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Die Möweninsel

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Möweninsel.

 

W. Belka.

 

Die See zog in schwerer, träger Dünung dahin, als sei auch sie erschlafft von dieser sengenden Hitze, die das unbarmherzige Tagesgestirn vom wolkenlosen Himmel herabsandte.

Auf und ab wogte sie in lautloser Gleichmäßigkeit. Keine einzige dieser langen Wellen vermochte sich dazu aufzuraffen, eine Schaumkrone zu bilden. Durchsichtig grün wie ein edler Smaragd schimmerte die Flut, hob sich, senkte sich – ohne jedes Geräusch.

Und totenstill wäre es in dieser endlosen Wasserwüste des Indischen Ozeans gewesen, wenn nicht ein paar Möwen und Albatrosse mit heiserem Schrei das einsame Boot umstrichen hätten, in dem einige unglückliche, durstgepeinigte Menschen ihrer letzten Stunde entgegenschmachteten.

Es war ein sauber gehaltenes, großes Boot mit reichen Messingbeschlägen und einem Notmast, an dem jetzt jedoch das Segel, von keiner Hand bedient, zwecklos in dem kaum zu spürenden Lufthauch hin und her schlappte. Und ebenso zwecklos drehte sich das Steuer mit seiner langen, gebogenen Pinne bald hierhin, bald dorthin.

Führerlos schaukelte das Fahrzeug auf den Wogen. Über seinem Achterdeck bauschte sich eine Art Zelt auf, das die Schiffbrüchigen aus den Vordersegeln und zwei Rudern hergestellt hatten, um Schutz vor den Sonnenstrahlen zu finden.

Zwei helle Frauenkleider sah man unter der Leinwand schimmern, daneben die dunkleren Anzüge von drei Männern. Eine vierte Gestalt lag vorn im Boot auf dem Boden, bedeckt mit einem braunen Damengummimantel. Nur die in derben Seemannsschuhen steckenden Füße ragten unter diesem hervor.

Der Mann war vor vielleicht zwei Stunden gestorben, – der letzte von fünf Matrosen, die sich nach dem plötzlichen Zusammenstoß des Schnelldampfers „Amsterdam“ mit einem unbekannten anderen Dampfer mit einigen Passagieren in das Boot gerettet hatten.

Die „Amsterdam“ war von Batavia gekommen, hatte zwei Tage in Kolombo auf Ceylon gelegen und dann ihre Reise nach Bombay an der Westküste von Vorderindien fortgesetzt.

Nördlich der Inselgruppe der Malediven war in einer nebligen Nacht urplötzlich aus den grauen Schleiern eine dunkle Wand aufgetaucht, ein noch größerer Dampfer als die „Amsterdam“, und hatte diese gerade mittschiffs gerammt. Ehe jemand recht wußte, was eigentlich geschehen, begann das holländische Schiff bereits mit starker Steuerbordschlagseite zu sinken. Das andere Fahrzeug, das offenbar trotz des Nebels rücksichtslos unter Volldampf seinen Kurs gehalten hatte, war wie ein feiger Mörder schleunigst wieder verschwunden.

Furchtbare Szenen spielten sich auf dem schräg liegenden Deck des Holländers ab. Die an Bord befindlichen indischen Plantagenarbeiter hatten die Rettungsboote zu stürmen versucht. Die Schiffsoffiziere feuerten mit ihren Revolvern in den brüllenden Haufen brauner Leiber hinein … Eine wahre Hölle tobte auf dem dem Untergang geweihten Schiff. So kam es, daß nicht ein einziges Boot richtig ausgeschwungen und besetzt werden konnte. Im letzten Augenblick, als die Wellen schon über die Steuerbordreling schwappten und gierig höher und höher leckten, als die im Schiffsraum zusammengepreßte Luft bereits aus den Deckeingängen brausend wie aus riesigen Ventilatoren hervordrang, war es fünf Matrosen geglückt, mit dem größten der Rettungsboote von dem sinkenden Fahrzeug freizukommen. Nachher, als von der „Amsterdam“ nur noch die Mitte der Backbordwand sichtbar war, auf die wie auf den Rücken eines Meerungeheuers ein halbes Hundert Menschen hinaufgeklettert waren, als dann auch dieser letzte Teil des Dampfers unter den wahnsinnigen Angstschreien all der Unglücklichen versank, gelang es den fünf Leuten noch, zwei Frauen und drei Männer aufzufischen. Alles andere hatte der Strudel des in sein Wellengrab hinabgleitenden Schiffes mit in die Tiefe gezogen.

