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Das weiße Eiland (1. Auflage)

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das weiße Eiland.

 

Von W. Belka.

 

Der in Hamburg beheimatete Frachtdampfer „Konsul Herling“ hatte in New York eine Ladung von allerlei Gütern für die Stadt Reykjavik auf Island erhalten und am 6. Juni 1907 die Ausreise angetreten, nachdem Kapitän Svendsen, ein geborener Holsteiner, ausnahmsweise noch auf Bitten eines guten Bekannten die beiden Söhne eines unlängst nach Island ausgewanderten Deutschamerikaners, die bisher in New York eine deutsche Schule besucht hatten, als Fahrgäste gegen ein geringes Passagiergeld angenommen hatte.

Die Brüder Kemper, vierzehn und fünfzehn Jahre alt, waren muntere, aufgeweckte Burschen, die sich sehr bald bei der ganzen Besatzung des Dampfers beliebt zu machen verstanden, da sie keine Arbeit scheuten und überall mit zugriffen, wo es etwas zu tun gab. Dieser Betätigungsdrang war sicherlich ein Erbteil ihres rührigen, nur etwas unstäten Vaters, der jetzt als Maschinentechniker in Reykjavik bei einer dortigen elektrischen Kraftanlage eine voraussichtlich dauernde, gutbezahlte Anstellung gefunden hatte.

Die Reise nach Island, der Insel der heißen Quellen und Vulkane, wie man sie zu nennen pflegt, ist in den ersten Monaten der warmen Jahreszeit recht gefährlich und zwar wegen der zahlreichen Eisberge, die dann von dem Nordpolarmeere her auf der Wanderung nach Süden begriffen sind und den Schiffen leicht verhängnisvoll werden können.

Schon am vierten Tage der Reise begegnete der Frachtdampfer östlich der Neu-Fundland-Insel den ersten dieser riesigen, im Sonnenschein glitzernden Wegelagerer, die von den Meeresströmungen langsam aber stetig wärmeren Breiten entgegengetragen werden. Es war gerade um die Mittagszeit, als der im Ausguck sitzende Matrose mit lauter Stimme meldete: „Voraus drei Eisberge!“

Karl und Erich Kemper, die mit dem alten, verwitterten Steuermann Möller zusammen auf der Kommandobrücke standen, waren zunächst etwas enttäuscht, als sie nun einige dieser gefürchteten Sendlinge aus den Regionen des ewigen Eises zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Auf die noch meilenweite Entfernung sahen die schwimmenden, weißen Berge wie harmlose Segelschiffe aus. Doch näher und näher rückte der Dampfer den drei Eisriesen, und da erst merkten die Brüder, welch gewaltige Abmessungen die mit einigen hundert Metern Zwischenraum nebeneinander dahintreibenden Kolosse hatten.

Der Steuermann, der gern jede Gelegenheit benutzte, um den Knaben einen kleinen, lehrreichen Vortrag zu halten, erzählte ihnen jetzt so einiges über die Entstehung und die Eigentümlichkeiten der Eisberge.

„Ja, ja, Jungens, schaut Euch die Dinger man recht genau an“, meinte er gutmütig lächelnd. „Der mittelste der Burschen ist sicher seine vier Kilometer lang und nicht viel weniger breit. Und das Eishorn, das da an seiner linken Seite in die Luft ragt, dürfte gut achtzig Meter Höhe haben. Jedenfalls würde dieser eine Kerl schon genügen, um die Eiskeller vieler Brauereien für Jahre hinaus zu füllen. Ihr müßt nämlich bedenken, daß die Eisberge stets nur mit ein Achtel bis ein Neuntel ihrer Masse aus dem Wasser hervorragen. Und das ist gerade das Gefährliche an ihnen. Diese heimtückischen Gesellen strecken nämlich häufig unter der Oberfläche nadelscharfe Spitzen wie Rammsporne oft hunderte von Metern über ihren sichtbaren Teil hinaus. Und wehe dem Kapitän, der in zu kurzem Bogen um sie herumsteuert und auf eine dieser Spitzen auffährt. Wie riesige Messer zerschneiden sie selbst die mit dickem Kupferbeschlag versehenen Schiffsböden. – Das ist so die eine Heimtücke dieser weißen Wanderer. Eine zweite unangenehme Eigenschaft ist die, daß sich durch Abschmelzen der im Wasser liegenden Teile häufig der Schwerpunkt dieser riesigen Eismassen ändert und sie dann urplötzlich das oberste zu unterst kehren, als wollten sie mal versuchen, wie sich’s auf dem Kopfe schwimmt. Vor fünf Jahren fuhr ich auf einem kleinen Schoner an einem Eisberg vorüber, der gerade umkippte, als wir keinen Kilometer von ihm entfernt waren. Der Bursche machte die bis dahin ganz ruhige See für einige Minuten durch seine Drehung derart wild, daß wir ein paar ganz gehörige Weilen über Bord bekamen, von denen die Stärkste uns den Schiffsjungen über die Reling spülte, der dabei leider ertrank.“

Sicherlich hätte Steuermann Möller noch mehr von seiner Weisheit ausgekramt, wenn jetzt nicht die Schiffglocke mit gellendem Gebimmel zum Mittagessen gerufen haben würde. –

Zwei Tage darauf schob der „Konsul Herling“ sich mit halber Maschinenkraft durch dichte, jede Aussicht versperrende Nebelmassen hindurch.

Kapitän Svendsen und Steuermann Möller verließen unter diesen so überaus gefahrvollen Umständen kaum die Kommandobrücke. Lag doch die Möglichkeit, in diesen grauen, dichten Nebelschwaden mit einem Eisberge zusammenzustoßen, nur zu nahe.

Die beiden Brüder hatten gerade in der Kombüse (Schiffsküche) schnell ihren Nachmittagskaffee getrunken und kamen eben wieder an Deck, als sie des Kapitäns laute, aufgeregte Stimme vernahmen, der dem im Ausguck postierten Matrosen zurief, ob die Luft sich nicht plötzlich auffällig abgekühlt habe.

Der Matrose brüllte nach einer Weile zurück, ihm erscheine es jetzt auch bedeutend kälter zu sein, und ferner glaube er in der Ferne ein undeutliches Geräusch wie von einer Brandung zu hören.

Die Knaben merkten sofort, daß Eisberge in der Nähe sein müßten. Hatte ihnen doch der Steuermann gestern noch mitgeteilt, wodurch der Seemann bei Nacht oder dichtem Nebel einzig und allein vor den heimtückischen, aus den Polargegenden stammenden Wegelagerern gewarnt werde: durch die plötzliche Abkühlung der Luft und das Donnern der an dem Eisberg sich brechenden Wogen.

Schnell eilten sie daher auf die Kommandobrücke um zu sehen, welche Anordnungen der Kapitän treffen wurde, damit die drohende Gefahr noch rechtzeitig vermieden werden konnte. – Inzwischen hatte Svendsen jedoch schon die Fahrgeschwindigkeit noch mehr verringern und außerdem den Dampfer scharf nach Steuerbord beidrehen lassen. Trotzdem wurde die Kälte von Minute zu Minute empfindlicher, und Möller gab daher dem Kapitän den Rat, mit voller Kraft rückwärts zu dampfen, da man sicherlich mehrere Eisberge vor sich habe, denen man nicht mehr ausweichen könne.

Svendsen riß denn auch sofort den Hebel des Maschinentelegraphen herum, und bald lief der „Konsul Herling“ in einer der bisherigen genau entgegengesetzten Richtung durch die grauen Nebelmassen weiter. –

Da plötzlich die vor Angst gellende Stimme des Matrosen im Ausguck:

„Brandung dicht auf Backbordseite!“

Kaum war das letzte Wort verklungen, als auch schon ein furchtbarer Stoß das Schiff erschütterte. Gleich darauf hörten die Maschinen auf zu arbeiten, und der „Konsul Herling“ sank mit dem Heck (Hinterschiff) immer tiefer.

Schreckensbleich hörten die Brüder das wilde Rufen der Matrosen, dazwischen wieder des Kapitäns donnernde Kommandostimme, die die Rettungsboote klarzumachen befahl.

Dann ein neuer, noch stärkerer Stoß. Deutlich war das Splittern und Krachen von brechenden Planken zu hören, und das Deck des Dampfers bildete jetzt eine ziemlich steil nach dem Vorschiff zu steigende Fläche.

Karl, der ältere der Brüder, war es da, der mit einem Mal dicht neben der Kommandobrücke auf Backbordseite aus dem Nebel einen gespenstisch leuchtenden, breiten Eisvorsprung auftauchen sah. Ohne sich lange zu besinnen und nur getrieben von dem einen Gedanken, das sinkende Schiff schnell zu verlassen, ergriff er die Hand seines Bruders, rief diesem einige Worte zu, schwang sich über das Geländer der Brücke und … wagte gerade in dem Augenblick den Sprung, als die mächtige Eisdecke langsam in kaum ein Meter Entfernung an dem Dampfer vorüberglitt. Blindlings folgte der Jüngere ihm, und kurz nacheinander langten sie glücklich auf der schlüpfrigen Fläche an. Ehe sie sich noch recht bewußt wurden, daß dieses Wagnis wirklich gelungen sei, entschwand auch schon das dem Untergange geweihte Schiff in der grauen Nacht der Nebelmassen. Nur noch vereinzelte Rufe vernahmen sie; dann wurde es still.

Eine ganze Weile hockten sie noch wie halb betäubt auf dem kalten, feuchten Eise. Aber die Kälte, die ihre leichten, sommerlichen Anzüge nur zu schnell durchdrang, trieb sie jetzt empor.

„Komm, Erich, – wir können hier nicht sitzen bleiben, sonst holen wir uns den Tod“, meinte der Ältere mit einer Stimme, der er vergeblich einige Festigkeit zu geben suchte. „Wir müssen uns bewegen. Platz genug dazu wird ja auf dem Eisberg wohl sein.“ Das sollte scherzhaft klingen, aber Erich Kemper hörte doch die dumpfe Verzweiflung heraus, die ebenso schwer auf seinem Bruder wie auf ihm selbst lastete. Und ohne daran zu denken, daß seine Worte Karl wie die schwersten Vorwürfe treffen mußten, sagte er jetzt:

„Wir hätten den Dampfer nicht verlassen sollen …! Hier müssen wir elend zugrunde gehen, wenn nicht schon in den nächsten Tagen uns ein Schiff aufnimmt …!“

Der Ältere suchte sich zu verteidigen. „Bedenke, daß der Dampfer bereits so schräg lag, daß es so gut wie unmöglich war, die Boote noch zu Wasser zu bringen. Daran dachte ich! Und deshalb forderte ich Dich auf, daß wir uns auf den Eisberg hinüber retten sollten. Meiner Ansicht nach brauchen wir hier nichts zu befürchten. Jedes Fahrzeug, dem wir begegnen, wird uns zu Hilfe kommen. Sei also nicht kleinmütig, Erich! Wir haben uns stets gut verstanden, besser, als es gewöhnlich unter Brüdern der Fall zu sein pflegt. Auch jetzt wollen wir treu zusammenhalten. Ich werde schon Mittel und Wege finden, um uns glücklich aus dieser wenig angenehmen Lage zu befreien. Laß es nur erst Tag werden, dann schwindet auch Deine Mutlosigkeit – glaube mir! – Doch nun vorwärts! Wir müssen zusehen, daß wir von diesem Vorsprung auf den eigentlichen Eisberg gelangen, wo wir hin- und herlaufen können, um uns warm zu machen.“

Vorsichtig, Schritt für Schritt, kletterten sie nun über schroffe Eiszacken und glatte Blöcke hinweg, bis sie auf eine größere, ebene Fläche gelangten, wo sie sich freier bewegen konnten. Hier gingen sie, die Hände tief in die Taschen vergraben, in schnellem Tempo auf und ab. Bisweilen wechselten sie ein paar Worte, und besonders Karl gab sich alle Mühe, den Bruder durch eine zuversichtliche Sprache aufzumuntern. Aber die öde Umgebung, der feuchtkalte Nebel und der sich bald einstellende Hunger wirkten zu niederdrückend, um den jungen Gemütern die Kraft zu geben, sich an gewissen Hoffnungen aufrichten zu können. Dazu kam, daß sie oft mit den Füßen in kleine Wasserlachen traten, wodurch ihre Schuhe bald völlig durchweicht wurden und ein Gefühl eisiger Kälte ihre Beine zu lähmen begann.

