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Die Flüchtlinge auf Bischur-ada

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Flüchtlinge auf Bischur-ada.

 

W. Belka.

 

Der späte Gast, der am Abend des 13. August 1914 bei dem deutschen Ingenieur Walter Einlaß begehrte, war kein anderer als dessen persischer Freund, der Kaufmann Kaschar, der häufig nach der berühmten Petroleumstadt Baku von dem gleichfalls am Kaspischen Meer gelegenen Hafenort Rescht auf seinem Schoner herüberkam, da er nach Rußland hin rege Handelsbeziehungen unterhielt.

Walter, ein stattlicher, blondbärtiger Mann in den besten Jahren führte den Besucher auf dessen ausdrücklichen Wunsch in sein Arbeitszimmer, wo er dann auch die Tür fest verschließen und sich überzeugen mußte, daß sie von der russischen Dienerschaft, die der verheiratete Ingenieur sich hielt, nicht belauscht werden konnten.

Kaschar, der wie immer persische Tracht trug, dazu aber heute noch einen leichten Lodenumhang umgelegt hatte, begann sofort, nachdem die seit zwei Jahren befreundeten Männer sich herzlich begrüßt hatten, mit leiser Stimme:

„Ich komme, um Dich zu warnen. Dir droht Gefahr. Der Polizeihauptmann Strassow hat heute mir gegenüber Andeutungen fallen lassen, daß man Dich für einen verkappten deutschen Agenten hält, der Persien zur Teilnahme an dem vor kurzem ausgebrochenen großen Kriege bewegen soll. Strassow, von mir reichlich mit Wein bewirtet und mit einem aus dreihundert Rubel bestehenden „kleinen Andenken“ beschenkt, wurde dann mitteilsamer und sagte mir im Vertrauen, daß Deine und Deiner Familie Verhaftung nahe bevorstehe. Was dies bei den russischen Zuständen für Dich zu bedeuten hat, weißt Du selbst am besten: zum mindesten Verbannung nach Sibirien – falls nicht eben noch schlimmeres! – Dir bleibt also nur schleunige Flucht übrig. Hoffe jedoch nicht, zu Lande noch persischen Boden erreichen zu können. Alle Bahnhöfe, alle Wege werden überwacht, da man ein Entweichen der Deutschen, die sämtlich ins Innere Rußlands abgeführt werden, unmöglich machen will. Nur der Weg über das Meer verspricht Rettung. Aber sei auch da vorsichtig! Russische Schiffe kreuzen bis weit nach Süden hin, wie ich selbst vorgestern bei der Überfahrt von Rescht bemerkt habe. Drei Mal wurde mein Schoner unterwegs von bewaffneten Dampfern angehalten und durchsucht. Die Russen wollen eben jede Waffenausfuhr nach Persien hinein unterbinden, da sie nur zu gut wissen, wie sehr wir sie als alte Feinde, die schlimme Absichten auf unsere staatliche Selbständigkeit haben, hassen, und daß diese Waffen vielleicht sehr bald gegen sie selbst gekehrt werden könnten. Ich rate Dir also, noch in dieser Nacht auf Deiner kleinen Vergnügungsjacht zu fliehen. Nimm nur das Notwendigste mit, und – ziehe niemanden ins Vertrauen!“

Wenige Minuten später schlich sich der Perser wieder zum Hause hinaus. Der Ingenieur aber blieb noch eine Weile in seinem Arbeitszimmer und überdachte das eben Gehörte. Seine Stirn lag in Falten, und in seinen Augen war eine wachsende Sorge vor der Zukunft zu lesen.

Dann schritt er hinüber in das behagliche Wohngemach, wo seine Gattin beim Schein der Lampe noch über ein Buch gebeugt am Tische saß.

Hedwig Walter war die Tochter eines höheren deutschen Offiziers. Innige Liebe und treueste Kameradschaft verband die beiden Gatten, deren Söhne, der vierzehnjährige Herbert und der um ein Jahr ältere Fritz, alle die guten Eigenschaften besaßen, die auch ihre Eltern aufzuweisen hatten.

Ohne Zögern berichtete der Ingenieur seiner Frau, was der ehrliche Kaschar ihm soeben mitgeteilt hatte. Er wußte, daß seine Gattin einen starken, energischen Charakter besaß und seine Lage nicht durch nutzlose Klagen noch schwieriger machen würde.

Ruhig und gefaßt nahm Frau Hedwig diese Schreckensbotschaft hin. Als ihr Gatte sie dann zum Schluß nach ihrer Ansicht über diese traurige Neuigkeit und die Folgerungen, die man daraus ziehen müßte, fragte, erwiderte sie, indem sie ihn auf den Stuhl neben sich winkte und seine Rechte zwischen ihre wohlgepflegten Hände nahm:

„Da diese böse Kunde von unserem persischen Freunde kommt, zweifele ich nicht einen Augenblick daran, daß uns tatsächlich nur schleunige Flucht retten kann. Du weißt selbst am besten, wie unbeliebt Du hier unter den Russen bist, da Du, obwohl in einer russischen staatlichen Fabrik angestellt, Dein Deutschtum stets besonders hervorgekehrt und Dich nie auf eines der unsauberen Geschäfte eingelassen hast, die hier ja leider gang und gäbe sind. Ferner bedenke, daß letztens aus Deinem Schreibtisch gerade die Briefe, die Du mit Deinem in persische Heeresdienste getretenen Freunde Kamgert gewechselt hattest, spurlos verschwanden, eine Angelegenheit, die meines Erachtens jetzt durch des Persers Warnung besondere Bedeutung gewinnt. Der Inhalt von Kamgerts Briefen ist zwar ganz harmlos, aber ein russisches Kriegsgericht könnte Dir daraus doch mit Leichtigkeit einen Strick drehen. – Kurz gesagt, ich gebe Kaschar recht: wir müssen fort und zwar ohne Säumen Unsere Jacht „Nixe“ ist ja ein seetüchtiges Fahrzeug, so daß wir einen persischen Hafen trotz der weiten Entfernung von mindestens 370 Kilometer hoffentlich wohlbehalten erreichen werden. Das Geld, das wir erspart haben, hast Du ja im Hause, und unsere Wohnungseinrichtung mag getrost verloren gehen. Die Dienstboten schlafen in den Bodenstuben. Also werden sie kaum von unseren Vorbereitungen etwas merken, wenn wir uns nur einigermaßen leise verhalten. – Überlegen wir jetzt, was wir mitnehmen wollen. Von den Jungen kann auch jeder einen Packen tragen. Ich werde sie gleich wecken.“

Das war eine echte deutsche Frau, die so handelte. Und der Ingenieur dankte ihr für diese Tapferkeit durch einen festen Händedruck, der mehr besagte als viele Worte der Anerkennung. – Freilich, ganz ohne Einwendungen von seiner Seite blieben ihre Worte doch nicht. Er erklärte nämlich, daß es unumgänglich nötig sei, den Bootsmann Jermuk, einen Tataren, mitzunehmen, da er allein die Jacht nicht bedienen könne.

Frau Hedwig sah schließlich ein, daß ihr Gatte mit diesem Bedenken wohl recht habe. Lieber wäre es ihr freilich gewesen, wenn kein Fremder hätte ins Vertrauen gezogen werden müssen. Jermuk, der zugleich die Stelle eines Gärtners bei Walters bekleidete, war dem Trunke nur zu sehr ergeben, ein Fehler, über den man in Rußland bei den Angestellten jedoch hinwegsehen muß, da dieses Laster dort in den unteren Volksschichten überall verbreitet ist. Außerdem war der Tatare, dessen väterliches Nomadenzelt in den Südabhängen des Uralgebirges gestanden hatte, auch ein finsterer, wortkarger Mensch, dem man gern aus dem Wege ging. Der Ingenieur hatte ihn als halben Vagabunden vor einem Jahre sozusagen von der Straße aufgelesen. Er nannte sich Jermuk. Ob er so hieß, wußte niemand, da er keinerlei Papiere besaß. Und um einen Menschen, der ein zu kurzes Bein hatte und daher für den Militärdienst untauglich war, kümmern sich die russischen Behörden nicht viel, besonders wenn es sich noch um einen gelben, schlitzäugigen Mongolen handelt, von denen es im Reiche des Zaren viele Millionen gibt.

In aller Stille wurde dann alles Nötige zusammengepackt, was die Flüchtlinge für die Seereise und für den ersten Aufenthalt in Persien brauchten: Kleider, Wäsche, Nahrungsmittel und vieles andere, darunter auch zwei Jagdgewehre und zwei Revolver, die Walters Eigentum waren. Auch die Knaben halfen hierbei. Es waren schlanke, kräftige Jungen, der ältere blond wie der Vater, der andere dunkelhaarig wie die Mutter.

Inzwischen hatte der Ingenieur auch Jermuk, der allein im Stallgebäude schlief, geweckt und ihm mitgeteilt, daß er sofort in Geschäften nach Lenkoran, der südlich von Baku gelegenen Hafenstadt, fahren müsse und daß er sich entschlossen habe, die Reise bei dem schönen Wetter zu Wasser zurückzulegen und seine Familie mitzunehmen. Jermuk solle daher unverzüglich nach dem Hafen hinabeilen und die Jacht seeklar machen. Ein Rubelschein, den Walter dem Mongolen in die Hand drückte, machte diesen schnell gefügig. Schließlich sagte er ihm noch, daß diese Fahrt vorläufig Geheimnis bleiben solle, da er in Lenkoran Dinge für die Regierung zu erledigen habe, die nicht an die Öffentlichkeit dringen dürften.

Jermuk war in wenigen Minuten fertig und wurde von Walter selbst zum Hause herausgelassen. Nachdem der vielleicht vierzig Jahre alte Tatare hinkend davongeeilt war, suchte der Ingenieur auf den bereits nächtlich stillen Straßen des europäischen, an dem zwei Kilometer langen Kai gelegenen Viertels nach einem Wagen, den er auch bald fand. Der verschlafene Kutscher, ebenfalls durch ein Geldgeschenk in gute Laune versetzt, wartete dann geduldig vor dem Hause, bis die vier Flüchtlinge mit ihren Koffern und großen Pappschachteln erschienen. – Auf Walters Geheiß hatten sich die Seinen ebenso wie er selbst möglichst unkenntlich gemacht. Gerade als man die mitgenommenen Sachen in dem Wagen unterbrachte, kam ein Bekannter des Ingenieurs, ebenfalls ein Deutscher namens Meinke, die Straße hastig entlang und blieb dann vor dem Hause stehen, indem er unsicher die vier halb vermummten Gestalten musterte.

