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Der Millionär ohne Geld

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

 

Band 282

 

Der Millionär ohne Geld.

 

Roman von

W. Belka.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin S. 14.
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Kapitel.

„Bedauere wirklich. Es geht nicht. Erstens, weil ich keine Zeit für eine derartige Zerstreuung habe, zweitens, weil ich grundsätzlich von dir nichts annehme, nicht einmal eine Einladung zu einer Reise, bei der ich dir mit meinen Sprachkenntnissen aushelfen und deshalb dich ohne Unkosten für mich begleiten soll.“

„Schade, daß du Grundsätze hast. Eine solche Jagdexpedition nach Ostafrika wäre das einzige, was noch Reiz für mich hätte. – Das Leben ist doch mehr wie langweilig – leider, leider!“

Horst Blenken streckte die Beine noch weiter von sich und gähnte. Er lag mehr als er saß in einem der roten Plüschsessel, die zu beiden Seiten des Mitteltisches der Junggesellenbude seines Freundes Dr. Lersa[1] standen.

Dieser lehnte ihm gegenüber an dem schräg vor dem breiten, dreiteiligen Fenster stehenden Schreibtisch, hatte seine kurze Holzpfeife zwischen den Zähnen und blies in bestimmten Zwischenräumen dicke Rauchwolken in die ohnehin schon genügend qualmgefüllte Luft des mittelgroßen Zimmers hinein.

„Langweilig nur für den, der sich nicht zu beschäftigen weiß,“ sagte der Doktor, indem er an Blenkens letzte Worte anknüpfte. „Schaffe dir einen Wirkungskreis, so wirst du bald merken, wie kurzweilig das Dasein werden kann.“

„Du hast klug reden. Wirkungskreis …!! Woher nehmen und nicht stehlen …! Ich bin ja leider in so jungen Jahren in den Besitz des Vermögens meiner Eltern gelang, daß ich nicht nötig hatte, mich einem bestimmten Beruf zuzuwenden.“

„Unsinn! Nicht die Millionen, die dem eben erst volljährig Gewordenem zufielen, waren schuld daran, sondern deine Genußsucht und Energielosigkeit. Sieben Jahre, sieben volle Jahre hast du vergeudet, indem du nur deinem Vergnügen und dem Sport nachgingst. Rennpferde, Kraftwagen und zuletzt als modernstes auch Flugzeuge sollten dein Dasein füllen. Natürlich mußte bei der Art von verschleiertem Müßiggang einmal der Tag kommen, wo du dieses Treiben über und über satt hattest. Jetzt bist du so weit. Und nun sollte Afrika mit seinen Elefanten und Löwen die abgestumpften Nerven des Herrn Horst Blenken wieder anregen. Auch die Jagd auf Großwild wäre dir bald etwas Altes geworden, glaube mir! Was du brauchst, ist Arbeit, ehrliche, anstrengende Arbeit, kleine Entbehrungen, kleine Sorgen und jene Müdigkeit, die nach einem Tag voll freudigen Schaffens dich schnell in das Land der Träume hinüberführen würde. Wenn du jetzt gähnst, und du tust es zu allen Tages- und Nachtzeiten, steckt nicht wirkliches Ruhebedürfnis deines Körpers dahinter, sondern nur Blasiert- und Faulheit …!“

„Na – gröber kannst du wohl auch nicht werden! Aber – im Grunde genommen hast du recht. Und daher wirst du ja wohl auch imstande sein, mir einen vernünftigen Vorschlag zu machen, wie ich mich in die Schar der nützlichen, strebsamen Staatsbürger einreihen kann. Freilich – mit Dingen wie der Bewirtschaftung meines Gutes oder dem Eintritt in eine große Firma oder dergleichen bleibe mir vom Leibe. Es muß eben etwas Außergewöhnliches sein, daß mich reizt, das ganz aus dem Rahmen des Alltäglichen herausfällt. Ich bin dabei jedoch durchaus nicht abgeneigt, sogar meine Hände zu der gepriesenen Arbeit tüchtig zu rühren. – So, nun heraus mit der Sprache, Freund Lersa!“

„Bitte – drehe erst etwas den Hahn der Gaslampe um, damit dieses scheußliche Brodeln der Flamme aufhört. Ich bin heute nervös. – So, danke. Und nun, oh Mann, der du unter dem Fluch des Reichtums leidest, vernehmt die Botschaft. – Wir haben heute den 11. März 1911. Es ist jetzt genau fünf Minuten vor neuen Uhr abends. Wenn du sofort aufbrichst, bist du um einviertel zehn in deinem Steinkasten im Grunewald, auf deutsch „Villa“ genannt. Dort ziehst du dir den ältesten deiner Anzüge an, packst in den schäbigsten deiner kleineren Koffer das Notwendigste an Wäsche ein, nimmst noch einen alten Mantel mit und – beginnst für ein rundes Jahr ein neues Leben als armer Teufel, der sich sein Brot verdienen muß. Mit einem Wort, ziehe für zwölf Monate den Millionär vollständig aus, begibt dich in ganz andere Lebensverhältnisse und -bedingungen und sieh dir den Daseinskampf, wie ihn Millionen und Abermillionen hier auf unserer Mutter Erde ausfechten müssen, aus nächster Nähe an.“

Horst Blenken zog die Beine mit einem Ruck an den Leib und erhob sich.

„Du, das könnte mich wahrhaftig reizen! Das ist eine Idee. Ich möchte dir auch außerdem gern beweisen, daß die Genußsucht und die Energielosigkeit bei mir nur Kinderkrankheiten sind, die sich leicht wegdoktern lassen und dann nicht mehr wiederkehren.“

Er war bei diesen Worten dicht vor Dr. Lersa hingetreten und hatte ihm die Hand leicht auf die Schulter gelegt.

Lersa lächelte ein wenig.

„Diese schnelle Bereitwilligkeit ist mir verdächtig. Wahrscheinlich denkst du: „Na – gefällt mir die Geschichte nicht mehr, bekomme ich sie über, so kann ich ja jederzeit wieder Horst Blenken, der Millionär, werden.“ – Aber vor diese Möglichkeit will ich einen festen Riegel vorschieben. Du mußt mir dein Ehrenwort geben, daß du dieses eine Jahr als ein Mensch, der kein Vermögen, keine Freunde, keinerlei Beziehungen hat, getreulich durchhalten willst. Erkläre deiner Dienerschaft, daß du für ein Jahr verreist. Teile dies auch deinem Rechtsbeistand mit. Für deine Angelegenheiten will ich hier bestens sorgen. Gib mir eine Art Vollmacht, die mich berechtigt, über dein Haus zu wachen. Dann kannst du ganz beruhigt als armer Teufel mit zwanzig Mark in der Tasche – mehr bewillige ich dir als Kassenbestand nicht! – in die Fremde ziehen. Natürlich läßt du auch alles an Schmucksachen daheim, was du besitzt. Brillantringen und eine goldene Uhr nebst Kette sind ja leicht zu versetzen.“

„Donnerwetter – bist du vorsichtig!“ lachte Blenken. „Aber – es sei! Hier – schlag ein! Ich gebe dir mein Wort, daß ich alles getreulich halten will, was du verlangst. – Bis wann soll unser Kontrakt Geltung haben?“

„Am 12. März 1912 mit dem Glockenschlag Mitternacht bist du wieder Horst Blenken, der Millionär. Und deine Verpflichtung beginnt heute mit der ersten Sekunde des neuen Tages.“

„Und wo ich dieses eine Jahr zubringe, ist gleichgültig?“

„Ja. In dieser Beziehung hast du völlig freie Hand. Nur noch eins, führe ein kurzes Tagebuch. Dies dürfte recht nützlich sein. Wenn du es später dann wieder zur Hand nimmst, werden deine Aufzeichnungen dich vielleicht vor Rückfällen in die frühere Art der Daseinsauffassung bewahren.“

„Gut. Angenommen! – Leb’ denn also wohl, Fritz! Die ganze Geschichte ist zwar eine Verrücktheit, aber … Na – versprochen ist versprochen! Die Vollmacht schicke ich dir zu. – Halt, noch eins, darf ich dir schreiben?“

„Wozu die Frage?! Für ein Jahr scheiden deine Freunde für dich gänzlich aus, gänzlich! Erwirb dir neue!“

„Richtig. – Dann also nochmals – leb wohl!“

Die beiden schüttelten sich kräftig die Hände.

„Mag das Außergewöhnliche für dich zum Segen werden!“ sagte Lersa herzlich. „Und vergiß nicht, dir die allernotwendigsten Ausweispapiere mitzunehmen, natürlich nichts, aus dem hervorgeht, wer du in Wirklichkeit bist.“ –

Die Tür des Zimmers fiel hinter Horst Blenken ins Schloß.

 

2. Kapitel.

„Befehlen der gnädige Herr das Auto?“

Der Diener stand abwartend an der Tür des mit gediegener Vornehmheit eingerichteten Herrenzimmers, in dem sämtliche Flammen der aus Geweihen zusammengesetzten Krone brannten.

„Nein. Sie könnten auch zu Bett gehen, Friedrich. Ich brauche Sie nicht mehr.“

Blenken packte gerade an seinem Schreibtisch ein buntes Oberhemd in den mittelgroßen Koffer ein.

„Verzeihung, gnädige Herr … Aber wer soll den Koffer …“

„Das laßen Sie meine Sorge sein,“ erklärte Blenken etwas verlegen. –

„Gute Nacht, Friedrich. Und nochmals, halten Sie mir meine Sachen gut in Ordnung. Wenn ich von meiner Weltreise zurückkehre, muß es hier so aussehen, als wäre ich nur einen Tag fortgewesen.“

Der Diener verbeugte sich.

„Glückliche Reise, gnädiger Herr! – Gute Nacht!“

Er verschwand lautlos. Kopfschüttelnd ging er den Flur entlang und in den Wirtschaftsanbau hinüber, wo sich in der großen, blitzsauberen Küche das Pförtnerehepaar, das Stubenmädchen, der Chauffeur und die Köchin zusammengefunden hatten.

Als Friedrich eintrat, schauten ihm fünf Augenpaare erwartungsvoll entgegen.

„Na – hat die Sache wirklich ihre Richtigkeit?“ fragte die Köchin, die schon bei Horst Blenkens Eltern in Stellung gewesen war.

Friedrich nickte zerstreut.

„Aus unserem Gnädigen wird man heute nicht klug. Weiß der Henker, was der vorhat. – Eine Weltreise?! Für ein rundes Jahr …?! Und alles Nötige will er erst in Hamburg einkaufen, nimmt nur einen alten Koffer mit, den er nie mehr benutzt hat …?! – Na – meinetwegen! Die Hauptsache ist, wir beziehen unseren Lohn weiter und werden verpflegt wie bisher. Dr. Lersa wird alles erledigen.“

An der Wand der Küche hing ein Haustelephon, dessen Glocke plötzlich anschlug.

„Ah – er will noch was.“

Die Köchin nahm den Hörer ab.

„Jawohl, gnädiger Herr, ich bin noch auf … Jawohl, – werde ich alles bestellen – – glückliche Reise!“

Das Telephongespräch war zu Ende, und mit etwas angetaner Miene wandte sich die Köchin den anderen wieder zu.

„Er hat mir eben adieu gesagt. Und ich sollte auch euch anderen in seinem Namen lebewohl sagen. – Na – das hätte er wenigstens bei mir auch persönlich erledigen können, wo man in diesem Hause nun schon beinahe zwanzig Jahre dient.“

„Komisch!“ meinte das Stubenmädchen.

Und Friedrich erklärte: „Mehr wie komisch!! Seine älteste Kluft hat er angezogen, und einen Ulster habe ich ihm vorsuchen müssen, den kaum noch ein Kleiderjude ihm abgenommen hätte. Selbst geschenkt würde ich ihn nicht nehmen. So schäbig ist das Ding.“ – –

Horst Blenken wartete mit seinem Koffer an der Haltestelle auf die Elektrische.

Der junge Millionär mit dem abgeschabten Ulster und den zwanzig Mark in der Westentasche drückte sich scheu in den Schatten der Bäume. Er wollte nicht gern von Bekannten gesehen werden. Und von den reichen Leuten des Grunewald kannte ihn fast jeder.

Dann kam auch schon die Straßenbahn ratternd und surrend herbei. Er stieg auf die vordere Plattform des Motorwagens, stellte seinen Koffer neben sich und schlug den Mantelkragen hoch. Es war recht kühl, und den scharfen Luftzug spürte er bis auf die Haut.

Er nahm einen Fahrschein für zwanzig Pfennig. Damit gelangte er ist in das Zentrum Berlins hinein, bis zur Kreuzung der Leipziger und Friedrichstraße. Von hier sollte ihn dann ein Omnibus nach dem Stettiner Bahnhof bringen.

Mit seinem Plan, wo er das neue Leben beginnen wollte, war er ja bereits fix und fertig. Das hatte er sich schon alles beim Packen seiner geringen Habseligkeiten überlegt. In Berlin durfte er nicht bleiben. Der reiche Sportmann Horst Blenken war in der Reichshauptstadt zu bekannt. In Danzig, das er oberflächlich bei Gelegenheit der Sportwochen des nahen Seebades Zoppot kennengelernt hatte, wollte er sein Glück versuchen. Danzig war eine gute Mittelstadt, nicht zu klein, nicht zu groß, und erschien ihm auch deshalb als Teil seiner Tätigkeit recht geeignet, weil dort ausnahmsweise niemand wohnte, mit dem er, der vielgereiste, in nähere Berührung gekommen war.

Aus dem Fahrplan hatte er festgestellt, daß kurz nach vier Uhr morgens ein Personenzug über Stettin-Stolp nach Danzig abging. Den wollte er benutzen. Zum erstenmal in seinem Leben würde er dann vierter Klasse fahren. Vierter!! Für einen, der bisher nur die Erste und den Schlafwagen als das einzig Mögliche betrachtet hatte, zwar ein etwas weiter Sprung nach unten! Aber – was half’s?! Die Fahrkarte „vierter Güte“ kostete ohnehin schon gegen zehn Mark. Viel blieb ihm da also von seinem Kapital nicht übrig, und er mußte jeden Pfennig nochmals umdrehen, ehe er ihn ausgab. –

Als Horst Blenken am Stettiner Bahnhof den Omnibus verließ, zeigte die Uhr oben am Giebel des Hauptgebäudes genau eins. Noch reichlich drei Stunden hatte er mithin bis zur Abfahrt des Bummelzuges hinzubringen.

Er besann sich nicht lange. Mit einem gewissen Galgenhumor betrat er eine kleine, in der Nähe gelegene Kneipe der Invalidenstraße, die, wie er hoffte, ihre Pforten überhaupt nicht schließen würde, weil dort die Kutscher der Bahnhofstaxameter aus- und eingingen und dieses Stammpublikum stets Lokale mit voller Nachtkonzession bevorzugt.

Eine dicke, tabakraucherfüllte Luft schlug ihn entgegen, die mit den Düften schlechten Bratenfettes, abgestandenen Bieres und süßlichem Schnapsgeruch vermischt war.

In dem langgestreckten Raum waren sämtliche Tische besetzt. Die Gäste, zum Teil leicht berauscht, unterhielten sich mit einem Stimmenaufwand, der dem jungen Millionär stark auf die Nerven fiel. Aber niemand nahm Notiz von ihm.

Mit einem „Sie gestatten“ setzte er sich nach kurzer Umschau zu einem älteren Mann und einem jungen, blassen Mädchen an den Tisch, bestellte sich eine Weiße und holte sich eine eingespannte Abendzeitung. Seinen Koffer stellte er dicht neben seinen Stuhl.

Dann vertiefte er sich in das Blatt, ohne sich um seine Tischnachbarn, die ihm gegenübersaßen, weiter zu kümmern.

Nach einer Weile drehte sich dann einer der drei jungen Burschen, die am nächsten Tisch bis eben Karten gespielt hatten, um und klopfte dem Alten derb auf die Schulter.

„He, Freundchen, wie ist’s mit ‘ner Partie Skat? Uns fehlt der vierte Mann …“

Horst Blenkens erster Gedanke war: Bauernfänger! – Und deshalb paßte er unauffällig auf, wie die Sache sich weiter entwickeln würde.

Der Alte, der vor sich ein Glas Grog stehen hatte, besaß, wie Blenken jetzt erst merkte, einen wahren Charakterkopf. Das volle, weißgraue Haupthaar trug er zwanglos nach hinten gestrichen. Unter der hohen Stirn und den starken Brauen lagen tief in ihren Höhlen große, dunkle Augen, die jetzt leider in einem recht verdächtigen Glanze schimmerten. Die Nase war ebenso wohlgeformt wie der unter einem langen Schnurr- und Backenbart von leuchtendem Weiß halb verschwindende Mund. Wie ein Patriarch des alten Bundes sah dieser Alte aus, dessen Kleidung freilich sehr ärmlich und abgenutzt, aber doch peinlich sauber war.

Auf den plumpen Annäherungsversuch des jungen Burschen hin hatte der Patriarch, wie Blenken ihn im Stillen nannte, sich langsam umgeschaut und musterte nun den Frager mit einem so abweisenden, ernsten Blick, daß der Skatlüsterne ordentlich verlegen wurde.

„Ich danke Ihnen für die Aufforderung. Aber ich rühre keine Karten an – nie!“ sagte der Patriarch dann mit Nachdruck und wollte wieder seine frühere Stellung einnehmen.

Der Bursche, der ein fahles, verlebtes Gesicht hatte, ließ sich jedoch so leicht nicht abweisen. Vielleicht ärgerte er sich auch, daß der alte Mann ihn so kurz abzufertigen suchte.

„Na – Kartenspielen, das ist Geschmacksache,“ grinste er etwas höhnisch. „Aber zu ‘m halben Liter Echtem darf ich Sie wohl einladen – he?! Das Trinken scheinen Sie ja nicht abgeschworen zu haben! Wenigstens haben Sie in zwei Stunden fünf Grogchen verfeuert und zwei Schnäpse …“

Blenken ließ jetzt langsam die Zeitung sinken. Er fürchtete, daß hier ein Krawall im Anzug war. Unwillkürlich musterte er nun auch prüfend das blaße, magere Geschöpfchen, das neben dem Patriarchen ängstlich in sich zusammengekauert dasaß und scheu und unverwandt die Augen auf die schmutzige Tischdecke gerichtet hielt. Ohne Zweifel war es die Tochter des Alten, oder vielleicht auch seine Enkelin. Jedenfalls war eine gewisse Ähnlichkeit zwischen beiden unverkennbar.

Jetzt hob sie den Kopf etwas und blickte zur Seite auf den weißhaarigen Greis. Und ganz leise sagte sie nun:

„Vater, trinke nichts mehr, ich bitte dich …!“

Der Alte schien diese Mahnung überhört zu haben. Wenigstens erwiderte er gleich darauf dem jungen Burschen in freundlichem Ton:

„Ein guter Tropfen ist dazu da, um getrunken zu werden. Aber – ich bin nicht in der Lage, mich zu revanchieren. Und deshalb …“

„Tut nichts – tut nichts!“ beruhigte ihn der verlebte junge Mensch. „Sie können uns ja als Dank so ein wenig Musik machen. Auf ihrer Riesenpappschachtel da unter dem Tisch liegen ja ein Geigen- und ein Mandolinenkasten. Also sind Sie wohl so ‘ne Art Künstler, Sie und das Mädel da neben Ihnen. Spielen Sie uns eins auf! Nachher gehe ich mit dem Teller für Sie sammeln. Die Kavaliere hier im „letzten Tropfen“ haben alle ‘nen Groschen übrig.“

Ohne die Antwort des Alten abzuwarten, rief er dem dicken Wirt zu:

„Busicke – allons – fünf halben Liter Echtes. Und – daß dieser Herr hier und seine Begleiterin uns was vorfiedeln und vorklimpern, dagegen hast de doch nischt, nich wahr?“

Der Wirt nickte schmunzelnd.

„Na also! – Nun man raus mit die Wimmerkisten, Freundchen!“ meinte der Bursche jetzt beinahe befehlend. „Zeigen Sie, was Sie können.“

Inzwischen hatte das blaße Mädchen bemerkt, daß Blenken sie heimlich beobachtete. Helle Röte färbte ihre Wangen, und in steigender Verwirrung schlangen sich ihre mageren Finger in nervösem Spiel ineinander.

Jetzt aber, als der aufdringliche Mensch am Nebentisch ihren Vater zum Musizieren zu bewegen suchte, prägte sich ein anderer Ausdruck auf ihrem zarten Antlitz aus. Qualvolle Scham war darin zu lesen. Und unter den langen, dunklen Wimpern stahlen sich jetzt auch zwei Tränen langsam hervor.

Horst Blenken tat das arme Geschöpf leid. Er ahnte die Tragödie dieses jungen Wesens, das vielleicht einst bessere Tage gesehen hatte und nun an einen dem Trunke ergebenen Vater gekettet war. Für die letztere Vermutung hatte er ja bereits die genügenden Beweise. Und, was die erste anbetraf, – nun, da verließ er sich auf seine Menschenkenntnis, die das einzige nützliche Ergebnis seines jahrelangen Müßiggängerdaseins darstellte.

Der alte Mann wandte sich jetzt an seine Tochter. Blenken verstand jedes Wort.

„Lizzie, unsere Kasse ist leer. Sei verständig, Kind! Wir können hier vielleicht ein paar Mark verdienen …“

Wieder rollten ihr zwei Tränen über die Wangen. Und leise wie ein Hauch entgegnete sie, leise und doch so unendlich bitter:

„Gut – dann können wir wenigstens deine Zeche bezahlen …!“

Der Alte fühlte den Vorwurf, der in dieser Einwilligung lag, sehr wohl heraus. Schuldbewußt senkte er einen Augenblick den Kopf.

Da mischte sich der junge Bursche schon wieder ein.