Auch Karl Kemper hatte in der letzten halben Stunde kaum noch ein Wort gesprochen. In dumpfem Brüten schritt er neben dem Bruder her, der ihm auf seine Trostworte schließlich gar nicht mehr geantwortet hatte. Daran merkte er nur zu gut, daß Erich ihm grollte, weil sie nach dessen Meinung vorschnell den Dampfer verlassen und dadurch in diese verzweifelte Lage geraten waren.

Dann hörte der Ältere an dem stetig sich steigernden Brandungsgeräusch, daß der Wind aufgefrischt haben müsse. Die Wellen stürmten jetzt mit großer Gewalt gegen den Eisberg. Ihr Toben vereinigte sich zu einem fortwährenden dumpfen Brausen, das wie das ferne Grollen zahlreicher Gewitter klang. Trotzdem der Atlantische Ozean aber unausgesetzt seine schweren Wogen gegen den weißen Fremdling aus dem hohen Norden anrennen ließ, erzitterte dieser auch nicht unter der geringsten Bewegung, – ein Beweis dafür, daß dieser Eisberg ganz riesige Abmessungen haben müsse.

Karl teilte dem Bruder diese seine Beobachtung mit und knüpfte daran die Bemerkung, daß er hoffe, der starke Wind werde jetzt auch den Nebel zerstreuen und der gerade volle Mond ihnen dann genügend Licht spenden, um ihre schwimmende, weiße Insel genauer besichtigen zu können.

Aber Erich verharrte weiter in bedrücktem, ärgerlichem Schweigen. Selbst als dann Karls Vermutung zutraf und keine zehn Minuten später der Mond mit seinen milden Strahlen rings um sie eine wahre Zauberwelt einer in mattem Blau schillernden Eislandschaft erstehen ließ, als die Luft immer klarer wurde und nun auch die letzten Nebelfetzen zerwehten, die Sternenpracht eines wolkenlosen Himmels über ihnen leuchtete und der Eisberg wie ein Spiegel diese Lichtmenge derart verdoppelte, daß es fast taghell wurde, blieb der Jüngere stumm und unfreundlich.

Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, schlug Karl nunmehr allen Ernstes eine Besichtigung des Eisberges vor, der, soweit sich von ihrem jetzigen Standorte übersehen ließ, tatsächlich eine ganz enorme Größe haben mußte. Nur widerwillig gab Erich seine Zustimmung. Und langsam folgte er dann dem Bruder, der ihm voran dem Innern dieser treibenden Insel zuschritt.

Die Ebene, die sie zunächst durchqueren mußten, wurde von einem hohen Walle wild übereinander geworfener Felsblöcke begrenzt. Als sie diese erklommen hatten, bot sich ihnen schon eine bessere Fernsicht. Hinter ihnen lag jetzt die etwa fünfhundert Meter breite Ebene, die von einem Kranze phantastisch aussehender Eiszacken umgeben war, unter denen wieder, wie ein kleiner Hügel der Vorsprung emporragte, den sie vorhin in kühnem Satze glücklich erreicht hatten. In jener Richtung tobte die Brandung jetzt am lautesten, während sie vorhin mehr nach rechts hin am stärksten zu vernehmen gewesen war. Hieraus schloß Karl nicht zu Unrecht, daß der Eisberg sich langsam um sich selbst drehen müsse, wodurch die aus der Windrichtung heranrollenden Wogen notwendig stets andere Uferteile des Eisriesen treffen mußten. – Vor ihnen aber dehnte sich der Eisberg in seiner ganzen, gar nicht zu überschauenden Länge und Breite aus. Das bisher passierte Gebiet war nur eine Art Halbinsel, die das weiße Eiland in die See hinausschickte. Ganze Hügelketten, weite Täler, Geröllfelder, tiefe Abgründe und hoch in die Luft ragende Eisspitzen von den seltsamsten, abenteuerlichsten Formen vereinigten sich zu einem Bilden von überwältigender Schönheit, da diese ganze Landschaft in das geheimnisvolle, jetzt in allen Farbenabstufungen von Blau schillernde Mondlicht getaucht war. Ein Panorama hatte hier die Natur geschaffen, dessen eigenartige Reize selbst des berühmtesten Malers Pinsel nicht hätte wiedergeben können. Der gewaltige Eisberg hatte bei dieser nächtlichen Beleuchtung geradezu etwas Unwirkliches an sich, erschien wie ein Gebilde eines mächtigen Zauberers, der damit einem armen Sterblichen die Sinne verwirren wollte.

Karl Kemper, der von jeher für Naturschönheiten ein offenes Auge gehabt hatte, konnte sich gar nicht sattsehen an all den Wundern dieser Zauberwelt. Und mit einer Begeisterung, die ihn die dunkle Zukunft völlig vergessen ließ, machte er den Bruder jetzt auf diese und jene Schönheit aufmerksam. Doch Erich meinte nur, und zwar schon halb weinerlich, ein trockenes Stück Brot wäre ihm lieber als dieser kahle, kalte Eisberg.

„Was hilft es mir, daß Du jene Eishöhle dort mit den Bildern vergleichst, die Du von der berühmten blauen Grotte auf Kapri gesehen hast! Verhungern werden wir, und unsere Leichen werden von den Seevögeln gefressen werden, die sich in ganzen Scharen die Eisberge als zeitweiligen Aufenthalt erwählen. Ich bleibe dabei, daß …“

Plötzlich stockte er mitten im Satz. Der Ton Seiner Stimme wurde ein anderer, – hoffnungs- und erwartungsvoll. Und hastig fuhr er fort:

„Karl – da rechts von dem tiefen Einschnitt in den Hügeln … drei dunkle Striche ragen dort in die Luft! Das können nur die Masten eines größeren Seglers sein …“

Auch der Ältere hatte jetzt die gegen den matten Hintergrund trotz der weiten Entfernung deutlich sich abhebenden Linien bemerkt. Unwillkürlich packte er mit hartem, krampfhaftem Griff des Bruders Arm.

„Du hast recht, Erich, – es ist ein Schiff … Und dieses Schiff muß mitten auf dem Eisberg liegen …! Seltsam genug ist diese Tatsache. Wie kommt es dorthin …?! – Doch – lassen wir jetzt alles überflüssige Überlegen! Los denn – das Fahrzeug muß ich mir ansehen …!“

Neugier und frohe Hoffnung trieb die Knaben schneller vorwärts als bisher, wo ihre Wanderung über das Eis noch kein festes Ziel gehabt hatte. Die raschen Bewegungen, der schwierige Weg, der häufig genug die größten Anforderungen an ihre körperliche Gewandtheit stellte, und die Erwartung machten ihr Blut schneller in den Adern kreisen und verscheuchten jedes Kältegefühl aus ihren Körpern.

Eine reichliche halbe Stunde später hatten sie dann das letzte Hindernis, einen wildzerklüfteten Eiswall, glücklich überwunden. Vor ihnen lag jetzt ein langgestrecktes, gut vierhundert Meter breites Tal, in dessen Mitte, offenbar durch Eispressungen emporgehoben, auf einer Anhöhe ein Schiff mit drei Masten sich erhob, deren Takelung es als Bark erkennen ließ.

Karl stieß einen lauten Jubelruf aus.

„Erich – das ist die Rettung!“ rief er freudig bewegt. „Dort werden wir einen ganz behaglichen Unterschlupf finden.“

Gerade wollten sie nun auf das Schiff zu eilen, als neben ihnen losgebrochene Eisstücke polternd in die Tiefe fielen. Ihre Köpfe fuhren herum. Und der Jüngere war es, über dessen Lippen der gellende Angstschrei drang:

„Ein Eisbär – ein Eisbär!“

Da hatte Karl aber auch schon den vor Schreck förmlich Erstarrten mit sich fortgezogen.

„Es gilt unser Leben!“ keuchte er in eiligstem Lauf. „Wir müssen vor dem Raubtier das Schiff erreichen, sonst sind wir verloren.“

Und während sie nun in wilder Jagd dahinstürmten, dachte Karl Kemper daran, was ihnen der Steuermann Möller erzählt hatte: daß gar nicht so selten auf den Eisbergen von vorüberfahrenden Schiffen Eisbären bemerkt und auch erlegt worden seien, die durch irgendeinen Zufall unfreiwillig die Reise nach wärmeren Regionen mitgemacht und sich inzwischen von Seehunden genährt hätten.

Mit weiten Sätzen, oft stolpernd, oft breite Spalten in kühnem Sprung überwindend, näherten sie sich immer mehr der Bark, die in ihrer starren Ruhe, umflossen von dem bläulichen, seltsamen Licht, einen fast unheimlichen Eindruck machte.

Ein Mal hatte Karl es auch gewagt, einen Blick nach rückwärts zu werfen. Zu ihrem Glück ließ der Eisbär sich Zeit und schien es gar nicht so eilig zu haben, diese willkommene Beute zu erhaschen. Beinahe gemächlich trottete er hinter den Brüdern her, prüfte erst vorsichtig den Rand jeder Spalte, bevor er zum Sprunge ansetzte.

Endlich war das Schiff erreicht. Vom Deck desselben ging ein breiter, fester Plankensteg auf das Eis herab. Mühelos gelangten die Brüder daher an Bord und liefen, ohne sich viel umzusehen, sofort nach dem Hinterschiff hin, wo sich ein niedriger Kajütaufbau befand, in den zwei Türen hineinführten. Karl packte den Drücker der einen und stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen. Alles kam jetzt darauf an, daß die Türen unverschlossen waren. Und wirklich – das Schicksal meinte es gut mit ihnen: die Tür war zwar von der Nässe verquollen, gab aber doch nach. – Und nun standen sie mit wild schlagenden Herzen und keuchender Brust in der tiefen Dunkelheit, nachdem sie die Tür hinter sich wieder fest ins Schloß gedrückt hatten.

Gleich darauf draußen die schweren Tritte der Bestie, ein Scharren und Kratzen und lautes, pfeifendes Schnüffeln: der Eisbär suchte festzustellen, wo die beiden Flüchtlinge geblieben waren.