Walter trat schnell auf ihn zu, zog ihn bei Seite und fragte, ob Meinke ihn habe aufsuchen wollen. Dieser, der in Baku die Zweigniederlassung einer deutschen Petroleumfirma leitete, bejahte erregt. Ein Wort gab das andere, und bald wußte der Ingenieur, daß auch sein Landsmann eine Warnung erhalten habe, dahin lautend, er möge schleunigst auf persisches Gebiet flüchten, da seine Verhaftung nahe bevorstehe. – Um dies mit Walter zu besprechen, war der junge Kaufmann, der sich erst vor kurzem mit einer Berlinerin verheiratet hatte, trotz der späten Stunde zu seinem Bekannten gekommen.

Der Ingenieur war sofort bereit, das Ehepaar, mit dem man viel verkehrte, auf der „Nixe“ mit nach Persien zu nehmen, natürlich auch den Schwiegervater des jungen Ehemannes, der gerade bei seinen Kindern als Gast weilte.

Meinke eilte davon, nachdem das Nötige zwischen den beiden Herren vereinbart war. Und schweren Herzens sahen dann Walters ihr Heim, in dem sie sechs Jahre in ungetrübtem Glück gelebt hatten, hinter sich verschwinden. Jetzt bog der Wagen zum Hafen ab, so daß das freundliche Haus ihren Blicken ganz entzogen wurde. Da überkam Frau Hedwig doch die Wehmut. Aber sie wollte nicht weich werden, und tapfer wie immer drängte sie die Tränen zurück, die ihr in die Augen stiegen.

Die Jacht des Ingenieurs hatte ihren Liegeplatz in der Nähe der südlichen Hafeneinfahrt neben anderen Privatbooten an einem hölzernen Anlegesteg, bis zu dem der Wagen, sich zwischen hochgestapelten Petroleumfässern und anderen Frachtgütern hindurchwindend, hinfahren konnte. Nachdem Walters dann ihre Pakete und Koffer abgeladen hatten, wurde der Kutscher so reich entlohnt, daß mit Bestimmtheit damit zu rechnen war, er würde in den nächsten 24 Stunden nicht nüchtern werden und daher auch nicht ausplaudern können, wen er in dieser Nacht nach dem Hafen gebracht habe.

Jermuk hatte inzwischen die Jacht bis dicht an die Treppe der Anlegebrücke gezogen und alles auf dem 15 Meter langen, mit zwei kleinen Kajüten versehenen Fahrzeug seeklar gemacht. In der vorderen Kajüte brannte auch bereits die Pendellampe, so daß Walters die mitgenommenen Sachen gleich in die Wandschränke verteilen konnten.

Alles war bisher glatt abgelaufen. Und die „Nixe“ hätte auch sofort den Hafen verlassen können, wenn man nicht gezwungen gewesen wäre auf die drei Landsleute zu warten, die die Flucht mitmachen wollten. Der Ingenieur hatte Meinke versprochen, eine Stunde auf ihn zu warten. Aber diese war längst verstrichen, ohne daß jemand sich einfand. Hierdurch wurde Walter, der ungeduldig auf dem Deck auf und ab schritt, nicht wenig beunruhigt. Erst gab er fünf Minuten zu, dann wieder fünf Minuten. Endlich hörte er Rädergerassel, und gleich darauf kletterten das junge Ehepaar und der dicke Herr Vollert, Meinkes Schwiegervater, an Bord. Auch sie hatten allerlei Pakete und zwei Koffer bei sich.

Weinend fiel Frau Meinke, eine hübsche, aschblonde Erscheinung, in der Kajüte der älteren Landsmännin um den Hals. Ihr war es offenbar sehr schwer geworden, sich von ihrem hübschen Heim zu trennen, das sie sich erst vor kaum drei Monaten eingerichtet hatten. Auch der reiche Rentier Vollert, der seinen großen, neuen Reisekoffer hatte zurücklassen müssen, erging sich in Redensarten gegen Rußland, die ihm sicherlich unter anderen Umständen eine längere Abkühlung in Sibirien eingetragen haben würden.

Meinke und der Ingenieur begaben sich gleich wieder nach der ersten Begrüßung an Deck, um dem Bootsmann bei der Bedienung der Jacht zu helfen. Dem jungen Kaufmann, einer mittelgroßen Gestalt mit einem durch allerlei Sport gekräftigten Körper, war diese seemännische Betätigung nichts Fremdes, da er sehr häufig in seiner Junggesellenzeit Walter bei Segelfahrten begleitet hatte. Insofern war dieser Gast an Bord der „Nixe“ sogar von erheblichem Nutzen.

Die Nacht war dunkel und der Himmel von einzelnen Wolken bedeckt. Ein leichter, vom Lande kommender Wind schwellte bald die Segel der Jacht, die lautlos zwischen den anderen Booten hindurchglitt und schnell das offene Wasser des großen, gut geschützten Hafens gewann. Eine einzige Schwierigkeit lag jetzt noch für den Beginn der Flucht vor den Deutschen. Die beiden Einfahrten der runden Bucht, die den Hafen von Baku bildet, wurden nämlich allnächtlich von Zollkuttern bewacht, von denen die „Nixe“ ohne Zweifel angerufen werden würde. Hiermit rechnete Walter. Aber er hielt auch bereits das in Rußland überall wirkungsvolle Zaubermittel zur Beseitigung von Schwierigkeiten bereit: ein Päckchen Rubelscheine, die auch Zollwächter ihre strengen Dienstanweisungen vergessen machen.

Wie der Ingenieur vorausgesehen hatte, so kam es auch. Plötzlich tauchte vor der Jacht ein Motorkutter auf, der dann, einen kurzen Bogen beschreibend, dicht neben der „Nixe“ herlief.

Walter befand sich jetzt mit Jermuk allein auf Deck. Meinke hatte er in die Kajüte hinabgeschickt, als man sich der Einfahrt näherte. – Die Unterhaltung zwischen den Zollbeamten und dem Ingenieur dauerte nur kurze Zeit. Da dieser von Ansehen den meisten der Zöllner bekannt war, glaubten ihm diese es ohne weiteres, daß er im Auftrage der Regierung nach Lenkoran fahre, wo in einer dortigen staatlichen Fabrik eine Maschine plötzlich versagt habe, die er wieder in Ordnung bringen solle. Die Eisenbahn hätte er nicht benutzen können, weil sie des Krieges wegen für Personenverkehr plötzlich gesperrt worden sei.

Trotzdem wollten zwei der Beamten an Bord kommen, um nach verzollbaren Sachen zu suchen. Aber das reiche Trinkgeld und Walters Erklärung, er habe Frau und Kinder mitgenommen, die soeben sich zur Ruhe begeben wollten, genügten, um die Gefahr zu beseitigen. Eine solche lag ja ohne Zweifel vor, da die Zöllner fraglos stutzig geworden wären, wenn sie eine ganze Gesellschaft von Deutschen an Bord erblickt hätten. Dann würde sicherlich der Verdacht in ihnen aufgestiegen sein, Flüchtlinge vor sich zu haben, der seit Kriegsausbruch ja nur zu begründet war.

Gleich darauf verschwand der Kutter, eine Dunstwolke seines Petroleummotors hinter sich lassend, in der Dunkelheit. In den Erdölgebieten Kaukasiens, dessen Gouvernementshauptstadt Baku ist, wird ja das billige Petroleum zu allen möglichen Zwecken verwandt; sogar die Heizung der Lokomotiv- und der größeren Schiffsmaschinenkessel geschieht mit Masut, den Rückständen des gereinigten Petroleums.

Der Weg war frei. Und ungehindert gelangte das schlanke Boot in das offene Meer, wo der frische Wind seine weißen Segel prall füllte und es schnell nach Süden zu entführte. Bald tauchten auch die Umrisse der Halbinsel Apscheron, auf der Baku liegt, im Dunkel der Nacht unter, und die Einsamkeit des Kaspischen Meeres umfing die dahinstürmende Jacht.

Der Kaspisee oder das Kaspische Meer ist bekanntlich das größte salzhaltige Binnengewässer der Erde. In seiner Größe kommt er fast Deutschland gleich und füllt die tiefste Stelle einer Senkung der Erdoberfläche aus, die 26 Meter tiefer als der Spiegel des Schwarzen Meeres liegt. Die tiefste Stelle mit 1100 Meter ist im Westen gefunden worden. Gespeist von der Wolga, dem Ural, Terek und anderen Flüssen, bleibt sein Wasserinhalt doch stets der gleiche, da die Verdunstung eine ziemlich starke ist.

Jetzt durchschnitt die Wogen dieses Meeres der scharfe Bug der Jacht, die dazu bestimmt war, eine Anzahl von Deutschen den Händen der russischen Willkür zu entreißen. –

Leise plaudernd saßen Walter und Meinke auf der vertieften Steuerbank. Absichtlich spielten sie die ganz Unbefangenen, um Jermuk nicht argwöhnisch zu machen, der schon sehr aufmerksam hingehorcht hatte, als der Ingenieur die Zollbeamten von Bord fernzuhalten suchte. Die Teilnahme der drei anderen Deutschen an der Fahrt war ihm auf glaubwürdige Weise erklärt worden.

Walter schlug dem jungen Kaufmann vor, daß sie nacheinander die Nacht über wachen sollten, und zwar wollte der Ingenieur bis 3 Uhr morgens an Deck bleiben, um dann von Meinke abgelöst zu werden. Der Bootsmann wieder wurde jetzt schlafen geschickt, da bei dem stetigen Winde ganz gut einer allein die Jacht bedienen konnte und man ihn auch deswegen loswerden wollte, weil Walter die Absicht hatte, mehr in die offene See hinauszusteuern, um den belebten Küstenstrich zu vermeiden. Jermuk hätte hierüber sicher allerlei Fragen gestellt, weil man, um Lenkoran zu erreichen, eigentlich genau südwestlichen Kurs einhalten mußte und nicht südöstlichen, den der Ingenieur sehr bald einzuschlagen gedachte.