„Na, Freundchen, – wird’s nun bald?! Wir warten schon in höchster Ungeduld …“

Gleichzeitig erschien auch der Wirt mit den fünf Steinkrügen. Einen davon setzte er auch vor das blasse Mädchen hin.

„Erst also mal – prost Blume!“ grölte der verlebte Mensch laut. „Prost, Fräulein, – trinken Sie nur. Dies Bierchen ist besser wie Sahne … Das können Sie dem Maxe schon jlaubn!“

Und die Tochter des Alten griff gehorsam nach dem Steinkrug und netzte sich die Lippen. Aber Blenken fühlte, daß sie nur mithielt, um Zank und Streit zu vermeiden.

Gleich darauf hatte der Patriarch, nachdem er fast den ganzen halben Liter in einem Zug hinuntergegossen hatte, die Instrumente unter dem Tisch hervorgeholt.

Und dann begannen Vater und Tochter vor diesem buntgemischten Publikum, vor biederen Droschkenkutschern, kleinen Handwerkern, Tagedieben und Verbrechern ihren Vortrag. Sie hatten sich nebeneinander in den Gang zwischen den Tischen gestellt, der Alte mit der Geige in der Hand, das zarte Mädchen mit der Mandoline im Arm.

Blenken war gespannt, was sie zum besten geben würden. Er sah, daß sie sich leise berieten. Und nun spielte der Patriarch ein paar schwermütige Takte als Einleitung.

Die Mandoline fiel ein, eine Melodie entwickelte sich … Blenken traute seinen Ohren nicht, es war eines der Rosenlieder des Fürsten Eulenburg …

Und jetzt begann das Mädchen zu singen, nur mit halber Stimme … Und doch war der Erfolg schon nach den ersten Takten ein durchschlagender. An allen Tischen wurde es still. Diese Art von Gesang griff auch diesen Männern ans Herz …

Blenken glaubte zu träumen. Befand er sich wirklich in einer Spelunke der Invalidenstraße, war es wirklich weit nach Mitternacht, saßen da um ihn herum tatsächlich die derben Gestalten der Taxameterkutscher, das bierselige Gesicht des Berliner Nordens …?! Oder – befand er sich nicht vielmehr in einem vornehmen, intimen Konzertsaal, auf dessen Podium ein Künstlerpaar die Hörer fesselte und ihnen die Herzen weich und sehnsuchtsvoll stimmte …?! –

Er brauchte nur die Augen zu schließen … Dann war die Täuschung vollkommen, den das, was der Alte und sein blasses Kind hier boten, war Kunst, gehörte nie und nimmer in diese Umgebung hinein …

Wirklich – nicht in diese Umgebung?! – Blenken schaute die Gesichter der Umsitzenden an. Da mußte er seine Gedanken schnell verbessern. Ja, es war Kunst, und gerade weil dieses wehmütige, zarte Lied, vorgetragen mit höchster künstlerischer Ausnutzung aller Feinheiten, die rauen Gesichter dieses Publikums so deutlich mit einem Schimmer stiller Andacht übergoß, mußte er sich eingestehen, daß für das Volk auch auf diesem Gebiet das Beste nur gerade gut genug ist. –

„Aus des Nachbars Haus
schaut mein Lied heraus …“

Wie das Schluchzen einer Nachtigall in warmer Maiennacht perlten die Töne über die Lippen des blassen Mädchens. Dazu noch die eigenartige, feinabgetönte Begleitung von Geige und Mandoline, dazu der wehmütige Text … Auch Horst Blenken fühlte sein Herz erzittern unter der Macht einer nie gekannten Weichheit. Wie gebannt starrte er auf die Sängerin, die hochaufgerichtet, den Blick fast visionär geradeaus gerichtet, dastand und alles rings umher vergessen zu haben schien … –

Das Lied war zu Ende. Ein paar Sekunden blieb’s totenstill. Dann aber begann ein freudiger, ehrlicher Beifallslärm, der ein stolzes Lächeln auf des Alten Lippen lockte.

Noch zwei weitere Lieder trugen sie vor, wieder ernstes, trauriges.

Dann ging der verlebte Mensch mit einem Teller vom Tisch zu Tisch. Geldstücke klapperten. Blenken warf eine Mark in den Teller. Es war nicht die einzige.

Der Alte aber mußte bald mit diesem, bald mit jenem anstoßen. Man holte ihn immer wieder von seinem Platz fort. Er schwankte schon bedenklich.

Und seine Tochter saß stumm und still da. In ihrem Gesicht war qualvolle Unruhe zu lesen. Aber man ließ sie in Ruhe. Niemand wagte ein Wort der Anknüpfung. Diese Männer fühlten, daß hier eine reine Seele, zermürbt durch des Lebens Ungemach, unter ihnen weile.

Vor dem Mädchen stand der Teller mit dem Ergebnis der Sammlung. Horst Blenken schätzte auf einige zwanzig Mark. Immer wieder mußte er unwillkürlich zu dem blassen jungen Weib hinübersehen. Ihre trostlose Starrheit schnitt ihm ins Herz.

Dann merkte er, wie ihr die Lider stets aufs neue zufielen, wie sie vergeblich gegen eine schwere Müdigkeit ankämpfte. Bald war sie fest eingeschlafen …

Und in einer Ecke an einem vollbesetzten Tisch saß ihr trunkener Vater und jagte die Kehle hinunter, was man ihm nur anbot …

 

3. Kapitel.

„Aber Mann – wenn Sie wirklich schon als Chauffeur in Stellung gewesen sind, so müssen Sie doch außer Ihrem Kraftwagenführerschein auch Zeugnisse besitzen.“

Präsident von Hertel schaute den jungen Menschen durchdringend an.

„Die sind mir gestohlen worden und zwar auf der Eisenbahnfahrt nach hier,“ erwiderte Horst Blenken unsicher.

„So?! Gestohlen?! – Na gut. Es mag sein. – Bei wem waren Sie zuletzt in Stellung?“

„Bei … bei Herrn Dr. Lersa in Berlin.“

„Wo wohnt der Herr?“

„Berlin W., Lothringer Straße 18.“

„Hat Dr. Lersa Telephon?“

„Jawohl, Amt Pfalzburg 1704.“

Herr von Hertel notierte sich die Nummer.

„Äußerlich gefallen Sie mir, Blenken,“ sagte er dann. „Sie scheinen gute Umgangsformen zu besitzen. Aber ohne Zeugnisse nehme ich niemanden in meinen Dienst. Ich werde mich bei Dr. Lersa nach Ihnen erkundigen – telephonisch. Das geht am schnellsten. Kommen Sie also nachmittags um fünf Uhr sich Bescheid holen. – Noch eins. Sie sehen sehr blaß aus. Sind Sie krank gewesen? Oder ist es überhaupt mit Ihrer Gesundheit nicht zubest bestellt?“

Der Bewerber um den Chauffeurposten errötete.

„Ich … ich habe seit gestern nichts mehr gegessen, Herr Präsident, weil ich keinen Pfennig besitze.“

Herr von Hertel blickte Blenken wieder so prüfend an.

„Warum haben Sie nicht irgendeine Arbeit angenommen – irgend etwas? Mußten sie gerade warten, bis Sie meine Anzeige in der Zeitung fanden, daß ich einen neuen Chauffeur suche?!“

„Ich bin genug herumgelaufen, Herr Präsident,“ erklärte Blenken offen. „Aber man wollte nicht nirgends einstellen, weil ich eben keine Zeugnisse besitze. Man traute mir offenbar nicht. In diesen zehn Tagen, die ich jetzt in Danzig bin, habe ich nur zwei Mal durch Brennholz zerkleinern je eine Mark verdient.“

Präsident von Hertel war durchaus kein Mann, der sich leicht mitleidigen Regungen hingab. Aber dieser Blenken interessierte ihn. Nach einem Schwindler sah der nicht aus. Und daher befahl er kurz:

„Ich werde Sie durch meinen Diener in die Küche führen lassen. Dort wird Ihnen eine Mahlzeit vorgesetzt werden. Nachmittags um fünf sind Sie dann wieder hier.“

Blenken verbeugte sich. Und wieder musterte Herr von Hertel ihn scharf. „Hm – diese Verbeugung eben – merkwürdig!“ dachte er. „Besser kann ‘s einer meiner Assessoren auch nicht machen …“

Dann griff er nach der silbernen Glocke, die auf seinem Schreibtisch stand, und schellte.

Der Diener erschien. Es war ein noch junger Mensch mit glattrasiertem Gesicht, das einen gutmütigen, bescheidenen Ausdruck hatte.

„Der Mann hier erhält sofort in der Küche eine reichliche, gute Mahlzeit, Franz. Bestellen Sie das der Köchin.“

Der Präsident machte darauf eine verabschiedende Handbewegung, und Host Blenken und der Diener verließen das Arbeitszimmer des hohen Beamten, dessen Blick ihnen nachdenklich folgte. – –

„Na – wie steht’s? Werden Sie bei uns eintreten?“ fragte Franz den Chauffeur, während sie die Treppe zum Kellergeschoß, wo die Küche lag, hinabschritten.

Blenken zuckte die Achseln.

„Ich fürchte, auch dieser Gang dürfte umsonst gewesen sein. Ich besitze keine Zeugnisse.“

„Hm!“ Franz blickte den anderen taxierend an der Seite an. „Keine Zeugnisse?! Das ist faul, sehr faul!“ –

Eine Stunde später stand Horst Blenken in einer Telephonzelle des Hauptpostamtes und sprach mit Dr. Lersa – Berlin, Pfalzburg 1704.

„Hier Horst Blenken …“

Eine Weile nichts. Dann die Antwort:

„Bedaure. Kenne ich nicht. – Was wünschen Sie denn eigentlich?“

„Zum Donner, Lersa, – laß die Witze! Mir geht’s hier in Danzig hundsmiserabel. Eben habe ich mir von dem Diener des Präsidenten von Hertel fünfzig Pfennig geborgt, um dies Telephongespräch bezahlen zu können. Herr von Hertel wird dich … – Was sagst du?“

„Ich sage, daß ich bis zum 12. März 1912 keinen Horst Blenken kenne. Dasselbe habe ich vor fünf Minuten auch dem Präsidenten erklärt, nur das Datum habe ich weggelaßen. Also sparen Sie sich jedes weitere Wort. – Schluß.“

„Lersa – noch einen Augenblick … Bist du noch da …?“

Keine Antwort. Da verließ Horst Blenken ganz geknickt das Postamt. Aber je länger er über Lersas Benehmen bei diesem Telephongespräch nachdachte, desto mehr schwand sein anfänglicher Groll gegen den Freund.

„Deutlicher konnte Lersa mich gar nicht auf unsere Abmachung hinweisen,“ sagte er sich. „In der Tat war ich ja schon halb auf dem Weg, mein Ehrenwort zu brechen.“ –

Drei Uhr nachmittags. –

Präsident von Hertel saß mit seinen beiden Töchtern beim Mittagessen. Franz bediente lautlos und gewandt. Der Tisch war sehr geschmackvoll gedeckt. Blumen, viel altes Silberzeug stand darauf. Aber die Gerichte waren einfach.

Stella von Hertel, die ältere Tochter, eine etwas kalte, vornehme Schönheit, die die Gemessenheit in Sprache und Bewegungen von ihrem Vater geerbt hatte, erklärte diesem soeben, daß es jetzt unbedingt nötig sei, mit der Beschaffung der Frühjahrs- und Sommertoiletten zu beginnen.

Der Präsident seufzte leise auf und fragte dann, wieviel „die Geschichte’“ kosten würde.

„Sechshundert Mark alles in allem. Damit hoffe ich auszukommen, Papa.“

Hertel war angenehm überrascht. Dem gab er auch offen Ausdruck.

„Kinder, es tut mir ja leid, daß wir gezwungen sind, uns derart einzurichten. Aber Ihr kennt ja unsere Verhältnisse! Ihr seid eben vernünftige Mädels. Früher kostete ein einziges Kleid der Mama so viel, wie ihr jetzt beide als Gesamtsumme beansprucht.“

Er seufzte wieder.

„Natürlich steht euch das Geld zur Verfügung.“

Stella reichte ihm jetzt einen langen Zettel mit Zahlen hin.

„Hier die Aufstellung der Ausgaben für den April, Papa. Nur den Posten für den Chauffeur habe ich offen gelassen. Du wolltest doch einen Nachfolger für Kuttner anstellen, der vielleicht mit fünfundsiebzig Mark zufrieden ist – einen Anfänger.“

Der Präsident nickte.

„Heute vormittag waren auf die Anzeige in der Zeitung hin etwa ein Dutzend Leute bei mir. Am besten gefiel mir ein gewisser – na, wie hieß der Mann doc h…?… Senden, Lengen oder …“

„Blenken,“ half Stella aus.

Hertel schaute seine Älteste überrascht an. Und auch die um drei Jahre jüngere Griseldis blickte von ihrer Modenzeitung auf.

„Woher kennst du den Namen des Mannes, Kind?“ fragte der Präsident verwundert.

„Weil ich mit ihm vormittags in der Küche gesprochen habe. Du hattest doch befohlen, daß er eine reichliche Mahlzeit erhalten solle. Da habe ich die Gelegenheit gleich wahrgenommen, ihn mir ein wenig näher anzuschauen.“

„So. – Na, wie gefällt er dir denn? Sagte er dir zu?“

„Sehr. Er hatte auffallend gute Manieren und drückt sich in einer Weise aus, wie ich dies bei einem Chauffeur noch nicht gefunden habe.“

Der Präsident wurde etwas lebhafter.

„Siehst du, das habe ich auch sofort festgestellt. Aber leider kommt der Blenken für uns nicht in Betracht. Er besitzt keine Zeugnisse, und außerdem hat er mich belogen. Er gab an, zuletzt bei einem Dr. Lersa in Berlin in Stellung gewesen zu sein. Ich habe diesen Herrn nun telephonisch angefragt. Er kennt einen Host Blenken gar nicht.“

„Horst? – Für einen Mann aus dem Volk ein etwas anspruchsvoller Vorname,“ warf die dunkelhaarige Griseldis ein, die mit ihrer Schwester nicht die geringste Ähnlichkeit hatte. Sie besaß ein Gesicht, das keineswegs schön zu nennen war, aber doch äußerst anziehend wirkte, weil die braunen, lebhaften Augen, die zierliche Nase und besonders der etwas große Mund mit den vollen, leuchtend roten Lippen starkes Temperament verrieten. Ein Hauch von Frische und Lebensfrohsinn ging von ihr aus. Das gemessene Benehmen der Älteren fehlte ihr ganz.

„Gri hat recht,“ meinte Stella. „Horst ist wirklich für einen Chauffeur recht ungewöhnlich. – Schade, daß der Mann sich so schlecht bei dir eingeführt hat. Er repräsentiert sehr gut. Mit ihm könnte man sich stehen lassen, besser als mit Kuttner mit seiner verdächtig roten Nase.“

Herr von Hertel zerbröckelte einen Zwieback zwischen seinen wohlgepflegten Fingern.

„Ich habe ihn um fünf Uhr wieder herbestellt. Natürlich wird er nicht kommen, da er ja weiß, daß ich mich bei Dr. Lersa nach ihm erkundigen wollte,“ sagte er nachdenklich.

Stella schaute den Vater fragend an.

„Ob man’s nicht doch mit ihm versucht?! Wenn er billig ist …“

„Hm, – na ja! Aber ich weiß gar nicht, wo dieser … Blenken, richtig, Blenken! – wohnt. Wir müssen ihn uns also schon aus dem Sinn schlagen.“

„Er wohnt im christlichen Hospiz junger Männer,“ erklärte Stella einfach.

Wieder trafen sie zwei verwunderte Blicke.

„Er hat Franz um fünfzig Pfennig angeborgt und ihm daher seine Adresse angegeben,“ fuhr Stella fort. „Er sagte, er müsse notwendig nach auswärts telephonieren. – Es muß ihm sehr schlecht gehen. Er war gar nicht satt zu bekommen.“

Und sie dachte jetzt wieder daran, daß dieser Blenken auch beim Essen sich so sicher und zwanglos benahm, wie man dies bei einem Chauffeur kaum vermuten konnte. An Kleinigkeiten hatte sie auch gemerkt, daß er Messer und Gabel ganz wie ein Angehöriger der gebildeten Stände zu handhaben wußte. Aber diese Einzelheiten verschwieg sie.

„So, also die Adresse hätten wir,“ meinte der Präsident. „Dann könnten wir vielleicht Franz einmal zu ihm schicken.“

„Falls er sich wirklich nicht um fünf einfindet,“ setzte Stella hinzu. – –

Mit dem Glockenschlag fünf erschien Horst Blenken.

Dann stand er dem Präsidenten gegenüber. Bevor dieser aber dazu kam, die erste Frage an den Chauffeur zu richten, trat Stella ein, nickte dem Vater kurz zu und setzte sich seitwärts in einen Klubsessel.

„Sagen Sie mal, Blenken, „begann Herr von Hertel ernst, „weshalb haben Sie mich hinsichtlich dieses Dr. Lersa eigentlich so grob angelogen?“

Blenken errötete weder noch schlug er verlegen den Blick zu Boden.

„Herr Präsident, ich hatte Hunger,“ erklärte er offen.

„Das heißt, Sie wollten um jeden Preis bei mir unterzukommen suchen.“

„Jawohl, Herr Präsident.“

„Hm – können Sie mir denn niemand nennen, der über Sie Auskunft geben kann?“

„Nein – bedaure. Aber ich versichere, daß ich mir nie in meinem Leben bisher etwas zu Schulden kommen ließ und daß ich unbestraft bin. Ich bin der Sohn eines Maurermeisters. Meine Eltern sind tot. Hier ist mein Geburtsschein, hier ein Paß für das Ausland, ausgestellt vor zwei Jahren. Ich war damals in Rußland … beschäftigt. Auf dem Paß befindet sich meine Photographie. Und hier ist auch mein Kraftwagenführerschein.“

„Danke, letzteren habe ich ja schon gesehen. Er ist in Ordnung.“ Der Präsident blätterte in dem Paß, der in Rußland in allen möglichen Städten abgestempelt war.

„Hören Sie, Blenken, dieses Ausweis lautet auf „Herrn“ Horst Edgar August Blenken aus Berlin-Grunewald, Bismarck Allee 14. Warum steht hier nicht für den Chauffeur Horst Blenken? – Offenbar haben Sie doch mit Ihrem damaligen Brotherrn als Chauffeur eine Autotour bis an die persische Grenze gemacht, wie aus den Stempeln hervorgeht.“

„Allerdings, Herr Präsident. Es war eine Autotour. Und daß in dem Paß für „Herrn“ Blenken steht, das mag ein Versehen sein.“

„So. – Jedenfalls sind Sie dieser Blenken. Die Photographie beweist das. – Hm – Sie sind auf diesem Bild recht elegant angezogen. Damals ging es Ihnen wohl besser als heute, wie?!“

„Jawohl, Herr Präsident, viel besser. Richtige Sorgen kenne ich eigentlich erst seit dem 12. dieses Monats.“

Stella sah, daß es bei diesen Worten wie ein Lächeln um des Chauffeurs Mund zuckte. Dieser Mensch wurde ihr immer interessanter.

Herr von Hertel blickte unschlüssig vor sich hin. Dann schaute er Blenken durchdringend an.

„Mann – irgend etwas müssen Sie berissen haben …!“ sagte er streng. „Sie spielen hier so ein wenig den Geheimnisvollen. Solche Leute kann ich nicht brauchen. Aber – ich will Sie zur Probe für einen Monat einstellen. – Wieviel Lohn verlangen Sie?“

Blenken dachte einen Augenblick nach. Vielleicht nahm man ihn, wenn er wenig beanspruchte.

„Sechzig Mark, Herr Präsident.“

Herr von Hertel sah zu seiner Ältesten hinüber. Die winkte ihm mit den Augen zu.

„Gut denn. – Sie können Ihren Posten noch heute antreten,“ erklärte er.

 

4. Kapitel.

Präsident von Hertel bewohnte in dem neuen Hansaviertel am Hauptbahnhof eine kleine gemietete Villa mit hübschem Vorgärtchen und einem großen, gartenähnlichen Hofraum.

Der neue Chauffeure erhielt eine kleine, über der Autogarage liegende Stube für sich allein als Wohnraum zugewiesen. Die Stube lag im Stallgebäude. Ihre beiden schmalen Bogenfenster mußten in der warmen Jahreszeit, wenn erst die alten Linden und die drei Walnußbäume auf dem Hof ihren vollen Blätterschmuck hatten, ganz von frischem Grün umgeben sein. Im übrigen war sie höchst dürftig eingerichtet.

In einer Ecke stand der Kachelofen, an der längsten Wand ein eisernes Bett mit bunten Bettbezügen, gegenüber ein Fichtentisch, ein Stuhl, ein eiserner Waschständer und eine Kleiderecke mit geblümtem Vorhang. Von der Decke hing an einer Schnur eine elektrische Glühbirne mit flachem Schirm herab.

In dieses sein neues Reich zog Blenken gegen sieben Uhr abends an demselben Tage ein, an dem der Präsident ihn probeweise für einen Monat gemietet hatte.

So winzig und so ungemütlich kahl die Stube mit ihren ölfarbegestrichenen Wänden auch war, – immerhin gehörte sie Blenken allein. Und mit der Zeit wollte er schon dafür sorgen, daß er es hier behaglicher hatte.

Nachdem er seine wenigen Habseligkeiten ausgepackt hatte, ging er sofort in die Garage hinunter und musterte den Kraftwagen, den er nun zu steuern und zu versorgen hatte. Das Auto war schon ziemlich verbraucht, wie Blenken sehr bald sachkundig feststellte, außerdem auch recht verwahrlost. Jedenfalls ließ sich daran so manches ausbessern. Und mit dieser Arbeit gedachte der neue Chauffeure gleich am nächsten Tag zu beginnen.

Um acht Uhr brachte die Köchin Marie ihm dann das Abendrot, – drei dicke, aber sehr dünn belegte Stullen und eine Flasche Bier. Blenken aß mit wahrem Heißhunger. Dann machte er sich zum Ausgehen fertig.