Noch in derselben Nacht war dann ein Sturm aufgekommen, der das Boot zwölf Stunden lang zum Spielball seiner grimmen Laune machte. Ihm folgten fünf völlig windstille Tage mit einer Hitze, wie man sie nur noch in dem gefürchteten Roten Meer erleben kann.

Wo man sich befand, wußte niemand. Ringsum nur der glatte Horizont, der mit der weiten Wasserwüste in der Ferne in eins verschwand. Keine Wolke, kein dunkler Küstenstreifen, kein Segel, keine Rauchfahne eines Dampfers … Nichts – nichts als Wasser, herrlich grünschimmerndes Wasser, ein klarer Himmel und die wenigen Möwen und Albatrosse, die vielleicht in den Insassen des Bootes leichte Beute witterten … –

Wieder verstrich eine Stunde.

Jetzt regte es sich unter dem Zelttuch.

Auf allen Vieren kroch ein kaum erst dem Kindesalter entwachsener junger Mensch heraus, der den dunkelblauen Leinenanzug mit goldenen Knöpfen und die Mütze eines Kajütwärters der holländischen Sunda-Westia-Dampferlinie trug, deren Eigentum auch die genannte „Amsterdam“ gewesen war.

Mühsam richtete er sich an einer der Ruderbänke auf und ließ den halbirren Blick in die Runde schweifen. Seine Augen lagen ihm tief in den Höhlen, seine Lippen waren rissig und blutig, und von dem Gesicht schälte die Haut in feinen Fetzen ab, so sehr war sie durch die Sonnenhitze verbrannt.

Dann schnellte sein Kopf plötzlich höher. Ein gurgelnder Laut kam aus seiner Kehle.

„Herr Professor … Land … Land …!“

Unendliche Mühe hatte es ihm gekostet, diese Worte zusammenzubringen.

Wieder bewegte sich eine der kraftlos und in stumpfer Gleichgültigkeit dahockenden Gestalten.

Es war ein Mann mit blondem Spitzbart in den besten Jahren, der sich an den beiden hellgekleideten Frauen vorüberschob, ebenfalls auf allen Vieren, und dann einen ungläubigen Blick auf seinen jüngeren Leidensgefährten warf. Sprechen konnte er nicht mehr. Die Zunge war ihm dick im Munde geschwollen, und wie er nun auf die Füße zu kommen versuchte, sank er kraftlos nach vorne über. Trotzdem hatte er noch das lebhafte Kopfnicken des Kajütwärters wahrgenommen, mit dem dieser seine erfreuliche Nachricht nochmals bekräftigen wollte.

Alles kam jetzt darauf an, daß man das Boot auf das ferne Eiland, welches dort im Osten wie ein dunkler Fleck die Horizontlinie unterbrach, zusteuerte. – Dieser Gedanke setzte sich in dem ausgedörrten Hirn des jungen Menschen immer mehr fest. Die Hoffnung auf Rettung war’s, die ihm die Willenskraft gab, sich noch zu einigen letzten Anstrengungen aufzuraffen.

In Reichweite seiner Hand lag eine Schöpfkelle, wie sie zum Entfernen eingedrungenen Seewassers allgemein auf Booten benutzt wird. Es gelang ihm, mit Hilfe dieser Kelle erst sich selbst einige kühlende Duschen zu verabfolgen und dann auch dem Professor dieselbe Wohltat zu erweisen.

Für den Augenblick weckte das Seewasser die erschöpften Lebensgeister der beiden.