Die aber hatten inzwischen durch Betasten der festen Tür und des Schlosses sich davon überzeugt, daß das Raubtier ihnen vorläufig nichts mehr anhaben könne. Und jetzt sagte Karl schon wieder ganz ruhig und zuversichtlich:

„Wenn wir nur Zündhölzer hätten …! In dieser Finsternis sieht man ja nicht die Hand vor Augen! – Und eine Luft ist hier – wie im Keller, so dumpf und modrig. – Bleibe Du neben der Tür stehen, Erich, ich will mich mal weitertasten. Vielleicht finde ich ein Feuerzeug. Man kann ja nicht wissen …“

Während der Eisbär draußen vor dem Kajütaufbau noch immer umhertappte, begann der energische Karl sorgfältig durch Befühlen aller Gegenstände den Raum abzusuchen, wobei er sich ganz auf den Tastsinn seiner Finger verlassen mußte. Von Zeit zu Zeit berichtete er dann dem Bruder, was er entdeckt habe.

„Hier rechts fährt eine zweite Tür in ein Nebengemach … Und dies hier ist ein Schrank – nein, ein Schreibtisch mit Aufbau. Allerlei Papiere liegen darauf … Jetzt habe ich einen Federhalter in den Händen … Da ist auch ein Tintenfaß … Holla – und dies – wahrhaftig, Erich, – ein Streichholzbehälter ist’s … Hörst Du – da sind noch ein paar Zündhölzchen darin … Wenn nur die Köpfe nicht feucht geworden sind …! – Hurra … es ist geglückt!“

Ein Flämmchen zuckte auf, bei dessen schwachem Schein Karl Kemper nun schnell aus ein paar Blättern Papier eine Art Fackel drehte und diese anzündete. Hoch hob er die qualmende Leuchte empor. Da bemerkte er an der Decke eine Pendel-Schiffslampe, wie er sie schon von dem „Konsul Herling“ her kannte. Eilig zog er einen neben dem Schreibtisch stehenden Stuhl herbei, stieg hinauf, nahm den Zylinder ab, schraubte den Docht höher und hielt die Papierfackel daran. Sofort verbreitete sich in der kleinen Kajüte ein leichter Petroleumgeruch. Die Hauptsache aber: die Lampe brannte! – Bei ihrem rötlichen, ruhigen Licht ließen sich nun alle Einzelheiten des nur wenige Quadratmeter großen Raumes erkennen. Dieser enthielt außer dem altertümlichen Schreibtisch mit der aufklappbaren Schreibplatte noch ein Bett, drei Stühle, einen in die Wand halb eingelassenen Schrank, einen eisernen Ofen, einen kleinen Waschtisch und eine große Uhr. Das Wichtigste aber: über dem Bett hingen mehrere Flinten, Harpunen, Revolver und Säbel, die zu einer geschmackvollen Dekoration vereinigt waren.

Sofort kletterte Karl abermals auf den Stuhl und nahm zwei Gewehre und zwei Harpunen, deren breite eiserne Spitzen gut geölt waren, herab.

Sachkundig besichtigte er dann die Flinten.

„Sie sind tadellos im Stande“, meinte er frohlockend. „Mit diesen Hinterlader-Kugelbüchsen werden wir dem Eisbären schnell den Garaus machen. – Suchen wir jetzt nach Patronen. Ich denke, die werden wir in den Schubladen des Schreibtisches finden.“

Seine Vermutung traf zu. In der mittelsten Schublade des Unterbaues entdeckte er zwei Schachteln, in denen die passende Munition, etwa zweihundert Kugelpatronen, lag.

Mit Schußwaffen wußten die Brüder gut umzugehen, da sie bei einem Freunde ihrer Eltern, der in der Nähe von New York eine kleine Farm besaß, häufig nach der Scheibe geschossen hatten.

Jetzt war auch des Jüngeren trübe Stimmung vollständig verflogen. Dieses erst so düster erscheinende Abenteuer begann ihm Freude zu machen, nachdem sich ihre Lage durch das Auffinden des Schiffes so wesentlich gebessert hatte.

Eifrig berieten die Brüder nun, wie man den Eisbären am sichersten erlegen könne. Bevor sie diesen nicht unschädlich gemacht hatten, mußten sie sich ja vollständig als Gefangene betrachten.

Karl schlug vor, man solle vor der auf das Deck führenden Tür, die wie alle Schiffstüren nach innen zu aufging, eine Art Barrikade bauen, so daß nur ein schmaler Spalt sich öffnen ließ, den sie dann als Schießscharte benutzen wollten. Und diese gute Idee verwirklichten sie denn auch. Zunächst rückten sie den schweren Schreibtisch vor die Tür, nachdem sie die Schrauben der eisernen Klammern, mit denen er an der Wand befestigt war, mit einem Schraubenzieher, den sie in einer unter dem Bett stehenden, allerlei Handwerkszeug enthaltenden Kiste aufgestöbert hatten, gelöst hatten. Aus den drei Stühlen und der Kiste bauten sie dann eine Art Stütze auf dem Fußboden, so daß der Schreibtisch sich kaum von seinem jetzigen Platz fortschieben ließ.

Nach diesen Vorbereitungen öffnete Karl Kemper die Tür etwa eine Handbreit. Von dem Eisbären war zunächst nichts zu sehen. Mit den geladenen Büchsen in der Hand harrten die Brüder nun der weiteren Entwickelung der Dinge.

Dann tappende Schritte und das kratzende Geräusch, das die Krallen der Bestie auf den Planken des Decks hervorriefen. Und nun schob sich plötzlich eine spitze, weiße Schnauze vorsichtig von der Seite windend in den Türspalt hinein. Gleich darauf erschien auch eine Tatze, die die enge Öffnung zu vergrößern trachtete.

„Ein schlauer Bursche“, flüsterte Karl dem Bruder zu. „Jedenfalls schieße ich, sobald der Eisbär den Kopf sehen läßt.“

Und nun tauchte wirklich auch der flache Schädel des Raubtieres auf. Mit vor Erregung zitternden Armen brachte der Ältere seine Büchse bis dicht an den Kopf des gefährlichen Feindes heran. Dann ein donnernder Knall, und alles war vorüber. Noch einige Male schlug der Eisbär wild mit den Tatzen um sich und lag dann regungslos still. Die Knaben konnten gerade noch seinen jetzt blutig gefärbten Schädel sehen, in den die Kugel über dem rechten Auge eingedrungen war.

Im Nu räumten sie die Barrikade beiseite, überzeugten sich erst durch Stöße mit den Flintenläufen, ob die Bestie wirklich tot sei, und betrachteten dann in Ruhe ihre mächtige Beute, die gut eineinhalb Meter lang war und, wie Karl sofort äußerte, ihnen für geraume Zeit das nötige Fleisch liefern würde.

Dieser leichte Sieg verscheuchte bei den Brüdern auch den letzten Rest von Sorge um ihre Zukunft und stellte auch das alte, gute Verhältnis zwischen ihnen wieder her. Erich war es, der nunmehr den Vorschlag machte, man solle jetzt sofort das Schiff nach Nahrungsmitteln durchsuchen. Da auch der Ältere schon recht stark unter einem peinigenden Hunger litt, nahmen sie die Lampe von der Decke herab und begaben sich zunächst in den Nebenraum. Dieser war etwas größer, besaß dafür aber auch drei Betten, die ebenfalls mit mehreren dicken Decken ausgestattet waren. Von hier führte wieder eine niedrige Tür in eine Vorratskammer, die mit Kisten, Fässern und großen Blechkannen bis obenan gefüllt war. Die meisten davon waren jedoch leer, und erst ganz in einer Ecke entdeckten die Brüder ein volles Petroleumfaß, eine Kiste mit allerlei Konserven und eine zweite, die mit großen, patronenähnlichen Messinghülsen halb gefüllt war. Welchen Zweck diese hatten, vermochten beide zunächst nicht zu ergründen. Und doch sollten gerade diese Messinghülsen, die oben mit Filzpfropfen verschossen waren, ihnen später noch sehr nützlich werden.

Eine Viertelstunde später prasselte schon in dem Ofen der größeren Kajüte ein lustiges Feuer, das Erich mit den Brettern der zertrümmerten Kisten eifrig nährte. Auch in diesem Raum hatten sie jetzt die Deckenlampe angezündet, so daß Karl inzwischen mit der anderen nach der im Vorschiff liegenden Kombüse gehen konnte, um von dort einen Kochtopf herbeizuholen. Er brachte dann nicht nur einen sauberen Eisentiegel, sondern auch einen Napf mit Salz, Messer, Gabeln, Löffel, Teller und einen Blechkasten steinharter Schiffszwiebacke mit, die jedoch noch gut genießbar waren.

Mittlerweile war es ein Uhr nachts geworden. Die Brüder besaßen jeder eine billige Taschenuhr, die sie recht sorgfältig aufzuziehen sich vornahmen. Außerdem gedachte Karl nachher auch die in der Kapitänskajüte über dem Schreibtisch angebrachte Schiffsuhr in Gang zu setzen.

Dann meldete Erich, daß das Essen fertig sei. Während der Mahlzeit berichtete der Ältere, was er bei der Durchsicht der Bücher und Papiere des Schreibtisches über die Bark festgestellt habe.

Diese heiß „Polarstern“, gehörte einer Reederei in Emden, war für den Robben- und Walfischfang ausgerüstet und hatte ihren Heimathafen, wie aus einem von dem Kapitän zurückgelassenen Schreiben hervorging, im März 1905 verlassen. Nach sehr guten Fangergebnissen war sie dann im Winter 1905 an der Küste von Grönland von Eisfeldern so fest umringt worden, daß der Kapitän, da der Eisberg nach Norden entführt wurde, sich im Sommer 1906 dazu entschloß, das Schiff preiszugeben und zu Fuß eine der norwegischen Kolonien an der grönländischen Ostküste zu erreichen zu suchen.

„Wir wissen jetzt also“, schloß Karl seine Mitteilungen, „daß wir uns auf einem jener nicht allzu häufig vorkommenden Eisberge befinden, die durch Zusammenfrieren von Packeis und Eisfeldern entstehen. Nur so ist es ja auch zu erklären, daß der „Polarstern“ hier von uns mitten auf dem Eisberge liegend entdeckt worden ist. Ein volles Jahr treibt das Schiff nun schon verlassen auf dem Meere umher. Jedenfalls ist es zunächst in eine nach Norden gehende Strömung geraten, dann aber in eine südliche, der wir es zu verdanken haben, daß wir jetzt wohlgeborgen im Warmen sitzen. – Doch nun wollen wir uns schlafen legen. Mir fallen bereits die Augen vor Müdigkeit zu. Morgen werden wir uns dann den Eisberg bei Tageslicht genauer ansehen.“

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als die Knaben endlich munter wurden. Nachdem sie sich eine Mahlzeit zubereitet hatten, machten sie zunächst einen Rundgang durch das Schiff. Hierbei fanden sie noch eine ganze Menge von Dingen, die für sie äußerst wertvoll waren: allerlei warme Kleidungsstücke, einen Vorrat von Steinkohlen, mehrere Fässer mit Salz, eine Kiste voll Konservenbüchsen und … eine auf einem Drehgestell ruhende Kanone, bei deren Anblick Karl sofort ausrief:

„Das ist ein Harpunen-Geschütz, Erich! Und nun weiß ich auch, welchen Zweck die großen Messinghülsen haben! Sie enthalten die Pulverladung, die die für die Walfische bestimmte Harpune aus dem Rohr treibt. – Sieh, der Mechanismus ist sehr einfach. Hier der Verschluß wird herausgenommen, dann die Pulverladung eingeführt, und vorn ins Rohr kommt die Harpune mit den Widerhaken hinein, an der eine lange, starke und leicht sich abrollende Leine befestigt ist. Eigentlich müßten wir die Kanone mal probieren. Das gäbe einen ordentlichen Spaß.“ –

Zunächst setzten sie aber die Besichtigung der Bark fort. In deren Laderaum waren unzählige, mit Tran gefüllte Fässer sowie gut eingesalzene Robbenfelle zu vielen Hunderten verstaut. Im Kielraum stand nur wenig Wasser, so daß Karl die Hoffnung aussprach, das Schiff könne vielleicht noch völlig seetüchtig sein. Freilich – an Deck sah es recht wüst und unordentlich aus. Die Reling war stellenweise völlig zertrümmert, und auch die drei Boote hatten, offenbar durch den Druck von Eismassen, schwere Beschädigungen davongetragen.