Als er an den Seitenfenstern der Villa vorüberging, rief Stella von Hertel ihn an. Sie lehnte in einem geöffneten Fensterflügel des hochgelegenen Erdgeschosses.

„Blenken, Sie können für mich einen Brief am Bahnhof in den Kasten werfen. – Hier – fangen Sie ihn auf.“

„Sehr wohl, gnädiges Fräulein.“

Der Brief war in Zeitungspapier gewickelt. Nachher auf der Straße warf Blenken die Umhüllung fort und las die Aufschrift:

„Herrn Oberleutnant von Lütten, Berlin S., Heirotstraße 16.“

Eine leise Verwünschung entfuhr ihm. Diesen Oberleutnant kannte er persönlich, wenn auch nicht näher. Lütten stand bei den Gardedragonern und war ein eifriger Rennreiter, wenn er auch keine eigenen Pferde besaß.

Hm – wenn dieser Lütten ein Verwandter des Präsidenten war und mal nach Danzig kam, konnte die Geschichte recht unangenehm werden. – Unter diesen Umständen war es wohl das Beste, wenn er sich seinen Schnurrbart abnehmen und dafür lange Koteletten stehen ließ, die sein Gesicht vielleicht etwas verändern würden. Gleich morgen sollte also der Schnurrbart fallen. Es ging nicht anders. Er mußte vorsichtig sein.

Nachdem er den Brief besorgt hatte, begab er sich durch alte, winklige Gassen, an denen die Altstadt von Danzig so reich ist, nach einer in der Nähe der Markthalle gelegenen Kneipe, in deren breitem Fenster große Zettel hingen.

Täglich ab sechs Uhr nachmittags bis ein Uhr nachts Konzert der rühmlichst bekannten Damenkapelle Novattis. Eintritt frei! Vorzügliche Küche! Gutgepflegte Biere!

Die Kneipe führte den großsprecherischen Namen „Elysium-Hallen“ und hatte weibliche Bedienung. Zuerst gelangte man von der Straße aus in einen kleinen Vorraum, in dem der Schanktisch stand. Hieran schloß sich ein langgestreckter Saal an.

In der Mitte der einen Längswand erhob sich ein weit vorspringendes Podium, auf dem acht weißgekleidete, mit breiten, blauseidenen Gürtelschleifen geschmückte Mädchen verschiedensten Alters und Aussehens saßen. Außerdem gehörte zu der Damenkapelle noch ein alter, weißhaariger Mann, der das Harmonium bediente und auch Geige spielte.

Blenken setzte sich – der Saal war noch ziemlich leer – an ein kleines Tischchen links neben das Podium, nachdem er dem Alten und dessen Tochter Lizzie freundlich zugenickt hatte.

Als dann das bestellte Glas Bier vor ihm stand, begann die Kapelle auch schon einen Walzer zu spielen und zwar nicht gerade allzu schlecht. Die Dirigentin, eine üppige Blondine, gab sich alle Mühe, den modernen Gassenhauer mit möglichst viel Temperament zum Vortrag zu bringen.

Lizzie saß mit dem Rücken nach Blenken hin.

Der junge Millionär beobachtete sie mit gemischten Gefühlen. Er empfand ein seltsames Mitleid mit diesem blassen, zarten Geschöpf, das er damals in der Kneipe am Stettiner Bahnhof in Berlin zum erstenmal gesehen hatte.

Zwei Wochen waren es nun gerade her, als er ihr geholfen hatte, den trunkenen Vater glücklich in den Wagen vierter Klasse zu verladen, wo der Alte dann sofort auf einer Bank, mit seinem Geigenkasten als Kopfkissen, fest eingeschlafen war.

Unwillkürlich mußte Horst Blenken jetzt wieder an einige Einzelheiten dieser gemeinsamen Fahrt denken.

Da waren ein paar rohe, zudringliche Viehhändler gewesen, die immer wieder mit Lizzie ein Gespräch anfangen wollten und schließlich aus Wut über die kühle Abweisung sich in den rüdesten Redensarten ergingen, bis Blenken dem Schaffner beiseite nahm und mit einer geharnischten Beschwerde drohte, falls die Trunkenbolde nicht anderswo untergebracht würden.

Dann wieder hatten Lizzie und er, als der Morgen zu grauen begann, nebeneinander am Fenster gestanden und sich an dem Farbenspiel eines prächtigen Sonnenaufgangs erfreut.

Lizzie war deutlich anzumerken, wie froh sie war, einen Reisegefährten gefunden zu haben, mit dem sie die endlosen Stunden dieser Eisenbahnfahrt verplaudern konnte. Und doch blieb sie stets die Vorsichtige, Zurückhaltende. Zu gern hätte Blenken etwas über ihre Lebensschicksale erfahren. Aber diesen Gegenstand streifte sie, falls notwendig, nur mit nichtssagenden Andeutungen.

Überhaupt – die Unterhaltung zwischen diesen beiden Menschen, die das Schicksal auf so merkwürdige Art zusammengeführt hatte, behielt stets etwas Gezwungenes an sich. Lizzie Berner – ihren Vaternamen hatte sie nicht gut verschweigen können – gab sich alle Mühe, das über ihrer Vergangenheit lagernde Dunkel möglichst wenig zu lüften. Und Blenken wieder befand sich in der unangenehmen Lage, ihre über seine Person Angaben machen zu müssen, die nur zum geringsten Teil der Wahrheit entsprachen. Das Gespräch brachte es mit sich, daß er ihr erklären mußte, wer er sei – ein Chauffeur ohne Stellung, der jetzt in Danzig sein Glück versuchen wollte. Über sein bisheriges Leben erging er sich nur in allgemeinen Redensarten.

Auch sie mochte fühlen, daß er ihr manches vorenthielt. Das machte sie noch vorsichtiger. Und doch klang durch manchen ihrer Sätze wie eine todestraurige Hintergrundmelodie ungewollt die ganze Bitterkeit ihres einsamen, sorgengequälten Herzens hindurch. In solchen Augenblicken verschleierte der Gram ihre Blicke, wurde ihre weiche Stimme zitternd und weh wie das Nachklingen einer geschwungenen Saite. Dann hätte Blenken am liebsten wie ein liebevoller Bruder nach ihrer Hand gegriffen und ihr ein paar tröstende Worte zugeraunt. Aber in Lizzies ganzem Verhalten gab es ein Etwas, das ihn warnte. Er fürchtete, sie könnte ihn falsch verstehen, könnte noch scheuer werden.

Ja, es war damals ein wunderbarer Sonnenaufgang gewesen. Die zarte Röte des heraufziehenden Tages hatte Lizzies feines, edles Antlitz mit einem warmen Hauch übergossen, die krankhafte Blässe gemildert. Und Blenken hatte gedacht: „Wie hübsch dieses Mädchen doch ist! Wie müßte ihre Schönheit, der sanfte Reitz ihrer Züge erst zur Geltung kommen, wenn dieser häßliche, zerdrückte Hut diese Stirn und die reiche Haarfülle nicht mehr verunzierte, wenn diese durch Entbehrungen überschlanke Gestalt den Händen einer ersten Schneiderin anvertraut würde …!“ –

Fast zu schnell war die Fahrt an ihrem Ziel, zu schnellen für des jungen Millionärs Anteilnahme, der fest entschlossen war, später für Vater und Tochter zu sorgen, besonders für Letztere, deren Stimme bei entsprechender Ausbildung die Besitzerin vielleicht berühmt machen konnte. Jetzt waren Blenken ja für ein volles Jahr die Hände gebunden, jetzt konnte er nur über dieses arme Mädel wachen, das bei der ganzen Art ihres Berufes so vielen Anfechtungen ausgesetzt war.

In den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Danzig, als er noch vergeblich nach Beschäftigung suchte, hatte er sie nur ein Mal in den „Elysium-Hallen“ gesprochen. Dann war er fortgeblieben, weil seine Geldmittel es ihm nicht mehr erlaubten, sich ein Glas Bier zu gönnen.

Heute aber, wo sein neuer Brotherr ihm zehn Mark Lohn im voraus gegeben hatte, trieb ihn eine unbestimmte Sehnsucht zu Lizzie hin. Waren sie und ihr Vater doch die einzigen Menschen, die er hier in Danzig etwas näher kannte und bei denen er einige Teilnahme für seine Person voraussetzte. –

Der Walzer war beendet, und die Dirigentin hängte die Papptafel mit dem Aufdruck „Pause“ an ihren Notenständer.

Der alte Berner und Lizzie kamen zu Blenken an den Tisch. Ersterer blieb jedoch nur ein paar Minuten, wechselte einige Worte mit dem Reisegefährten und ging dann an einen in einer Ecke tagenden Stammtisch von Seeleuten der verschiedensten Nationen, wo man ihn stets freihielt, während er als Entgelt gepfefferte Witze erzählte und Kartenkunststücke zum besten gab.

Lizzie hatte sich Blenken gegenüber gesetzt, nachdem sie sich durch einen kräftigen Händedruck begrüßt hatten.

Er erzählte ihr, weshalb er sich so lange nicht habe sehen lassen und daß es ihm nun endlich gelungen sei, eine Stellung zu finden.

Sie beglückwünschte ihn mit herzlichen, ungekünstelten Worten.

„Ich glaubte schon, Sie seien wieder abgereist,“ sagte sie dann immer mit demselben schwermütigen Ernst. „Das hätte mir leid getan. Sie sind hier der einzige, dem gegenüber ich mich so ein wenig aussprechen kann.“

Sie zuckte nervös zusammen. Am Nebentisch hatte eine der „Künstlerinnen“, die jetzt mit zwei Schiffskapitänen zusammensaß, gellend und frech aufgelacht.

Blenken quoll wieder das Mitleid wie eine heiße Welle zum Herzen.

„Haben Sie sich hier nun wenigstens etwas eingelebt, Fräulein Lizzie?“ fragte er.

„Eingelebt?! – Das werde ich nie – nie! Aber es ist in den „Elysium-Hallen“ nicht schlimmer als in anderen Lokalen, in denen Vater und ich schon gespielt haben. Eher besser. Die Berliner zum Beispiel sind weit … zudringlicher. Ich würde mich ja auch geduldig mit alledem Häßlichen, das mich umgibt, abfinden, wenn nur diese hämischen Sticheleien der Kolleginnen und die Geldgier des Wirtes nicht wären. Erstere verhöhnen mich, weil ich mit Gästen keine Bekanntschaften schließe, weil ich eben anders bin wie sie, und der Inhaber dieses Lokales wieder ist unzufrieden, da ich die Besucher nicht aussauge …“

In ihrer Verbitterung suchte sie absichtlich nach starken Ausdrücken, die aus diesem Mund seltsam anklagend klangen.

„Es werden ja auch einmal bessere Tage kommen, Fräulein Lizzie,“ tröstete Blenken, indem er ihr aufmunternd zunickte.

Sie lächelte bitter, sagte aber nichts. Dieses Lächeln war genug. Es schnitt dem jungen Millionär ins Herz, es hieß: völlige Hoffnungslosigkeit.

In diesem Augenblick bedauerte Blenken mit einer stillen Wut gegen Dr. Lersa, daß dieser ihn für ein endloses Jahr den Ärmsten der Armen gleichgestellt hatte, daß er von seinem Reichtum keinen Gebrauch machen konnte … –

Dann sprach er mit Lizzie von anderen Dingen. Nur um sie aufzuheitern, erzählte er von seiner Hungerkur der letzten Tage, schilderte ihr sein Heim über der Garage und die Person des Präsidenten von Hertel, über dessen wahres Wesen er sich noch nicht ganz klar geworden sei.

Der Zufall wollte es, daß er jetzt erst den Namen seines neuen Herrn aussprach. Vorhin hatte er Lizzie nur gesagt, daß er als Chauffeur bei einem hohen Beamten untergekommen sei.

Der Name Hertel übte eine auffallende Wirkung auf das blasse Mädchen aus, das in dem weißen, duftigen Kleid noch jünger und zarter erschien.

Lizzie war zusammengefahren, hatte Blenken aus weiten Augen fast entsetzt angestarrt.

„Hertel – Hertel – sagten Sie Hertel?“ fragte sie hastig.

Er nickte nur. –

Weshalb diese deutliche Erregung bei ihr? Kannte sie den Präsidenten und dessen Familie etwa?

Da hatte sie sich auch schon gefaßt. Vor seinem forschenden Blick schlug sie die Augen nieder. Und, als wolle sie einer Frage seinerseits zuvorkommen, meinte sie gleichgültig:

„Wir wohnten einmal mit einem Präsidenten von Hertel in einem Haus. Daher mein Interesse für diesen Namen.“

Aber Lizzie war eine schlechte Schauspielerin. Daß sie die Unwahrheit sprach, war ihr deutlich vom Gesicht abzulesen.

Und Horst Blenken verargte ihr diese Notlüge nicht. Sie hatte sicherlich sehr schwerwiegende Gründe dazu. – –

Die Pause war vorüber. Blenken bezahlte, verabschiedete sich mit einem Händedruck von seinem blassen Schützling und verließ das Lokal.

 

5. Kapitel.

Am nächsten Morgen stand Blenken schon früh auf. Er wollte dem Präsidenten zeigen, daß er kein Müßiggänger sei und sich zu beschäftigen wisse.

Nachdem er seine Stube sauber aufgeräumt hatte, ging er in die Garage hinunter und nahm zunächst einmal die beiden Chauffeuranzüge und den Mantel, die in einem Verschlag hingen und die er nun notgedrungen tragen mußte, in Augenschein. Sie waren noch leidlich sauber, und nach Anwendung von Wasser, Seife, Benzin und eines Bügeleisens konnte man sich in ihnen wohl sehen lassen. Die Frage war nur, ob sie paßten. War dies nicht der Fall, so sollte ein Schneider sie umändern, wie der Präsident schon gestern befohlen hatte.

Dann begann Blenken den Kraftwagen zu säubern. Mit dieser Arbeit wußte er gut Bescheid, – bisher freilich nur vom Zusehen. Um sich seine Finger dabei nicht zu sehr zu beschmutzen, zog er sich die Lederhandschuhe an, die er in dem mitgenommenen Ulster gefunden hatte.

Um halb acht brachte die Köchin Marie ihm den Kaffee. Sie war eine derbknochige, rotwangige Person und begegnete Blenken sofort mit einer plumpen Vertraulichkeit, die diesen geradezu abstieß.

Kaum war der neue Chauffeur sie glücklich losgeworden, als der Präsident selbst über den Hof auf die Garage zukam.

Blenkens Gruß erwiderte er mit einem Kopfnicken. Dann stellte er allerlei Fragen, die offenbar den Zweck hatten herauszufinden, ob Blenken auch mit den verschiedenen Systemen der Kraftwagen Bescheid wisse.

Nun, auf diesem Gebiet war der jungen Millionär weit beschlagener als sein Brotherr. Der gab das Examen denn auch bald auf und schaute eine Weile schweigend zu, wie Blenken den Motor auseinanderzunehmen begann.

Dann sagte er in seiner kurz angebundenen Art:

„Vorläufig haben Sie wenig zu tun. Vormittags neun Uhr bringen Sie mich nach dem Dienstgebäude an der Großen Promenade, und um zwei Uhr holen Sie mich wieder ab. Wird es wärmer, so machen wir nachmittags häufiger Ausflüge. Bis dahin werde ich Sie auch im Hause beschäftigen, damit Sie nicht auf dumme Gedanken kommen. – Haben Sie eine leidliche Handschrift?“

„Es geht, Herr Präsident.“

„So – dann können Sie meiner Tochter Stella, die ein wenig schriftstellert, die Manuskripte sorgfältig abschreiben. Auch ich werde Ihnen gelegentlich ähnliche Arbeiten übertragen.“

Wieder nickte er dem neuen Chauffeur flüchtig zu und verließ dann die Garage.

Blenken mußte sich jetzt sehr beeilen, um das Auto bis neun Uhr vollständig fahrbereit zu haben. Er schaffte es aber.

Kurz vor halb zehn stand das Auto dann schon wieder in dem zementieren Raum unter Blenkens Stübchen.

Jetzt nahm dieser die Chauffeurkleidungsstücke vor und säuberte sie sorgfältig. Sie paßten ihm ganz gut. Während er gerade die blanken Knöpfe des Mantels putzte, erschien das älteste Fräulein von Hertel in der Garage.

Sie trug ein leichtes Morgenkostüm, das ihre schlanke und doch volle Gestalt voll zur Geltung kommen ließ.

„Morgen, Blenken. – Papa hat Ihnen ja schon gesagt, daß Sie in Ihrer freien Zeit für mich tätig sein sollen. Schreiben Sie zunächst einmal diese Novelle ab. Es sind nur wenige Seiten.“

Sie gab ihm genau Anweisungen, wie sie diese Arbeit ausgeführt haben wollte. Dann fragte sie unvermittelt:

„Sind Sie eigentlich schon mal in Danzig gewesen, Blenken?“

„Jawohl, gnädiges Fräulein. Aber stets nur für ein paar Tage.“

Sie hatte den rechten Fuß wie unabsichtlich in die Speichen des einen Hinterrades geschoben, so daß der Rocksaum sich ein Stück nach oben zog und den kleinen, rotledernen Morgenschuh und eine feine Fessel enthüllte, deren Haut durch den dünnen Florstrumpf hindurchschimmerte.

Blenken, der für weibliche Schönheit durchaus nicht unempfänglich war, konnte seinen Blick nur schwer von diesem zierlichen Fuß losreißen.

Etwas scheu und schuldbewußt schaute er Stella von Hertel dann ins Gesicht, da sie eben gefragt hatte:

„Wie alt sind Sie eigentlich, Blenken?“

„Neunundzwanzig, gnädiges Fräulein.“ Er hatte sich wirklich einen Moment auf sein Alter besinnen müssen. Aber daran war nur das eigenartig aufreizende Lächeln schuld und das Flirren und Flimmern in ihren Augen …

Wollte diese Stella etwa mit ihm, dem Chauffeur ihres Vaters, ein kokettes Spiel treiben …?! Gehörte sie etwa zu jenen hochgestellten und doch so niedriggesinnten Damen, die zum Zeitvertreib auch gelegentlich eine Liebelei mit einem Untergebenen anfingen?

Dann nahm sie auch schon den Fuß von der Radspeiche herab und sagte in leicht befehlendem Ton:

„Sie schreiben mir dann also die Novelle so bald als möglich ab. – Morgen, Blenken.“

Der junge Millionär schaute ihr kopfschüttelnd nach.

Dieses blonde Weib war ihm ein Rätsel. Hatte sie es wirklich darauf angelegt, sein Blut in Wallung zu bringen?! Bereitete es ihr vielleicht Vergnügen, mit Männern ein gefährliches Spiel zu treiben?! Oder – hatte er sich geirrt, hatte er dieses Lächeln, diesen lockenden Ausdruck in den Augen nur zu sehen geglaubt, sich also getäuscht.

Horst Blenken lachte plötzlich laut auf. Die Stellung im Hertelschen Hause schien ja recht interessante Seiten zu haben …! – Er war gespannt, was er mit Stella noch weiter erleben würde und ob er ihr tatsächlich Unrecht getan habe. –

Es kam noch besser.

Kaum war die älteste Hertel verschwunden, als Griseldis über den Hofe huschte.

Blenken hatte sie nur gestern abend flüchtig gesehen. Als sie jetzt zu ihm in die Garage trat, betrachtete er sie genauer.

Sie hatte offenbar mehr Rasse wie die ältere. Ein ausgelassener Kobold schien’s zu sein. – Er sollte sie bald anders beurteilen lernen.

Sie pflanzte sich mit in die Hüften gestemmten Armen vor ihm auf und musterte ihn von Kopf bis Fuß.

„Also so sehen Sie bei Tage aus, Blenken! Nicht übel! Regierungsassessor von Schierstädt würde sicherlich eine von seinen beiden Millionen, die man ihm nachsagt, darum geben, wenn er Ihnen gliche – äußerlich! Er ist nämlich abscheulich häßlich. Sie werden ihn ja bald mal zu Gesicht bekommen. Er fährt oft mit uns aus. –

Eine Million – hm – würden Sie dafür wie ein Affe herumlaufen wollen, Blenken?“

Er erlaubte sich ein wenig zu lächeln.

„Eine Million!! Das ist ein Haufen Geld, gnädiges Fräulein! Aber – wie ein Affe?! …“

Griseldis von Hertel, von den ihrigen stets Gri genannt, hatte an der Erörterung dieser Frage weiter kein Interesse mehr. Sie hatte eben nur mit dem neuen Chauffeur sich von vornherein auf einen vertrauteren Fuß stellen wollen.

Jetzt holte sie eine Schachtel Zigaretten hervor.

„Da, Blenken, die schenke ich Ihnen. Es ist eine anständige Marke. Aber sie müssen mir auch einen Gefallen tun – ja? – Bringen Sie doch diesen Brief sofort an die auf dem Umschlag stehende Adresse – sofort! Die Hauptsache, niemand darf von dem Brief etwas wissen, niemand!!“

Blenken zögerte.

„Gnädiges Fräulein, ich weiß nicht, ob …“

„Unsinn, Blenken!“ unterbrach sie ihn. „Sie sagen einfach, Sie gehen zum Friseur, falls Sie jemand fragt.“

Friseur …!! – Blenken fiel erst jetzt ein, daß er sich ja den Schnurrbart hatte abnehmen lassen wollen.

Griseldis wurde dringender.

„Der Brief hat Eile. Sie müssen mir den Gefallen tun. Der Herr, an den er abzugeben ist, liegt sicher noch in den Federn. Er steht nie vor zwölf Uhr auf.“

„Gut, gnädiges Fräulein, – ich tu’s, weil ich tatsächlich noch zum Friseur wollte. Aber – solche heimlichen Botengänge können mich um meine Stellung bringen. Und deshalb …“

„Ein Mal ist kein Mal, Blenken! Und wer erfährt denn was davon. – Jedenfalls schönen Dank!“

Wieder musterte sie ihn keck.