Der Kajütwärter[1] kroch nach dem Steuer hin, wobei er wieder unter dem Sonnendach hinweg mußte. Mitleidig schaute er den beiden Frauen in die schlaffen Leidensgesichter. Weniger freundlich streifte sein Auge jedoch den dritten männlichen Überlebenden des Bootes, einen Herrn in einem hellgrauen Flanellanzug, dessen Barttracht und Gesichtsschnitt den Vollblutengländer verrieten.

Nicht gerade sanft rüttelte er den mit geschlossenen Lidern vornübergebeugt Dasitzenden und flüsterte ihm zu:

„Hallo, Master Gownerkrat, – werden Sie munter! – Land in Sicht …!!“

Aber der Engländer öffnete nur für einen Moment die Augen.

Der Kajütwärter murmelte etwas vor sich hin, das nicht gerade nach einer Schmeichelei klang. Dann tastete er sich weiter. Endlich hielt er die Ruderpinne (Hebelarm des Steuers) in den Händen. Inzwischen hatte der deutsche Gelehrte, der soeben von einer einjährigen Forschungsreise durch das Innere Neuguineas zurückkehrte und dessen Heimreise nach Bremen eine so unerwünschte Unterbrechung erfahren hatte, das Großsegel in Ordnung gebracht, so daß das Boot langsam dem leichten Winddruck gehorchte und in Bewegung kam.

Als dies geschah, hatte die Sonne gerade den Scheitelpunkt ihrer Bahn erreicht.

Es schien, als wollte sich nunmehr auch der Himmel den Schiffbrüchigen gnädig erweisen. Im Westen tauchten ein paar Wölkchen auf, und gleich darauf kräuselte sich die See unter den ersten stärkeren Stößen des aufkommenden Windes.

Bald schoß das gut gebaute Boot leicht nach Backbord übergeneigt mit prallgefülltem Segel schäumend durch die immer lebhafter werdenden Wogen. So verging eine halbe Stunde. Näher und näher rückten die Umrisse des Eilandes da vorn, wurden schärfer und klarer.

Professor Rößler war längst auf des Kajütwärters Geheiß wieder unter das schützende Segeldach gekrochen. Allein saß der junge Mensch mit dem noch so unfertigen Knabengesicht, dessen blaue Augen und hellblonde Haare sowie die reine Aussprache des Deutschen den Landsmann des Gelehrten verrieten, auf der Bank am Steuer. Die wachsende Hoffnung verlieh ihm ungeahnte Kräfte, und immer klarer wurde es in seinem wüsten Kopf, immer zielbewußter überlegte er sich, was er zu tun habe, um diese vier Menschen glücklich auf jene winzige Felseninsel zu bringen, die da immer deutlicher aus dem Meere herauswuchs.

Der Wind frischte mehr und mehr auf. Die ersten Schaumkronen zeigten sich auf den Wellenkämmen. Lebhafter strichen die Seevögel hin- und herschwebend durch die Luft, und gurgelnd schäumte das Kielwasser unter dem Heck des Bootes hervor.

Dann wurde Hans Palwner die drohende Riffreihe gewahr, die, dem Eiland vorgelagert, eine tobende, gefährliche Brandung erzeugte. In weitem Bogen ließ er daher das Boot nach Süden zu das Inselchen umkreisen und suchte auf der windgeschützten Ostseite nach einer Einfahrt in den Klippengürtel. Doch hier, wo die sich zu zackigen Hügeln auftürmenden, kahlen Felsen jeden Luftzug abhielten, verlor das schlanke Fahrzeug nur zu schnell jede Vorwärtsbewegung. Und es gelang dem einsamen Steuermann gerade nur noch, es auf die äußerste Spitze einer zusammenhängenden Riffreihe auflaufen zu lassen, wo es schrammend und stoßend den Bug zwischen zwei Korallenbänken festkeilte.

Hans Palwner erhob sich, rief dem Professor ein paar Worte zu und entfernte die beiden dreieckigen Vordersegel, die das Sonnendach gebildet hatten.