Eine halbe Stunde darauf wanderten die Brüder, die geladenen Büchsen über der Schulter und jetzt auch warm angezogen, einem hohen Eishügel zu, von dem aus sie ihre weiße Insel völlig überblicken zu können hofften, worin sie sich nicht getäuscht hatten.

Der Eisberg hatte bei ungefähr kreisrunder Form einen Durchmesser von etwa vier Kilometer, wenn man die Halbinsel nicht berücksichtigte, auf der die Knaben gelandet waren. Vier weitere Eisberge von länglicher Form, aber geringeren Abmessungen umgaben ihn in einem Abstande von etwa tausend Metern wie Wachen, die sich um ihren Herrn geschart haben. Karl, der vom „Polarstern“ sich ein Fernrohr mitgenommen hatte, stellte dann bald mit dessen Hilfe fest, daß diese vier kleineren Eisberge nicht etwa selbständige Massen waren, sondern vielmehr mit dem mittelsten weißen Eiland durch unter der Oberfläche des Wassers liegende Schichten verbunden waren. Erich wollte dies zunächst nicht glauben, erkannte dann aber an der eigentümlichen Färbung des zwischenliegenden Wasserkranzes und an einzelnen, daraus hervorragenden Zacken, daß seines Bruders Behauptung wirklich zutreffe.

Jetzt wurde es Karl auch klar, weshalb der Frachtdampfer trotz aller Manöver dem Verhängnis nicht mehr hatte entrinnen können. Der „Konsul Herling“ war ohne Frage in dem dichten Nebel durch den freien Wasserstreifen zwischen zweien der vorgelagerten Eisberge hindurchgefahren und dann nachher beim Rückwärtsdampfen auf starke Eisspitzen aufgelaufen, die ihm den Boden zerrissen und das schnelle Wegsinken des Schiffes herbeiführten. Auffallend war nur, daß in dem doch sicher nur flachen Wasserbecken zwischen den Eisbergen von dem Dampfer nichts mehr zu sehen war. – In der Hoffnung, vielleicht noch irgendwo einen Geretteten von dem Dampfer zu erspähen, suchte Karl jetzt mit dem Fernrohr alle Stellen der Eisberge ab, die er von hier aus sehen konnte. Leider war diese Mühe umsonst.

Nun machten[1] die Brüder sich auf den Rückmarsch, nachdem sie noch beschlossen hatten, auf der Spitze dieses Eishügels einen Flaggenmast zu errichten, der, mit einer möglichst großen Fahne versehen, vorüberkommenden Schiffen anzeigen sollte, daß Schiffbrüchige hier auf Befreiung harrten.

Gleich nach dem Mittagessen wurde diese Arbeit vollendet, zu der sie alles notwendige Material in der Segelkammer des „Polarstern“ fanden.

Als Erich gerade eine Flagge in den deutschen Farben an dem aus einer Ersatz-Mastspitze gefertigten Fahnenstock hochhißte und sein Bruder fast andächtig zusah, wie der Wind das Tuch immer mehr aufbauschte, bis dieses knallend sich vollends entfaltete, kam es Karl so vor, als höre er in der Ferne das Bellen eines Hundes. Auch der Jüngere horchte jetzt angestrengt lauschend nach jener Richtung hin und behauptete dann ebenfalls, es handele sich ohne Zweifel um Hundegekläff. Trotzdem meinte Karl, sie mußten sich irren, denn wie hätte wohl ein Hund hier auf dem Eisberg längere Zeit dem Eisbären entgehen und wovon sich nähren können?!

Erich sah das Zutreffende dieser Bemerkung vollkommen ein, riet dann aber doch, sie sollten jetzt gleich jenen Teil ihrer weißen Insel durchforschen, aus dem die seltsamen Laute zu ihnen herübergedrungen waren. – Nach Überwindung mehrerer hochaufgetürmter Wälle von Eisblöcken gelangten sie in ein zweites, demjenigen ähnliches Tal, in welchem die Bark einen recht ungewöhnlichen Ankerplatz gefunden hatte. Dieses senkte sich allmählich nach dem Meere hin und bildete so eine breite, flache Uferstelle, an der die Knaben zu ihrem Erstaunen eine Herde von gut hundert Seehunden antrafen, die sich auf dem Eise sonnten, dann aber plötzlich mit lautem Platschen sich sämtlich ins Wasser warfen und verschwanden, ehe noch der jagdeifrige Karl seine Büchse schußfertig machen konnte.

Hier nun entdeckten die Brüder deutliche Anzeichen dafür, daß an dieser Stelle vor nicht langer Zeit ein Mensch geweilt haben müsse. Es lagen da nämlich etwas abseits hinter ein paar mächtigen Blöcken die sauber abgehäuteten Kadaver von drei Seehunden, und bei dem einen waren auch die feistesten Rückenstücke kunstgerecht herausgeschnitten.

Kopfschüttelnd betrachtete Karl sich diese unverkennbaren Beweise der Anwesenheit von Menschen auf dem Eisberg. Nach einer Weile äußerte er dann zu seinem Bruder, die Kadaver sähen noch so frisch aus, daß man annehmen müsse, die Tiere könnten höchstens gestern erlegt sein.

„Denkt man nun noch an das Hundegebell“, fügte er hinzu, „so wird es immer wahrscheinlicher, daß sich außer uns noch andere menschliche Bewohner auf unserer weißen Insel befinden. Nur schade, daß wir heute nicht weiter nach ihnen suchen können, da es Zeit wird, nach dem Schiffe zurückzukehren. Die Sonne ist schon untergegangen, und wir haben noch eine gute halbe Stunde beschwerlichen Marsches vor uns.“ –

Beim Betreten des Verdecks des „Polarstern“ harrte der Brüder jedoch eine weitere Überraschung, die ihnen manch’ ärgerlichen Ausruf entlockte. Sie hatten den Eisbär, den sie baldigst zerlegen und dessen beste Stücke sie einpökeln wollten, etwas abseits an die Reling gezogen, fanden jetzt aber nur noch geringe Überreste von ihm vor. Das Fell, die Keulen und Rückenstücke waren verschwunden. Und deutlich bemerkten sie auch an dem Kadaver der Bestie die Spuren eines Messers, mit dessen Hilfe man ihn zerlegt hatte.

Karl war am meisten über den Verlust des schönen Felles ergrimmt und erging sich gegen die unbekannten Diebe in allerlei Drohungen, die aber gerade wegen ihres echt knabenhaft übertriebenen Blutdurstes keineswegs ernst gemeint waren. Doch an demselben Abend sollte sich dann noch etwas ereignen, was die friedliche Ruhe auf diesem schwimmenden Eiskoloß recht bedenklich störte.

Nachdem die Brüder in der Kajüte ihre Abendmahlzeit eingenommen hatten, wollten sie noch eine Weile auf dem Verdeck der Bark auf und abgehen, um den Aufgang des Mondes zu erwarten und abermals das wunderbare Schauspiel des in bläuliche Lichtfluten getauchten Eisberges zu genießen. Kaum hatten sie die Kajütentür hinter sich ins Schloß gezogen, als sie bei dem ungewissen Licht eine kleine, behende Gestalt erblickten, die blitzschnell über die breite Laufplanke das Schiff verließ und eiligst davonrannte. Daß der Flüchtling ein Mensch war, hatten sie wohl erkannt, sonst aber weder sein Gesicht noch seine Kleidung deutlich gesehen.

Karl Kemper besann sich nicht lange und begann trotz Erichs warnendem Zuruf sofort die Verfolgung. Er wollte wissen, wer der Dieb des schönen Eisbärenfelles eigentlich war; denn daß dieser und der jetzige nächtliche Besucher ein und dieselbe Person seien, erschien ihm außer Zweifel zu stehen.

Der Ausreißer, der kaum so groß wie der jüngere der Brüder war, bewies im Überspringen der Eisspalten eine solche Gewandtheit, daß Karl ihm trotz der längeren Beine kaum näherkam. Die Jagd ging das Tal hinab einer Stelle zu, wo sich eine schmale Schlucht zum Meere hinabzog. In dieser Schlucht verschwand der Flüchtling jetzt. In demselben Augenblick kam der Mond über den höchsten Spitzen des Eisberges hervor, so daß es dem Knaben möglich war, seine Geschwindigkeit bei den jetzt leichter erkennbaren Unebenheiten des Bodens zu verdoppeln.

Plötzlich jedoch sollte diese Hetze ein unerwartetes Ende finden. Karl Kemper war etwa noch fünfzig Meter von dem Eingang der Schlucht entfernt, als sich plötzlich dicht vor ihm hinter einem Eisblock eine zweite menschliche Gestalt aufrichtete, deren Erscheinen ihm so unerwartet kam, daß er erschreckt zurückprallte und dann argwöhnisch stehen blieb. Ehe er die Person da vor sich aber genauer ins Auge fassen konnte, erhielt er plötzlich einen leichten Schlag an den linken Schenkel, und gleichzeitig durchzuckte ihn an derselben Stelle ein brennender Schmerz. Ein Blick nach unten belehrte ihn nur zu schnell, daß ein Pfeil ihn getroffen habe und noch im Oberschenkel stecke.

Als er jetzt, mehr in ungläubigem Erstaunen als erschreckt, wieder nach dem heimtückischen Feinde ausschaute, war dieser verschwunden. Da tat er das, was unter diesen Umständen – er hatte ja keinerlei Waffe bei sich! – das ratsamste war: er kehrte zum Schiffe zurück! Den Pfeil hatte er vorher mit einem Ruck aus der Wunde gezogen.

Erich war nicht wenig erschrocken über dieses Abenteuer seines Bruders, das leicht noch weit schlimmer hätte auslaufen können.

Die Wunde war zum Glück nicht tief, wurde sorgfältig gereinigt, nachher noch mit Rum, den die Knaben am Vormittag in einem kleinen Fäßchen gefunden hatten, in Ermangelung eines anderen Desinfektionsmittels ausgewaschen und verbunden. Nachdem der Jüngere sich dann nochmals davon überzeugt hatte, daß die beiden auf das Verdeck führenden Türen der Kajüträume gut verschlossen waren, setzte er sich zu seinem Bruder an das Bett, und beide besprachen nun ganz eingehend Karls gefährliches Erlebnis, konnten sich aber nicht darüber klar werden, welcher Rasse die angriffslustigen Feinde angehörten. Auch der Pfeil gab über diese Frage keinen Aufschluß, der offenbar von einem auf nicht allzu niedriger Kulturstufe stehenden Menschen angefertigt war. Der Schaft aus geschnitztem Holz, die Spitze aber aus einem scharfen Knochenstück, das durch Tiersehnen am Schafte befestigt war. Eine eigentliche Fiederung, d. h. am unteren Ende angebrachte Federn zur Erzielung eines sicheren Schusses, war nicht vorhanden. Dafür waren jedoch dünne Fischgrätenstücke in das Holz eingelassen, die bei ihrem geringen Gewicht und ihrer ziemlichen Breite wohl denselben Zweck erfüllten.