„Stella wäre sicher selig, wenn der Schierstädt so aussähe wie Sie – wirklich!!“

Dann eilte sie davon.

Und Blenken dachte: „Merkwürdige junge Dame! – Wer hätte das im Hause eines Präsidenten vermutet!“ –

Eine halbe Stunde später war der Brief besorgt. Der Student des Schiffbaufaches Arno Holzer lag tatsächlich noch im Bett, als Blenken ihm das Schreiben persönlich übergab. Er war ein hübscher, junger Bursche mit ein paar knallroten Schmissen im Gesicht.

„Warten Sie einen Augenblick,“ hatte er gebeten. „Vielleicht ist Antwort nötig. – Sie sind wohl der Nachfolger von Kuttner, wie?!“

„Ja, der bin ich.“

Der Student hatte den Brief, vier eng beschriebene Seiten, wie Blenken sah, bald überflogen, hatte etwas von „liebes Mädel“ vor sich hingemurmelt und dann laut gesagt:

„Bestellen Sie nur dem gnädigen Fräulein, ich würde pünktlich da sein. – So, und hier haben Sie fünfzig Pfennige. Aber setzen Sie den Obolus nicht gleich in Schnaps um, wie der rotnasige Kuttner es immer tat. Bier ist gesünder. – Morgen – auf Wiedersehen!“ –

Als Blenken dann bei einem Friseur mit eingeseiftem Gesicht in dem Barbiersessel saß und die beste Gelegenheit zum Nachdenken hatte, wurde es ihm klar, daß dieser kleine Sprühteufel von Griseldis hinter dem Rücken ihres Vaters offenbar schon seit einiger Zeit eine Liebelei mit diesem Arno Holzer hatte, der, nach den beiden elegant eingerichteten Zimmern seiner Studentenwohnung zu schließen, in recht guten Verhältnissen leben mußte. –

Griseldis faßte Blenken bei der Rückkehr vor der Villa ab. Sie war zum Ausgehen angezogen und sah jetzt sehr würdig und vornehm aus.

„Na – erledigt?“ fragte sie leise.

„Jawohl, gnädiges Fräulein.“

„Hat Herr Holzer Ihnen noch eine Antwort aufgetragen, Blenken?“

„Er wird pünktlich da sein. – Das war alles.“

Griseldis dunkle Augen leuchteten auf.

„Ich danke Ihnen nochmals, Blenken. – Aber – weshalb haben Sie sich Ihren blonden Schnurrbart abnehmen lassen?! Jetzt könnte man Sie für einen Schauspieler halten.“

„In einem vornehmen Hause gehen die Bedienten wohl immer glattrasiert, gnädiges Fräulein.“

„Das stimmt. – Morgen, Blenken.“

 

6. Kapitel.

Drei Tage später erhielt Stella von Hertel die Antwort auf jenen Brief, den ihr Blenken gleich am ersten Abend seiner Anwesenheit im Hause des Präsidenten hatte in den Kasten werfen müssen.

Oberleutnant von Lütten, ihr Vetter zweiten Grades schrieb ihr:

„Verehrteste aller Kusinen! Es wäre mir angenehm gewesen, von dir auch einmal Nachricht zu erhalten, ohne daß, wie auch dieses Mal wieder, der Wunsch dir die Feder in die schlanken Fingerchen gedrückt hat, nicht als Kommissionär zu benutzen. Gerade in Erinnerung an so manche schönen Stunden, die wir beide gemeinsam verleben durften (du weißt schon, was ich meine), hätte ich es als dein einstiger, nunmehr verabschiedeter Verehrer (Fluch über den schnöden Mammon, der nun einmal dazu gehört, aus einem Paar auch ein Ehepaar zu machen!) sehr tröstend empfunden, aus einem Schreiben, das keine Aufträge für mich enthält, zu entnehmen, daß du zuweilen auch sozusagen „von selbst“ an mich denkst. Nun – ich habe mich ja schon mit vielem abgefunden – mit sehr vielem! – Trotzdem beeile ich mich, dir die verlangte Auskunft zu geben.

Als gewissenhafter Kommissionär wiederhole ich zunächst deinen Auftrag wörtlich aus deinem letzten Brief. –

„Papa hat heute einen Chauffeur eingestellt, von dem ich aus verschiedenen Gründen annehme, daß er ein gebildeter Mensch ist und daß ihn nur harte Schicksalsschläge dazu gezwungen haben, Kraftwagenführer zu werden. Ich halte ihn für einen verkrachten Ingenieur oder dergleichen. Möglich, daß ich mich irre. Ich glaube es aber nicht. Er heißt Horst Blenken und hat im Jahre 1910, wie aus einem Papa vorgelegten Paß hervorgeht, Berlin-Grunewald, Bismarck Allee 14 gewohnt. –

Da ich nun gern wissen möchte, ob meine Menschenkenntnis mich hinsichtlich des wahren Bildungsgrades dieses neuen Chauffeurs im Stich gelassen hat, bitte ich dich Nachforschungen anzustellen, was über diesen Blenken in dem Hause Bismarck Allee 14 bekannt ist.“ –

Treue Kusine, soweit dein Auftrag, und nachfolgend meine Antwort. –

In dem genannten Haus, das nebenbei bemerkt eine der vornehmsten Villen der Grunewaldgemeinde ist, weiß man über einen Horst Blenken sehr viel – sogar alles, was man nur wissen will, und dies aus dem einfachen Grunde, weil jenes „Haus“ einem Horst Blenken, von Beruf zehnfacher Millionär mindestens, gehört. Diesen Blenken kenne ich nun zufällig sogar persönlich, wenn auch nicht genauer. Er ist das, was man einen „netten Kerl“ nennt, außerdem auch äußerlich eine famose Erscheinung. Zurzeit befindet sich der Millionär Horst Blenken auf einer Weltreise, wie unschwer zu erfahren war. Der Chauffeur Horst Blenken dürfte also ein Mann sein, der widerrechtlich in den Besitz des Passes gelangte, daher als „Schwindler“ zu bezeichnen und mit größter Vorsicht zu behandeln ist. Setzt ihn schleunigst wieder an die frische Luft, ehe er Unheil anrichtet. Damit du dich überzeugen kannst, daß euer Horst Blenken niemals mit dem ziemlich bekannten Sportmann gleichen Namens identisch ist, füge ich ein paar Bilder des „echten“ Blenken bei, die ich aus der Sportwelt ausgeschnitten habe. –

So, ich hoffe, du wirst mit mir zufrieden sein. –

Zum Schluß noch etwas über mich selbst. Ich bin von sofort zur deutschen Botschaft nach Konstantinopel kommandiert worden, daher mit Besorgungen stark überhäuft und nicht imstande, noch länger mit dir zu plaudern, so gern ich es auf möchte. Vom Bosporus aus schreibe ich mal gelegentlich eine Karte, vielleicht auch einen Brief, wenn ich mich erst etwas eingelebt habe. – Bitte grüße die Deinen herzlich von mir. –

In alter Verehrung …

Dein Herbert-Otto.“

Stella von Hertel legte den Brief hastig bei Seite und griff nach dem Umschlag, in dem die Bilder aus der Sportwelt dem Schreiben beigefügt waren.

Es handelte sich um fünf Zeitungsausschnitte. Sie zeigten Horst Blenken in verschiedenen Anzügen: als Autofahrer und zweiter Sieger im Taunusrennen, als Besitzer des Rennstalles Marhelm, als Flugzeugführer in seinem eigenen Albatros-Doppeldecker und zu vier und fünf in einer Gruppe von mehreren Herren als Vorstandsmitglied von Rasensportvereinen. –

Ein triumphierendes Lächeln spielte um Sellars Lippen. Ihre Menschenkenntnis hatte sie nicht getäuscht. Und wie gut, daß sie damals, einer schnellen Eingebung folgend, sofort an Lütten geschrieben hatte …!

Nachdenklich schaute sie jetzt vor sich hin. Sie saß an dem Schreibtisch ihres Zimmers bei verschlossener Tür. Vorsicht in allen Dingen war ihr zur zweiten Natur geworden. Gri klopfte ja nie an, wenn sie zu ihr kam. Und die brauchte von diesem Brief ebenso wenig etwas zu wissen wie der Papa. Horst Blenkens Geheimnis sollte auch das ihrige bleiben.

Zehnfacher Millionär …! Und Schierstädt besaß angeblich nur zwei!! Da war die Wahl nicht schwer, besonders wenn man noch das Äußere der beiden Männer in Betracht zog …

Zehn Millionen! – Stella erging sich in allerlei Zukunftsträumen … Sie lächelte wieder vor sich hin. Nun, daß Horst Blenkens Phantasie sich mit ihr jetzt schon beschäftigen würde, dafür hatte sie bereits in Vorahnung künftiger Ereignisse so etwas gesorgt. Sie dachte an die Szene in der Garage an jenem Morgen … Wie er damals ihren zierlichen Fuß mit den Blicken verschlungen hatte …! Er war eben ein Mann, und damit hatte sie klug gerechnet.

Freilich – jetzt mußte sie ihre Taktik ändern, sich von ganz anderer Seite zeigen, damit er sie nicht etwa für eine Kokette hielt, die selbst an einem Chauffeur ihre Künste versuchte …

Stellas Gedanken eilten weiter … Weshalb Blenken wohl diese Rolle übernommen hatte …?! Ob’s nur die Laune eines übersättigten Millionärs war?! Vielleicht steckte auch eine Wette dahinter … Jedenfalls war er’s – und das blieb die Hauptsache. Auch eine bloße Ähnlichkeit konnte hier ja nicht vorliegen. Auf einer Weltreise sollte er sich befinden …?! Nette Weltreise, die er schon in Danzig beendet hatte! Und auch der Kraftwagenführerschein für „Herrn“ Blenken, das Fehlen jeglicher Zeugnisse …!! Mehr Beweise waren wirklich nicht nötig.

Stella erhob sich, zündete ein Licht an und verbrannte Lüttens Brief und die Bilder aus der Sportwelt.

Dann riegelte sie die Tür auf und ging in ihres Vaters Arbeitszimmer hinüber. Sie wußte, daß Blenken dort gerade die zahlreichen Bücherschätze des Präsidenten neu ordnete und dazu einen Katalog anfertigte. Herr von Hertel hatte eben sehr bald gemerkt, ein wie anstelliger Mensch dieser neue Chauffeur war.

Während Stella den Korridor entlangschritt, fiel ihr noch etwas anderes ein. Richtig – sie hatte Blenken ja auch mit der Novelle, die er abschreiben sollte, eine Falle gestellt. In dem flüchtig hingeworfenen Manuskript kamen ein paar englische und französische Sätze vor, die er nie richtig hätte abschreiben können, wenn er diese beiden Sprachen nicht völlig beherrschte. Mithin noch ein Beweis, daß er ein gebildeter Mensch war.

Bei Stellas Eintritt verbeugte Blenken sich. Sie nickte ihm freundlich zu. Über dem Hauskleid trug sie heute eine große Wirtschaftsschürze. Das gab ihr etwas Frauenmäßiges, etwas Solides und Arbeitsames. Fleißig war Stella von Hertel ja auch tatsächlich. Sie ersetzte die abwesende Mutter vollständig, kümmerte sich um alles, hielt auf Sparsamkeit und verdiente noch nebenbei durch ihre Novellen kleine Summen. Mithin gab es auch in ihrem berechnenden Charakter einen versöhnlichen Zug.

„Eine etwas ungewohnte Arbeit für Sie, nicht wahr?“ sagte sie jetzt, indem sie scheinbar im Zeitungsständer nach einem bestimmten Blatt suchte.

„Das wohl, gnädiges Fräulein. Aber ich hoffe sie trotzdem zu des Herrn Präsidenten Zufriedenheit zu erledigen.“

„Wenn wir morgen ebenso schönes Wetter wie heute haben, möchte ich nachmittags nach Zoppot fahren, Blenken. Ich liebe die See. –Kennen Sie Zoppot?“

„Wenig, gnädiges Fräulein.“

„Es wird Ihnen gefallen. Das neue Kurhaus ist ein Prachtbau. – Ich möchte auch gern lernen, ein Auto allein zu steuern. Wollen Sie mein Lehrer sein? Unser früherer Chauffeur war ein zu ungehobelter Mensch, um sich von ihm unterrichten zu lassen.“

„Sehr gern, gnädiges Fräulein, sehr gern,“ beeilte Blenken sich zu versichern.

„Gut denn. Also morgen Nachmittag. Papa und Griseldis werden gern darauf verzichten, uns zu begleiten. Wenn wir allein sind, kann der Unterricht gleich beginnen.“

Sie lächelte ihm wie in Vorfreude auf diese Belehrungsfahrt zu und verließ das Zimmer.

Blenken starrte noch eine Weile die Tür an, hinter der sie verschwunden war.

„Ein prächtiges Geschöpf, dieses Stella,“ dachte er. „Nicht die Spur hochmütig. Und doch weiß sie so ganz fein anzudeuten, daß zwischen ihr und dem Chauffeur Horst Blenken sich eine Schranke erhebt. Menschenkenntnis besitzt sie auch. Daß ich hinsichtlich Benehmens und geistiger Fähigkeiten über dem Durchschnitt meiner Kollegen stehe, ist ihr nicht entgangen.“

Er nahm seine Arbeit etwas zerstreut wieder auf.

 

7. Kapitel.

Am Abend des folgenden Tages saß der junge Millionär in seinem Stübchen und begann beim Schein der elektrischen Glühlampe sein Tagebuch:

„Mein lieber Lersa!

Ich bin nun doch Chauffeur bei demselben Herrn geworden, dem du auf seine telephonische Anfrage hin erklärt hast, dir sei ein Horst Blenken gänzlich unbekannt. Ich nehme dir dieses Verleugnen meiner Person nicht übel, ebenso wenig, daß du mich damals am Fernsprecher auf so deutliche Art an mein gegebenes Wort und unsere Abmachung erinnertest. Das war ganz richtig von dir. Der Hunger – denn ich habe hier in Danzig gehungert, daß mein Magen schon nicht mehr knurrte, sondern bellte! – hatte mir die klare Überlegungen geraubt. Sonst wäre ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, dich zu bitten, mich bei dem Präsidenten von Hertel zu empfehlen. Nun, diese Klippe ist ja nun glücklich überwunden.

Ich sitze hier in meiner Chauffeurstube über der Garage an einem Fichtentisch. Eine Zeitung dient mir als Schreibunterlage. Hin und wieder ziehe ich an einer Siebenpfennigzigarre, an deren Geschmack meine Zunge sich nicht recht gewöhnen will. Der Unterschied zu meiner früheren, fünfmal so teuren Marke ist etwas groß.

Mein Tagebuch ist ein gewöhnliches Schreibheft. Kostenpunkt zehn deutsche Reichspfennige. Ich muß eben bei meinem Gehalt von sechzig Mark monatlich jeden Groschen mir erst sehr genau ansehen, ehe ich ihn ausgebe. Allerdings habe ich noch einige Nebeneinkünfte. Ich spiele nämlich fast täglich den Liebesboten zwischen der jüngeren Tochter meines Brotherrn und einem vermögenden Studenten der hiesigen technischen Hochschule. Fräulein Griseldis belohnt mich hierfür gelegentlich mit Zigaretten, der Bruder Studio regelmäßig mit einer halben Mark oder ein paar guten Zigarren. Dann bekomme ich auch Trinkgelder, wenn ich mal Gäste des Präsidenten nachts nach Hause bringe.

Die Familie meines Gebieters besteht aus drei Personen: Herrn von Hertel, groß, ernst, ganz der Typ des hohen preußischen Beamten, und seinen beiden Töchtern Stella und der kleinen Hexe Griseldis. Daß auch Frau von Hertel noch am Leben ist, erfuhr ich erst gestern von der Köchin Marie, die sich alle Mühe gibt, mich in ihre Netze zu locken, und mir daher, um mir ihre Zuneigung zu beweisen, mancherlei zuträgt, was sonst wohl kaum zu meiner Kenntnis gelangen würde.

Mit dieser Frau von Hertel – sie ist seit drei Jahren geisteskrank und befindet sich in der Provinzirrenanstalt Neustadt, Westpreußen – muß irgend eine dunkle Geschichte verknüpft sein, deren Schatten noch heute auf der Familie und diesem Hause lagern und zwar in Gestalt eines ziemlich großen „Dalles“, wie der Berliner sagt. Alles hier steht unter dem Zeichen der Sparsamkeit, wobei aber doch nach außen hin der Schein eines behaglichen Lebens offenbar um jeden Preis gewahrt bleiben soll. Daher auch der Luxus des Autos, daher aber auch die einfachere Beköstigung und die … sechzig Mark Gehalt, die ich beziehe. Daß ich nur meiner „Billigkeit“ wegen diese Stellung bekommen habe, ist mir längst klar geworden.

Was es mit der erwähnten „dunklen Geschichte“ eigentlich auf sich hat, konnte mir auch die ebenso aufdringliche wie geschwätzige Marie nicht genauer sagen. Jedenfalls haben Hertels früher in sehr guten Verhältnissen gelebt. Das wurde ganz plötzlich zu derselben Zeit anders, als Frau von Hertel erkrankte. Ob diese nun an krankhafter Verschwendungssucht gelitten und enorme Schulden gemacht hat, oder ob sie ihr Vermögen – denn sie soll sehr reich gewesen sein – durch einen Bankkrach oder unglückliche Spekulationen verloren hat, habe ich nicht herausbringen können.

Die Sache wäre mir ja auch ganz gleichgültig, wenn ich nicht auf der Eisenbahnfahrt nach hier in der vierten Klasse ein bedauernswertes Musikantenmädel kennen gelernt hätte, die Lizzie Berner heißt und jetzt in dem hiesigen „Elysius-Hallen“ in einer Damenkapelle mitwirkt.

Frau von Hertel ist nämlich eine geborene Berner, und ich vermute, daß sie und der Vater jener Lizzie Geschwister sind. Bisher habe ich mit meinem kleinen, scheuen Schützlingen hierüber noch nicht gesprochen. Sie weicht nämlich jeder Erörterung ihrer Lebensschicksale und ihrer Familienverhältnisse ängstlich aus. Und meine Teilnahme will ich ihr nicht aufdrängen. Trotzdem möchte ich mir aber über Verschiedenes Aufschluß verschaffen. –

Weshalb zum Beispiel verleugnet Lizzie diese Verwandtschaft?! Und wo ist das Vermögen Frau von Hertels geblieben?! – Das sind Fragen, die mich seit gestern lebhaft beschäftigen.

In meinen hiesigen Aufenthalt ist also jetzt eine interessante Note hineingekommen.

Es scheint aber nicht die einzige bleiben zu wollen. Ich spiele nämlich noch den Fahrlehrer der ältesten Tochter. Ein etwas gefährliches Amt, wenn die Schülerin, wie hier der Fall, eine blonde Schönheit ist.

Gestern hat der Unterricht begonnen. Wir waren nach dem nahen Seebad Zoppot gefahren. Diesen Nachmittag werde ich so bald nicht vergessen.

Stella saß vorn im Auto neben mir. Und bei dem Unterricht in der Handhabung des Lenkrades konnte es nicht ausbleiben, daß unsere Finger sich des öfteren berührten, auch unsere Schultern.

Lersa, ich sage dir, – sie ist ein verteufelt hübsches Weib, dabei vornehm und doch im Haushalt eifrig tätig. Letzteres wird dir besonders gefallen.

Unterwegs hatten wir noch eine Begegnung, die der guten Laune Fräulein Stellas für eine Weile erheblich Abbruch tat. Wir begegneten nämlich in Oliva – vielleicht besinnst du dich, daß es dort mal eine Niederlaßung der Kartenhäuser Mönche gegeben hat und irgend ein berühmter Friede zu Oliva geschlossen worden ist – der kleinen Hexe Griseldis und ihrem Verehrer, dem Studenten.

Auf Stellas Befehl mußte ich weiterfahren, ohne bei dem Pärchen zu halten. Griseldis besaß sogar die Unverfrorenheit, uns vergnügt zuzuwinken, worauf die Ältere empört sagte:

„Ich begreife meine Schwester nicht! Nun – ich werde ihr daheim einmal gehörig ins Gewissen reden. Wie kann sie nur mit einem Herrn allein Ausflüge machen!!“

Soeben merke ich, lieber Lersa, daß ich ganz gegen meinen Willen ins Plaudern gekommen bin und die Hauptsache noch gar nicht berührt habe.

Ich will mich sofort bessern.

Zu deiner Freude kann ich ehrlich sagen, daß mir mein neuer Beruf tadellos bekommt, daß ich Freude an der Arbeit habe und nicht mehr zu allen Tages- und Nachtstunden, sondern nur noch abends aus ehrlicher Müdigkeit heraus gähne.

Mit einem Wort, eine entschiedene Besserung ist bei mir schon festzustellen.

Doch nun Schluß für heute. Ich gähne fortgesetzt. Und mein Bett mit den rotgewürfelten Bezügen lockt einen hundemüden Chauffeur. Gute Nacht, Lersa!“ –

Bevor Horst Blenken zur Ruhe ging, trat er noch an eines der kleinen Bogenfenster seiner Stube, schlug den roten Kattunvorhang beiseite und blickte nach der Villa hinüber.

Dort war an der rechten Seitenfront nur noch ein einziges Paar Fenster erleuchtet, dort wohnte Stella von Hertel …

Ob sie noch aufsaß und arbeitete, an einer neuen Novelle schrieb …?

Aber der junge Millionär zeichnete sich in Gedanken ein falsches Bild von dem, was in Stellas Zimmer vorging.

Stella war nicht allein.

Die kleine Hexe Gri saß bequem in einem Faulenzer, hielt eine Zigarette in der Rechten und lachte gerade die ältere Schwester etwas herausfordernd an.