Der Tatare zog sich also ins Vorschiff zurück, wo er stets bei Ausflügen zu Wasser zu schlafen pflegte. Nun half Meinke noch dabei, die Jacht in den neuen Kurs zu bringen, und dann begab auch er sich unter Deck, wo inzwischen die beiden Damen in der kleineren Kajüte, in der an jeder Wand sich zwei abklappbare schmale Betten befanden, für sich und die beiden Knaben die Lagerstätten hergerichtet hatten. Einmal erschien Frau Hedwig, bevor sie zur Ruhe ging, noch bei ihrem Gatten und brachte ihm eine Tasse Tee und ein paar belegte Brote. Herzlich sagte sie ihm gute Nacht und ließ ihn dann auf seine dringende Bitte allein, damit sie ihre Kräfte schone, die sie vielleicht noch notwendig brauchen würde. – –

* *
*

Ernst Walter lehnte in der Ruderbank und sah zur Rechten die brennenden Erdgasquellen von Surachany, die noch heute als Ewige Feuer von Baku ein Gegenstand der Verehrung der Parsen, der Feueranbeter, sind, immer undeutlicher durch die Nacht leuchten. Eigene Gefühle bewegten sein Herz. Vertrieben von einer Stätte, wo er eine zweite Heimat gefunden zu haben glaubte, ging er einer ungewissen Zukunft entgegen. Gewiß, der brave Perser hatte ihn eingeladen, vorläufig in sein Haus in Rescht als Gast einzuziehen. Aber er hatte diesen neuen Beweis freundschaftlicher Zuneigung mit warmen Dankesworten abgelehnt. Kaschars Handelsbeziehungen nach Rußland wären für immer vernichtet gewesen, wenn er die deutschen Flüchtlinge beherbergt hätte. Und ob sie sonst in Rescht, wo der russische Einfluß sich überall geltend machte, unterkommen würden, war sehr die Frage.

Da – – was war das?! – Walter schreckte aus seinem trüben Sinnen auf. Von Baku her klangen dumpfe Kanonenschüsse herüber. Er zählte sie: – – drei – vier – fünf …

Fünf Schüsse – gerade fünf! – Er wußte, was das zu bedeuten hatte. Es war das Alarmsignal, wenn politische Verbrecher, die in den Staatswerkstätten des Hafens arbeiteten, entflohen waren.

Aber – galt dieses Zeichen heute wirklich Sträflingen?! Galt es nicht vielleicht den Deutschen, die die Behörden hatten verhaften wollen und deren Wohnungen man leer gefunden hatte …?!

Der Ingenieur richtete sich auf, stützte den Schenkel gegen das Steuer und griff nach dem neben ihm liegenden Fernglase. Die vorzüglichen Linsen brachten ihm die Lichter des Hafens von Baku wieder nahe. Jetzt zuckte ein langer, weißer Blitz dort hinten auf, der Scheinwerfer eines der großen Zolldampfer ohne Frage, die die Küsten nach persischen Schmugglern absuchen. – Da – ein zweiter strahlender Lichtkegel, und jetzt auch wieder fünf Alarmschüsse, die dröhnend über das Meer hallten.

Kein Zweifel: dies alles galt nicht armseligen Sträflingen – dies galt dem angeblichen deutschen Geheimagenten, ihm selbst!! –

Ernst Walter ließ sich auf die Ruderbank zurückfallen. – Was nun? – Sicherlich würde der Telegraph sofort die Küstenstationen von seiner Flucht benachrichtigen, würden überall russische Regierungsschiffe der Jacht nach Süden zu auflauern …! Daß er dorthin floh, wo ihm in Persien die Rettung winkte, nahmen die Russen ja ohne Frage an! – – Mit zusammengebissenen Zähnen saß der Ingenieur da. Hier gab’s kein langes Zögern. Er mußte schnell einen Entschluß fassen. Der Weg nach Persien war versperrt. Mehr als Leichtsinn wäre es gewesen, jetzt sich dorthin zu wenden. Durch seine Flucht hatte er ja fast bewiesen, daß er kein reines Gewissen habe. Wenigstens würde jedes russische Kriegsgericht dies annehmen. Fing man ihn, so war ihm der Tod gewiß. Was kam es jetzt auf ein Menschenleben an, wo vielleicht Hunderttausende bald ihr Leben lassen mußten …! – Aber – wohin sollte er sich sonst wenden …?! Sollte er versuchen, das Ostgestade des Kaspisees zu erreichen, um dort in den unwirtlichen Hochebenen des Ust-Urt Zuflucht zu suchen …? – Nein, auch das war zu gewagt. An der Ostküste befand sich ja in Krasnowodsk die russische Flottenstation, die mit Baku durch ein Unterseekabel verbunden war.

Jetzt blitzte ein anderer Gedanke in ihm auf, eine abenteuerliche Idee … Regungslos starrte er eine Weile vor sich hin. Dann hob er den Kopf mit energischem Ruck. Sein Entschluß war gefaßt. –

Das Kaspische Meer ist reich an Inseln, besonders in seinem nördlichen Teile, während die Mitte und der südliche Teil nur einige dicht an den Küsten liegende Eilande aufweist. Und doch gab es seit dem Sommer 1894, seit dem letzten großen Erdbeben, das die kaukasischen Gebiete in Mitleidenschaft gezogen hatte, etwa 150 Kilometer von Baku entfernt in südöstlicher Richtung ein einsames Felsinselchen inmitten eines Gürtels von Klippen, die es wie ein Wall umkränzen. Kein Schiff wagte sich diesem neuen Gestade, das die unterirdischen Gewalten durch Hebung des Seebodens in einer Nacht geschaffen hatten, zu nahen, da das Wasser in der Nähe dieses Eilandes nie zur Ruhe kommt, vielmehr stets in hohen Wellen gegen den Klippengürtel brandet und mit Tod und Verderben droht. Die Schuld an dieser ewigen Unruhe der Wassermassen trägt ein unterseeischer Vulkan, der gleichzeitig mit dem Entstehen der Insel seine unheimliche Tätigkeit begann. Dampf-, Feuer- und Rauchsäulen zuweilen mit unerhörter Heftigkeit ausstoßend und dadurch die über ihm lagernden Wasserschichten in ständiger Wallung haltend, liegt er 800 Meter westlich von der kleinen Insel auf dem 38. Grad nördlicher Breite und dem 52. westlicher Länge. (Tatsache, wie in jedem etwas eingehenderen Artikel über das Kaspische Meer nachgelesen werden kann).

Dieses Eiland nun einmal kennen zu lernen, von dem er stets gehört hatte, daß noch nie eines Menschen Fuß es betreten habe, war des Ingenieurs seit langem gehegter Wunsch gewesen. Im vergangenen Sommer hatte er dann wirklich, ohne jemandem etwas von seiner Absicht mitzuteilen, zusammen mit Meinke und einem anderen, inzwischen nach Deutschland zurückgekehrten Landsmann bei Gelegenheit einer längeren Segeltour nach dem persischen Hafen Ges im südwestlichen Winkel des Kaspisees den Versuch gemacht, an die Insel näher heranzukommen und dort zu landen, was den drei Herren schließlich nur durch einen Zufall geglückt war. Sie stießen auf eine Durchfahrt durch den wogenumbrandeten Klippengürtel, die sie dann in ruhiges Wasser und so auch auf das Eiland selbst führte, wo Walter eine Entdeckung machte, die ihn dazu veranlaßte, seine beiden Begleiter zu bitten, niemandem zu erzählen, daß sie Bischur-ada, die Feuerinsel, genau kennen gelernt hätten. Dieses Geheimnis hatte man auch getreulich bewahrt. Aber die Hoffnungen, die sich daran knüpften, wurden wegen der sich ihrer Erfüllung in den Weg stellenden Schwierigkeiten bald vergessen, und schließlich erwähnten Walter und Meinke, wenn sie allein waren, diese Angelegenheit nur noch mit einem leisen Lächeln, wie man über phantastische Pläne als gereifter Mann spricht, die man einst in der Jugend stürmischen Tagen gefaßt hatte.

Bischur-ada …! Dort winkte die Rettung. Dort war man vorläufig sicher. Ließ man, auf dem Eiland in Verborgenheit lebend, einige Zeit verstreichen, bis die russischen Schiffe nach der vergeblichen Jagd auf die Findlinge wieder nachlässiger in ihrer Wachsamkeit geworden waren, so konnte man mit besserer Aussicht auf Erfolg versuchen, einen persischen Hafen anzulaufen. – –

Um 3 Uhr morgens erschien Meinke, um den Freund abzulösen. Als der Ingenieur ihm mitgeteilt hatte, daß ihre Flucht entdeckt und er daher entschlossen sei, zunächst die Feuerinsel anzulaufen, erklärte sich der junge Kaufmann sofort mit allem einverstanden. Auch er wollte sich, besonders aber seine Gattin nicht, der Gefahr aussetzen den Russen in die Hände zu fallen.

Dann begann der Tag zu grauen. Ernst Walter war nicht schlafen gegangen. Die Sorge, daß ein Schiff sie doch noch erwischen könne, hielt ihn munter. Aber diese Angst erwies sich als überflüssig. Lediglich Fischerbarken tauchten hier und da auf, denen sie leicht ausweichen konnten. Der günstige Wind hielt ebenfalls an. Und gegen Abend erschien am Horizont ein seltsames, einer weißen Riesenpinie ähnliches Wolkengebilde. Es war die Dampfsäule, die dem unterseeischen Vulkan entstieg und sich oben wie die Krone eines Baumes ausbreitete.

