fritz Hartung (so hieß er in Wirklichkeit) in seinem Tagebuch angegeben, entspricht den Tatsachen – alles … bis auf einen einzigen Punkt: Harst hatte die Art der Ausführung des Verbrechens sehr wohl durchschaut, hatte aber auch aus des Malers ganzem Benehmen unschwer erkannt, daß Hartung genau wie Winter geistig nicht normal war.

Als er Hartung erklärte, daß dieser keinen Schritt mehr unbeobachtet tun würde, hatte er bereits beschlossen, den Maler durch die Polizei einer Anstalt zuführen zu lassen.

Hartung entkam jedoch. Man hat nie wieder etwas von ihm gehört.

Nur mir war es durch einen Zufall vorbehalten, sein Tagebuch zu entdecken und somit der Öffentlichkeit einen Kriminalfall in allen seinen Einzelheiten zu enthüllen, der gewiß einigen Anspruch auf die Bezeichnung „eigenartig“ hat.

Erfundene Kriminalromane enden zumeist mit einer Verlobung zweier Beteiligter.

Diese wahre Geschichte will ich und kann ich gleichfalls harmonisch ausklingen lassen, denn Harald Harst wußte mir noch zu erzählen, daß Hilde Winter sich ein halbes Jahr nach den traurigen Ereignissen mit einem der Kriminalbeamten verlobt hat, die sie damals kennen lernte …

Und in dieser wahren Geschichte muß ich zum Schluß nochmals bemerken, daß tatsächlich bis heute über Fritz Hartungs Verbleib nichts bekannt geworden ist.

Wie und wo er geendet (denn Harst ist überzeugt, daß er nicht mehr lebt), wird wahrscheinlich niemals an den Tag kommen …

So enthält denn „das Kreuz auf der Stirn“ noch immer einen einzigen ungeklärten Punkt …

Und diese eine Frage könnte nur ein ähnlicher Zufall lösen, wie der es war, der mir Hartungs kleines Tagebuch in die Hände spielte …

 

Ende!

 

 

Anmerkungen:

  1. Hierauf bezieht sich auch das Titelbild von Heft 158.
  2. In Folge auf dieses Heft 158 erschienen dann zwei Harald Harst Romane, „Miß Wells’ seltsames Abenteuer“ (Heft 159) und „Das Haupt der Shinta“ (Heft 160), aus der Feder von Peter Becker (d.i. Giuseppe Becce). Heft 160 enthielt dann aber bereits einen Zettel beigefügt, welcher besagt:

 

 

An unsere Leser!

Auf die vielfachen Anfragen aus dem Leserkreise teilen wir hierdurch mit, daß der nächste Band von „Der Detektiv“ (Nr. 161) „Der Spiritistenklub“ wieder von Walther Kabel geschrieben ist. Auch die weiteren folgenden Bände sind in der alten spannenden und interessanten Weise von Walther Kabel geschrieben.

Der Verlag.