Stella lehnte am Schreibtisch; wie immer in einer Haltung, die das Ebenmaß ihrer Gestalt gut zu Geltung brachte. Hierauf verstand sie sich. Und lange Gewohnheit hatte sie zu einer wahren Künstlerin im Einnehmen zwangloser, gefälliger Stellungen gemacht.

„Ich bin wirklich gespannt, Stella, was du mir so Schreckliches vorzuhalten hast,“ sagte Griseldis jetzt. „Schieß’ los! Ich habe da einen Roman, der wahrscheinlich interessanter ist, als unsere Aussprache es werden wird.“

„Du stellst uns bloß, du erschwert uns die Heiratsaussicht durch dein Benehmen!“ erwiderte die Ältere leicht gereizt. „Gestern in Oliva – mir war’s vor Blenken ordentlich peinlich, als wir dich mit Holzer trafen. Ich wollte eigentlich sofort mit dir darüber sprechen … Das geht so nicht weiter. Wir müssen Rücksicht auf Papas Stellung nehmen. Du treibst es zu toll …!“

Gri lachte belustigt auf.

„Bloßstellen?! Und vor Blenken war’s dir peinlich?! Vor Blenken, unserem Chauffeur?! Sei nicht komisch, Stella!“

Die zog ärgerlich die Unterlippe durch die Zähne. Sie wußte nicht recht, wie sie es der Jüngeren klarmachen sollte, daß die Beziehungen zu dem Studenten ihre eigenen Pläne störten, indem Blenken vielleicht daran Anstoß nehmen würde, in eine Familie hineinzuheiraten, in der die eine Tochter so leichte Anschauungen über das verriet, was sich eine junge Dame an Freiheiten gestatten konnte und was nicht.

„Benutzt du etwa Blenken genau so wie Kuttner zur Beförderung von Briefen an Holzer?“ fragte sie jetzt ziemlich scharfen Tones.

„Natürlich! Warum nicht?! Ich gönne Blenken die Trinkgelder sehr, die er von Arno bekommt.“

Stellas Augen schienen vor Empörung kleiner zu werden.

„Du – du – wenn ich das früher gewußt hätte …!! Was denkst du dir! Wenn Blenken plaudert …! Danzig ist ein Klatschnest … Im Augenblick kannst du dich in unseren Kreisen unmöglich gemacht haben, du … leichtfertiges Geschöpf!“

„Bitte – nun hör aber auf mit dem Unsinn!“ meinte Griseldis sehr gelaßen. „Du als Richterin über mich – daß i net lach’!! Denk’ doch an Hauptmann Färber, an Vetter Lütten und den Kunstmaler Winkler …! Das sind nur drei, von denen ich bestimmt weiß, daß sie mit dir jedenfalls nicht rein brüderlich zärtliche Küsse ausgetauscht haben. Ich habe mich darum nie gekümmert – nie! Ich sagte mir eben: „Ein „armes“ Mädel muß zu jedem Mittel greifen, um zu einem reichen Mann zu kommen, selbst zu Vorschußzärtlichkeiten“. Und nun willst du mir Moral predigen, ausgerechnet du!! Vergiß nicht, daß ich mit Arno etwas anders stehe als es bei dir mit Färber und seinen Nachfolgern der Fall war! Arno wird mich heiraten! Dafür werde ich schon sorgen. Ich habe ihn lieb, und er mich auch. Er ist das einzige Kind seiner Eltern, ist sehr wohlhabend. Daß sein Vater nur Bauunternehmer ist, stört mich nicht. Im Herbst verläßt Arno die Hochschule. Dann muß er sich mit mir verloben. Ich weiß was ich will! Und er ist der erste Mann, von dem ich mich küssen ließ … Ich hab’s vielleicht geschickter angefangen als du, die stets zu hoch hinaus wollte.“

Die, die so sprach, war nicht mehr der kleine ausgelassene Sprühteufel Gri. Das war ein junges Weib, berechnend aus Liebe, lediglich ihrem heißen Herzen folgend und erfüllt von Zielbewußtsein, welches nur die Vereinigung mit dem Geliebten anstrebte.

Stella betrachtete die Jüngere jetzt mit einem gewissen Neid. Sie sah ein, daß sie Griseldis gegenüber einen anderen Ton anschlagen müsse. Und so griff sie denn zu einer Notlüge.

„Ja, ich will hoch hinaus. Da hast du ganz recht,“ sagte sie mit einem bitteren Lächeln. „Schierstädt verkehrt nun schon ein Vierteljahr bei uns. Noch hat er sich nicht erklärt. Weshalb er so lange zögert, begreife ich nicht. Jedenfalls könntest du mir in dieser Angelegenheit sehr schaden, wenn du unsere Namen in das Gerede der Leute bringst. Das wirst du selbst einsehen. Ich bitte dich daher herzlich, sei vorsichtiger und – laß Blenken ganz aus dem Spiel! Ich bin gern bereit, dir monatlich zehn Mark zu dem Zweck zu geben, daß du deine eiligen Botschaften durch einen Dienstmann befördern läßt.“

Gri hatte ein weiches Herz. Sie ahnte ja nicht, daß Stella sich Schierstädt nur noch als Referenz in Bereitschaft halten wollte und daß diese Aussprache lediglich Horst Blenkens wegen stattfand. Schnell sich aus ihrem Faulenzer erhebend trat sie auf die Ältere zu, legte ihr den Arm um die Schultern und sagte weich:

„Gut – ich verspreche dir alles, was du verlangst, Stella! Für zehn Mark monatlich beschaffte ich mir schon einen anderen, gewerbsmäßigen Liebesboten. Nicht wahr – ich kann noch bestimmt auf diese klingende Unterstützung rechnen …?“

„Ganz bestimmt! – Hier, Gri, sind fünf Mark vorläufig.“

Der Frieden war wieder hergestellt.

 

8. Kapitel.

Jeden Tag hatte Horst Blenken sich vorgenommen, Lizzie Berner wieder einmal in den „Elysium-Hallen“ aufzusuchen. Aber immer war etwas dazwischen gekommen.

Außerdem hatte er jetzt auch anderes im Kopf. Die häufigen Autofahrten Stella von Hertels nahmen alle seine Gedanken in Anspruch. Bisweilen glaubte er wirklich schon, wenn er sich über seine Gefühle für das blonde, junge Weib klarzuwerden suchte, Stella heiß und aufrichtig zu lieben. Dann gab es aber auch wieder Stunden bei ihm, wo allerlei Zweifel über die Tiefe dieses Empfindens in ihm aufstiegen und er sich sagte, daß es doch vielleicht nur jenes aller seelischen Berührungspunkte entbehrende Verlangen nach ihrem Besitz war, das, einem Rausch gleich, nur zu schnell wieder vorübergeht. Bisweilen grollte er ihr auch fast, weil sie in sein neues Dasein eine ihn peinigende Unruhe hineingebracht hatte. Stella selbst war gleichbleibend freundlich zu ihm. Nur ganz allmählich schlug sie ihm gegenüber einen vertrauteren Ton an, unterhielt sich mit ihm über alle möglichen Dinge und schien zu vergessen, daß es nur der Chauffeur ihres Vaters war, mit dem sie sprach und dem sie gelegentlich einen Blick in ihr Seelenleben gestattete, indem sie sich zu dieser und jener Bemerkung hinreißen ließ, die ihre Anschauungen über Welt und Menschen widerspiegelte.

Oft schaute sie ihn auch gedankenverloren eine ganze Weile an, schrak dann zusammen und setzte verwirrt das unterbrochene Gespräch fort. So kam es, daß Horst Blenken bald hoffen zu dürfen glaubte, daß auch sie für seine Person eine Teilnahme empfinde, die trotz seiner untergeordneten Stellungen sich vielleicht zu einer tieferen Neigung entwickeln könnte. Er ahnte ja nicht, daß jedes ihrer Worte, jeder Blick kühl vorher abgewogen waren und daß er bereits wie eine Fliege in den feinen Maschen eines Netzes zappelte, das ein schlau berechnendes Weib für ihn gesponnen hatte und täglich fester und fester knüpfte.

Lizzie Berner, sein armer Schützling, war jetzt für ihn in weite, weite Fernen gerückt. Nicht daß er sie vergessen hatte, nein, – ihr trauriges Geschick stand deutlich wie ein dunkler Punkt in seiner Erinnerung, und heißes Mitleid war es, das ihn ständig daran gemahnte, sich wieder einmal davon zu überzeugen, wie es ihr gehe. Außerdem hätte er ja auch sehr gern von ihr Aufschluß über mancherlei Fragen erbeten, die sein Denken immer wieder beschäftigten und bei denen der Name Berner eine so große Rolle spielte.

Der Monat April neigte sich bereits seinem Ende zu, als Blenken dann eines Abends, nachdem er das Auto gereinigt hatte, trotz großer Müdigkeit sich noch umkleidete und in dem Anzug, den er von Berlin mitgebracht hatte, sich nach den „Elysium-Hallen“ begab.

Er hatte Glück. Kaum saß er einige Minuten an dem kleinen Tischchen neben dem Podium, als die Dirigentin die Tafel „Pause“ heraushängte.

Gleich darauf stand Lizzie vor ihm. Sie war noch blaßer und schmaler geworden, wie er sofort merkte. Der Zug um ihren Mund trat noch schärfer als früher hervor.

Auch der alte Berner hielt sich für verpflichtet, den Reisegefährten kurz zu begrüßen, ging aber sehr bald wieder zu dem Stammtisch in der Ecke hinüber, wo er stets auf Kosten anderer seine ewig trockene Kehle anfeuchten konnte.

Lizzie hatte sich müde in den Stuhl neben Blenken fallen lassen.

„Ich fürchtete schon, Sie wären krank,“ sagte sie jetzt leise. „Länger als drei Wochen waren Sie nicht hier.“

Er entschuldigte sein Fernbleiben mit angestrengtem Dienst.

„Ich werde nebenbei auch mit schriftlichen Arbeiten beschäftigt,“ erklärte er etwas unsicher.

Lizzies große, sprechende Augen ruhten forschend auf seinem Gesicht.

„Wie ist es Ihnen denn in der Zwischenzeit ergangen, Fräulein Lizzie?“ fragte er jetzt, nur um irgend etwas zu sagen.

Sie antwortete nicht gleich, schien mit ihren Gedanken weit fort so sein. Und wieder stellte er fest, daß der schmerzliche Zug um ihren schöngeformten Mund deutlicher als je zuvor ausgeprägt war. –

Dann erwiderte sie müde und mit jenem entsagungsvollen Tonfall, der zu dieser stillen Dulderin so gut paßte:

„Wie es mir ergangen ist? – Schlecht – sehr schlecht. Meine Stellung hier wird immer schwieriger. Der Wirt, der durch mich nichts verdient, weil ich den Gästen aus dem Wege gehe, und sie nicht zum Trinken anrege, hetzt die Dirigentin auf. Sie hat uns schon mit Kündigung gedroht. Und dabei ist doch jetzt im Sommer so schwer ein neues Engagement zu finden. Dann habe ich auch mit dem Vater viele Sorgen. Er leidet so häufig an Nasenbluten und Schwindelanfällen und fühlt sich stets matt. Trotzdem läßt er den Alkohol nicht, so sehr ich ihn auch anflehe vorsichtig zu sein. Und das Schlimmste, er hat auch sein Verhalten mir gegenüber geändert.“

Ihre Stimme zitterte merklich, und ihre Augen schimmerten feucht vor mühsam zurückgedrängten Tränen.

Nach kurzer Pause sprach sie weiter.

„Ich freue mich ja so sehr, Herr Blenken, daß ich Sie wieder einmal sprechen kann. Mein Herz war schon so übervoll. Sie glauben ja nicht, wie furchtbar es ist, wenn man so niemanden auf der Welt hat, den man um Rat fragen, zudem man schutzsuchend sich flüchten kann. Als Sie vorhin den Saal betraten, war es mir, als ob ein geliebter Bruder nach langer Abwesenheit zu mir zurückkehrte. Wollen Sie mir wie ein solcher raten, darf ich Ihnen all mein Herzeleid klagen?“

Horst Blenken stieg es heiß in die Augen vor tiefstem Erbarmen. Er vergaß nicht, wo er sich befand, griff nach Lizzies Rechter und nahm sie zwischen seine Hände, streichelte sie und sagte:

„Sprechen Sie, Lizzie …! Denken Sie, ich sei wirklich Ihr Bruder …“

Ganz sanft entzog sie ihm ihre Hand, indem sie sich scheu umblickte.

„Man beobachtet uns, und man wird hier nur zu gern bereit sein, falsche Schlüsse über unser gegenseitiges Verhältnis zu ziehen,“ meinte sie ängstlich.

Und dann machte sie sich wirklich ihr Herz frei.

„Mein Vater ist unzufrieden mit mir. Ich merke, daß er aus Angst, uns könnte gekündigt werden, es lieber sähe, wenn mich zu den Gästen mich nicht so ablehnend verhielte. Früher dachte er in dieser Beziehung ganz anders. Aber er ist so erbittert, so sehr mit sich und der Welt zerfallen. Im Rausch sucht er Vergessen. Und im Rausch rechnet er mir jetzt fast allabendlich vor, wieviel diese und jene Kollegin an Prozenten von den ausgeschenkten Weinen verdient hat … Er sagt es mir ja nicht geradezu, daß ich weniger … spröde sein soll, aber ich fühle trotzdem, was in ihm vorgeht.“

Sie schluchzte leise auf.

„Und ich kann mich doch nicht anders machen als ich bin, ich kann nicht so werden, wie die anderen sind …“

Ihre auf dem Tisch ruhenden Hände bebten vor innerer Erregung. Und in ihrer Stimme war jetzt ein Unterton so tiefer Verzweiflung, daß Blenken plötzlich eine wilde Wut gegen den alten Musikanten erfaßte. Am liebsten wäre er zu dem Stammtisch hingeeilt und hätte dem alten Berner gehörig seine Meinung gesagt.

Da sprach Lizzie schon weiter.

„Ich will hier nicht bleiben, Herr Blenken, – ich darf nicht! Sonst gehe ich doch noch zugrunde. Bisweilen ist es schon über mich gekommen wie halber Wahnsinn, auch habe ich schon daran gedacht, es dem Vater gleichzutun …: Trinken, bis der Wein alles Gute erstickt, bis man sich selbst nicht mehr kennt. –

So weit bin ich schon!! Und deshalb – ich muß fort von hier. Und Sie sollen mir raten, was ich ergreifen kann, um mir mein Brot anderswie zu verdienen. Ich will gern hungern. Nur nicht mehr Musikantenmädel sein …“

Der junge Millionär saß ganz regungslos da. Das Entsetzen über diesen Ausbruch von namenloser Verzweiflung hatte ihn förmlich versteinert. Aber Lizzies hilfeflehender Blick mahnte ihn an eine Antwort.

„Sie sollen fort von hier – ich verspreche es Ihnen, Sie armes Mädel! Gedulden Sie sich nur ein paar Tage. Ich schaffe Rat. Mut bis dahin, Lizzie, Mut!“

Und nach kurzem Nachdenken fügt er hinzu:

„Sie müssen jetzt aber auch zu mir volles Vertrauen haben, Kind! – Ich möchte versuchen, Fräulein Stella von Hertel für Sie zu interessieren. Vielleicht kann diese junge Dame Sie irgendwo bei einer Bekannten zunächst einmal als Kammerzofe unterbringen.“

Er hatte in diesem Augenblick völlig vergessen, daß der Name Hertel schon einmal auf Lizzie eine besondere Wirkung ausgeübt hatte.

Erst als sie jetzt mit abwehrend erhobener Hand halblaut ausrief: „Stella von Hertel!! Niemals!!“ da erinnerte er sich dieser Tatsache, leider zu spät.

Und hastig fuhr sie auch schon fort: „Hertels lassen Sie bitte ganz aus dem Spiel! Ich will Ihnen sagen, weswegen. Mein Vater haßt den Präsidenten wie seinen Todfeind, obwohl, oder besser weil seine Schwester die Frau dieses kaltherzigen Egoisten ist.“

Leider war die Pause jetzt vorüber. Die Pflicht rief Lizzie auf das Podium. Und Blenken konnte ihr nur noch schnell zuflüstern, daß er schon etwas Passendes für sie finden und dann an einem der nächsten Abende bestimmt in die „Elysium-Hallen“ kommen werde.

Gleich darauf klopfte die Dirigentin mit dem Bogen an den Notenständer. Ein Walzer begann … Und das Publikum summte den Text halblaut mit:

„Du – du – du, ist so kalt und machst alle so heiß,
du, du, du, zauberst Flamen hervor aus dem Eis …“

Und das in Lizzies Stimmung – das!!

Blenken kroch der Ekel in der Kehle hoch, und wenige Sekunden später stand er auf der Straße.

So hastig er aber auch das Lokal verlassen hatte, das pfiffig ihn angrinsende Gesicht des Dieners Franz, der mit ein paar Freunden an einem Tisch saß, hatte er doch noch erkannt.

Langsam schritt er durch die laue Frühjahrsnacht dem Hansaviertel zu.

Verwünschtes Pech, daß Franz ihn gesehen hatte …! Der Bursche war nicht sein Freund … Er beneidete ihn, weil der Präsident und die beiden Damen ihn besser, vertraulicher behandelten, und er verfolgte ihn mit heimlichen Anfeindungen, weil er vergebens mit dem neuen Chauffeur näher bekannt zu werden versucht hatte. Keine Frage, daß Franz schon dafür sorgen würde, daß Hertels erfuhren, in welchen Lokalen der „feine Horst Blenken“ verkehrte …

 

9. Kapitel.

Blenken lag noch lange wach. Lizzie Berners trauriges Gesicht wollte ihm nicht aus dem Sinn. Er überlegte dieses und jenes, wie er ihr helfen könne. Schließlich glaubte er das Rechte gefunden zu haben.

Am nächsten Vormittag schickte er an Dr. Lersa folgende Depesche:

Sende mir sofort fünfhundert Mark für wohltätige Zwecke hauptpostlagernd. –

Blenken.

Abends ging er auf das Hauptpostamt. Nichts war für ihn eingetroffen.

Er wartete dann noch bis zum nächsten Abend. Als er wieder umsonst am Schalter nachgefragt hatte, ließ er sich mit Berlin telephonisch verbinden.

Dr. Lersa war daheim. Kaum hörte er, wer ihn anrief, als er auch schon dazwischensprach:

„Ich kenne keinen Horst Blenken. Ich kenne nur einen Menschen, der mit seinem Ehrenwort sehr leichtsinnig umgeht. Es gibt ein kraftvolles Wort, an das dieser Mensch stets denken sollte: Hilf dir selbst! – Schluß.“

Blenken schlich ganz niedergedrückt nach Hause. Er besaß ein starkes Gerechtigkeitsgefühl. Und deshalb zürnte er Lersa auch dieses Mal nicht. Nein, eher war er etwas beschämt. –

„Hilf dir selbst!“ –

Und wie hatte er die ihm begegnenden Schwierigkeiten, eben die Notlage seines blaßen Schützlings, beseitigen wollen …?! Durch Geld, durch seine Millionen natürlich wieder. Das wäre ja auch das Bequemste gewesen: eine Depesche – fünfhundert Mark – diese dem alten Berner gegeben – und das Weitere hätte sich dann schon gefunden …

Der junge Millionär nahm sich jedenfalls vor, nie wieder in diesem einen Jahr seines freiwilligen Verzichtes auf seinen Reichtum und die Hilfe seiner Freunde und Bekannten den Doktor irgendwie zu behelligen. Lersa würdig ihn ohnehin schon für einen energielosen Schwächling halten. –

Blenken, der auf diese Weise für Lizzie noch nichts erreicht hatte, beschloß erst am folgenden Abend nach den „Elysium-Hallen“ zu gehen. Bis dahin mußte er einen vorläufigen Unterschlupf für seinen Schützling besorgt haben – mußte! Wie er das allerdings anstellen sollte, war ihm noch völlig unklar. Wieder lag er noch lange wach und grübelte und grübelte. Ja, wenn er als der Millionär Horst Blenken hätte irgendwo hingehen und sagen können: „So und so liegen die Verhältnisse. Bitte nehmen Sie das junge Mädchen fürs erste bei sich auf,“ – dann würde man ihn kaum abgewiesen haben. Aber der Chauffeur Horst Blenken – –, den würde man sehr prüfend mustern, an den würde man unzählige Fragen stellen, – falls man ihn nicht sogleich kurz abfertigte.

Ja – was nun?! Und jetzt erst wurde ihm klar, wie vorschnell er in Lizzie den Glauben erweckt hatte, daß es für ihn eine Kleinigkeit sein würde, sie aus ihrer traurigen Lage zu befreien und eine andere Beschäftigung für sie zu besorgen.

Schließlich dachte er an den Anzeigenteil der Zeitungen. Vielleicht entdeckte er dort etwas. Er fand auch eine ganze Menge Anzeigen, in denen junge Mädchen für diesen oder jenen Posten gesucht wurden. Am Nachmittag des folgenden Tages lief er mit den Zeitungsausschnitten von Straße zu Straße, von Geschäft zu Geschäft, von einer Hausfrau zur anderen. Nichts – nichts! Überall wurde ihm erklärt: „Die Stelle ist leider schon besetzt.“

Als er müde und abgespannt gegen sieben Uhr abends heimkehrte, begegnete er auf dem Hof dem Diener Franz.

„Der gnädige Herr hat schon dreimal nach Ihnen gefragt, Blenken. Er ist schon ungehalten.“

„Ich hatte Urlaub bis sechs,“ erwiderte Blenken kurz.

„Und jetzt ist’s dreiviertel sieben. – Die Herrschaften wollen noch nach Zoppot fahren. Beeilen Sie sich, daß Sie das Auto fertigmachen.“

So kam es, daß Lizzie auch diesen Abend von ihm nichts sah und hörte.