Jetzt bei Dunkelwerden die Durchfahrt durch die Riffe zu suchen, war unmöglich. Man mußte die „Nixe“ daher in der Nähe der Insel bis zum Morgen kreuzen lassen. – Inzwischen waren die übrigen Mitglieder der kleinen Gesellschaft gleichfalls in die veränderte Sachlage eingeweiht worden. Nur Jermuk verschwieg man die Wahrheit, indem man ihm erzählte, der Ingenieur habe seinen Gästen das bekannte und doch auch wieder unbekannte Eiland zeigen wollen. Um den Tataren als lästigen Frager loszuwerden, spendete ihm Walter eine Flasche Rum, die noch in einem Wandschrank der Jacht vorgefunden wurde. Und hochbeglückt zog sich der geistig sehr träge Mongole damit in seinen Verschlag im Vorschiff zurück. Als gegen Abend die „Nixe“ jedoch sich noch immer nicht anschickte den Kurs nach Lenkoran, ihrem angeblichen Reiseziel, einzuschlagen, sondern östlich der Insel mit gerafftem Großsegel zu kreuzen begann, wurde Jermuk schließlich mißtrauisch und erbat von seinem Herrn Auskunft darüber, weswegen die Jacht diese gefährliche Gegend nicht verlasse. Wieder wurde er da mit der Antwort abgespeist, man wolle bei Tagesanbruch auf dem Eiland ein paar Seehunde schießen. Jermuk erwiderte nichts. Aber man merkte ihm an, daß jetzt auch in seinem denkfaulen Hirn Zweifel an der Aufrichtigkeit dieses Bescheides lebendig wurden. Der Blick, den er mit eben erwachtem Argwohn auf seinen Herrn warf, sprach deutlich genug.

Auch diese Nacht verging wie die vorige, nur daß Walter sich frühzeitig zur Ruhe legte, um den versäumten Schlaf nachzuholen. Die Bedienung der Jacht übernahmen Meinke und der dicke Vollert, die gleichzeitig auf Jermuk ein wachsames Auge haben sollten.

Beim ersten Schimmer des jungen Tages erschien der Ingenieur jedoch wieder an Deck und half dabei, die „Nixe“ durch den engen Paß des Klippengürtels hindurchzulavieren, ein Unternehmen, das keineswegs ungefährlich war, da überall in dem schmalen Fahrwasser unsichtbare, kleine Riffe drohten und außerdem die Brandung mit großer Gewalt nach Osten drängte. Trotzdem war das Geschick den Flüchtlingen hold. Als gerade die Sonne wie ein heller Fleck in den Dunstmassen des östlichen Horizontes auftaucht, glitt die Jacht wohlbehalten in eine tief in die Insel einschneidende Bucht hinein, und wenige Minuten später lag sie ruhig, keine zwanzig Meter vom Nordufer dieser Bucht entfernt, vor Anker.

Während der junge Kaufmann dann an Bord zurückblieb, damit Jermuk nicht mit den beiden Damen allein war, begaben sich Walter, Vollert und die Knaben in dem kleinen Beiboot an Land und machten sich auf die Suche nach einem passenden Lagerplatz, wo man aus den Segeln der Jacht zwei Zelte bauen und alles für einen längeren Aufenthalt herrichten konnte.

Daß die Insel einst ein Teil des Meeresgrundes des Kaspisees gewesen war, ließ sich nicht nur an den zahlreichen Muscheln und Resten von Fischskeletten erkennen, sondern auch an der ganzen Bodenbeschaffenheit. Felsige Teile wechselten mit sandigen Flächen ab. Und dieser Sand war zumeist fein wie Mehl, gelblich-weiß und hier und da mit seltsamen, längst verdorrten Pflanzengebilden bedeckt, wie nur die Tiefen der salzhaltigen Ozeane sie hervorbringen.

Absichtlich lenkte der Ingenieur seine Schritte zunächst nach einer kahlen Felsenkuppe, die nördlich des Ankerplatzes der Jacht lag. Auch bei seinem ersten Besuch des Eilandes vor einem Jahre hatten er und seine Begleiter von diesem bescheidenen Berge aus einen Blick über die kleine Insel geworfen.

Das Eiland besaß einen Durchmesser von vielleicht 6000 Meter, war ungefähr kreisrund und von einer steilen Küste umgeben, in die sich nur die Bucht, in der jetzt die „Nixe“ lag, von Osten nach Südwesten wie eine Bresche bei einer Länge von etwa einem Kilometer hineinzog, dabei den südlichen Teil der Insel als schmale Landzunge abtrennend. Im übrigen bot das Innere nichts Bemerkenswertes dar. Auffallend war nur ein tiefes, ohne Zweifel unter dem Meeresspiegel liegendes Tal, das sich parallel zu der Bucht im nördlichen Teile befand und in der Mitte seiner hellen Sandmassen eine glänzend weiße Fläche enthielt, die von weitem wie ein zugefrorenes Gewässer aussah.

Als der Berliner Rentier, überrascht durch diesen merkwürdigen Anblick, Walter fragte, woraus die eisähnliche Masse bestehe, klärte ihn dieser bereitwilligst darüber auf.

Es war Salz, das sich als Rückstände des inzwischen verdunsteten Meerwassers dort abgelagert hatte. Bei dem Erdbeben war nämlich zugleich mit dem jetzt die Insel bildenden Teil des Meeresgrundes auch dieses tiefe Tal, mit Seewasser völlig angefüllt, wie eine Riesenschüssel emporgehoben worden. Das Wasser verdunstete im Laufe der Jahre, und der verbleibende Rest wurde immer salzhaltiger, bis auch ihm schließlich alle flüssigen Teile entzogen waren und das Salz sich an der tiefsten Stelle in einer nach der Mitte zu sicher mehrere Meter starken Schicht absetzte.

Vollert hatte ebenso aufmerksam wie die Knaben zugehört, als der Ingenieur diesen kurzen Vortrag hielt. Jetzt sagte er, indem er dieses kleine Naturwunder sofort vom Standpunkt des Geschäftsmannes aus einschätzte:

„Hören Sie, Herr Walter, – wenn das wirklich Salz ist, so wünschte ich, dieses Lager da befände sich irgendwo dicht bei Berlin. Da ließe sich ein Groschen Geld mit verdienen.“

Der Ingenieur lächelte. „Genau denselben Gedanken haben wir, Ihr Schwiegersohn, unser Landsmann Teufert und ich auch gehabt, als wir vor einem Jahre hier waren. – Doch lassen wir das jetzt. – Ich will Sie lieber zu den drei warmen Quellen führen, von denen ich vorhin sprach. Soweit ich die Örtlichkeit noch in der Erinnerung habe, dürfte sich der Platz, wo sie aus dem Felsboden hervordringen, ganz gut zum Lager eignen. – Kommen Sie, wir wollen uns beeilen, damit wir bald wieder zur Jacht zurückkehren können.“

* *
*

Die beiden Damen und Meinke saßen indessen neben einander auf der Steuerbank, über die Jermuk zum Schutz gegen die Sonne ein Segel ausgespannt hatte. Man sprach gerade über die Beschaffung der nötigen Nahrungsmittel im Falle eines längeren Verweilens auf der Insel. Der Proviant, den man von Baku mitgebracht hatte, reichte ja kaum für ein paar Tage. – Meinke beruhigte die Damen. Verhungern würden sie schon nicht. Freilich würde die Kost wohl etwas eintönig werden. Seehunde seien auf den Riffen stets anzutreffen. Auch in der Bucht hätte man ja bereits einige dieser Tiere bemerkt. Ferner nisteten in den Spalten der Steilküste Möwen und andere Vögel, deren Eier gar nicht zu verachten wären. Und einen Fisch würde man hin und wieder wohl auch fangen können.

Frau Hedwig erklärte darauf, ihr würde diese Kost vollauf genügen. Die Hauptsache bliebe ihr, daß man hier zunächst vor weiteren Nachstellungen sicher sei und daß sie ihren Gatten und ihre Kinder bei sich habe. – Auch die junge, etwas verwöhnte Frau Meinke pflichtete ihr bei, wenn auch ein wenig zögernd. Sie benahm sich überhaupt ganz tapfer, da sie an der von ihr sehr verehrten Ingenieursgattin, die noch dazu aus einer altadligen Familie stammte, ein so gutes Vorbild hatte. –

Drei Stunden waren jetzt seit dem Aufbruch Walters und seiner Begleiter verstrichen. Meinke wunderte sich im stillen, daß die beiden Damen, besonders Frau Hedwig, die Abwesenden, die längst hätten zurücksein können, gar nicht vermißten. Aber er unterdrückte jede dahinzielende Bemerkung, obwohl seine Unruhe sich von Minute zu Minute steigerte.

Nun erhoben sich die Damen, um in der kleinen Küche der Jacht das Frühstück zuzubereiten. Meinke blieb allein auf Deck zurück, da Jermuk vor einer Weile die Jolle nach dem Ufer gerudert hatte, um die Zurückkehrenden an Bord bringen zu können.

Der junge Kaufmann, müde und abgespannt nach diesen zwei Nächten, die ihm nur wenig Schlaf gebracht hatten, nickte nach einer Weile ein.

Plötzlich fuhr er wieder empor. Ein Schrei war an sein Ohr gedrungen, der Hilferuf eines Menschen.

Was dann geschah, folgte in einzelnen Szenen so blitzschnell aufeinander, daß Meinke kaum recht zur Besinnung kam.

Er sah am Ufer den kräftigen Jermuk mit zwei wild aussehenden, in Felle gekleideten Männern ringen, sah drei ebensolche wenig vertrauenerweckende Gestalten in der Jolle der Jacht zurudern, an Bord springen … Harte Fäuste rissen ihn zu Boden, umschlangen seine Glieder mit Riemen. Unter Deck hörte er die Angstschreie der beiden Damen, die aber bald wieder verstummten. In ohnmächtiger Verzweiflung suchte er seine Bande zu sprengen. Es gelang nicht. Nun erschienen die Frauen auf Deck. Bleich waren sie wie der Tod, aber was die Gattin des Ingenieurs dann dem Gefesselten zurief, beseitigte dessen schlimmste Befürchtungen.

„Die Leute haben es nur auf die Jacht abgesehen. Uns geschieht nichts.“ –

Dann wurden Meinke und die Damen an Land geschafft, wo der Tatare inzwischen von seinen Gegnern ebenfalls überwältigt worden war und gebunden im Sande lag.

Die beiden Männer, die Jermuk unschädlich gemacht hatten, begaben sich nun in der Jolle zur „Nixe“ hinüber, die gleich darauf den Anker lichtete und, offenbar von kundiger Hand geführt, eiligst die Bucht verließ und bald in der Steilküste nach Süden zu, in Richtung der Durchfahrt durch die Riffe, verschwand.

Die vier Menschen waren allein. Kein Wort hatten sie inzwischen zu sprechen gewagt. Starr, wie Bildsäulen, standen die Damen da. Und neben ihnen am Boden lagen die beiden Männer, eng gefesselt und nicht minder sprachlos vor Entsetzen. – Wie ein böser Traum war das alles über sie gekommen.