Erich, der stets eifrig Indianergeschichten gelesen hatte, meinte, daß man es hier mit Rothäuten zu tun habe, worauf der geistig bedeutend reifere Karl jedoch erwiderte, diese Annahme sei durch nichts begründet. Wie sollten wohl Indianer auf diesen Eisberg gelangt sein, der hunderte von Kilometern[2] von der Küste Amerikas entfernt im Atlantischen Ozean dahintrieb …?! Jedenfalls blieb diese Frage nach der Rassenangehörigkeit der Mitbewohner der weißen Insel heute sowohl als noch viele weitere Tage ungelöst.

Am nächsten Morgen fühlte sich Karl so völlig gesund, daß er trotz der noch offenen Wunde aufstand und dem Bruder bei der Erledigung der notwendigen Arbeiten hilfreich zur Hand ging. So wurden denn die Reste des Fleisches des Eisbären von den Knochen gelöst und in einem Fasse eingepökelt. Doch das Erlebnis vom Abend vorher hatte die beiden Knaben jetzt insofern vorsichtiger gemacht, als sie stets die geladenen Büchsen in nächster Nähe behielten und sich ohne diese keinen Schritt weit vom Schiffe entfernten.

Karls Wunde ließ die Brüder nun zunächst auf größere Ausflüge verzichten. Außerdem änderte sich auch das Wetter, und eine ganze Woche lang regnete und stürmte es fast ununterbrochen, so daß es draußen recht ungemütlich war. Diese Tage benutze der Ältere dazu, den Schreibtisch des Kapitäns nochmals ganz sorgfältig durchzusehen. Hierbei fand er nun unter anderen Büchern ein Werk über die Polargegenden, in dem auch die Sitten und Eigentümlichkeiten der Eskimos, der ständigen Bewohner jener unwirtlichen Gebiete, recht eingehend geschildert waren. Beim Lesen dieses Werkes kam dem Knaben zum ersten Mal der Gedanke, daß vielleicht Eskimos gegen ihren Willen mit diesem riesigen Eisberg bis hierher gelangt sein und daß Vertreter dieses Menschenschlages die weiße Insel bevölkern könnten. Für diese Annahme sprach einmal die geringe Körpergröße der von ihm beobachteten beiden Feinde, dann aber auch die Herstellungsart des Pfeiles, die in dem Buche ähnlich geschildert war. Trotzdem war Karl sich seiner Sache nicht ganz sicher. Desto sehnsüchtiger erwartete er aber den Eintritt besseren Wetters, da er fest entschlossen war, den unbekannten Mitbewohnern ihres schwimmenden Reiches so lange nachzuspüren, bis er sie entdeckt hatte.

Als dann nach Verlauf von acht Tagen die Sonne wieder erschien, war auch die Wunde des älteren der Knaben fast völlig verheilt und nichts hinderte sie jetzt mehr, die Suche nach den fremden Mitbewohnern des weißen Eilandes zu beginnen.

So machten die Brüder sich denn eines Morgens, wohlversehen mit dem für einen Tag nötigen Proviant, auf den Weg, um den Eisberg in allen seinen Teilen genau zu durchforschen. Zunächst lenkten sie ihre Schritte nach dem Flaggenhügel hin. Doch schon von weitem sahen sie, daß die Fahne verschwunden war. Nachher zeigte es sich, daß die Diebe nur den Mast hatten stehen lassen. Auch die Schnüre zum Hissen der Fahne hatten sie mitgehen heißen.

Dieser neue Diebstahl spornte den Eifer der Brüder, mit ihren heimlichen Widersachern gehörig abzurechnen, nur noch mehr an. Bevor sie jedoch den Hügel verließen, machte Karl noch eine merkwürdige Entdeckung.

Daß der Eisberg mitsamt seinen vier ihn umgebenden Anhängseln, die für sich ebenfalls wieder Eisberge von recht ansehnlichem Oberflächengehalt bildeten, in steter Umdrehung von links nach rechts sich befand, hatte der ältere der Brüder ja sehr bald festgestellt. Heute nun entdeckte er an verschiedenen Beobachtungen, daß diese an sich ja außerordentlich langsame Umdrehung vollständig aufgehört hatte. Wie er nun die Ursache dieser Erscheinung durch sorgfältiges Nachdenken zu ergründen suchte, fiel ihm weiter auf, daß eine große Anzahl von Eisschollen und -blöcken die Durchfahrt zwischen den zwei jetzt nach Süden zu gerichteten Eisbergen völlig verstopft hatte und dort einen breiten Damm bildete. – Aber alles Grübeln half ihm nichts. Er vermochte sich nicht zu erklären, weshalb die Drehung der ganzen Eismasse plötzlich unterblieb und woher all die riesigen Eisschollen und die mächtigen Blöcke stammten, die jetzt jene vor einer Woche noch völlig freie Durchfahrt versperrten. Freilich – eine ganz unbestimmte Vermutung über die Ursachen dieser Veränderungen war wohl in ihm aufgetaucht. Aber diese Vermutung erschien ihm so vollkommen unwahrscheinlich, daß er sie sofort wieder verwarf.

Im übrigen verlief dieser Tag, von dem die Brüder so viel erwartet hatten, jedoch ohne jedes wichtige Ereignis. So genau sie auch den ganzen Eisberg absuchten, nirgends entdeckten sie die Spur eines lebenden Wesens, – abgesehen von einigen Seehunden und Vögeln, die ihnen zu Gesicht kamen. Todmüde langten sie bei Einbruch der Dunkelheit wieder bei der Bark an und schliefen dann bis in den Vormittag hinein.

Karl Kemper war jetzt davon überzeugt, daß die unbekannten Mitbewohner ihres weißen Eilandes nicht auf diesem selbst, sondern auf einem der Nebeneisberge ihre Behausung haben müßten. Diese Ansicht fand dann am folgenden Nachmittag dadurch eine unzweifelhafte Bestätigung, daß die Brüder bei einem neuen Ausflug nach dem Flaggenhügel, wobei sie eine zweite Fahne an dem Mast befestigten, durch das Fernrohr auf dem größten der vier Trabanten-Eisberge deutlich zwei größere und drei ziemlich winzige Gestalten sich bewegen sahen. Erstere hielt Karl für Menschen, letztere für Hunde.

Die Brüder beschlossen nun, das kleinste der Boote der Bark, die nur für höchstens drei Mann berechnete Jolle, auszubessern, bis ans offene Wasser zu schleppen und dann nach jenem Eisberg überzusetzen. Schon am nächsten Tage begannen sie mit der Reparatur des Bootes, die mit Hilfe der vorhandenen Werkzeuge leidlich gut gelang. Auch der Transport der Jolle bis zum Rande des Eisberges machte weiter keine Schwierigkeiten, da sie im Laderaum des „Polarstern“ ein vollständiges Schlittengestell fanden, auf welches sie das Boot befestigten und dann ganz bequem fortbringen konnten.

Bei der Suche nach flüssigem Teer, mit dem die Brüder die ausgebesserten Planken wasserdicht machen wollten, stieß der Ältere nun auf eine große Blechtrommel, auf die ein Tiefseelot aufgerollt war. Dieser Fund gab ihm den Gedanken ein, sich nochmals um die Ergründung der Ursachen der plötzlich ausgebliebenen Umdrehung des Eisberges sowie der Entstehung der Eisbarriere zu bemühen. Mit Hilfe des Lotes mußte es ihm ja ein Leichtes sein festzustellen, ob seine damals von ihm selbst so schnell wieder verworfene Vermutung richtig war oder nicht.

Nachdem die Jolle daher eines Morgens durch die Schlucht bis an die schmale Uferstelle gebracht war, nahmen die beiden Knaben außer ihren Waffen noch die Trommel mit dem Lot mit und ruderten dann zunächst nach dem kleinsten der vier Eisberge hinüber, den sie in zehn Minuten glücklich erreichten. Hier zogen sie das Boot auf das Eis und begaben sich darauf nach der der offenen See zugekehrten Seite dieser Nachbarinsel, wie Erich dieses Anhängsel des mittelsten Eisriesen ganz zutreffend benannte. Bald hatte Karl eine Stelle gefunden, wo das schwere Lot, das einem großen Trichter glich, glatt untersank, ohne auf unter Wasser befindliche Vorsprünge zu stoßen. In der Leine des Lotes waren von fünfzig zu fünfzig Meter Knoten angebracht, so daß die Wassertiefe leicht zu berechnen war. Zum größten Erstaunen der Knaben geriet das Lot jedoch bereits bei etwa dreißig Meter auf Grund.

Erich meinte sofort, dies könne unmöglich stimmen. Wahrscheinlich sei das Lot auf eine Eisnase geraten und liege gar nicht auf dem Meeresboden. Als Karl dann jedoch die Leine wieder aufwickelte, zeigte es sich, daß in der Trichteröffnung des Lotes außer feinem Sand einige Muscheln und Stücke von Seepflanzen lagen. Auch weitere, an anderen Stellen vorgenommene Lotungen ergaben stets eine Tiefe von ungefähr dreißig Meter.

Karl Kemper triumphierte. „So, nun weiß ich Bescheid“, sagte er erklärend zu seinem Bruder. „Unser Eisberg dreht sich deshalb nicht mehr, weil er sich vor Anker gelegt hat, das heißt, weil er sich mit dem unter Wasser befindlichen Teil seiner Masse auf dieser Untiefe des Atlantischen Ozeans festgefahren hat. Steuermann Möller hat uns ja damals erzählt, daß die Eisberge nur mit ein Achtel bis ein Neuntel ihrer Masse aus dem Wasser herausragen. Somit dürfte unsere weiße Insel unter der Oberfläche sicher an vielen Stellen eine Dicke von weit über dreißig Meter haben, während hier, wie die Lotungen gezeigt haben, schon dreißig Meter genügen, um unseren Eisriesen zum Stranden zu bringen. Mit einem Wort, mein lieber Erich, wir befinden uns zur Zeit nicht mehr auf einem schwimmenden, sondern einem regelrecht festgefahrenen Eisberg! Und die Schollen und Eisblöcke, die da im Süden die neuerstandene Barriere bilden, sind nichts als bisher unter Wasser befindlich gewesene Spitzen und Vorsprünge, die beim Stranden des Kolosses abgebrochen und dann von der nach Süden gehenden Strömung zu jener Barriere zusammengetrieben wurden.“

Eine Viertelstunde später näherte sich dann die Jolle dem anderen Eisberge, auf dem die Brüder die Behausung der diebischen Gesellen vermuteten. Auch hier zogen die Knaben das Boot ein Stück auf das Eis und begannen dann die Suche nach ihren unbekannten Feinden. Doch erst nach zwei Stunden mühseligen Kletterns entdeckten sie in einer breiten, schwer zugänglichen Schlucht eine aus Eistücken errichtete Hütte, in deren Nähe überall Knochen von Seehunden und eine Menge zusammengesammeltes Treibholz umherlagen.