* * *

Auf dem Umweg über die Köchin Marie, die dem „hochnäsigen“ Blenken ebenfalls nicht wohlwollte, da er ihre Annäherungsversuche stets mit kühler Freundlichkeit zurückgewiesen hatte, war tatsächlich die Mitteilung zu Stella gelang, daß der Chauffeur unter der Damenkapelle des „Elysium“ eine „Flamme“ habe, die er offenbar zu heiraten gedenke. Das betreffende junge Mädchen sei nämlich anderen Herren gegenüber ganz unzugänglich und überhaupt ein recht unnahbares Geschöpf. –

Diese Charakteristik hatte Franz einer der Kellnerinnen zu verdanken, bei der er sich nach der blaßen Mandolinenspielerin und Solosängerin der „Novattis-Kapelle“ erkundigt hatte. Sogar den Namen Lizzie Berner hatte er sich gemerkt und auch diesen der Köchin gegenüber genannt.

Für Marie stellte das eine günstige Gelegenheit dar, diesem „hochnäsigen Ekel“ eins auszuwischen. So erfuhr denn Stella die ganze Geschichte brühwarm schon am nächsten Morgen, nachdem Franz den Hertelschen Chauffeur in den „Elysium-Hallen“ gesehen hatte. –

Einer Lizzie Berner, einem Musikantenmädel, sollte Blenken seine Aufmerksamkeit schenken …! Das konnte nur ihre Kusine sein …! –

Und diese Tatsachen drängten die älteste Hertel zu einem schnellen Entschluß.

Eine halbe Stunde später begab sie sich tief verschleiert zu dem Inhaber einer kleinen Auskunftei, den sie beauftragte, über Lizzie Berner sofort die genauesten Erkundigungen einzuziehen. Bereitwilligst bezahlte sie die verlangten zehn Mark Vorschuß, worauf der katzbuckelnde Herr Veilchenfeld ihr erklärte, er sei in den „Elysium-Hallen“ gut bekannt und hoffe daher, schon bis zum nächsten Vormittag eine Menge Material zusammengetragen zu haben, wie er sich ausdrückte. –

Stella fand sich pünktlich wieder bei ihm ein.

Veilchenfeld rieb sich süßlich lächelnd die Hände.

„Große Neuigkeiten, meine Gnädige, – große Neuigkeiten!“ Und wieder wie am Tage vorher versuchte er mit seinen blinkenden Mäuseaugen den dichten Schleier seiner Klientin vergebens zu durchdringen. Er hätte zu gern gewußt, mit wem er es tun hatte – zu gern!

„Wirklich – große Neuigkeiten! Der alte Herr Berner hat gestern abend während eines Konzertstücks einen leichten Schlaganfall gehabt und mußte sofort in seine Wohnung geschafft werden. Er haust mit seiner Tochter in zwei kleinen Bodenstübchen Breitgasse 18. Diese Gelegenheit hat die Dirigentin sofort benutzt, um den beiden zu kündigen.“

„Die armen Leute!“ warf Stella ein.

„Ja, meine Gnädige, das ist freilich hart. Aber die Lizzie Berner soll sich auch für den Beruf eines Mitgliedes einer Damenkapelle wenig geeignet haben, sehr wenig. Sie hat da wohl eine ernste Liebschaft mit einem Chauffeur, den sie auf der Fahrt von Berlin nach hier kennen gelernt hat. Der Mann heißt Blenken, und dieser Liebe wegen hat das junge Mädchen sich um andere, zahlungsfähigere Gäste wenig gekümmert. Das ist in einem Lokal wie den „Elysium-Hallen“ nicht angebracht – gar nicht!“

Veilchenfeld berichtete noch mehr Einzelheiten. Aber Stella hörte kaum mehr hin. Sie dachte nur daran, wie man Vater und Tochter für immer von Horst Blenken trennen könne. In Lizzie Berner sah sie eben eine gefährliche Rivalin, die ihre Pläne gefährdete. Wer konnte wissen, ob Blenken nicht wirklich in die Tochter des Musikanten verliebt war? Wer vermochte vorauszusagen, wozu eine solche Neigung führen konnte …?! Männer waren unberechenbar. Und sie wollte bei der diesmaligen Jagd auf das kostbare Wild sicher gehen, ganz sicher!

„Soll ich die beiden noch weiter beobachten, meine Gnädige?“ fragte Veilchenfeld schon zum zweitenmal.

Stella schaute den Auskunfteiinhaber prüfend an.

„Nein. Das ist nicht nötig. – Kann man sich auf Ihre Verschwiegenheit verlaßen?“

„Unbedingt – unbedingt!“ versicherte Veilchenfeld.

„Nun denn – ich habe einen Auftrag für Sie, der große Geschicklichkeit erfordert. – Gehen Sie sofort zu Berners und suchen Sie zunächst herauszubringen, ob jener Blenken bereits von der Krankheit des alten Herren etwas weiß. Ist dies nicht der Fall, so erklären Sie Berner, daß Sie im Auftrag eines Gönners, der seinen Namen nicht nennen wolle, kämen und Vater und Tochter in einer anderen, dem Kranken zuträglicheren Umgebung unterbringen sollten. – Wie Sie die Sache recht glaubhaft hinstellen, ohne Verdacht zu erregen, das überlaße ich Ihnen. Ich werde Ihnen sogleich nachher zweihundert Mark übergeben. Diese händigen Sie dem alten Berner aus. Für das Geld soll in Oliva für Vater und Tochter in der Nähe des Waldes eine kleine Wohnung gemietet werden, ebenso sollen davon die Unkosten der Überführung des Kranken nach seinem neuen Heim bestritten werden. Dieses noch heute auszuführen ist Ihre Aufgabe. Es kommt mir bei alledem darauf an, daß jener Blenken den neuen Aufenthaltsort der beiden nicht erfährt. Lizzie Berner soll den Nachstellungen dieses Menschen, der es nicht ehrlich mit ihr meint, entzogen werden. Berücksichtigen Sie das bei allem, was Sie in dieser Angelegenheit tun.“

„Sehr wohl, meine Gnädige, sehr wohl. Ich verstehe Sie vollkommen. Berners sollen schleunigst sozusagen spurlos verschwinden. Wird gemacht – wird gemacht! In solchen Dingen bin ich absolut zuverlässig – absolut!“

Stella zog ihre Börse und legte zwei Hundertmarkscheine auf den Tisch. Es war dies das Geld, mit dem sie heute eine Rechnung ihrer Schneiderin hatte bezahlen wollen.

„Und Ihr Honorar, Herr Veilchenfeld?“ fragte sie dann.

„Hm – sagen wir zwanzig Mark.“

„Bittet. – Ich komme mich morgen Vormittag erkundigen, wie die Angelegenheit verlaufen ist.“

Stella nickte Veilchenfeld kurz zu und verließ das Bureau des „absolut zuverlässigen“ Auskunfteiinhabers.

Er stand eine Weile noch regungslos da. Dann griff er nach seinem Hut und trat auf die Straße hinaus.

Stella von Hertel ahnte nicht, daß Veilchenfeld eine halbe Stunde später genau wußte, wer sie war.

 

10. Kapitel.

Hertels waren von jenem Abendausflug nach Zoppot, der es Blenken unmöglich machte, sich zu Lizzie nach den „Elysium-Hallen“ zu begeben, erst nach Mitternacht heimgekehrt.

Bei der Rückkehr hatte Stella vorn im Auto neben Blenken Platz genommen, um den Kraftwagen selbst zu steuern. In mäßigem Tempo wurde der Weg zurückgelegt, so daß Stella Gelegenheit fand, mit dem Chauffeur hin und wieder einige Worte zu wechseln.

Sie merkte bald, daß Blenken recht zerstreut war.

„Ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet?“ fragte sie schließlich scheinbar voller Teilnahme, indem sie die Geschwindigkeit noch mehr mäßigte.

Blenken hatte gerade wieder darüber nachgegrübelt, wie er Lizzie helfen könne. Er war bereits ganz verzweifelt, weil er mittlerweile eingesehen hatte, daß es ihm kaum gelingen würde, für seinen Schützling eine Anstellung zu finden.

Stellas Frage brachte ihn auf einen Gedanken. – Ob es nicht das Richtigste war, wenn er Stellas gutes Herz für Lizzie zu interessieren suchte …? Natürlich mußte er dabei so tun, als ob er keine Ahnung davon habe, daß die Musikantentochter eine Verwandte von Hertels sei. Er würde dann ja bald merken, wie Stella über die Kusine dachte.

Ohne auf Einzelheiten einzugehen, erzählte er ihr von seiner Bekanntschaft mit Lizzie und deren trauriger Lage. Gegen seinen Willen erwärmte er sich bei der Schilderung ihres lauteren Charakters derart, daß argwöhnische Ohren nur zu leicht den Eindruck gewinnen konnten, er hege für dieses arme Geschöpf eine tiefere Neigung.

Stella saß etwas vornübergebeugt auf dem Führersitz. Die große Autobrille und der fest um den Kopf geschlungene Schleier verhüllten ihr Gesicht fast vollständig.

Als Blenken sie jetzt bat, sich irgendwie für Lizzie zu verwenden, zuckte ein schadenfrohes Lächeln um den Mund der ältesten Hertel. Aber ihre Lippen formten Worte, die den Mann neben ihr in aufrichtiger Dankbarkeit zu der Äußerung veranlaßten:

„Wie gut Sie sind, gnädiges Fräulein! Ich kann es ja kaum verlangen, daß Sie wirklich persönlich zu Fräulein Berner gehen und mit ihr alles Nötige besprechen.“

„Doch, – ich bleibe dabei! Ich tue es, und zwar gleich morgen vormittag. Ich werde Ihren Schützling schon irgendwo unterbringen, Blenken. Es ist ja Christenpflicht, dieses Mädchen aus dem Sumpf zu befreien.“

Und in Gedanken fügte Stella hinzu: „Ich habe Sie schon anderswo untergebracht, und zwar so sicher, daß du vergeblich nach ihr suchen wirst!“

Dann sagte sie laut, indem sie sich weit nach links herüberbog, so daß ihre Schulter die seine leicht berührte:

„Sie könnten mir dafür einen Gegendienst leisten, Blenken. Ich habe eine Novelle fertig, die sehr schnell abgeschrieben werden muß. – Wollen Sie gleich morgen früh, wenn Sie Ihre üblichen Arbeiten erledigt haben, mit der Abschrift beginnen? – Und – soll ich morgen an Ihren Schützling einen Gruß von Ihnen ausrichten?“ – –

Die Novelle, von der Stella sprach, war zunächst nur in ihrem ränkesüchtigen, raffinierten Kopf fertig. Daher blieb trotz der späten Stunde, zu der Hertels heimkehrten, die ältere der Schwestern auch noch sehr lange auf und zwar lediglich zu dem Zweck, um diese Novelle zu Papier zu bringen, die nichts anderes war als ein fein ausgeklügeltes weiteres Mittel, jede Verbindung zwischen Blenken und Lizzie für immer zu zerschneiden.

Leise kratzend flog die Feder über das Papier hin. Seite auf Seite füllten sich mit Stellas flüchtiger, schwer leserlicher Schrift. Eine Stunde verrann, noch eine.

Der Held der Geschichte hieß Herbert Beutler. Stella kam es gerade auf diese Anfangsbuchstaben an – H. B. – –

Herbert Beutler sagte sich von der Geliebten los, einer anderen wegen, die häßlich und reich war. Er schickte der armen Betrogenen einen kurzen Abschiedsbrief ohne Anrede, ohne Datum – kurz und brutal:

Wir dürfen uns nicht wiedersehen. Ich habe sehr schwerwiegende Gründe, die mich dazu bringen, unsere Beziehungen plötzlich und für immer abzubrechen. Meine ganze Zukunft steht auf dem Spiel. –

Alles Gute! –

H. B. – –

Es war gegen drei Uhr morgens, als Stella ziemlich erschöpft zur Ruhe ging. Die Novelle war fertig. Nun konnte Blenken sie morgen abschreiben. Diese Arbeit würde ihn den Tag über ans Haus fesseln. Und auch sonst sollte er mit anderen Aufträgen so in Atem gehalten werden, daß er nicht die Zeit fand, Nachforschungen nach dem Verbleib Lizzie Berners anzustellen.

Am nächsten Vormittag war Stella bereits zehn Uhr bei Veilchenfeld.

„Alles aufs beste erledigt – alles, meine Gnädige,“ dienerte dieser. „Gestern Nachmittag um fünf Uhr habe ich Herrn Berner mit Tochter und ihren wenigen Habseligkeiten in einem Krankenwagen der Unfallstation – Kostenpunkt zwölf Mark – nach Oliva geschafft. Klosterstraße 4 im Erdgeschoss bewohnen sie jetzt zwei bescheidene, aber behagliche Zimmer, die ich zunächst für einen Monat mit 25 Mark vorausbezahlt habe. Wie gesagt – alles ist in schönster Ordnung. Die polizeiliche Abmeldung in Danzig habe ich selbst erledigt. Berners sind angeblich nach Berlin verzogen. Und in Oliva habe ich als ihren Wohnsitz ebenfalls Berlin angegeben, wo sie ja tatsächlich früher beheimatet waren. Oliva ist Luftkurort. Und da nimmt man es mit den Kurgästen nicht so genau.“ –

Eine Viertelstunde später betrat Stella, auch heute tief verschleiert, den Büfettraum der „Elysium-Hallen“ und ließ sich den Wirt rufen. Auf ihrer Frage nach Fräulein Lizzie Berner erwiderte er, daß er nicht wisse, wo Berners sich zur Zeit aufhielten. Aber vielleicht könne die Dame von der Frau, bei der Berners Breitgasse Nr. 18 gewohnt hätten, näheres erfahren.

Stella suchte dann diese Frau sofort auf. Es war ein armseliges, kleines Weiblein, dem Sorgen und Entbehrungen aus jeder Falte des mageren Gesichtes hervorleuchteten. Bereitwilligst erzählte sie von der Erkrankung des alten Musikers und von der hastigen Abreise.

„Ein jüdischer Herr hat alles für Berners besorgt. Die Lizzie, das gute Kind, mußte zu allem ja und amen sagen. Aber man merkte ihr an, daß sie froh war, hier fortzukommen. Nach Berlin sind sie gefahren. Es war die reine Hetzjagd, so schnell mußte alles gehen.“ –

Stella stieg die vier halbdunklen Treppen wieder hinab. Ein triumphierendes Lächeln lag auf ihren Lippen. Dieser Veilchenfeld war wirklich ein sehr brauchbares Werkzeug gewesen. Er mußte außerordentlich geschickt alles eingefädelt haben.

Um halb zwölf war sie wieder zu Hause. Im Straßenanzug begab sie sich sofort in das Stallgebäude und klopfte bei Blenken an.

Auf sein lautes „Herein“ öffnete sie nur ein wenig die Tür und sagte: „Ich erwarte Sie unten im Hof.“

Hier war es, wo sie ihm von dem vergeblichen Gang nach den „Elysium-Hallen“ und nach Breitgasse Nr. 18, vier Treppen, erzählte, auch von Berners Erkrankung und der plötzlichen Abreise der beiden nach Berlin sprach.

Unauffällig beobachtete sie dabei Blenkens Gesicht.

Er war ganz starr über diese Unglücksnachrichten.

„Arme Lizzie!“ sagte er leise.

Stella spielte sehr geschickt die Mitfühlende.

„Jedenfalls ist Ihr Schützling jetzt nicht mehr gezwungen, in diesem häßlichen Lokal aufzutreten,“ meinte sie nach ein paar mitleidigen Redensarten. „Der jüdische Herr, der die Überführung des Kranken nach der Bahn und auch alles andere erledigt hat, was mit der Abreise zusammenhing, wird für Vater und Tochter wohl auch weiter sorgen.“

„Jüdischer Herr …?!“ – Blenken horchte auf. Ein schrecklicher Verdacht durchzuckte ihn. Er erinnerte sich an Lizzies verzweifelte Worte, besonders an den eigenen Satz: „Trinken, bis der Wein alles Gute erstickt, bis man sich selbst nicht mehr kennt!“ –

Eine namenlose Angst um Lizzie packte ihn plötzlich. Er begann sich die bittersten Vorwürfen zu machen, daß er nach jenem letzten Wiedersehen Tage hatte verstreichen lassen, ohne sie zu sprechen, sie zu trösten und zu ermutigen.

„Sie können sich denken, daß es mir unendlich leidgetan hat, das arme Geschöpf nicht mehr angetroffen zu haben,“ sagte Stella jetzt. „Hoffen wir, daß für sie nunmehr bessere Zeiten kommen.“

Dann fügte sie nach kurzer Pause hinzu:

„Wie weit sind Sie mit der Novelle, Blenken?“

Er mußte erst seine Gedanken sammeln.

„Etwa bis zur Hälfte,“ erwiderte er schließlich.

„So? – Zeigen Sie mir die Abschrift und mein Manuskript doch mal. Mir ist vorhin eingefallen, daß ich doch noch an zwei Stellen etwas ändern muß.“

Er eilte in seine Stube hinauf und holte das Verlangte.

Stella blätterte die Abschrift durch, nahm die fertigen Seiten an sich und sagte:

„Schreiben Sie inzwischen nur weiter ab. Die Änderungen kann ich auch in der Reinschrift vornehmen.“

Dann begab sie sich nach halb vertraulichem Gruß auf ihr Zimmer und schnitt aus der betreffenden Seite der Reinschrift den Abschiedsbriefe ihres Novellenhelden Herbert Beutler heraus, so daß dieser Brief, für den freilich nur ein länglicher Zettel benutzt zu sein schien, wie eine von Horst Blenkens Hand herrührende Mitteilung aussah.

Hierauf steckte sie den Brief in einen Umschlag, den sie sorgfältig versiegelte.

Und wieder eine Viertelstunde später stand sie Veilchenfeld zum zweitenmal an diesem Vormittag gegenüber.

„Hier diesen Brief bringen Sie bitte sofort nach Oliva hinaus und geben ihn persönlich an Fräulein Berner ab, indem Sie erklären, Sie wären bei Berners früherer Wirtin Breitgasse Nr. 18 einem Herrn begegnet, der Sie gebeten hätte, dieses Schreiben der Tochter des alten Musikers aushändigen zu wollen. Fragt Fräulein Lizzie, wer der Herr gewesen sei, so sagen Sie, er hätte sich Ihnen als Chauffeur Horst Blenken vorgestellt. –

Welches Honorar verlangen Sie für die Erledigung dieses Auftrages?“

„Hm – nu – fünf Mark. Drei Stunden nimmt die Sache doch in Anspruch. Billig also – sehr billig!“ –

Nachdem Stella wieder gegangen war, streichelte Veilchenfeld grinsend seine große Nase. Das tat er immer, wenn er sich in besonders guter Laune befand.

„Fräulein von Hertel – Euer Hochwohlgeboren wollen doch nicht etwa Moritz Veilchenfeld dumm machen?! Hinter dieser Geschichte steckt mehr! Damit ist vielleicht noch viel Geld zu verdienen! – Ob das gnädige Fräulein von Hertel etwa in den Chauffeur verliebt ist?! Ob sie die kleine Lizzie nur fortgeschafft hat, damit … – Doch, – wozu zerbrechen wir uns den Kopf! Diesen Brief hier zu öffnen, der mit ‘nem Geldstück gesiegelt ist, fällt doch Moritz Veilchenfeld nicht schwer! Und nachher wird der Umschlag genau so aussehen wie vorher – genau so!“

Der Auskunfteibesitzer hatte offenbar Übung in solchen Dingen.

Als er wenige Minuten später den mit „H. B.“ unterzeichneten Zettel überflog, machte er ein mehr wie verdutztes Gesicht.

„H.B. – Horst Blenken also! – Und die Gnädige überbringt mir diesen Brief zur Weiterbeförderung?! Wie reimt sich das zusammen …?! – Moritz – streng’ deinen Grips an! Die Geschichte ist verwickelter als du denkst …“ – – –

Lizzie Berner schrieb gerade an Horst Blenken, als es klopfte und dann Moritz Veilchenfeld eintrat.

Er überreichte ihr den Brief mit einer langatmigen Erklärung.

Sie riß den Umschlag hastig auf. Ihr Herz klopfte froh.

Veilchenfeld sah, wie sie erbleichte. Sie tat ihm leid. Aber schweigend ging er an das Bett des Kranken.

„Na – wie steht’s, Herr Berner? Wie gefällt es Ihnen hier? – Gut, nicht wahr?! Das ist hier eine andere Luft als so mitten in der Stadt!“

Hinter sich hörte er das Knistern von Papier, das in kleine Stücke zerrissen wurde.

Lizzie hatte den Brief vernichtet, der für Horst Blenken bestimmt war, und auch den anderen, den Veilchenfeld ihr überbracht hatte …

 

11. Kapitel.

An demselben Tage sagte Stella während des Mittagessens zu ihrem Vater:

„Parschaus haben mich letztens wieder so dringend eingeladen, sie für einige Tage zu besuchen. Wir haben jetzt so schönes Wetter, daß ich fast Lust hätte, noch heute zu ihnen zu fahren. Blenken könnte mich mit dem Auto hinbringen.“

Frau von Parschau war Stellas Patentante, und das große Gut ihres Mannes lag knapp drei Meilen von Danzig ab in der Weichselniederung.

Der Präsident hatte nichts gegen diese Besuchsreise einzuwenden. Und so entführte der Kraftwagen denn bereits gegen halb fünf nachmittags Stella mit einem rasch gepackten Koffer den Mauern der früheren Hansestadt.

Dieser Besuch bei Parschaus war für Stella nur Mittel zum Zweck.

Nachdem das Auto die letzten Häuser der Werdervorstadt hinter sich hatte, mußte Blenken halten, und Stella nahm auf dem Sitz neben ihm Platz.

„Halbe Geschwindigkeit, Blenken!“ befahl sie dann heiter. „Sonst können wir nicht miteinander plaudern.“

Sie sprachen von diesem und jenem, während der Kraftwagen über die glatte Chaussee fast lautlos dahinrollte. Stella nannte die Namen der einzelnen Dörfer, die sie passierten, machte Blenken auf die endlosen, ebenen Wiesen und Felder und den Viehreichtum der fruchtbaren Danziger Niederung aufmerksam.