Jetzt raffte der junge Kaufmann sich auf. Seine Frau mußte ihm mit seinem Taschenmesser die Riemen durchschneiden. Nun war er frei und erwies dem Tataren denselben Dienst.

Merkwürdigerweise war es Jermuk dann, der das Geschehene zuerst mit kurzen Worten kennzeichnete.

„Sehr schlimm für uns, daß „Nixe“ weg“, meinte er brummig. „Sträflinge waren es. Sind sicher vor längerer Zeit aus Baku im Boot nach hier entflohen. Boot wird in der Brandung zertrümmert sein. – Jetzt Herrn Walter suchen. Ist auch gebunden, damit nicht verbieten kann, daß Sträflinge Jacht rauben und davonfahren.“

Der Tatare hatte bei Walters leidlich deutsch sprechen gelernt, worauf er nicht wenig stolz war.

Seine Worte lösten den Bann, der die drei anderen noch immer gefangen hielt. Frau Hedwig nickte Jermuk zu. Heute empfand sie zum ersten Mal etwas wie Wohlwollen für den stumpfen, mürrischen Mongolen.

„Ja, Jermuk, – gehen wir und suchen wir die übrigen“, sagte sie schnell. „Ich hoffe, daß die Sträflinge mit ihnen ebenso glimpflich umgesprungen sind wie mit uns.“ – –

Der Tatare zeigte jetzt, daß er auch vor Meinke etwas voraus hatte. Dieser wollte nämlich auf gut Glück die Insel nach den Gefährten durchstöbern. Aber Jermuk erklärte, das würde zu lange dauern. Vielleicht finde man im Sande hier und da Spuren, die sie schließlich zu den vier fehlenden Mitgliedern des kleinen Kreises hinführen würden. – Er drückte sich zwar anders aus. Aber der Sinn war derselbe.

Auf diese Weise gelang es schon nach zehn Minuten, den Ingenieur und seine Begleiter aufzufinden.

Sie waren in der Nähe der drei warmen Quellen ebenfalls ganz plötzlich überfallen und im Umsehen gebunden worden. Gesprochen hatten die Angreifer, die sie dann einfach liegen ließen und davongingen, dabei kein Wort.

Bei der nochmaligen Erörterung dieses folgenschweren Ereignisses erzählte Frau Hedwig, daß einer der Leute, die in die Kajüte eingedrungen wären und sie nachher auf Deck gezerrt hätten, auf ihre Angstrufe hin ihnen sofort gesagt habe, daß sie nichts zu fürchten brauchten, wenn sie keinen Widerstand versuchten. – Dieser Mann habe in seiner ganzen Art durchaus den Eindruck eines gebildeten Mannes gemacht.

Walter schloß hieraus sowie aus der Wortkargheit der Leute, die offenbar nur den Wunsch gehabt hatten, ihre Persönlichkeiten in ein recht geheimnisvolles Dunkel zu hüllen und möglichst schnell die Insel zu verlassen, daß es tatsächlich flüchtige Sträflinge gewesen seien, wie Jermuk dies schon vorher angenommen hatte. Ferner war er aber auch der Ansicht, daß die fünf Männer, die sich ihre Anzüge aus Seehundsfellen offenbar selbst angefertigt hatten, schon erheblich lange auf dem Eiland gehaust haben müßten und daß, wenn man die Insel genau durchsuchen würde, man unbedingt eine Hütte oder dergleichen finden müßte, wo jene ihre Wohnung gehabt hätten.

Dieser Vorschlag belebte den tief gesunkenen Mut der kleinen Gesellschaft aufs neue, die jetzt, nachdem ihre ganze Habe mit der „Nixe“ entführt worden war, weder über irgend welche Gerätschaften noch Waffen verfügte, vielmehr nur das besaß, was jeder von ihnen auf dem Leibe trug.

Zunächst eilte der Ingenieur auf die Felskuppe nördlich der Bucht zurück, um nach der Jacht auszuspähen Er bemerkte sie weit im Süden, wie sie unter vollen Segeln auf die ferne persische Küste des Kaspischen Meeres zuhielt. Dann schloß er sich den anderen wieder an, die inzwischen von dem Berliner Rentier nach der schillernden Salzansammlung in der Mitte des tiefen, sandigen Tales geführt worden waren, damit auch sie sich dieses natürliche Lager unserer unentbehrlichen Speisewürze ansehen sollten, das vollkommen einem von körnigem Eise bedeckten, 100 Meter langen und 60 Meter breiten, eiförmigen Teiche glich. Für Meinke bot dieses Bild nichts Neues, und mit leisem Lächeln lauschte er den Berechnungen, die sein geschäftstüchtiger Schwiegervater anstellte, um den Wert der Salzmenge ungefähr abschätzen zu können. – –

Eine halbe Stunde später hatte man die Behausung der Sträflinge entdeckt. Und wieder war es der Tatare gewesen, der hier in der unberührten Natur bewies, daß einige seiner Sinne doch bedeutend feiner ausgebildet waren als die seiner ihm sonst an Fähigkeiten weit überlegenen Gefährten. Durch allerlei kleine Anzeichen wurde er zu der versteckten Steinhütte hingeleitet, die die fünf Männer sich in einem engen Felsentale errichtet hatten, das nur einen Ausgang nach dem flacheren Nebentale zu besaß, wo die drei heißen Quellen dem Felsboden entsprangen.

Die Hütte war sehr geräumig und hatte zwei Eingänge. Der eine von diesen führte in das Wohngemach, der andere in einen Vorratsraum. Als Baumaterial waren Felsstücke benutzt worden, deren Zwischenräume die Sträflinge dicht mit Seegras und trockenem Tang ausgefüllt hatten. Das Dach bestand ebenso wie die Tür- und Fenstervorhänge aus zusammengenähten Seehundsfellen. Als Stützen dienten diesem Lederdach Äste von angetriebenen Baumstämmen. – In den beiden Räumen fand man eine Unmenge von Gegenständen vor, die die fünf Männer sich sämtlich selbst angefertigt hatten, wobei sie mit einem Geschick vorgegangen waren, dem selbst der außerordentlich praktisch veranlagte Ingenieur alle Anerkennung zollte.

So gab es hier außer Lanzen, Bogen, Pfeilen, Steinbeilen und Steinmeißeln auch Angelgeräte, Tranlampen, die aus ausgehöhlten Seehundschädeln hergestellt waren, Trinkgefäße und Schalen aus Holz geschnitzt, flache, muldenartige Steine als Kochgefäße und vieles andere, was zur Führung eines bescheidenen Haushaltes nötig ist. Ein Herd stand in dem Vorratsraum, der einen durch das Dach hindurchgehenden Schornstein besaß und bei seiner Größe gleichzeitig auch, da seine Rückwand in das Wohngemach hineinragte, dieses miterwärmen mußte. In den Wintermonaten war dieser Ofen sicher sehr angenehm, da der mittlere Teil des Kaspisees nicht selten unter starken Frösten zu leiden hat. Bemerkenswert ist es, daß der nördliche Teil sogar regelmäßig zufriert, wodurch dann die berühmte alte Stadt Astrachan an der Wolgamündung stets für längere Zeit von jedem Schiffsverkehr abgeschnitten ist, falls es nicht den Eisbrechern gelingt, eine Fahrrinne offen zu halten. Die Südteile, also die persischen Küsten, haben dagegen ein sehr mildes Klima. – –

Als man mit der Besichtigung der Hütte und ihrer Einrichtung, zu der noch fünf Lagerstätten, ein aus einer Steinplatte gefertigter Tisch und Holzschemel gehörten, fertig war, hatte die Sonne mittlerweile ihren höchsten Stand erreicht. Alle Mitglieder der kleinen Kolonie, die jetzt hier mit den bescheidensten Mitteln ihr Dasein fristen mußten, empfanden denn auch bereits einen nagenden Hunger. Trotzdem wurde erst noch eine gemeinsame Beratung abgehalten, bei der man folgende Beschlüsse faßte.

Oberhaupt der Kolonie sollte der Ingenieur sein, der jedem seine Tätigkeit zuzuweisen und alle wichtigen Bestimmungen zu treffen hatte. Jermuk wurde als gleichberechtigtes Mitglied anerkannt, doch sollte er hauptsächlich die gröberen Arbeiten übernehmen. Die Jagd auf Seehunde, das Einsammeln der Möweneier und der Fischfang waren Aufgabe Meinkes und der Knaben. Die beiden Damen wieder hatten für die Mahlzeiten zu sorgen und leichtere Arbeiten zu verrichten, die sich für Frauenhände eigneten. Der korpulente Herr Vollert und Walter schließlich wollten mitzugreifen, wo es gerade etwas Besonderes zu tun gab.

Der Gedanke, von vornherein in ihr einsames Leben eine gewisse Ordnung hineinzubringen, war von dem Rentier ausgegangen. Sehr bald zeigte sich, wie praktisch dieser Vorschlag gewesen war. Der Ingenieur, daran gewöhnt einen größeren Fabrikbetrieb zu übersehen, traf seine Anordnungen in so zweckentsprechender Weise, daß stete Beschäftigung die Hauptursache aller Unzufriedenheit, die Langeweile, vollständig von den Kolonisten fernhielt. Gewiß – in den ersten Tagen ihres Robinsondaseins überkam wohl noch diesen oder jenen die Sehnsucht nach dem früheren, behaglichen Leben mit all seinen Kulturerleichterungen. Doch auch das Neue, Ungewohnte hatte seine Reize. Und das Bewußtsein, hier geborgen zu sein, weiter auch die Hoffnung auf eine spätere Rückkehr in die Heimat und die Übereinstimmung der Charaktere halfen schnell über das schwere Sicheingewöhnen in die neuen Verhältnisse hinweg, zumal man mit der Zeit lernte, alles das aufs vorteilhafteste auszunutzen, was die Insel an Erzeugnissen bot.