Die Hütte, deren Boden und Wände mit Robbenfellen dick gepolstert waren und die allerlei primitive Geräte, darunter auch ein paar aus ausgehöhlten Seehundschädeln hergestellte Tranlampen enthielt, war leer. Immerhin hatten die Brüder jetzt aber die Rassenzugehörigkeit der Mitbewohner ihrer weißen Insel ergründet. Alles hier Aufgefundene deutete mit Bestimmtheit darauf hin, daß es sich nur um Eskimos handeln könne. – Wo aber waren diese Leute geblieben? – Karl Kemper meinte, daß sie beim Nahen ihrer Verfolger auf ihrem Fahrzeuge, das sie ja notwendig besitzen mußten, entflohen seien. – Und daß diese Vermutung die richtige war, zeigte sich sehr bald. Als die Knaben jetzt auf dem Rückwege zu der Jolle die Spitze eines Eishügels erklommen hatten, deutete Erich plötzlich mit einem Ausrufe des Schreckens auf das zwischen den Eisbergen sich hinziehende Wasserbecken hin: dort schwamm das kleine Boot des „Polarstern“, gerudert von zwei vollständig in Felle gekleideten Eskimos. Und im Schlepptau der Jolle liefen zwei jener eigentümlichen, mit Seehundshäuten bezogenen Nachen, die man Kajaks nennt, und darin waren deutlich die struppigen Köpfen von drei Polarhunden zu erkennen.

Die Wut und Verzweiflung der dergestalt überlisteten Brüder war unbeschreiblich. Abgeschnitten von ihrem Eisberge und dem Schiffe, wußten sie nicht, wovon sie hier ihr Leben fristen sollten. Besonders Erich, der sich nur zu leicht einer völligen Mutlosigkeit hingab, jammerte und wehklagte in einer Weise, daß Karl schließlich ungeduldig wurde und ihn mit strengen Worten zurechtwies.

Der Tag verging, ohne daß ihnen Mittel und Wege einfielen, wie sie den breiten Wasserarm, der sie von ihrem Eisberge trennte, überwinden könnten. Bei Einbruch der Dunkelheit, als es nach Untergang der Sonne wieder recht empfindlich kalt wurde, mußten sie sich notgedrungen in die Hütte der Eskimos zurückziehen. Aber das dort vorhandene Ungeziefer und der widerliche Gestank der schlecht von den Fleischteilen gesäuberten Felle ließ sie keinen Schlaf finden. Noch vor Eintritt der Morgendämmerung waren sie wieder im Freien und wanderten, um die steifgewordenen Glieder geschmeidig zu machen, am Rande des Eisberges auf und ab.

Erich Kemper machte aus seiner düsteren Stimmung kein Hehl und quälte den Bruder schon wieder durch allerlei versteckte Vorwürfe. Karl jedoch achtete kaum auf diese zwecklosen Reden. Irgendein besonderer Gedanke schien ihn sehr lebhaft zu beschäftigen.

Die Brüder standen gerade auf einer weit vorspringenden Eiszunge, als Karl dann plötzlich gespannt auf die Wasserfläche hinausblickte und ganz laut ausrief:

„Wenn sie hier nahe genug vorbeikäme, so wären wir gerettet …!“

Auch Erich bemerkte jetzt eine runde, flache Eisscholle von etwa fünf Meter Durchmesser, die von der südlich gehenden Strömung kaum merklich in der Richtung auf die zwischen den beiden anderen vorgelagerten Eisbergen entstandene Barriere zugetrieben wurde und die auf diesem Wege anscheinend ganz dicht an jener Halbinsel des weißen Eilandes vorüberkommen mußte, auf der die Bruder vor nunmehr zwei Wochen in kühnem Sprung gelandet waren. Er begriff sofort, welche Hoffnung in Karl aufgetaucht war, und schaute nun ebenfalls mit einer gewissen Erregung der sich ganz allmählich nähernden Eisscholle entgegen.

Jetzt prallte diese, die ohne Zweifel das Gewicht beider Knaben bequem zu tragen vermochte, am äußeren Ende des Vorsprungs knisternd und polternd gegen diesen an, drehte sich schwerfällig und wollte schon wieder ins offene Wasser hinausgleiten, als Karl mit einem Satz auf sie hinaufsprang, indem er dem Bruder kurz zurief: „Folge mir!“

Eine Stunde später hatten die beiden Jungen dadurch, daß sie stets an der richtigen Seite die Eisscholle zum Schaukeln brachten, diese tatsächlich bis auf zwei Meter etwa an die Spitze der Halbinsel ihres Eisbergs herangebracht. Nun nahmen sie nacheinander einen Anlauf, hielten ihre Büchsen hoch in der Linken und wagten den Sprung nach einer kaum einen Meter breiten Eisplatte hin. Karl kam glücklich hinüber, aber Erich glitt beim Abstoßen mit dem Fuße aus, fiel ins Wasser und mußte dann von dem Älteren mit Hilfe des Gewehres aufs Trockene gezogen werden. Leider ging bei diesem kalten Bade Erichs Büchse verloren. Trotzdem waren die Knaben froh, daß es ihnen auf diese Weise gelungen war, ihre weiße Insel wieder zu erreichen. Sofort schlugen sie nun halb im Laufschritt, damit der völlig durchnäßte Erich sich nicht erkälten solle, den Weg nach der Bark ein.

Als sie sich dieser bis auf etwa fünfzig Meter genähert hatten, kamen ihnen die drei Eskimo-Hunde mit wütendem Gekläff entgegen gelaufen, ein sicherer Beweis dafür, daß deren Herren sich auf dem Schiffe befanden. Das Verhalten der struppigen, aber doch recht kräftigen Köter war jedoch recht merkwürdig. Nachdem sie die Knaben wenige Sekunden angebellt hatten, machten sie plötzlich kehrt und liefen bis zu der breiten Holzplanke hin, die vom Verdeck auf das Eis führte. Dort blieben sie stehen und begannen auf ganz eigentümliche Art zu heulen, ohne sich um die beiden Brüder weiter zu kümmern.

Inzwischen war es so hell geworden, daß die Knaben ohne Mühe jede Einzelheit des Segelschiffes erkennen konnten. Und jetzt erblickten sie fast gleichzeitig etwas, das ihnen das Benehmen der Hunde genügend erklärte: Im Mastkorb hoch über dem Deck standen die beiden Eskimos, während unten ein mächtiger Eisbär vergeblich versuchte, in den Wanten (seitliche Haltetaue der Masten) ihnen nachzuklettern.

Der Eisbär hatte die Brüder offenbar noch nicht bemerkt und war ganz erpicht darauf, der beiden Eskimos habhaft zu werden. Er stand aufgerichtet an der Backbordreling mit dem Rücken nach den Brüdern hin und krallte sich stets aufs neue mit den Vorderpranken in dem Tauwerk der Wanten fest, welches unter seinem Gewicht jedoch stets nachgab, so daß er sich nicht emporzuschwingen vermochte.

Lautlos huschte Karl näher heran, worauf die Hunde furchtsam und still beiseite schlichen. Es schien geradezu, als ob sie ahnten, daß sich hier sogleich ein Kampf zwischen Raubtier und Mensch abspielen werde, und als ob sie hierbei nicht stören wollten.

Der ältere Kemper betrat jetzt vorsichtig die Laufplanke. Noch ein paar leise Schritte, und er sah die Bestie keine zwölf Meter vor sich.

Donnernd rollte der Knall des Schusses durch das stille Tal. Schnell fuhr der Eisbär, dem die Kugel von hinten durch die Brust gegangen war, herum, und mit riesigen Sätzen wollte er sich nun auf den Angreifer stürzen. Doch Karl hatte sich schon auf die Reling geschwungen und kletterte nun ein Stück in den Wanten hoch, wo er sich dann festhielt, um eine neue Patrone in den Lauf schieben zu können.

Die schwer verwundete Bestie, der das aus Ein- und Ausschuß fließende Blut den gelblich-weißen Pelz mit langen, roten Streifen zeichnete, stieß ein fauchendes Brummen aus und schlug mit den Vordertatzen wütend nach oben, erreichte jedoch den Knaben nicht, der jetzt waghalsig noch einen halben Meter tiefer stieg und mit gestrecktem rechten Arm die Büchse senkrecht über den Kopf des Raubtieres hielt, indem er den Augenblick abwartete, wo dieses einen Moment den spitzzulaufenden Schädel ganz still halten würde.

Dann abermals der peitschenartige Knall, und der Bär sank wie vom Blitzschlag getroffen zusammen, rollte zur Seite, bewegte noch ein paarmal zitternd die Beine, streckte sich und war tot.

Karl Kempers jubelnder Siegesruf lockte jetzt auch den jüngeren Bruder herbei, der sich bisher klugerweise in vorsichtiger Entfernung gehalten hatte. Erich mußte sich jetzt zunächst in der Kajüte vom Kopf bis Fuß umziehen. Kleidungsstücke waren ja genügend vorhanden, wenn sie dem Knaben auch nicht gerade tadellos paßten.

Inzwischen bewachte Karl die beiden Eskimos, die sich oben im Mastkorb kaum zu regen wagten und sicherlich vor ihren zweibeinigen Verfolgern ebenso viel Furcht wie vor dem Eisbären hatten. Als Erich dann nach einer geraumen Weile wieder an Deck erschien, in jeder Hand einen geladenen Revolver haltend, wurde den Polarbewohnern durch recht energische Zeichen klar gemacht, daß sie ihren luftigen Sitz verlassen und sich den Brüdern etwas mehr aus der Nähe vorstellen sollten. Aber erst nach einigen Schreckschüssen bequemten sich die Eskimos zum Abstieg und kamen dann in demütigster Haltung auf allen vieren auf die Brüder zugekrochen, die ihnen nun klarzumachen suchten, daß sie keine Strafe zu fürchten hätten, wenn sie fernerhin jede Heimtücke unterlassen und treu und gehorsam sich zeigen würden.

Die beiden Leute waren unter Mittelgröße, hatten breite, von Schmutz starrende Gesichter mit vorstehenden Backenknochen und Schlitzaugen, schwarze, straffe Haare und auffallend kleine Hände und Füße. Die eigentliche Farbe ihrer Haut schien ein lichtes Gelbbraun zu sein, was sich später, als Karl Kemper sie zu größerer Reinlichkeit zwang, als richtig erwies.

Die Eskimos warfen zum Beweise ihrer friedfertigen Gesinnung ihre Waffen weg, worauf die Brüder ihnen freundlich zunickten und ihnen durch Zeichensprache klarmachten, sie sollten jetzt sogleich den Eisbären abhäuten und zerlegen. Dies taten sie denn auch mit größter Geschicklichkeit, wobei sie jedoch ganze Stücke Fleisch roh hinabschlangen.

Dann mußten sie die Knaben zu der Stelle hinführen, wo sie die Jolle und die beiden Kajaks am Rande des Eisbergs zurückgelassen hatten. Aus ersterer nahmen die Brüder für alle Fälle die Ruder mit zum Schiffe, während letztere von den Eskimos zur Bark getragen wurden. Auf diese Weise war den beiden jetzt durchaus folgsamen Leuten jede Möglichkeit zur Flucht abgeschnitten.