Zunächst wurde nun die ältere der beiden Frauen, eine schon grauhaarige, magere Dame mit spitzen Zügen, mit unendlicher Mühe über die Riffe, die jetzt zur Ebbezeit an dieser Stelle eine niedrige Halbinsel bildeten, die mit dem Eiland durch ein paar hochragende Klippen verbunden war, an den schmalen, steinigen Strand des Inselchens geschafft.

Madame Letourneur schlug kaum die Augen auf. Sie war bereits ganz aschgrau im Gesicht. Aber sie bildete für die beiden Deutschen, die sich um die Bergung ihrer Gefährten so aufopfernd bemühten, zum Glück nur eine leichte Last.

Schwieriger wäre es schon gewesen, die junge holländische Erzieherin, ein kräftiges, junges Mädchen mit angenehmen Zügen, an das Ufer zu schaffen. Antje van Muitenzork hatte jedoch kaum erkannt, daß festes Land in der Nähe sei, als sie sich auch schon aufraffte und versuchte, nur gestützt von ihren beiden Leidensgenossen das Gestade zu erreichen, was auch schließlich gelang.

Nun war noch Master Gownerkrat übrig. Den zu tragen, hatten die Deutschen jedoch nicht die geringste Lust. Dieser junge Engländer, der Sohn eines reichen Kaufmannes aus Kolombo, hatte sich während der fünf Unglückstage in dem Boot so anmaßend und selbstsüchtig benommen, daß er hierin eigentlich nur noch von der Gattin des französischen Vizekonsuls aus Batavia, Madame Letourneur, übertroffen worden war.

Der Professor rief ihn daher jetzt sehr energisch in deutscher Sprache an. Absichtlich vermied er das Englische. James Gownerkrat beherrschte beides gleich gut, obwohl er stets so tat, als ob er sich mit deutschen Worten die Mundhöhle verunreinige. Ähnlich hatte er sich einmal in seiner Frechheit der Französin gegenüber ausgedrückt, worauf der Gelehrte ihn derart angefahren hatte, daß Master James für ein paar Stunden ganz klein und bescheiden geblieben war.

„Vorwärts – stehen Sie auf! Wenn unsere wackere Holländerin noch halbwegs ohne fremde Hilfe über die Riffe hinweggestiegen ist, so werden Sie mit Ihrem widerstandsfähigeren Körper das wohl auch können …!“

Der Engländer rührte sich nicht, stöhnte nur sehr vernehmlich und schnappte mit einem Mal so auffallend übertrieben nach Luft, daß Professor Rößler empört sagte:

„Der Bursche verstellt sich! Lassen wir ihn liegen. Dann wird er sich schon auf sich selbst besinnen …!“

Palwner war ganz einverstanden damit. Dann fragte er jedoch, indem er auf die Leiche des Matrosen wies:

„Und der Tote?“

„Wir hätten ihn auf dieselbe einfache Weise im Meer bestatten sollen, wie die anderen vier armen Kerle, die ebenso unvernünftig dem im Proviantkasten des Bootes vorhandenen Rum zugesprochen und dadurch ihr Ende unbewußt beschleunigt haben. – Jetzt freilich ist es Christenpflicht, ihm ein Grab drüben auf der Insel zukommen zu lassen. – Doch vorläufig mag er hier im Boote bleiben, bis wir für die Frauen gesorgt haben. Hoffentlich gibt es hier Wasser, trinkbares Wasser. – Vorwärts, Palwner, sehen wir zu, ob wir eine Quelle oder dergleichen finden.“

Auf dem Rückwege über die Riffe erlitt der Professor jedoch einen neuen Schwächeanfall, so daß der Kajütwärter ihn nur gerade noch bis an den Strand schleppen und dort im Schatten eines hohen Felsens neben die beiden Frauen niederlegen konnte.

Die Holländerin, die aufrecht an den Felsblock gelehnt dasaß, versprach, auf Rößler und die Französin solange achtzugeben, bis Palwner wiederkommen würde. Der stieg nun zunächst, bevor er nach dem belebenden Naß suchte, in den Kleidern ins Wasser, um sich aufs neue etwas zu erfrischen. Fühlte er doch gleichfalls, daß er dicht am Umsinken war.