So lieferten die heißen Quellen nicht nur ein in abgekühltem Zustande ganz wohlschmeckendes Wasser, sondern konnten auch gleich zum Waschen und zum Reinigen der Kleidungsstücke und der Eßgeräte gebraucht werden. In den zwanzig Jahren hatte sich auch hier und da auf der Insel eine spärliche Vegetation entwickelt. So gab es auf der durch die Bucht gebildeten Landzunge im Süden sogar einige Bäume, Buchen und Eichen, die freilich nur kümmerlich gediehen. Den freundlichsten Eindruck machte das Tal, durch das die drei warmen Quellen dem Meere zuflossen. Hier hatte sich mit der Zeit eine stellenweise recht üppig wuchernde Grasdecke entwickelt, die eine geeignete Polsterung für die Lagerstätten lieferte.

Die Jagd auf Seehunde – diese stellen hier eine besondere Art für sich dar, die auch im Baikalsee anzutreffen ist – hatte ein gutes Ergebnis, nachdem die Jäger erst gelernt hatten, mit Lanzen, Bogen und Pfeilen umzugehen. Stets waren einige dieser Tiere in der Bucht anzutreffen, wo sie sich auf flachen, sandigen Stellen sonnten. Um sie nicht zu verscheuchen, wurden immer nur so viel davon erlegt, als notwendig war.

Ebenso günstig stand es um den Fischfang, den man bald nicht nur mit Hilfe der Angel, sondern auch mit einem Netze ausübte das aus dünnen Seehundfellriemen von den Damen mühsam geknüpft war und die Form großer Trichter mit breiten Seitenteilen hatte. Gleich bei dem ersten Fischzug in der Bucht fing man in diesem Netz einen zweieinhalb Meter langen Wels außer kleineren Fischen. Der Wels ist der größte in Europa vorkommende Flußfisch, wird bis zu 4 Meter lang und besitzt ein sehr starkes Gebiß. Er wagt sich an Enten, Gänse, ja sogar an badende Hunde und kleine Kinder heran, die er mit sich in die Tiefe zieht. Sein Fleisch, das sehr schmackhaft ist, lieferte den Kolonisten manch gute Mahlzeit. Auch im salzhaltigen Wasser des Kaspisees findet man ihn in großer Menge vor, gerade so wie den Stör, der gleichfalls in der Bucht von den Kolonisten häufig gefangen wurde, darunter Tiere von 2 Meter Länge, die alle zu der besonderen Art „Scherg“ oder „Sewruga“ gehören, eine sehr lange, schwertförmige Schnauze besitzen und mit Knochenschildern besetzt sind. Der Rogen des Störs wird bekanntlich zu Kaviar verarbeitet. Bei Astrachan beschäftigt der Fang dieses Fisches nicht weniger als 50 000 Menschen, und der durchschnittliche Jahresertrag der Fischerei im Kaspischen Meer beläuft sich auf 20 Millionen Mark. –

Unter Lebensmittelmangel hatten die Kolonisten jedenfalls in keiner Weise zu leiden, und für Abwechslung sorgten Scharen von Wildenten und -gänsen, die häufig auf der Insel erschienen. Reptilien und Säugetiere, die Seehunde ausgenommen, fehlten auf dem Eiland gänzlich.

Nach Verlauf der ersten zwei Wochen begann man dann mit dem Bau eines besonderen Vorratshauses, da die beiden Räume der Hütte von den Kolonisten belegt waren, indem die Damen das Wohngemach zugewiesen erhalten hatten, die Männer und die Knaben aber mit dem Nebenraum fürlieb nehmen mußten, der für sechs Personen etwas eng war.

Während man noch mit dieser größeren Arbeit beschäftigt war, wurden die Mitglieder der Kolonie eines Vormittags ganz unerwartet durch Jermuk in die höchste Aufregung versetzt. Dieser war von Walter nach der Nordküste der Insel geschickt worden, um dort nach angetriebenen Baumstämmen zu suchen, die eine Strömung zuweilen dem Brandungsgürtel näherte, von wo dann die Wogen die Bäume weiter bis an das Gestade des Eilandes beorderten. In eiligem Lauf erschien der Tatare kurz nach seinem Weggang wieder an der Arbeitsstelle und brachte den hier versammelten Deutschen freudestrahlend die Nachricht, daß im Süden der Insel ein russisches Kanonenboot kreuze. Man solle nur schnell auf der Bergkuppe bei der Bucht ein Feuer anzünden, dann würde das Kriegsschiff sie schon abholen und wieder nach Baku bringen, wo es auch etwas anderes als nur Wasser zu trinken gebe.

Jermuk machte ein sehr erstauntes Gesicht, als er bemerkte, daß seine Gefährten über diese Kunde keineswegs erfreut waren, vielmehr ängstliche, merkwürdige Blicke austauschten. Der Tatare ahnte ja noch immer nicht die volle Wahrheit, eben daß die Deutschen auch dann auf der Insel freiwillig geblieben wären, wenn ihnen die Sträflinge die Jacht nicht entführt haben würden. Den Argwohn, der kurz vor der Landung in ihm aufgestiegen war, hatte er längst wieder vergessen.

Der Ingenieur, der sich am schnellsten faßte, richtete nun an den Tataren die besorgte Frage, ob dieser etwa von dem Kanonenboot aus gesehen worden sei oder ob er diesem irgend welche Zeichen gegeben habe. Jermuk verneinte beides. Das Schiff sei noch viel zu weit entfernt gewesen, meinte er, als daß man ihn bemerkt haben könne. Und Winken oder dergleichen hätte aus demselben Grunde keinen Zweck gehabt.

Walter atmete auf. – Die Umstände erforderten es jetzt seiner Meinung nach, den Tataren endlich ins Vertrauen zu ziehen. Dieser hatte sich bisher auch so treu und folgsam gezeigt, daß man eine solche Offenheit wohl wagen durfte. Auch Meinke und Vollert waren derselben Ansicht. Außerdem – wie sollte man es Jermuk wohl erklären, daß man sich nicht an das Kriegsschiff durch Signale um Hilfe wandte …?!

So teilte der Ingenieur denn seinem Bootsmann kurz alles Nötige mit und versprach ihm gleichzeitig eine gute Belohnung, wenn er weiter mit ihnen auf der Insel ausharren wolle, bis endlich die Stunde der Befreiung schlug.

Jermuk hörte mit unbewegtem Gesicht zu. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sein träger Geist diese Neuigkeiten voll verarbeitet hatte. Dann glitt ein dummschlaues Lächeln um seinen Mund.

„Ich habe schon einmal mir denken, daß alles so ähnlich sein“, meinte er. „Jermuk aber hätte gleich alles wissen können, wie richtig sein. Ich nicht lieben den Russen. Deutsche mehr lieben. Jermuk wird tun, was Herr Walter wollen.“

Man merkte, daß der Tatare ganz aufrichtig war. – Der Ingenieur reichte ihm jetzt die Hand und erwiderte freundlich, daß Jermuk es nicht bedauern werde, sich auf ihre Seite gestellt zu haben. Auch die anderen drückten dem Mongolen ihre Zufriedenheit mit so herzlichen Worten aus, daß auf seinem Gesicht ein bei ihm bisher noch nie wahrgenommener Ausdruck von heiterem Stolz erschien.

Nachdem diese Unzuträglichkeit auf diese Weise glücklich beseitigt war, begaben Walter und Meinke sich nach der Kuppe, um von dort nach dem Kanonenboot auszuspähen. Vorsichtig sich auf dem Gipfel lang hinstreckend, damit ihre aufrechten Gestalten sich nicht gegen den Himmel abzeichneten, richteten sie ihre Blicke nach Süden zu und gewahrten auch sofort das Kriegsschiff, von dem gerade eine Dampfbarkasse abstieß, die einen hohen Rahmen aus Holzstäben, der auf einem Floße ruhte, hinter sich her zu schleppen begann.

Der Wind kam von Westen, und nach Westen zu brachte die Barkasse auch das mächtige, schwerfällig auf den Wellen auf und ab schaukelnde Holzgerüst. Dann wurde die Schlepptrosse losgemacht, das Boot kehrte zum Schiffe zurück und der hohe Holzrahmen trieb nun vor dem Winde langsam nach Osten zu und parallel mit der Südküste der Insel hin.

Der Ingenieur hatte sofort erkannt, daß die ganze Angst überflüssig gewesen war. Das Kanonenboot hatte die Flottenstation Krasnowodsk nur verlassen, um hier, wo weit und breit nie ein Fahrzeug zu sehen war, Schießübungen auf eine schwimmende Artilleriescheibe abzuhalten.

Gleich darauf rollte auch schon der Donner des ersten Schusses, der aus dem vorderen Turmgeschütz abgefeuert werden war, über das Wasser. Aber der Richtkanonier hatte zu kurz gezielt. Das Geschoß schlug, eine riesige Fontäne aufwerfend, weit vor der Scheibe in die See ein.

Dann der zweite Schuß … Mit unheimlichem Heulen kam die viel zu hoch gehende Granate angesaust, strich dicht über den Rand der Steilküste hin, ging keine zwanzig Meter rechts von der Felskuppe vorüber und krepierte dreihundert Meter weiter rückwärts vor einem Sandhügel, ein mächtiges Loch aufwerfend.

Schuß folgte nun auf Schuß. Die nächsten lagen dem Ziel schon näher, und dann gab’s den ersten Treffer. In der Scheibe klaffte eine weite Öffnung. Inzwischen war das schwimmende Holzgerüst an der Insel dicht außerhalb des Klippengürtels vorübergetrieben, und auch das feuernde Kanonenboot hatte sich nach Osten zu entfernt. Nachdem dann ein weiterer Treffer den Unterbau der Scheibe völlig auseinandergerissen hatte, sank diese um und wurde nun wieder nach dem Kriegsschiff geschleppt, das gleich darauf davondampfte.

Die Schießübung hatte im ganzen etwa zwei Stunden gedauert. Für Meinke bedeutete sie ein völlig neues Schauspiel, so daß er bis zum Schluß auf der Kuppe blieb, wo sich auch bald Vollert, die beiden Knaben und der Tatare einfanden, die der wieder nach der Hütte geeilte Ingenieur über die Ursache des Geschützdonners ebenso wie auch die Frauen aufgeklärt und beruhigt hatte.

Jetzt, als das Kanonenboot verschwunden war, machten sich die heimlichen Beobachter dieses Scharfschießens wieder auf den Heimweg nach dem Lager. Dabei besichtigte man auch das Loch, das die Granate am Fuße des Sandhügels verursacht hatte.