Die Eskimos bewiesen auch durch ihr ferneres Verhalten, daß sie ihren ihnen an Körperkraft weit unterlegenen weißen Herren wirklich treu ergeben waren. So holten sie z. B. das Fell des ersten, von Karl erlegten Eisbären an einem der nächsten Tage herbei und überreichten es mit lebhaften Zeichen der Freude den Brüdern, die aber trotzdem keine Vorsicht außer acht ließen, um nicht einmal plötzlich von den beiden ebenso starken wie gewandten Leuten überrumpelt zu werden. Nicht einen Augenblick ließen sie diese allein, und nachts schlossen sie sie regelmäßig in eine feste Kammer im Vorschiff ein. Immerhin besaßen die Knaben jetzt in ihnen zwei Diener, die sich zu jeder Arbeit äußerst anstellig erwiesen und nicht wenig dazu beitrugen, dem eintönigen Leben auf dem weißen Eiland etwas mehr Abwechslung zu geben.

Der riesige Eisberg hatte inzwischen seine Lage nicht verändert. Auf der Untiefe festsitzend, bildete er jetzt tatsächlich eine neue Insel im nördlichen Teile des Atlantischen Ozeans, freilich eine Insel, auf der es von Tag zu Tag ungemütlicher wurde und die auch fast zusehends zusammenschmolz.

Das anhaltend schöne, sonnige Wetter und die zunehmende Wärme des Meereswassers zehrten ständig von oben und unten an dem gewaltigen, viele Kilometer langen und breiten Eisblock. Die Hügel, Zacken und Spitzen schwanden förmlich dahin, und in den Tälern und Schluchten sammelten sich überall Wasserlachen, kleine Seen und Tümpel an, die sich oft genug einen Abfluß nach dem Meere zu bahnten und dann kleine Bäche bildeten, deren Rauschen und Plätschern bald überall zu hören war.

Trockenen Fußes auf dem Eisberg größere Ausflüge zu unternehmen, war jetzt fast unmöglich. Überall rieselte die Feuchtigkeit, überall zeigten sich die Oberschichten des Eises mürbe und brüchig. Mit einem Wort: das weiße Eiland ging mit Riesenschritten seiner Auflösung entgegen, eine Tatsache, die die Brüder besonders deswegen mit großer Sorge erfüllte, weil sie befürchteten, daß gerade durch das Abschmelzen größerer Eismassen der Eisberg einmal seinen Schwerpunkt ändern und umkippen oder doch wenigstens nach irgend einer Seite hin seine bisherige Lage wesentlich verändern könne, wodurch dann natürlich auch die Bark, als die ständige Wohnung der vier Robinsons der Gefahr der Vernichtung ausgesetzt worden wäre. –

So waren nach der Erlegung des zweiten und offenbar letzten der Eisbären, die ebenso wie die Eskimos bis hierher verschlagen worden waren, wieder beinahe vierzehn Tage vergangen.

Die Hauptzerstreuung der Knaben bildete jetzt die Jagd aus Seehunde, von denen in den Buchten des Eisberges stets zahlreiche Exemplare anzutreffen waren. Bei diesen Jagdausflügen lernten die Brüder auch die große Gewandtheit bewundern, die die beiden Eskimos im Gebrauch ihrer leichten Fellboote, der Kajaks, und der Harpune entwickelten. – Bei dem Verkehr mit ihren neuen Gefährten war eins nur außerordentlich störend, – daß man sich gegenseitig nur durch die Zeichensprache verständigen konnte. Gewiß – die Eskimos lernten sehr bald einige deutsche Worte sprechen, machten hiermit aber recht geringe Fortschritte, da die Brüder wenig Geschick darin besaßen, die geduldigen Lehrer dieser Naturkinder zu spielen. Erst nach mehreren Tagen brachte Karl glücklich heraus, daß der ältere der Eskimos Sonui hieß, während der andere, der offenbar jüngere und auch kleinere, sich Timoa nannte. Vor den Feuerwaffen hatten die beiden die größte Scheu, obwohl sie ihnen nichts Neues zu sein schienen.

Nach einer längeren Periode gleichmäßig schönen Wetters trat dann ganz plötzlich in einer Nacht ein vollständiger Witterungsumschlag ein.

Die Brüder erwachten an jenem Tage gegen drei Uhr morgens infolge heftiger Donnerschläge, die die Bark bis zu den Mastspitzen herauf erzittern ließen. Ein Gewitter löste das andere ab, und das Firmament war zeitweise von einer Unzahl von Blitzen in ein wahres Feuermeer gehüllt. Dabei regnete es mit kurzen Unterbrechungen in Strömen, so daß das Tal, in dem der „Polarstern“ lag, sich in einen tiefen See verwandelte, aus dem nur hier und da noch vereinzelte größere Eisblöcke hervorragten.

Mit Tagesanbruch verzogen sich die Gewitterwolken, und die schwüle, mit Elektrizität gesättigte Luft wurde jetzt durch einen Sturm gereinigt, der von Minute zu Minute an Heftigkeit wuchs. Das Toben der haushohen Wogen an den Rändern des Eisberges war fast ohrbetäubend. Dazu kam, daß aus dem Innern der Eismassen höchst verdächtige Geräusche, – dumpfe Knalle wie Kanonenschüsse, lautes Knistern und Poltern, hervordrangen. Ebenso merkten die Knaben, die in dumpfer Angst ruhelos auf dem Verdeck des Schiffes umherwanderten, daß der Eisberg leise schwankte und sich mit der westlichen Seite etwas gesenkt hatte, so daß die das Tal bisher anfüllende Wassermenge sich langsam in das Meer ergoß.

Die Brüder wagten es unter diesen Umständen nicht, das Schiff zu verlassen. Fühlten sie sich hier doch noch am sichersten, da sie heute allen Ernstes mit der Möglichkeit rechneten, daß ihre Insel in mehrere Teile auseinanderbersten könne. Auch die beiden Eskimos schlichen mit ängstlichen Gesichtern umher. und die drei Hunde, die mit den Knaben schnell Freundschaft geschlossen hatten, heulten bisweilen, wenn das Eis besonders laut knallte und polterte, in schauerlichen Tönen auf.

Jedenfalls waren es recht bange Stunden, die die Insassen der Bark durchlebten. Erst am Nachmittag ließ der Orkan nach, und in der folgenden Nacht beruhigte sich die See soweit, daß die Knaben in Begleitung der Eskimos am Morgen einen Erkundigungsgang nach dem Flaggenhügel unternahmen, um festzustehen, ob der riesige Eisberg infolge des Unwetters seine Form verändert habe.

Der Flaggenmast war umgeknickt. Das sahen die Brüder schon von weitem. Und als sie dann die Spitze des Eishügels erreicht hatten und nun auch einen Blick in die Runde werfen konnten, vermochten sie zunächst vor Überraschung keinen Laut hervorzubringen.

Drei der kleineren, vorgelagerten Eisberge waren verschwunden. Der vierte, bisher im Osten gelegene, der leicht an der phantastischen Zackenbildung seiner höchsten Erhebung zu erkennen war, befand sich jetzt im Süden, schien aber noch mit der Hauptmasse zusammenzuhängen.

Eine geraume Weile beobachtete Karl schweigend die schäumende Brandung und die Ränder ihres Eisberges. Dann sagte er bestimmt:

„Unsere weiße Insel treibt wieder mit der Strömung nach Süden und hat auch ihre kreisende Bewegung wieder aufgenommen. – Gib genau auf die Brandung acht, Erich. Dann wirst Du bemerken, daß sie wandert.“

Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als ein furchtbarer Knall erfolgte und der Eishügel, auf dem sie standen, in seinen Grundfesten erzitterte.

Dann schrie der eine der Eskimos laut auf und deutete mit erregten Armbewegungen auf den kleineren Eisberg hin, der plötzlich wie ein Trunkener zu schwanken begann und dann mit einem Mal vollständig umkippte, so daß der bisher unter Wasser befindliche Teil jetzt eine neue Oberfläche bildete, deren Aussehen in nichts an den bisherigen Eisberg erinnerte.

Hiermit nicht genug, fing nun auch der von seinen vier Trabanten befreite größte Eisberg, diese Zufluchtstätte von vier armseligen Menschlein, recht bedenklich zu schaukeln an. Ohne Zweifel bereitete sich auch hier eine Katastrophe vor.

Schreckensbleich starrten die Brüder sich an. Aber über ihre bebenden Lippen kam kein Laut. Die Kehle war ihnen wie zugeschnürt. Mit weiten Augen, in denen das Entsetzen so deutlich zu lesen war, hofften sie einer vom andern ein Wort zuversichtlicher Hoffnung zu hören. Doch selbst Karl Kempers froher Mut überstand diese Probe nicht. Das Bewußtsein, daß jeden Moment auch dieser Eisberg umkippen und sie mit sich in die Tiefe ziehen könne, lähmte ihm Körper und Sinne vollständig.

Anders die Eskimos, denen derartige Ereignisse als Bewohnern der arktischen Zone kaum etwas Neues waren. Mehr neugierig als angstvoll beobachteten sie die stetig an Stärke zunehmenden Schwankungen des Eiskolosses, aus deren hauptsächlichster Richtung zu entnehmen war, daß er die Neigung hatte, die Seite seiner Oberfläche zuerst ins Wasser zu tauchen, an der die Schlucht lag, durch die man von dem langgestreckten Tale aus an die flache Uferstelle gelangte, wo die Brüder die Jolle stets festgemacht hatten.

Kaum zwei Minuten dauerte dieses Hin- und Hertaumeln des Eisberges, das fast den Eindruck machte, als ob der weiße Riese es sich überlege, nach welcher Seite hin er eigentlich sich herumwälzen solle.

Dann geschah das Furchtbare. Die der Schlucht entgegengesetzte Seite hob sich immer mehr, immer schneller aus dem Wasser heraus, während drüben ein großer Teil der bisherigen Oberfläche verschwand. Schon glaubten die Brüder, daß ihre letzte Stunde geschlagen habe, als diese rollende Bewegung der gewaltigen Masse ebenso plötzlich aufhörte. Nur noch ein paar leichte Schwankungen, dann lag der Eisberg still: er hatte seinen neuen Schwerpunkt gefunden.

Die Knaben, ebenso auch die Eskimos, hatten sich, als diese Drehbewegung begann, unwillkürlich lang hingeworfen und sich an ein paar Vorsprünge festgeklammert. Erst nach einer ganzen Weile wagten sie es, sich wieder aufzurichten.

Die weiße Insel hatte ihre bisherige Lage insofern wesentlich verändert, als an der einen Seite Teile des Eisberges, die sich noch soeben unter Wasser befunden hatten, nunmehr aufgetaucht waren, während andere Teile, so z. B. die Eisschlucht und ihre Umgebung sowie auch eine weite Strecke des Tales, verschwunden waren. Dieses selbst, das früher ziemlich wagerecht[3] verlief, bildete jetzt eine nach der See hin offene, ziemlich abschüssige, breite Kerbe in der Eismasse. Der Eisberg hatte sich also mindestens um 45 Grad herumgewälzt. –

Als die Brüder dann bei dem „Polarstern“ wieder anlangten, der jetzt mit dem Heck nach vorn nur noch etwa 150 Meter von der See entfernt wie auf einer schrägen Gleitbahn lag, blieb Karl nachdenklich dicht vor dem Schiffe stehen und schien irgend einen Gedanken zu erwägen, der plötzlich in ihm aufgetaucht war. Hierauf schritt er langsam um das Schiff herum, das etwa zwei Meter tief im Eise steckte.