Das Bad verfehlte denn auch seine Wirkung nicht. Ganz munter schritt Palwner nun die Steilküste entlang, die, zumeist schroff bis zu zwölf und mehr Meter emporragend, wohl nur jetzt bei Niedrigwasser (Ebbe) durch einen schmalen, trockenen Uferstreifen von der See getrennt war.

Absichtlich schlug er die Richtung nach Norden ein. Hatte er doch beim Umsegeln des Inselchens von Süden her sehr wohl bemerkt, daß das haushohe Felsgestade auf dieser Strecke nirgends für einen so entkräfteten Menschen wie er es war die Möglichkeit des Ersteigens bot.

Tatsächlich entdeckte er denn auch bald einen tiefen Einschnitt, der, langsam ansteigend, auf die Höhe der Uferwand hinaufführte.

Ganze Schwärme von Seevögeln begleiteten ihn mit ihrem ohrenbetäubenden Geschrei. Wahrscheinlich hatte noch nie ein Mensch ihre Brutplätze hier gestört. Und ihrem Unwillen über den fremden Eindringling gaben sie jetzt auf ihre Weise lärmenden Ausdruck.

Endlich hatte er die Höhe erreicht. Hier oben zwischen den Felsbrocken, die in allen Größen umherlagen und sich stellenweise zu phantastisch geformten Hügeln auftürmten, war der grauschwarze Boden geradezu gesprenkelt von unzähligen Eiern, die in kunstlosen Nestern von trockenen Seegewächsen lagen. Zumeist waren es die grünbraunen Eier der großen Seemöwe, aber auch die helleren von Albatrossen waren zahlreich genug vertreten, so daß Hans Palwner sich geradezu vorsichtig vorwärtsbewegen mußte, um nicht eins der Vogeleier mit den Füßen zu berühren.

Von hier aus hatte er dann auch sofort einen vortrefflichen Überblick über das Inselchen. Dieses bestand eigentlich aus zwei Teilen, einem südlichen, der die Form einer stark gekrümmten Sichel hatte, und einem nördlichen, der sich zwischen die Hörner der Sichel wie ein dreieckiger Keil hineinerstreckte, dessen Spitze nach Süden zeigte. Beide Teile waren nur durch eine schmale Felsbrücke verbunden, die von der östlichen Spitze der Sichelinsel nach der östlichen Ecke des Eilandes führte.

Während jedoch erstere jäh abfallende Küstenränder besaß und sich erst nach der Innenseite zu in unregelmäßigen Terrassen abwärts senkte, um dann einen flachen, sandigen Innenstrand zu bilden, war die Keilinsel eigentlich nur ein riesiger Haufen wild übereinander geworfener Felsblöcke. Insofern glichen sie sich jedoch vollkommen, als weder die eine noch die andere auch nur die geringste Spur von Vegetation aufwies. Das Gestein war zumeist Basalt, in den hier und da wie dunklere Striche Schieferflöze eingelagert waren. Die größte Gesamtbreite hatte die Sichelinsel von Westen nach Osten mit vielleicht achthundert Meter, während ihre breiteste Stelle in der Verlängerung der Südspitze der Keilinsel mit etwa zweihundertfünfzig Meter lag. Der Verschluß ihres nach Norden zu an einer Stelle mit dem Meere in Verbindung stehenden Innenbeckens, das keilförmige Eiland, besaß als ziemlich genau gleichseitiges Dreieck eine größte Seitenlänge von vielleicht fünfhundert Meter.

Jedenfalls war es ein recht eigenartiges Gebilde von Insel, als Ganzes genommen, das Hans Palwner vor sich sah, eigenartig und unwirtlich mit seinen starren, kahlen Felsmassen, auf deren höchsten Erhebungen überall in dichten weißen Schichten der Vogeldünger lagerte. Nirgends leuchtete das zarte Grün auch nur eines noch so bescheidenen Pflänzchens auf. Grauschwarz und finster trotz der strahlenden Tageshelle lag die Insel da, umgeben von einem dichten Gürtel von Korallenriffen, die überall den Zugang verwehrten und an denen jetzt im Westen eine starke Brandung donnerte und brüllte.