Fritz Walter, der ältere der Brüder, sprang sogar in den Trichter hinab, um dort nach Sprengstücken zu suchen. Dabei wühlte er mit den Händen in dem lockeren Sande umher und ließ die anderen schließlich vorgehen, da er zu gern einen Teil des zerplatzten Geschosses gefunden hätte.

Dann rief er plötzlich Meinke ganz aufgeregt zurück.

„Kommen Sie – kommen Sie …! Ich habe etwas entdeckt, Herr Meinke, – eine dicke Balkenwand, die die Granate halb freigelegt hat und von der ich nun zufällig mit den Händen ein Stück ganz herausgeschaufelt habe.“

Alle machten kehrt, aber ohne besondere Eile. Sie ahnten noch nicht, wie wichtig für sie dieser schlechte Schuß aus dem Turmgeschütz werden sollte. – Meinke sprang nun gleichfalls in den Trichter hinab und begann das, was der Knabe als Balkenwand bezeichnet hatte, näher zu untersuchen. Aber schnell veränderte sich des jungen Kaufmanns zuerst recht gleichgültiger Gesichtsausdruck. Er begann sogar selbst jetzt mit den Händen den Sand noch mehr zu entfernen und legte bald mit Fritz Walters Hilfe den oberen Rand der dicht aneinandergefügten Balken frei. Eine unsichere Hoffnung war in ihm aufgezuckt, der er vorläufig noch nicht Ausdruck zu geben wagte.

Dann aber stießen seine Finger dicht über dem Rande des obersten Balkens auf ein Hindernis – einen starken, rostzerfressenen eisernen Haken von besonderer Form. Dicht daneben fühlte er einen zweiten, einen dritten …

Er wußte Bescheid. Und sofort mußte der jüngere der beiden Brüder nach der Hütte laufen und den Ingenieur herbeiholen. Als dieser sich eingefunden hatte, sagte Meinke zu den Gefährten, die das Granatloch neugierig umstanden, fast feierlich:

„Diese Balken sind ein Teil der Reling eines Segelschiffes, das einst im Kaspischen Meer unterging, auf dem Grunde dann immer tiefer sich in den Sandboden einwühlte und schließlich ganz unter Sand begraben wurde. Das Erdbeben vom Sommer 1894, durch das diese Insel entstand, hat das versunkene Fahrzeug zugleich mit dem Meeresgrund gehoben. – Unter diesem Sandhügel ruht das Wrack eines Schiffes, davon bin ich fest überzeugt!“

Während nun auch Walter die Planken untersuchte, an denen noch hier und da Spuren eines Ölfarbenanstrichs zu bemerken waren, meinte Vollert zu seinem Schwiegersohn etwas ungläubig lächelnd:

„Hm – ein Schiff?! Und – wo sind die Masten, oder, wenn’s ein Dampfer war, der Schornstein und die Deckaufbauten?! – So hoch ist der Hügel doch lange nicht, um diese bedecken zu können!“

„Abwarten – abwarten!“ erwiderte Meinke. „Wollen sehen, wie ein Fachmann darüber denkt, denn unser Ingenieur versteht ja auch so einiges von Schiffbaukunde.“

Jetzt war dieser wirklich mit seiner Untersuchung fertig.

„Wenn dies vielleicht auch kein vollständiges Wrack ist“, erklärte er, „– ein Teil eines solchen ist es ohne Frage. Jedenfalls läßt sich diese Unklarheit bald lösen, indem wir uns, nachdem das Vorratshaus fertig ist, mit vereinten Kräften daran machen, dieses Stück Plankenwand immer weiter auszugraben. Wir verfügen über sechs Paar Arme, und die werden mit dem losen Sande bald fertig werden!“

Zwei Tage später begann dann eine eifrige Tätigkeit an der Einschlagsstelle der fehlgegangenen Granate. Mittlerweile hatte Jermuk sechs Schaufeln geschnitzt, die das Fortschaffen der Sandmassen wesentlich erleichterten. Diese Arbeit wurde genau nach den Weisungen des Ingenieurs ausgeführt, damit jede unnütze Anstrengung unterblieb. Sehr bald zeigte es sich, daß jenseits der freigelegten Reling sich das Verdeck eines Schiffes weiter nach der Mitte des Hügels zu erstreckte. Es wurde nun ein breiter, oben offener Gang auf dem Verdeck entlanggegraben, der dorthin führte, wo Walter die Vorderluke des Fahrzeuges vermutete. Über dem Deck lag der Sand etwa drei Meter hoch, so daß es immerhin drei Tage dauerte, bevor der Gang, der wegen des leicht nachrutschenden Materials vier Meter breit angelegt werden mußte, beendet war. Dafür hatte man dann aber auch die Genugtuung, daß die mit einem schweren, blechbeschlagenen Deckel verschlossene Luke völlig freilag. Und es war ein Augenblick höchster Spannung für alle Kolonisten, als der Ingenieur und Jermuk nun den Deckel hochhoben, bei Seite stellten und alles sich um die dunkle Öffnung scharte, von der eine steile Holztreppe abwärts führte.

Bald hatten sich die Augen so weit an das durch die offene Luke unten in den Raum einfallende Dämmerlicht gewöhnt, daß man Einzelheiten unterscheiden konnte.

Durcheinander geworfene Matrosenkisten lagen dort umher, und an der einen Seite konnte man nun auch die roh aus Brettern zusammengeschlagenen Kojenbetten sehen, ferner die Trümmer einer großen Lampe. Der Raum war also ohne Frage das Mannschaftslogis des Schiffes, dessen ungefähre Größe der Ingenieur bereits aus der Entfernung der Vorderluke von der Reling sich hatte berechnen können. Daß es sich um einen Segler handelte, dessen Masten geknickt und verloren gegangen waren, war ebenfalls schon erwiesen.

Nachdem man noch eine Weile gewartet hatte, um frische Luft in das Schiffsinnere eindringen zu lassen, kletterten Walter, Meinke und Jermuk, jeder mit einer brennenden Tranlampe in der Hand, in das Mannschaftslogis hinab, um zu versuchen, ob sie von hier aus auch die weiteren Räume des Wracks betreten könnten. Dies gelang wirklich. Freilich mußten sie einige Türen aufbrechen, um das ganze Schiff durchsuchen zu können, in dem das Wasser längst bis auf einen im Kielraum befindlichen Rest völlig verdunstet war. Das Holz zeigte sich überall noch leidlich gut erhalten, was darauf zurückzuführen war, daß der Segler in allen seinen Teilen aus Eiche bestand. Die Luft in den dunklen Räumen war trocken, aber erfüllt von dem dumpfen Geruch des fauligen Wassers, das sich im Kielraum in letzten Resten bis heute gehalten hatte. Menschliche Skelette, mit deren Vorhandensein man rechnen mußte, traf man jedoch auch im Deckaufbau, der auf dem Hinterschiff lag und die Wohnräume der Offiziere enthielt, nicht an. Dafür entdeckte man hier, wo große Sandmengen durch die eingedrückten kleinen Fenster eingedrungen waren, in Schränken und Kisten ein Menge von Gegenständen, die einmal für die Kolonisten von größtem Nutzen waren, dann aber auch in Gestalt des Schiffstagebuches des Kapitäns Aufschluß über Namen, Heimathafen, Reiseziel und die ungefähre Zeit des Unterganges des Seglers gaben. Dieser war ein Zweimaster von 41 Meter Länge und 12 Meter größter Breite, hieß „Zarewitsch Nikolaus“ und war am 12. Juli 1894, also kurz vor dem großen Erdbeben, von Baku mit einer Ladung Eisenfabrikate und Petroleum nach dem persischen Hafen Meschedisser in See gegangen. Unterwegs hatte ihn dann das Erdbeben überrascht, das zunächst wohl, wie der Ingenieur näher ausführte, die davon betroffenen Teile des Kaspisees zu haushohen Wogen aufgewühlt hatte, die dem „Zarewitsch“ den Untergang brachten. Gleich nachdem das Schiff auf den Meeresgrund geraten war, mußte es durch Verschiebung der oberen Sandschichten, ebenfalls eine Folge der Revolution im Erdinneren, völlig verschüttet und abermals nach kurzer Zeit zusammen mit den umliegenden Teilen des Seebodens durch die unterirdischen Gewalten wieder emporgepreßt worden sein. Für diesen Verlauf der Ereignisse sprach mit großer Sicherheit der Umstand, daß die in den Kajüten der Schiffsoffiziere gefundenen Gegenstände nur wenig vom Wasser verdorben waren. Das Wasser, das das Schiff nach dem Untergang angefüllt hatte, konnte also nur kurze Zeit in dem Deckaufbau verblieben sein. Es war eben nach der durch das Erdbeben verursachten Hebung des Seglers aus den oberen Räumen schnell wieder verschwunden.

Die eingehende Besichtigung des Laderaumes hatte der Ingenieur bis zuletzt aufgehoben. Hier fand man außer den Frachtkisten und Petroleumfässern nun auch das Leck, das den Segler zum Sinken gebracht hatte. Drei der starken Eichenplanken hatten sich an einem Ende von den Schiffsrippen gelöst und bildeten ein Loch von zwei Meter Länge und ein Meter Breite. Ob die Masten vor Entstehung dieses Lecks in dem Aufruhr der Elemente umgeknickt waren oder ob die Mannschaft sie selbst gekappt hatte, war eine Frage, die sich später von selbst beantwortete, als die Kolonisten das Deck noch weiter freigeschaufelt hatten. Dann zeigte sich, daß sie mit Axthieben beseitigt worden waren, und dies vielleicht zu dem Zweck, um das sinkende Fahrzeug zu entlasten.

Eine reichliche halbe Stunde hatten die drei Männer sich in dem dunklen Schiffsinnern aufgehalten. Als sie nun wieder auf der aus dem Mannschaftslogis nach oben führenden Treppe erschienen, wurden sie besonders von den beiden Knaben förmlich mit Fragen bestürmt, was sie in dem Wrack vorgefunden hätten.