Nach dieser Besichtigung wandte er sich an seinen jüngeren Bruder, der ihn schon einige Male gefragt hatte, was er denn eigentlich vorhabe, ohne jedoch eine bestimmte Antwort zu erhalten.

„Ich beabsichtige den „Polarstern“ vom Stapel zu lassen“, sagte er triumphierend. „Große Schwierigkeiten kann das kaum machen. Wir brauchen nur eine Rinne in das Eis bis zum Wasser hinab anzulegen, in der der Kiel der Bark entlanggleiten kann. Dann wird sie infolge ihrer eigenen Schwere, wenn wir rund um das Heck das Eis entfernen, das Tal abwärts ins Meer schießen. Diese Rinne würde uns nun allerdings manchen Tropfen Schweiß kosten, wenn wir sie aushauen wollten. Ich gedenke jedoch uns diese Arbeit wesentlich zu vereinfachen. Im Laderaum des „Polarstern“ befinden sich vier große eiserne Kessel zum Ausschmelzen von Tran sowie vier auf Füßen stehende Becken zur Aufnahme des Feuerungsmaterials. Steinkohlen und Holz sind noch genügend vorhanden. Wir werden also zunächst nur eine kleine Rinne herstellen, derart, daß in derselben das kochende Wasser bis zur See hinabfließt, wodurch diese Rinne ständig breiter und tiefer werden wird. – Begreifst Du, Erich, wo ich hinauswill?“

„Gewiß – gewiß! – Wenn die Idee sich ausführen ließe, so könnten wir nachher mit dem „Polarstern“ auf und davonfahren!“

„Zunächst müssen wir die Bark glücklich im Wasser haben. Alles weitere wird sich dann schon finden. Die Hauptsache ist: wir können auf diese Weise vielleicht Schiff und Ladung retten! – Hast Du schon mal etwas von Bergelohn gehört, Erich?! – Denk’ mal, wie Vater sich freuen wurde, wenn wir ihm nachher so ein schönes Stück Geld mit nach Reykjavik brächten …! – – Lassen wir jetzt jedoch alle Zukunftsmusik. Es ist jetzt sieben Uhr morgens. Wir wollen zuerst frühstücken, und dann geht es flott an die Arbeit!“ – –

An diesem Tage wurde die Rinne, die nachher durch das heiße Wasser weiter ausgewaschen werden sollte, von den vier mit Eisäxten ausgerüsteten Robinsons wirklich größtenteils fertiggestellt. Gleichzeitig wurden aber auch neben der Rinne alle Unebenheiten des Eises nach Möglichkeit geglättet. Hierbei stieß Karl jedoch auf eine Schwierigkeit, die ihm recht viel Kopfzerbrechen kostete.

Die Rinne hatte notwendig so angelegt werden müssen, daß sie vom Heck der Bark in gerader Linie bis zum Wasser hinlief. Nun lag in dieser Richtung leider ein mächtiger Eisblock von etwa vier Meter Höhe, fünf Meter Breite und acht Meter Länge, der unbedingt beseitigt werden mußte. Schon schien es, als ob der ganze Plan an diesem Ungetüm von Eisklotz scheitern sollte, da es unendliche Mühe machen mußte, diese feste Masse Kerneis lediglich mit den Eisäxten zu zertrümmern und fortzuräumen. Dann aber kam dem älteren Kemper ein glänzender Gedanke, den er vorläufig dem Bruder jedoch geheimhielt, da er das Unternehmen erst genügend vorbereiten wollte. So wurde denn die Rinne zunächst unter Umgehung des Eisblocks fertiggestellt.

Am nächsten Morgen mußten Erich und die beiden Eskimos mit Hilfe von Flaschenzügen die Kessel und die Feuerungsbecken aus dem Laderaum herausschaffen und neben dem Heck des Schiffes auf einer festen Lage von Ziegelsteinen, die man im Kielraum gefunden hatte und die offenbar schon häufiger zu diesem Zwecke benutzt worden waren, aufstellen. Inzwischen arbeitete Karl selbst in der Kajüte. Er hatte sich den Kasten mit der Munition für die Harpunen-Kanone herausgesucht, entfernte nun vorsichtig aus den Messinghülsen die die Pulverladung fest zusammenpressenden Filzpfropfen und schüttete das so gewonnene Pulver in leere, große Flaschen, die er als Sprengkörper benutzen wollte. Auf diese Weise erhielt er ein Dutzend pulvergefüllte Flaschen, die er fürs erste noch sorgsam verkorkte.

Dann begab er sich auf das Verdeck und weihte den Bruder in seinen Plan ein. Mit Hilfe einiger in den Kohlenfeuern heiß gemachter Eisenstangen wurden nun in den Eisblock tiefe Löcher eingeschmolzen, in die nachher die Flaschen, die mit Zündschnüren versehen waren, versenkt werden sollten. Die Zündschnüre hatte er in dem Schreibtisch des Kapitäns aufgestöbert.

Die erste Probesprengung gelang über Erwarten gut. Und Mittags waren nach dem zwölften Sprengschuß von dem Eisblock nur noch geringe Reste übrig, die die beiden Eskimos mit den Äxten forthauen mußten.

Drei Tage gingen mit diesen Arbeiten hin. Dann nahte der große Moment, wo der „Polarstern“ in Bewegung gesetzt werden sollte. Zu diesem Zweck hatte Karl den Anker der Bark in einer neben der Rinne befindlichen tiefen Eisspalte festgemacht, und alle vier Robinsons wollten nun gleichzeitig mittelst der Ankerwinde das Ankertau so scharf anziehen, bis das ohnehin schon schräg nach vorn liegende Schiff ins Gleiten kam. – Es war genau neun Uhr vormittags, als das Tau straff gespannt wurde. Da aber alle Unebenheiten des Eises dicht an den Schiffswänden sorgfältig beseitigt waren und außerdem die mürbe, von Wasser durchtränkte Oberschicht des bisherigen Bettes des Seglers den Anlauf begünstigte, ging dieser ohne erhebliche Schwierigkeiten von statten. Knirschend und ächzend begann der „Polarstern“ sich vorwärtszuschieben. Immer schneller wurde diese Bewegung. Der kupferbeschlagene Boden und Kiel der Bark gleiten wie die Kufen eines Schlittens über das Eis hin. Dann zum Schluß ein förmlicher Satz, und das Schiff schoß noch eine geraume Strecke in dem aufschäumenden Wasser durch den Schwung getrieben weiter, bis das lange, feste Ankertau jetzt als Hemmmittel wirkte, das Heck plötzlich herumriß und die Bark zum Stillstand kam. – Die Brüder stießen ein lautes Hurra aus, die Eskimos tanzten wie ausgelassene Kinder auf dem Deck umher und die Hunde heulten und bellten: so wurde der glückliche Stapellauf des „Polarstern“ allseitig mit Jubel begrüßt.

Sofort ließ Karl Kemper nun einige Segel setzen, was jedoch erst nach längeren Versuchen gelang. Das Schiff in der Nähe des Eisberges zu belassen, war ja unmöglich, da die Gefahr nahelag, daß es bei stärkerem Winde gegen die Eisränder geworfen und schwer beschädigt würde.

Um die Mittagszeit wurde dann der Anker an Bord geholt, und die Brüder nahmen von ihrer weißen Insel für immer Abschied. Ein mäßiger Nordwest trieb die Bark nach Süden zu, und bereits vier Stunden später war der Eisberg am nördlichen Horizont verschwunden. Der Zufall wollte es, daß gleichzeitig auf Backbordseite die Rauchfahne eines sich schnell nähernden großen Dampfers sichtbar wurde, der dann auf ein paar mit der Harpunen-Kanone abgefeuerte Schüsse hin auf den Segler zuhielt und ein Boot hinüberschickte.

Der deutsche Passagier-Schnelldampfer „Bayern“, der, auf der Fahrt nach New York begriffen, wegen zahlreicher Eisberge einen mehr nördlichen Kurs eingeschlagen hatte, gab für den „Polarstern“ dann eine ausreichende Besatzung ab, so daß dieser acht Tage später wohlbehalten im Hafen von New York anlangte. Hier mußten die Brüder vor dem Seegericht ihre Erlebnisse zu Protokoll geben und erhielten dann später als Bergelohn von der Emdener Reederei zehntausend Mark ausgezahlt.

Die beiden Eskimos kehrten mit einem Robbenfänger gleichfalls reich beschenkt in ihre nordische Heimat zurück. Der „Polarstern“ aber wurde, nachdem er gründlich ausgebessert war, später von demselben Kapitän nach Emden überführt, der ihn seinerzeit im Eismeer notgedrungen hatte preisgeben müssen und der mit seinen Leuten glücklich bis zu einer norwegischen Niederlassung an der grönländischen Küste und von da weiter nach Deutschland gelangt war.

So hatte dieses Abenteuer der Brüder Kemper für alle Teile einen guten, vorteilhaften Ausgang genommen. Und oft und gern erinnerten die Knaben sich noch an jene Tage, wo sie auf ihrer weißen Insel als Robinsons gelebt hatten.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Verlagswerbung:

 

Urteile maßgebender Personen über die „Erlebnisse einsamer Menschen“.

Herr Prof. Dr. V. in M. schreibt:

„… Ich halte sie für durchaus geeignet, den weitesten Kreisen des Volkes, besonders auch der Jugend, in die Hand gegeben zu werden … Die Erzählungen sind auch sehr geeignet, die Charakterbildung der Kinder günstig zu beeinflussen …“

Herr Pfarrer und Ortsschulinspektor H. in B.:

„… Der Inhalt, völlig einwandfrei, ist geeignet, die Persönlichkeit namentlich der jugendlichen Leser zu selbständiger, ernster Betätigung anzuregen und die Lebensanschauung sittlich zu heben und zu fördern. Ich würde daher die Hefte ohne Bedenken der hiesigen Jugend- und Volksbibliothek einverleiben.“

Herr Rechtsanwalt H. in F.:

„… Die von mir gelesenen Robinsonaden stellen meines Erachtens eine durchaus einwandfreie Lektüre dar, die man getrost der Jugend in die Hand geben kann. Sie haben noch den Vorteil, reichlich belehrenden Stoff zu bringen …“

Herr Direktor G. in W.:

„… Sie sind unterhaltend und belehrend. Der richtige Lesestoff in der Hand der ernstgerichteten Jugend.“

Herr Lehrer B. in B.:

„Die mir zur Beurteilung übersandten Bändchen sind eine einwandfreie Unterhaltungslektüre für Knaben von 12 Jahren an.“

Herr Landrichter V. in B., früher Untersuchungsrichter in S.:

„… Die Erzählungen habe ich mit großem Interesse gelesen. Als Unterhaltungsschriften für die Heimat sowohl als auch für das Feld würde ich die billigen und dabei guten Heftchen empfehlen können …“

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „nahten“
  2. In der Vorlage steht: „… hunderte von Metern …“
  3. Am 5. Juli 1927 wurde die Schreibung Waage (an Stelle von Wage) zur besseren Unterscheidung vom Wagen in die amtliche Rechtschreibung aufgenommen. Dadurch wurde eine frühere Schreibweise wieder eingeführt, welche den amtlichen Regeln von 1901 widerspricht, da das Wort Waage dort nicht im §19, „Man schreibe den Selbstlaut doppelt nur noch in folgenden Wörtern: …“, aufgeführt wurde.