Umsonst ließ der junge Kajütwärter, dessen Eltern vor drei Jahren nach den holländischen Sunda-Inseln ausgewandert waren und sich in Batavia auf Sumatra niedergelassen hatten, seine Blicke suchend nach irgend einem Rinnsal umherschweifen. Zunächst entdeckte er nichts. Aber so schnell gab er die Hoffnung nicht auf. Gerade in der Mitte der Sichelinsel erhob sich ja, deren Terrassen unterbrechend, ein mächtiger, zerklüfteter Felshügel, der mit seinem Nordabhang bis dicht an den Strand des Innenbeckens reichte.

Dorthin lenkte er jetzt seine Schritte. Auf der Westseite dieses Berges fand er denn auch in einer in das Felsmassiv tief einschneidenden, breiten Spalte zu seiner großen Freude und Erleichterung sogar zwei Quellen, die ziemlich dicht beieinander lagen und ihre vereinigten Wassermengen nachher als schäumendes Bächlein dem Innenbecken zuführten. Die vordere dieser Quellen hatte nun zu Hans Palwners Überraschung kochend heißes Wasser, das unangenehm roch und kaum genießbar schien. Dafür war das Wasser der mehr im Hintergrunde der Spalte hervortretenden angenehm kühl, klar und rein.

Die Schwierigkeit war jetzt, von dem erfrischenden Naß etwas unten nach dem Außenstrande zu schaffen. Da er nichts als seine Mütze als Behälter besaß, füllte er diese kurz entschlossen und eilte dann so schnell als möglich auf demselben Wege zurück, nachdem er sich selbst die ausgedörrte Kehle genügend erfrischt hatte.

Freilich – nur die Hälfte des ursprünglichen Inhalts brachte er bis an sein Ziel. Aber für die verschmachteten Leidensgefährten genügte auch das wenige, um sie neu zu beleben.

Zu seinem Erstaunen hatte sich unter dem schützenden Felsen während seiner Abwesenheit auch Master Gownerkrat eingefunden, der schließlich wohl eingesehen haben mochte, daß er von den beiden Deutschen keine weitere Hilfe zu erwarten hatte.

Er war denn auch übelster Laune, verlangte jetzt sofort als erster getränkt zu werden, da er dicht vor dem Hinscheiden stehe, und benahm sich mithin trotz der traurigen Erfahrungen der qualvollen Bootsfahrt genau so anmaßend wie bisher.

Natürlich hörte niemand auf ihn. Madame Letourneur hatte offenbar die Erquickung am nötigsten, und sie erhielt daher den Hauptteil des Wassers eingeflößt. Der Rest wurde zwischen Antje van Muitenzork und dem Professor geteilt. Schon jetzt wäre es beinahe zwischen den Deutschen und Herrn James zu einem völligen Abbruch der Beziehungen gekommen. Gownerkrat schäumte förmlich vor Wut, weil er leer ausgegangen war. Erst als Palwner dann von der zweiten, schnell herbeigeholten Wassermenge ihm nun den Hauptanteil zukommen ließ, beruhigte er sich wieder.

Eine Stunde später hatten die Schiffbrüchigen sich sämtlich so weit erholt, daß alle nun den Außenstrand verließen und nach der Felsspalte mit den beiden Quellen sich begaben, wobei die Französin freilich wieder halb getragen werden mußte.

Mittlerweile war es sechs Uhr nachmittags geworden. Jetzt, wo der Durst gestillt war, meldete sich auch der Hunger bei den fünf Leidensgenossen. Seit zwei Tagen hatten sie nichts mehr gegessen. Der rührige Kajütwärter war es denn auch wieder, der den im kühlen Hintergrunde der[2] Felsspalte sitzenden Gefährten in seiner Mütze eine[3] Menge von Möweneiern herbeibrachte, unter denen man durch die Wasserprobe im Bächlein die noch nicht angebrüteten heraussuchte. Ein Teil davon wurde roh verspeist, ein Teil mit der Mütze in das kochende Wasser der vorderen Quelle gehalten, das denn auch seine Aufgabe aufs beste erfüllte.