Dann begannen sie über ihre schriftstellerische Tätigkeit zu sprechen.

„Wie gefällt Ihnen eigentlich mein Geschreibsel, Blenken?“ meinte sie.

Wie zufällig lehnte ihre Schulter wieder an der seinen.

Er entgegnete, daß ihr wohl kaum an seinem Urteil etwas liegen könne. Er sei doch nur ein einfacher Chauffeur, der sich mühsam ein wenig allgemeine Bildung angeeignet habe.

Stella stutzte. „Sie müssten versuchen, es weiter zu bringen,“ sagte sie träumerisch und weich. „Ich würde Ihnen so gern die Mittel zur Verfügung stellen, daß Sie ein Technikum besuchen könnten. Sie sind ein begabter Mensch, Horst Blenken. Es müßte Ihnen leicht werden, es bis zum Ingenieur zu bringen. – Was meinen Sie zu meinem Vorschlag?“

Scheinbar selbstvergessen und wie in scheuer Zärtlichkeit hatte sie ihre rechte Hand auf seinen Arm gelegt.

Die Nähe dieses schönen Weibes, der zarte Duft irgend eines scharfen Wohlgeruchs, der ihren Kleidern entströmte, das Bewußtsein, mit ihr allein zu sein, berauschten ihn förmlich.

Lizzie, an die er den ganzen Tag über hatte denken müssen, war wieder vergessen.

Keine Frage – Stella von Hertel liebte ihn. Sie wollte aus dem einfachen Chauffeur nur deswegen einen Ingenieur machen, um stille Zukunftspläne verwirklichen zu können.

Mit einem Ruck brachte er den Kraftwagen zum Stehen, wandte sich dann ihr zu, griff nach ihren Händen und flüsterte, noch mehr von Sinnen gebracht durch die Zärtlichkeit, die ihm aus ihren Augen entgegenstrahlte:

„Stella – sollte es möglich sein …?! Sollten Sie …“

„Vorsicht, Blenken, – Vorsicht!“ unterbrach sie ihn ängstlich, machte ihre Hände frei und schaute sich um.

Jetzt vernahm auch er von rückwärts das Klappern von Pferdehufen, das Rollen von Rädern.

Gleich darauf eine kräftige Baßstimme:

„Stella, Mädel – bist du’s wirklich …?! – – Wie, und zu uns unterwegs? – Na, ich steige zu dir hinüber. Der Johann kann mit dem leeren Jagdwagen hinterherfahren. Ich komme gerade aus Rahnsdorf von einer Versammlung des Landwirtschaftlichen Vereins.“ –

Herr von Parschau und Stella saßen jetzt auf den Polstersitzen hinter Horst Blenken, der von einer stillen Wut gegen diesen ländlichen Störenfried erfüllt war und seinen Ärger an dem Auto ausließ, indem er mit Höchstgeschwindigkeit dahinraste.

In einer knappen Stunde war das Gut erreicht. Bevor Stella aber im Herrenhaus verschwand, nahm sie Blenken noch beiseite und flüsterte ihm zu:

„Kommen Sie mir nach einiger Zeit melden, daß Sie nicht sofort wieder zurückfahren können, da an dem Motor etwas in Unordnung ist. Ich will, daß auch Sie wenigstens zwei Tage ebenfalls die Landluft genießen können. Meinen Vater telephoniere ich dann selbst an und erkläre ihm, weshalb Sie erst später in Danzig eintreffen.“

Noch ein vielsagender Blick, und sie eilte davon. –

Am folgenden Nachmittag war’s.

Blenken hatte noch keine Gelegenheit gefunden, Stella allein zu sprechen, hatte sie nur ganz flüchtig zu Gesicht bekommen.

Soeben kehrte er von einem Spaziergang durch die Felder zurück. Und wie er so allein durch die grünenden Saaten gewandert war, da wurden mit einem Male wieder all die Erinnerungen in ihm lebendig, die für ihn mit dem Namen Lizzie Berner verknüpft waren. –

„Arme kleine Lizzie …! Mein armer scheuer Singvogel …! Nicht einmal Abschied habe ich von dir nehmen können …,“ dachte er, und eine seltene Wärme stillen Sehnens erfüllte sein Herz. –

Er wurde die Gedanken an Lizzie nicht wieder los.

Am Parktor begegnete er dann dem Landbriefträger.

Der musterte die fremde Gestalt in dem Chauffeuranzug neugierig.

„Gehören Sie vielleicht zu Fräulein Stella von Hertel?“ fragte er dann „ich habe hier eine Postkarte für die junge Dame – nachgeschickt aus Danzig.“

„Ich bin der Hertelsche Chauffeur. Geben Sie mir die Karte. Ich werde sie dem gnädigen Fräulein aushändigen. Da können Sie sich den Weg bis zum Herrenhaus sparen, falls sie nicht gerade noch mehr dort abzuliefern haben.“

„Nur die eine Karte. – Danke auch schön. Sehr freundlich von Ihnen.“ Und der Landbriefträger, ein schon bejahrter Mann, stapfte weiter.

Es war wirklich ein reiner Zufall, daß Blenken einen kurzen Blick auf das Bild der Ansichtskarte warf. Einer jener Zufälle, die Menschenschicksale in andere Bahnen lenken.

Das Bild stellte die scharf sich von einem lichtblauen Himmel abhebende Silhouette einer morgenländischen Stadt mit vielen Zwiebelkuppeln von Moscheen und nadelschlanken Minaretts dar. Und mitten in den blauen Himmel hinein war ein Name geschrieben: „Lütten“ und noch mehr – „dein alter Herbert-Otto von Lütten“.

Lütten?! – Blenken stutzte. Er beruhigte sein Gewissen dadurch, daß er sich sagte, offene Postkarten dürfe man ruhig lesen.

Und er las sie, während er langsam weiterging. Dann blieb er plötzlich stehen. Eine Faust schien ihn gepackt zu haben, die Faust eines Riesen, der das armselige Menschenkind wie angewurzelt an derselben Stelle festhielt.

Horst Blenken war erblaßt vor innerer Erregung. Die Hand, die die Karte hielt, zitterte leicht … – –

Fünf Minuten später, nachdem er das Auto abfahrbereit gemacht hatte, ließ er sich bei Stella melden.

Sie kam eilig in die Vorhalle hinaus, begrüßte ihn mit einem Sirenenlächeln.

„Armer Freund, – ich habe hier doch weniger Zeit für Sie, als ich dachte. – Was gibt’s …“

Sein ernstes Gesicht machte sie unruhig. Forschend, bohrend lagen ihre Augen jetzt auf seinem Antlitz, das so verschlossen, so düster aussah.

„Ich fahre sofort nach Danzig zurück, gnädiges Fräulein. Der Motor ist wieder in Ordnung,“ sagte er mit tiefer Verbeugung.

„Blenken – ist etwas passiert? Sprechen Sie, seien Sie aufrichtig!“ Sie war näher zu ihm herangetreten, legte ihm die Hand leicht auf den Arm.

„Nichts, gnädiges Fräulein. Nur die Pflicht treibt mich heim. – Soll ich etwas an den Herrn Präsidenten bestellen?“

Er bemerkte die unsichere Angst in ihren Augen mit steigender Genugtuung. Mochte sie nur ihren schlauen, berechnenden Kopf sich zergrübeln. Das war ihre Strafe.

Wie geistesabwesend erwiderte sie:

„Bestellen, nein! – Aber, Blenken, ich bitte Sie …“

Er tat, als höre er den innigen, flehenden Ton nicht, verbeugte sich abermals und entfernte sich.

Gleich darauf verließ das Auto knatternd und fauchend den Gutshof.

Stella stand noch auf demselben Fleck. Ihre Lippen waren so fest aufeinander gepreßt, daß sie eine schmale Linie bildeten.

Sie hörte draußen das Arbeiten des Motors. Da dämmerte die Wahrheit in ihr. Irgendwie war ihr falsches Spiel aufgedeckt worden – irgendwie. – Sie hatte auch diese Partie verloren … – –

Um sieben Uhr abends glitt das Auto durch das Werdertor in die alten Festungsmauern von Danzig hinein. Blenken fuhr nicht nach dem Hansaviertel, sondern nach den „Elysium-Hallen“.

Der Wirt war nicht da. Aber eine der Kellnerinnen, die ihn als den angeblichen Verehrer Lizzie Berners sofort wiedererkannte, beantwortete ihm etwas schadenfroh lächelnd seine Fragen.

„Ja – das stimmt. Veilchenfeld heißt der jüdische Herr, der Berners nach der Bahn gebracht haben soll,“ sagte sie eifrig nickend. „Moritz Veilchenfeld … Er verkehrt hier des öfteren. – Wo er wohnt? – Das weiß ich nicht. Er soll aber eine Auskunftei haben.“

Auf dem großen Büffet lag das Adreßbuch. Blenken hatte aus den zehn Veilchenfelds schnell den richtigen herausgesucht. –

Dann stand er dem Auskunfteibesitzer gegenüber. Drohend und mit einem Gesichtsausdruck, der dem jüdischen Herrn nichts Gutes verhieß, verlangte er Auskunft, wo Berners jetzt zu finden seien.

Veilchenfeld blieb ganz ruhig, grinste und dienerte untertänigst vor dem im Lederanzug steckenden Blenken. Dann ging er zu seinem Schreibpult und nahm einen halbfertigen Brief von der Platte, zeigte dem jungen Millionär die Überschrift, die „Sehr geehrter Herr Blenken!“ lautete.

„Ich weiß alles – alles!“ erklärte er und erzählte ganz eingehend, wie Stella von Hertel zu ihm gekommen sei und welche Aufträge sie ihm gegeben habe.

„Daß die Geschichte nicht reinlich war, merkte ich nicht sofort. Zu spät bekam ich heraus, wo sie, Herr Blenken, zuletzt in Berlin gewohnt hatten. Heute nachmittag hat mir dann mein Berliner Geschäftsfreund, nachdem ich ihm morgens telephonisch den Auftrag gegeben hatte, festzustellen, wer Sie eigentlich seien, genaue Auskunft wieder per Telephon erteilt. Sie sind der Millionär Horst Blenken aus Berlin-Grunewald, Bismarckallee 14. Und Fräulein Berner wohnt jetzt Oliva, Klosterstraße 4.“

Blenken schaute Moritz Veilchenfeld etwas verächtlich an.

„Und nun wollten Sie mir brieflich das alles mitteilen? – Natürlich – an mir gibt es mehr zu verdienen als an Fräulein von Hertel!“

Moritz Veilchenfeld machte ein sehr gekränktes Gesicht.

„Sie werden sehen – nicht einen Pfennig nehme ich von Ihnen – nicht einen Pfennig! Meinen Sie, ich habe kein Herz?! Ich will leben, muß Geld verdienen, Herr Blenken. Ich habe ‘ne Frau und sechs lebende Kinderchen. Da darf ich nicht wählerisch sein im Geschäft. – Aber das arme Fräulein Lizzie tat mir leid. Sie sollte nicht das Opfer eines solchen Ränkespieles werden … – Da, wenn Sie mir nicht glauben, – lesen Sie doch den Anfang meines Briefes.“

Horst Blenken überflog die ersten Zeilen: „Gleich zuerst möchte ich betonen, daß sich das, was ich für Fräulein Berner und für Sie tue, mir auf keinen Fall bezahlen lassen werde. Bieten Sie mir später aus Dankbarkeit nicht etwa Geld an! Sie würden mich dadurch beleidigen …“

Blenken streckte Veilchenfeld die Hand hin.

„Sie sind ein anständiger Charakter!“ sagte er herzlich.

„Nu – anständig?! Soweit ein Auskunfteibesitzer anständig sein kann.“ – –

Blenken hatte den Kraftwagen in die Garage gebracht und sich auch bei Herrn von Hertel zurückgemeldet. Nun setzte er sich oben in seinem Stübchen an den Tisch und schrieb einen langen Brief an Dr. Lersa. Auf den Umschlag kamen die dick unterstrichenen Worte hinauf: „Durch Eilboten zu bestellen! – Sehr dringend!“

Und in dem Brief standen unter anderen folgende Sätze:

„Urplötzlich bin ich mir über meine wahren Gefühle klar geworden. Ich liebe dieses scheue, arme Geschöpfchen. Und daß sie mich wiederliebt, ging aus allem hervor, was Veilchenfeld mir erzählte, der gesehen hat, wie sie jetzt von Tag zu Tag mehr dahinschwindet, nachdem ich mich durch jenen angeblichen Abschiedsbriefes anscheinend für immer von ihr losgesagt habe. Morgen Vormittag gehts nach Oliva hinaus, Lersa! Und morgen erwarte ich auch dein Telegramm, durch das du mir mein Ehrenwort zurückgibst. Du wirst dies unter diesen besonderen Umständen gern tun – ich kenne dich!“

 

12. Kapitel.

Der alte Berner saß in einem bequemen Lehnstuhl in dem Garten, der sich hinter dem Haus in Terrassen den Berg hinanzog und der schließlich in den hochstämmigen Mischwald überging.

Er hatte sich schnell erholt. Die frische, kräftige Luft mochte das ihrige dazu beigetragen haben. Genießt doch Oliva den Vorzug, sowohl die ozonhaltige Luft endloser Waldungen als auch die salzhaltige der nahen See in sich zu vereinen.

Neben Berner an einem Tisch hatte Lizzie Platz genommen. Sie hatte sich sofort nach Beschäftigung umgesehen und auch insofern Glück gehabt, als in Oliva gerade der berühmte Berliner Schriftsteller Edgar Maurach anwesend war, der eine schreibgewandte Kraft durch Aushang eines Zettels im Gemeindehaus für Anfertigung von Auszügen aus wissenschaftlichen Werken gesucht hatte. Lizzie war persönlich zu ihm gegangen und dann zunächst probeweise beschäftigt worden. Ihre Leistungen fielen zur völligen Zufriedenheit des Auftraggebers aus, der sofort merkte, daß das junge Mädchen Verständnis für die Sache besaß und nicht nur rein mechanisch arbeitete.

Soweit ihr nun die Wartung des Kranken freie Zeit ließ, war sie eifrig tätig. Und auch jetzt saß sie wieder über einen starken Band gebeugt und machte kurze Auszüge aus dem rot angestrichenen Seiten.

Des alten Musikanten matte Augen waren nun schon eine ganze Weile auf das blasse, vergrämte Antlitz der Tochter gerichtet. Seit seiner Erkrankung, die eine leichte Lähmung der linken Körperhälfte zur Folge gehabt hatte, war bei ihm auch innerlich eine merkliche Veränderung eingetreten. In den vielen Stunden, wo er regungslos dagelegen hatte und nur sein Geist allen möglichen Gedanken nachgegangen war, hielt er mit sich strenge Abrechnung ab. Der Arzt hatte ihm ohne Beschönigung gesagt, daß das übermäßige Trinken von Alkohol ohne Frage hauptsächlich den Schlaganfall herbeigeführt habe, und ihm für die Zukunft den Genuß geistiger Getränke vollständig verboten. Diese strenge Mahnung hatte zur Folge, daß Berner sich auch überlegte, inwiefern das entnervende, den Geist abstumpfende Gift auch auf seine Beziehungen zu seinem einzigen Kinde einen schlechten Einfluß ausgeübt haben könne. Er dachte an so manches harte Wort, manchen versteckten Vorwurf, den Lizzie von ihm gehört und mit denen er ihre strengen moralischen Grundsätze lediglich aus Selbstsucht hatte ins Wanken bringen wollen. Er schämte sich dessen jetzt, bereute all das nunmehr aufrichtig. Aber bisher hatte er noch nicht den Mut gefunden, sein braves Mädel so recht herzlich um Verzeihung zu bitten.

Lizzie hob den Kopf. Der Vater hatte leise ihren Namen gerufen. Mit Erstaunen sah sie, daß seine Augen in Tränen schwammen. Sie erhob sich schnell, eilte zu ihm hin, beugte sich über ihn und sagte zärtlich:

„Was hast du denn, Vater? So traurig auf einmal? Und das bei dem lachenden Frühlingsonnenschein …!“

Er tastete nach ihrer Hand. Und stockend drängte sich ein selbstanklagendes Wort nach dem anderen über seine Lippen.

Sie ließ ihn nicht ausreden, schmiegte sich an ihn und sagte leise:

„Vater, du solltest so nicht sprechen, dich nicht aufregen! Die schlimmen Zeiten liegen nun hoffentlich für immer hinter uns. An alledem war ja nur die Umgebung schuld, unser Beruf, den wir ausüben mußten, um nicht zu verhungern. Jetzt hoffe ich auf andere Weise genug zu verdienen, damit wir bescheiden leben können. Herr Maurach will mich als Sekretärin ständig beschäftigen, wie er mir gestern abend eröffnet hat. Hundertfünfzig Mark Gehalt will er mir monatlich geben. Das genügt für uns beide. Wenn du dann noch vielleicht ein paar Klavier- und Violinenstunden erteilen kannst, so haben wir sogar ein ganz behagliches Auskommen.“

Des alten Berners Augen strahlten. „Kind – Kind – das wäre der Frieden nach den Jahren dieses jämmerlichen, erniedrigenden Zigeunerlebens! – Aber – ich vermisse auf deinem Gesicht so jeden Ausdruck der Freude über diese hellen Zukunftsaussichten. Sag’, drückt dich ein geheimer Kummer?“

Unter seinem forschenden Blick errötete sie. –

Ihre Verwirrung entging ihm nicht. Ein Verdacht zuckte in ihm auf. Und indem er ihre Hand leise drückte, sagte er:

„Vermißt du Blenken so sehr, Kind?! War er dir mehr geworden als nur ein teilnehmender Freund?“

Da richtete Lizzie sich auf. Um ihre Lippen zuckte es schmerzlich.

„Erwähne seinen Namen nie mehr, Vater, nie mehr!“ bat sie leidenschaftlich. Und dann ging sie schnell den Weg entlang und verschwand hinter den knospenden Fliedersträuchern.

Berner hatte die Hände im Schoß gefaltet. Alle Freude über die gute Nachricht, die Lizzie ihm vorhin mitgeteilt und die doch ihr armes Herz nicht zu erwärmen vermochte, war dahin.

Im Hausflur hinter sich hörte er Stimmen. Er erkannte das freundliche Organ der Frau, bei der sie wohnten.

„Dort sitzt Herr Berner … Ja, es geht ihm schon weit besser.“

Der alte Musiker wandte den Kopf zur Seite, schrak überrascht zusammen. Dort stand Horst Blenken …

Lizzie Berner saß auf ihrem Lieblingsplätzchen, einer Bank, die auf der höchsten der Gartenterrassen stand. Von hier aus schaute man über die Dächer Olivas hinweg bis dorthin, wo der helle Strand und die weite Wasserfläche der Danziger Bucht in großem Bogen tief in das Land einschnitten.

Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und schaute gedankenverloren in die Ferne. –

Wozu nur mußte der Vater auch gerade diese wunde Stelle ihres Herzens berühren …! Halb war sie ja schon über die herbe Enttäuschung hinweggekommen, die dieser Mann, der für sie so unendlich hoch über allen anderen Menschen mit seinem gütigen Herzen und seinem Zartgefühl gestanden, ihr bereitet hatte.

Lizzies Blicke umschleierten sich. Wieder stiegen ihr die Tränen gegen ihren Willen in die Augen … Sie wollte ihn auslöschen aus ihrem Gedächtnis, als habe es für sie nie einen Horst Blenken gegeben.

Sie wollte …! Aber es gelang ihr nicht. Immer wieder kamen Stunden, wo sie sich in Sehnsucht nach ihm verzehrte …

Sie trocknete die feuchten Augen. Und ihre Seele klagte: „Horst Blenken, warum hast du mir das angetan …!!“

Und dieser Horst Blenken stand jetzt wenige Schritte seitwärts von ihr und beobachtete sie still. Er trug heute denselben Anzug, in dem sie ihn zum ersten Mal gesehen, dieselbe Krawatte, denselben Hut. Nur in der Rechten hatte er heute einen Strauß roter, prachtvoller Rosen …

Und jetzt hob er den Arm mit einem glücklichen Lächeln … Wie ein Feuerball schwebten die leuchtenden Blumen durch die Luft und fielen Lizzie zu Füßen.

Sie schrak zusammen. Ihre Blicke ruhten erstaunt auf diesem duftenden Gruß, der wie vom Himmel herab zu ihr gelangt war.

Dann schaute sie nach oben. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle. Alle Sehnsucht, aller Schmerz der letzten Tage vereinigten sich in diesem einen … „Host …!“…

Sie sah seine ausgebreiteten Arme, las in seinen Augen eine stumme Bitte … Und, als treibe eine unbekannte Kraft sie vorwärts, flog sie ihm entgegen.

Er zog sie an sich, ohne ein Wort zu sprechen. Und eine Weile standen sie so eng aneinander geschmiegt da, ließen nur ihre Seelen miteinander Zwiesprache halten.

Dann beugte er den Kopf zu ihr herab, zwang sie durch ein leises: „Meine Lizzie, mein Liebling …!“ ihn anzusehen.

Und nun küßten sie sich … – –

 

13. Kapitel.

Ganz überraschend war Stella zu derselben Zeit von ihrem Besuch bei Parschaus heimgekehrt, als Horst Blenken bei Berners in Oliva weilte.

Gri wunderte sich nicht wenig, als die Schwester in ihr Zimmer trat.

„Wo ist Blenken?“ war Stellas erste Frage.

Die Jüngeren schaute sie forschend an.

„Was hast du eigentlich mit Blenken …?! – Hör’ mal, Stella, du wirst doch nicht etwa …“

„Ich will wissen, wo Blenken steckt! In seiner Stube ist er nicht,“ unterbrach die Schwester sie heftig.