Die erfreuliche Auskunft, die sie geben konnten, schuf dann bei allen eine frohe Stimmung. Hatte man doch jetzt allerlei Dinge zur Verfügung, die die bisherige, mehr wie einfache Lebensführung völlig umgestalten mußten. – –

Eine Woche später war das Verdeck des Zweimasters von den Sandmassen gänzlich befreit und außerdem rund um das Schiff ein tiefer Graben ausgehoben, der die Außenseite ebenfalls bloßlegte. Inzwischen hatte der Ingenieur schon einen großen Teil der nützlichen Dinge aus dem Innern herausholen lassen und auch festgestellt, was die mit verlöteten Zinkeinsätzen versehenen Kisten im Laderaum enthielten. Man fand sie angefüllt mit Gewehren, Revolvern, Patronen, Teilen von auseinandergenommenen Maschinen für Stahlbearbeitung, Werkzeugen aller Art und mechanischen Instrumenten. Auch das Petroleum in den Fässern war noch tadellos erhalten, so daß die Flüchtlinge jetzt mit Ausnahme von Lebensmitteln – diese waren bis auf einige Fäßchen Rum und Wein vollständig verdorben – durch das Wrack mit allem versehen waren, was sie nur irgend brauchten.

Nach längerer Beratung beschloß man, zunächst aus den Hölzern und Brettern des Schiffes in dem Tale der heißen Quellen ein bequemes Wohnhaus zu errichten, dann aber aus den übrigen Planken einen großen, seetüchtigen Kutter zu bauen, auf dem man später jeder Zeit einen persischen Hafen anlaufen konnte.

Anfang Oktober war das Haus fertig. Man hatte mit dem Holze sehr gespart und daher nur vier Zimmer und eine Küche nebst Vorratskammer in einem langgestreckten Bau vereinigt, zu dessen Wänden teilweise auch Steine benutzt wurden. Die neue Wohnung war recht behaglich, da man zu ihrer Ausstattung die Möbel der Kajüten der Offiziere verwandte.

Während die anderen männlichen Mitglieder der Kolonie sich ausschließlich, Jagd auf Seehunde und Fischfang abgerechnet, mit der Errichtung des Hauses beschäftigt hatten, arbeitete der Ingenieur zwischenein auch an den Plänen für den Kutter. Da nun die Eichenplanken des Seglers für ein Boot von nur 18 Meter Länge, wie Walter es herzustellen beschlossen hatte, viel zu stark und schwer waren, kam er auf den Gedanken, die Zinkeinsätze der Kisten für die Außenhaut des Kutters zu verwenden. Legte man die Rippen des Bootes möglichst dicht aneinander und brachte man auch zahlreiche Längsrippen an, so mußten die darüber genagelten Zinkplatten vollauf genügen, um den kräftigsten Wellen gegenüber die nötige Haltbarkeit zu zeigen. Durch genaue Berechnungen stellte der Ingenieur auch fest, daß die vorhandenen Zinkeinsätze ausreichten, um das Bootsgerippe damit überziehen zu können.

Am 18. Oktober wurde feierlich der Kiel des Kutters gelegt. Beim Mittagessen, das jetzt in dem gemeinsamen Wohnzimmer eingenommen wurde, gab es an diesem Tage zum ersten Male Wein. Jermuk freilich bat sich etwas Kräftigeres aus. Ihn gelüstete nach Rum, der ihm auch bewilligt wurde. Nachmittags war er derart vergnügt, daß er bald in den Sand rollte und bis zum Abend fest schlief. – Obwohl sich nun die kalte Jahreszeit schon recht bemerkbar machte, wurde doch unverdrossen an dem Kutter weitergearbeitet. Stärkere Schneefälle, die zu Beginn des November eintraten, zwangen die Kolonisten dann zum Bau eines langen Schuppens mit Steinwänden und einem aus den Reservesegeln des Wracks hergestellten Dach. In dieser Werkstatt fanden das immer weiter fortschreitende Gerippe des Bootes sowie einige Arbeitstische und Maschinen Unterkunft; ferner wurden dort auch zwei von dem Ingenieur angefertigte große Petroleumöfen aufgestellt, so daß die Männer auch bei strengerer Kälte und ungünstiger Witterung ihrer neuen Beschäftigung als Bootsbauer nachgehen konnten.

Kurz vor dem Weihnachtsfest begann man mit dem Benageln des Gerippes mit Zinkplatten, deren Ränder übereinander gelötet wurden. Das Christfest beging die kleine Kolonie in echt deutscher Weise. Sogar einen aus Reisig künstlich hergestellten Tannenbaum gab es, der mit den in dem Segler vorgefundenen und eigens für diesen Zweck aufgesparten Lichtern besteckt war. Auch kleine, selbstgefertigte Geschenke fehlten nicht.

Der Innenausbau des Kutters nahm wieder zwei Monate in Anspruch. Anfang März 1915, als die Frühlingswärme schon in dem Tal der heißen Quellen die ersten grünen Halme hervorlockte, fand der Stapellauf statt. Da man den Schuppen dicht am Ufer der Bucht erbaut hatte, wurde das schmucke Boot, das drei kleine Kajüten besaß, ohne Schwierigkeiten zu Wasser gebracht. Es war zu Ehren der Gattin des Ingenieurs „Hedwig“ getauft worden und erwies sich bei einer Probefahrt genau so wacker, flink und der steuernden Hand Walters fügsam wie seine menschliche Namensschwester.

Da jetzt seit der Flucht aus Baku fast ein halbes Jahr verflossen war, glaubten die Kolonisten es wagen zu dürfen, nach einem persischen Hafen überzusetzen. Alle Vorbereitungen zum Verlassen der Insel wurden getroffen, und am Abend des 21. März gedachte man endlich die Reise anzutreten, die, falls der Wind günstig blieb, in drei Tagen zurückgelegt werden konnte. Welchen Ort der persischen Küste man anlaufen würde, wollte man den Umständen überlassen. Die Hauptsache blieb ja, daß man irgendwo außerhalb Rußlands landete.

Am Nachmittag dieses 21. März tauchte jedoch im Westen der Insel ein größeres Segelschiff auf, das schnell näher kam und dann auf der Südseite hin und her zu kreuzen begann. Die ängstliche Spannung der Kolonisten steigerte sich noch, als der Schoner zwei Boote aussetzte, die dann offenbar nach einer Durchfahrt durch den Riffgürtel suchten. Alles schien verloren, wenn die Flüchtlinge jetzt noch entdeckt wurden. Führte der Schoner doch die russische Flagge, so daß mit Bestimmtheit anzunehmen war, daß dessen Kapitän von den russischen Behörden seiner Zeit ebenfalls aufgefordert worden war, nach den in einer Segeljacht entflohenen Deutschen zu fahnden. Die Hilfe der Schiffskapitäne sicherte sich die Polizei ja stets bei der Suche nach entsprungenen Sträflingen dadurch, daß sie genaue Beschreibungen der Betreffenden und gleichzeitig Fangprämien veröffentlichte.

Nach kurzer Beratung kamen die Männer überein, nötigenfalls mit Waffengewalt ihre Freiheit zu erkämpfen. Gewehre und Revolver besaßen sie ja mehr als genug, um die Besatzung der beiden Boote, falls diese auf der Insel landen sollten, zu überwältigen und dann in der Dunkelheit, deren Eintritt in kurzem zu erwarten war, mit dem Kutter zu entwischen.

Die Boote entdeckten die Durchfahrt tatsächlich sehr bald und ruderten nun auf die Bucht zu, worauf die sechs männlichen Kolonisten sich in der Nähe des Schuppens verbargen, um die Fremden, sobald sie an Land gegangen sein würden, zu überrumpeln.

Kaum näherten sich dann aber die Boote langsam dem Versteck der Flüchtlinge, als der Ingenieur plötzlich emporsprang, einen lauten Jubelruf ausstieß und eiligst nach dem Ufer der Bucht hinunterlief, indem er seinen Gefährten zurief:

„Kommt – alle Gefahr ist vorüber! Es sind persische Seeleute, und unter ihnen befindet sich mein treuer Freund Kaschar!“

Die Begrüßung zwischen diesem und seinem deutschen Bekannten war äußerst herzlich.

„Wie freue ich mich“, wiederholte Kaschar immer wieder, „daß ich Sie und die Ihrigen bei guter Gesundheit nun wirklich gefunden habe. Ich fürchtete schon, daß es Ihnen hier auf der Insel recht schlecht ergangen sei.“

Auf des Ingenieurs erstaunte Frage, ob der Perser denn gewußt habe, daß er sie hier antreffen würde, berichtete dieser folgendes. Vor acht Tagen habe er einen Brief ohne Unterschrift erhalten, in dem man ihm mitteilte, daß mehrere Deutsche sich wahrscheinlich noch jetzt auf der Insel Bischur-ada befänden, von wo der Briefschreiber selbst geflüchtet sei, indem er die Jacht des Ingenieurs Walter entführte. Unter den Sachen in der einen Kajüte hätte der Absender des Schreibens nun Papiere entdeckt, aus denen hervorging, daß jener Ingenieur ein Freund Kaschars wäre. Dieser möchte daher die Deutschen gelegentlich von der Insel abholen und in Sicherheit bringen. Besondere Umstände hätten den Briefeschreiber gezwungen, bis jetzt sich nicht zu melden. Die Jacht wäre leider von einem russischen Kriegsfahrzeug in der Nähe der persischen Küste in Grund geschossen worden.

Diese Aufklärung genügte vollkommen. Und die Kolonisten waren den Sträflingen jetzt sogar noch dankbar, daß diese ihnen den braven Perser zu Hilfe geschickt hatten. – –

Kaschar brachte die Deutschen nun sofort an Bord seines Schoners, wo für sie für alle Fälle ein Versteck vorbereitet wurde, falls man von einem russischen Schiffe angehalten werden sollte. Den Kutter im Schlepptau, gelangte der persische Segler jedoch ohne weitere Zwischenfälle nach Rescht. Von hier begaben sich die glücklich Geretteten, von Kaschar reichlich mit Geldmitteln versehen, auf dem Landwege über die Türkei nach ihrem Vaterlande zurück, das sie gerade erreichten, als die große Offensive im Osten die russischen Armeen weit zurückgeschlagen hatte. Auch der Tatare hatte diese Reise nach Deutschland mitgemacht und leistete nachher als sprachkundiger Dolmetscher in einem russischen Gefangenenlager freiwillig gute Dienste.

 

Der nächste Band enthält:

Das Geheimnis des Pater Eusebius.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.