„Nur nicht so ungeduldig …! – Er hat Papa morgens um Urlaub für den Vormittag gebeten. Dann ist er fortgegangen.“ –

Stella harrte mit fieberhafter Ungeduld auf Blenkens Heimkehr. Sie stand am Fenster ihres Zimmers und wartete auf seinen festen, energischen Schritt.

Dann glaubte sie, er müsse es sein und beugte sich zum Fenster hinaus. Es war aber nur ein Depeschenbote, der ein Telegramm für Horst Blenken brachte.

Stella erklärte dem Boten, sie würde dem Empfänger die Depesche aushändigen. Zur Zeit sei dieser nicht zu Hause.

Doch der Postbeamte erwiderte kurz, er müsse das Telegramm persönlich abgeben.

Der Zufall wollte es, daß Blenken in demselben Augenblick auftauchte. Er begrüßte Stella vollständig harmlos, war sehr höflich und nahm den Depeschenboten dann mit auf seine Stube, da der Mann ihm zugeraunt hatte, er habe einen telegraphisch eingewiesenen Geldbetrag für ihn.

Das stimmte nicht ganz. Außer fünfhundert Mark hatte Lersa noch die Drahtnachricht geschickt: „Alles in Ordnung. Herzlichst – dein alter Lersa.“ –

Stella war etwas beruhigt. In Blenkens Benehmen bei ihrer kurzen Begrüßung hatte sie keine Veränderung bemerkt.

Nachher traf sie ihn in der Garage, wo er seinen Chauffeurmantel ausklopfte und bürstete und dazu vergnügt ein Lied pfiff.

„Weshalb sind Sie nur gestern so plötzlich abgefahren?“ fragte sie tastend, indem sie ihn vorwurfsvoll anblickte.

„Aus vielleicht übertriebenem Pflichtgefühl,“ meinte er leise lächelnd. „Der Motor war ja doch gar nicht kaputt. Und lügen mag ich nicht.“

Ihr fiel ein schwerer, schwerer Stein vom Herzen. Wirklich – ihre Angst war überflüssig gewesen.

Sie plauderte weiter mit ihm. Ihre vorhin so gedrückte Stimmung war nun geradezu glänzend geworden.

Dann fragte sie etwas unvermittelt:

„Haben Sie eigentlich schon Nachricht von Berners erhalten?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich glaube auch kaum, daß sie an mich schreiben werden,“ sagte er gleichgültig.

Stella jubelte innerlich. – –

Scheinbar war nun wieder im Hause des Präsidenten alles beim alten. Blenken führte die Rolle, die zu spielen er sich vorgenommen hatte, mit größter Geschicklichkeit durch. Stella gegenüber gab er sich vollkommen unverändert. Nur wußte er jedes Alleinsein mit ihr zu vermeiden. Das gelang ihm umso leichter, als Hertels sehr bald nach Blenkens heimlicher Verlobung mit Lizzie Besuch für längere Zeit erhalten hatten und zwar von zwei entfernten Verwandten des Präsidenten, Töchtern eines sehr begüterten Majoratsbesitzers, die in Danzig an der technischen Hochschule Kunstgeschichte hören wollten.

So kam es, daß Blenken auch verhältnismäßig viel freie Zeit hatte und häufig, jedenfalls täglich mindestens ein Mal, nach Oliva in die Arme seines kleinen Lieblings eilen konnte. Dabei ging er so vorsichtig zu Werke, daß Stella auch in dieser Beziehung keinerlei Verdacht schöpfte.

Sie ahnte nichts davon, daß Blenken in Oliva ein Zimmer gemietet und sich in aller Stille mit Lizzie hatte aufbieten lassen.

Lizzie schwamm in einem schimmernden Meer von Seligkeit. Sie, deren heißes Herz Blenken erst wachgeküßt hatte, streifte schnell all das Scheue, Gedrückte ab, das auch in ihrem Antlitz stets nur zu deutlich ausgeprägt gewesen war und daher dessen eigenartigen Reiz sehr nachteilig beeinflußt hatte. Von Tag zu Tag blühte sie mehr auf. Ihre schlanke Gestalt rundete sich zu weiblicher Fülle, auf ihren Wangen erschien das zarte Rot jugendlicher Frische.

Nicht anders ging es mit dem alten Musiker. Das Glück des jungen Brautpaares war die beste Medizin für ihn.

Beide glaubten es Blenken ohne weiteres, daß ein wohlhabender Freund ihm eine größere Summe vorgeschossen habe, um einen Hausstand gründen zu können. Beide rechneten nicht weiter nach, daß all die Leckereien, die Blenken ihnen stets mit einem neuen Scherzwort mitbrachte, Summen kosteten, die auszugeben für einen Chauffeur eine Leichtsinn sondergleichen gewesen wäre.

Mit allen, was dieser heitere, gütige, sonnige Mensch ihnen vorschlug, waren sie einverstanden. Die Trauung sollte in aller Stille in Oliva stattfinden. Dann wollte das neuvermählte Paar noch an demselben Tag nach Berlin reisen, wo Blenken angeblich eine besser bezahlte Stellung gefunden hatte und inzwischen durch seinen Freund das „kleine, bescheidene Heim“ herrichten ließ. Papa Berner sollte dann erst später nachkommen.

So gingen ein paar Wochen dahin.

An einen der letzten Junitage überraschte Blenken seine Braut dann mit der Frage, ob es ihr recht sei, daß die Trauung am kommenden Montag stattfände. Über den genauen Tag der Eheschließung hatten sie ja bisher noch nie gesprochen.

Lizzie fiel ihm wortlos um den Hals und gab ihm einen langen, langen Kuß.

Das war am Dienstag Vormittag gewesen. Und nachmittags fand sich dann bei Berners eine sehr vornehm angezogene, ältere Dame in Begleitung eines jüngeren Mädchens ein, die sich als die Direktrice eines ersten Danziger Schneiderateliers vorstellte und erklärte, sie käme im Auftrag eines Freundes des Herrn Blenken, der für Fräulein Lizzie Berner als vorzeitiges Hochzeitsangebinde die nötigen Kleider und Kostüme anfertigen lassen wolle. Stoffproben zum Aussuchen habe sie gleich mitgebracht.

Lizzie wollte dann nachher beim Auswählen natürlich nach den Preisen fragen. Aber die Direktrice meinte lächelnd, es wären alles nur billige Proben.

Lizzie ließ alles über sich ergehen. Erst als dann schon nach zwei Tagen die Anproben begangen, sah sie, daß die drei Kleider und die Kostüme mehr als elegant bei aller Einfachheit waren.

Blenkens Freund mußte wirklich sehr reich sein, sehr …!

Am Sonntag vor dem Hochzeitstag wurde Lizzie dann der ganze Staat ins Haus gebracht. Nichts fehlte, nichts. Die feinste Wäsche, Schuhe, Hüte – alles erschien, als seien Heinzelmännchen an der Arbeit gewesen. Und Sonntag Abend traf dann auch Blenkens reicher Freund ein, der sogar Doktor der Philosophie war.

Lizzie wirbelte schier der Kopf. Bisweilen kam es ihr vor, als ob sie träume, als müsste all das Glück, all das Schöne noch im letzten Augenblick wie eine Seifenblase zerplatzen.

Der Montag war da. Ein sonnenklarer Himmel spannte sich über der Danziger Bucht aus. Und in strahlendem Sonnenschein fuhren Lizzie und Horst Blenken um zehn Uhr vormittags mit den beiden Trauzeugen Dr. Lersa und dem Berliner Schriftsteller Edgar Maurach zum Standesamt und dann sofort in die Kirche, wo sich inzwischen auch Papa Berner und eine kleine Schar Neugieriger eingefunden hatte. –

Orgelklang begrüßte die Neuvermählten. Der Geistliche sprach kurz, aber ergreifend. Und dann, nachdem das Paar die Ringe gewechselt hatte, ertönte vom Chor herab die prachtvolle Stimme einer Sängerin:

„Wo du hingehst, der gehe auch ich hin …“

Das Lied trieb Lizzie die Tränen in die Augen. Es war alles ja so wunderbar schön und feierlich, so unendlich viel schöner, als sie es sich je gedacht hatte.

Nach der Trauung gab es in der kleinen Bernerschen Wohnung ein auserlesenenes Frühstück. Und dann mußte sich Lizzie auf Blenkens Bitte umkleiden. Als sie wieder, jetzt in einem wie angegossen sitzenden Reisekostüm, das Zimmer betrat, verstummten die anwesenden Herren unwillkürlich. Das war nicht mehr die scheue, kleine Lizzie Berner von einst. Das war ein elegantes, blühendes junges Weib, das jedem auffallen mußte.

Vor der Tür hatte schon eine ganze Weile ein Mietauto gestanden. Das brachte das junge Paar zur Stadt, zu der Villa des Präsidenten hin.

Hertels waren daheim. Man hatte sich gerade zu Tisch setzen wollen. Da erschien Franz und meldete, der Chauffeur Blenken bitte den Herrschaften seine junge Frau vorstellen zu dürfen.

Der Präsident schüttelte den Kopf und schaute seine Töchter fragend an.

„Blenken – junge Frau …?! – Habt Ihr eine Ahnung davon, daß er sich verheiraten wollte?“

Stella war leichenblaß geworden.

Dann führte Franz die Jungvermählten in den Salon.

„Herr Präsident,“ begann Blenken, der heute so gar nicht in seinem tadellosen Anzug nach einem Chauffeur aussah, „ich wollte mir erlauben, mich vor meiner Abreise nach Berlin von Ihnen und den Damen zu verabschieden. Noch heute wird sich bei Ihnen mein Vertreter melden, den ich besorgt habe. Gleichzeitig gestatte ich mir, Ihnen hiermit meine Gattin, Ihre Nichte Lizzie, geborene Berner, vorzustellen.“

Dann wandte Blenken sich, ohne dem Präsidenten Zeit zu einem Glückwunsch zu lassen, an Stella.

„Ihnen, gnädiges Fräulein, möchte ich noch eine Ansichtskarte aushändigen, die ich leider bisher Ihnen abzugeben vergessen habe. Sie ist von Ihrem Vetter, dem Oberleutnant Lütten aus Konstantinopel, und der Text lautet: „Liebe Stella! Ich hoffte immer, du würdest dich bei mir für die aus der Sportwelt ausgeschnittenen Bildern des echten H.B. bedanken, die ich dir seiner Zeit zur Entlarvung eines Schwindlers gleichen Namens schickte. – Mir geht es gut. Herzliche Grüße an euch – dein alter Herbert-Otto von Lütten“.“

Blenken legte die Karte auf den kleinen Salontisch.

„So, Herr Präsident, – nun gestatten Sie, daß ich mich verabschiede. – Komm’, Liebling, wir haben Eile, sonst fährt uns der Mittagschnellzug davon.“

Noch eine Verbeugung, dann verließ das junge Paar das Zimmer, in dem die Gegenpartei überhaupt nicht zu Wort gekommen war.

Herr von Hertel war sprachlos. Noch sprachloser wurde er aber, als Stella jetzt plötzlich in Weinkrämpfe verfiel.

Horst Blenkens Vergeltungsplan war jedenfalls vollkommen geglückt.

 

14. Kapitel.

Lizzie und Blenken fuhren dieselbe Strecke über Stolp-Stettin, die auch zur Hinfahrt nach Danzig zurückgelegt worden war.

Damals hatten sie zur Nachtzeit einen Personenzug und die vierte Wagenklasse benutzt. Jetzt führte ein D-Zug sie davon. Sie saßen in einem reservierten Abteil 1. Klasse eng aneinander geschmiegt, duftende Rosensträuße lagen ihnen gegenüber auf den Sitzen und draußen lachte ein köstlicher Sonnenschein.

Lizzie hatte sich das Fragen schon abgewöhnt. Natürlich konnte ja nur Dr. Lersa ihnen diese Fahrt in den weichen, roten Polstern gespendet haben. Aber etwas anderes wollte sie doch wissen. Was es eigentlich mit jener Ansichtskarte auf sich hatte, die an Stella gerichtet gewesen und deren Text ihr völlig unklar geblieben war.

„Die Antwort erhältst du, wenn wir erst in Berlin in unserem Heim angelangt sind, mein Liebling,“ hatte Blenken zärtlich gesagt.

Und dann hatte er hinzugefügt: „Jetzt, wo du mein Weib geworden, habe ich wohl das Recht, auch von die Aufschluß über eine Angelegenheit zu erbitten, die weder dein Vater noch du selbst gern berühren zu wollen schienst. Aus welchem Grunde seid ihr mit Hertels so vollkommen entzweit?“

Lizzies strahlendes Gesicht wurde ein wenig ernster.

„Gewiß, du sollst alles wissen, was in meiner Vergangenheit liegt, alles. Daß wir noch vor vier Jahren in recht guten Verhältnissen gelebt haben, daß ich eine gediegene Erziehung genossen und Not damals nie gekannt habe, hast du schon erfahren. Jetzt soll dir auch die Ursache des plötzlichen Umschwungs in unserer Lebensführung nicht länger verborgen bleiben.

Meine Tante Malwine, die Schwester meines Vaters, hatte in sehr jungen Jahren einen reichen Danziger Fabrikbesitzer geheiratet, der aber schon nach halbjähriger Ehe starb. Ihr Gatte hinterließ ihr testamentarisch sein gesamtes Vermögen. Das war gerade um die Zeit, als ich meinem Vater, der in Berlin W. Klavier- und Geigenunterricht erteilte, mehr zu kosten begann.

Doch meine Tante setzte mir da ein sehr reich bemessenes Taschengeld aus, so daß ich sogar bei einem der ersten Gesanglehrer Berlins Unterricht nehmen konnte und meinem Vater nicht zur Last fiel.

Dies änderte sich auch dann nicht, als Tante Malwine den damaligen Regierungsrat von Hertel heiratete. Es war keine Neigungsehe. Auf beiden Seiten hatte nur die kühle Überlegung mitgesprochen. Er suchte eine reiche Frau, sie wollte sich eine angesehene Stellung schaffen. Und deshalb, weil eben die Liebe und restloses gegenseitiges Vertrauen fehlten, gab Tante die Verwaltung ihres auf eine halbe Million geschätzten Vermögens, das ausschließlich in Staatspapieren angelegt war, selbst als Frau von Hertel nicht aus der Hand.

Auch ich erhielt mein Taschengeld – dies war ja nur der feinfühlige Name für eine gern gegebene Unterstützung, ohne Unterbrechung weiter, bis Tante vor drei Jahren etwa ziemlich plötzlich in geistige Umnachtung verfiel. Sie mußte in eine Anstalt gebracht werden, wo sie sich noch heute befindet.

Präsident von Hertel schrieb dann sehr bald an meinen Vater, mit dem er sehr, sehr selten zusammengekommen war – der Musiklehrer paßte dem hochgestellten Beamten als Schwager wohl nicht ganz! – einen Brief und teilte ihm mit, daß das gesamte Vermögen meiner Tante spurlos verschwunden sei. Das Schrankfach in der Stahlkammer der betreffenden Bank, in dem Tante die Wertpapiere aufbewahrte, war vollständig leer vorgefunden worden.

Mein Vater wußte nun bestimmt, daß seine Schwester ein Testament erstellt hatte, in dem wir sehr reich bedacht waren. Sofort setzte sich der Argwohn in ihm fest, Hertel könne das Vermögen heimlich bei Seite geschafft haben. Unvorsichtigerweise gab er diesem Verdacht auch in einem Brief an seinen Schwager Ausdruck. Die Folge war eine Beleidigungsklage und … die Verurteilung meines Vaters zu vierzehn Tagen Gefängnis.

Nach Verbüßung dieser harten Strafe ging es mit uns bergab. Vater gewöhnte sich aus Verbitterung das Trinken an, und bald waren wir das, was man … Bierfiedler nennt. Jedenfalls ist das Vermögen Tante Malwines bis heute nicht aufgefunden worden, auch nicht jenes Testament.

Damals wurde die Sache natürlich auch von den Behörden sehr genau untersucht. Schließlich kam man zu der Überzeugung, daß meine Tante die Wertpapiere als schon nicht mehr zurechnungsfähig irgendwo versteckt habe. Aber dieses Versteck konnte bisher nicht ermittelt werden.“

Blenken war sehr nachdenklich geworden, sagte dann aber:

„Lassen wir diese traurige Geschichte jetzt ruhen. Sie paßt nicht in diesen Tag des Glücks hinein.“ –

Gegen zehn Uhr abends lief der Zug auf dem Stettiner Bahnhof in Berlin ein. Friedrich, Blenkens Diener, stand auf dem Bahnsteig und nahm den Herrschaften die wenigen Handgepäckstücke ab. –

„Es ist Lersas Diener,“ erklärte Blenken lächelnd.

Vor dem Bahnhof hielt ein elegantes, geschlossenes Auto. Blenken öffnete die Tür. „Steig’ein, Schatz!“

„Auch Lersas Eigentum?“ fragte Lizzie verwirrt. –

Blenken nickt nur.

Der Kraftwagen glitt rasch und sicher davon. Dann hielt er schließlich in einer breiten, vornehmen Straße vor der Einfahrt in einen Garten. Farbige Lampions schmückten das Tor, zogen sich in Reihen bis zu der Villa hin, vor der das Dienstpersonal, jeder mit Blumen in der Hand, aufgereiht stand.

Lizzie war wie im Traum an Blenkens Arm zwischen den bunten, leuchtenden Kugeln hindurchgewandelt. Über dem Eingang der Villa prangte ein riesiges Transparent:

Glück und Segen den Neuvermählten!

Jetzt trat die alte Köchin vor, sagte ein kurzes Gedicht auf und überreichte der jungen Hausfrau einen Bund Schlüssel und einen Strauß roter Rosen.

Lizzie vermochte kein Wort hervorzubringen. Sie fand sich nicht zurecht in all dem Wunderbaren.

Und dann führte Horst Blenken sein junges Weib über die Schwelle des Hauses und in den strahlend erleuchteten Salon.

Hier schloß er sie in seine Arme, küßte sie, nahmen ihre beiden Hände in die seinen und sagte:

„Mein Liebling – die Stunde ist da, wo ich dir das Geständnis ablegen muß, daß ich ein ganz, ganz schlimmer Betrüger bin. Du glaubtest einen armen Chauffeur zu heiraten, glaubst wohl auch jetzt noch, daß dieses Haus Lersas Eigentum ist – und in Wirklichkeit hast du … einen vielfachen Millionär für immer an dich gekettet, du liebes, süßes Geschöpfchen.“

Lizzie war ganz blaß geworden. Die Schleier sanken. Jetzt begriff sie alles – alles …

„Und mich, gerade mich hast du gewählt?!“ sagte sie leise.

„Weil ich dich über alles liebe, mein Einziges!“

Da warf sie sich mit einem Jubelruf ihm an die Brust.

Eine Woche später war’s. Auf der Veranda der Grunewald-Villa Horst Blenkens saßen an einem wunderbar lauen Sommerabend das junge Ehepaar, der alte Herr Berner und zwei Gäste: Dr. Lersa und ein Freund dieses, ein Arzt, der in letzter Zeit durch seine hypnotischen Experimente viel von sich reden gemacht hatte.

Dr. Günther erklärte soeben, indem er sich hauptsächlich an Berner wandte:

„Es würde mir ohne Zweifel gelingen, Ihrer Frau Schwester in hypnotischem Zustand ihr Geheimnis, wo sie die Wertpapiere und wahrscheinlich auch das Testament versteckt hat, zu entreißen. Nötig wäre hierzu nur noch die Einwilligung des Ehemannes, des Präsidenten von Hertel. Aber ich hoffe, der wird sie ohne weiteres geben, da ja auch er ein Interesse an der Sache hat.“

Nach kurzer allgemeiner Beratung beschloß man, Hertel die Angelegenheit durch Dr. Günther schriftlich unterbreiten zu lassen. –

Die Antwort des Präsidenten traf umgehend ein, und Dr. Günther reiste nun sofort nach der Irrenanstalt Neustadt ab. Zwei Tage später erhielt der alte Berner, der bei seinen Kindern im ersten Stockwerk der Villa zwei Zimmer bewohnte, eine Depesche:

Geglückt. Das Gesuchte war im Grabhügel des ersten Gatten Ihrer Schwester vergraben. Testament ist vor längerer Zeit und offenbar noch im Vollbesitz der Geisteskräfte errichtet. Sie mit Hunderttausend bedacht.

Als Berner die Depesche seinem Schwiegersohn vorgelesen hatte, fügte er froh lächelnd hinzu: „Nun hast du dir wenigstens keine Bettelprinzessin zur Frau genommen, lieber Horst. Wenn meine Schwester einmal von ihrem furchtbaren Leiden erlöst ist, trete ich das Vermächtnis an, das wieder nach meinem Tod meiner Lizzie zufällt.“

Worauf Blenken erwiderte, indem er dem alten Herrn heiter auf die Schulter klopfte:

„Eine Bettelprinzessin!! Ich muß doch sehr bitten!! Lizzie hat mir ein Glück geschenkt, das mehr gilt als alles Gold der Erde! Ihr Reichtum lag in ihrer Person, ihrem reinen Herzen, ihrer großen, starken Seele …“ –

Stella von Hertel hat wirklich den Herren von Schierstädt geheiratet. Und auch die kleine Hexe Griseldis trat noch in demselben Jahr kurz vor dem Weihnachtsfest mit ihren flotten Arno vor den Traualtar.

Und Blenkens..?

War’s ein Zufall, oder hatte das Schicksal es so gewollt?

Genau am 11. März des folgenden Jahres um dieselbe Stunde, in der damals Horst Blenken als Millionär ohne Geld mit seinem Koffer das Haus verlassen hatte, um dann in Danzig seine Lizzie sich zu erobern, schrie ein kleiner Blenken mit krähender Stimme zum ersten Mal die Wände der Grunewald-Villa an.

So wurde der 11. März ein doppelter Festtag für das glückliche, junge Paar.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkung:

  1. Walther Kabel benutzt W. Lersa auch als Pseudonym.