Dann forderte Professor Rößler Herrn James auf, mit nach dem Boot zu kommen, um dieses zu bergen. Es sollte womöglich in das Innenbecken auf dem Wasserwege gebracht werden.

Aber Gownerkrat spielte jetzt wieder den noch total Erschöpften. Offenbar wollte er sich von den beiden Deutschen hier bedienen lassen und selbst keinen Finger rühren.

Da wurde der Gelehrte grob und sagte dem edlen Briten so eindeutig seine Meinung, daß dieser vor Wut förmlich zitterte und halb sinnlos allerlei Beleidigungen und sogar Drohungen ausstieß.

„Vergessen Sie nicht, daß Sie sich hier fraglos auf englischem Boden befinden!“ kreischte er förmlich. „Dieses Eiland gehört sicherlich zu der Gruppe der Malediven. Dort gibt es außer Koralleninseln auch vereinzelte vulkanische Eilande, wie mir recht gut bekannt ist. Ich werde Sie für Ihre Frechheit zur Verantwortung ziehen, davon können Sie überzeugt sein!“

Der Professor zuckte nur mitleidig lächelnd die Achseln und entfernte sich mit Palwner. Zu ihrem nicht geringen Schreck bemerkten sie dann aber von der Höhe der Steilküste aus, daß das Boot nicht mehr zwischen den Korallenbänken festsaß, sondern schon ein Stück in die See hinausgetrieben war. Inzwischen hatte sich nämlich die Flut eingestellt, hatte die Riffe bereits fast völlig überspült und so auch das Rettungsboot der gesunkenen „Amsterdam“ entführt.

Hans Palwner erkannte sofort, welch’ ungeheure Bedeutung dieser Verlust für die Schiffbrüchigen haben mußte. Mit wilden Sätzen stürmte er dem Professor weit voraus nach der Küste hin, sprang über die die Riffreihen jetzt trennenden Wassertümpel bis zur äußersten Spitze der Klippenhalbinsel und warf sich in die See.

Die nach dem Lande hindrängende, im Steigen begriffene Flut hätte das Boot eigentlich näher an die Steilküste drücken müssen. Da dies nicht der Fall war, mußte hier mithin eine starke Strömung vorhanden sein, die das Boot trotz der Flut in das weite Meer hinaus entfernte.

Der mit den Tücken des Ozeans recht gut vertraute Kajütwärter merkte denn auch sehr bald, wie ihn dieselbe Strömung erfaßte und mit sich nahm, so daß er sich nur mit schwachen Schwimmstößen zu begnügen brauchte. Die Gewißheit, daß er das Boot sicher erreichen und wieder nach der Insel würde zurückbringen können, stimmte ihn so froh, daß er dem Professor, sich hoch aus dem Wasser reckend, ein lautes, fast übermütiges „Ahoi!“ zurief.

Rößler winkte denn auch seinerseits mit seinem breitrandigen Panama hinüber.

Da, – ein seltsames, grauschwarzes Etwas war’s, das wie ein großer Dorn mit stumpfer Spitze aus den Fluten herausragte und auf Palwner zuschoß, ließ jetzt dem frohgemuten Schwimmer förmlich das Blut in den Adern gefrieren.

Ein Glück, daß er dem auf der Insel ihn beobachtenden Gefährten den Seemannsruf hinübergeschickt hatte …! Nur so hatte er die Rückenflosse des Haies erblickt, der mordgierig sich der menschlichen Beute von der Seite zu nähern suchte.

Die Lage war für Hans Palwner mehr als bedrohlich. Er wußte, daß kleinere Haie sich durch Lärmen vertreiben lassen. Aber der Bursche da mußte nach den Abmessungen der Rückenflosse zu urteilen, zu den größten seiner Art gehören. Trotzdem hätte ein Malaie von der Küste Sumatras dieser Begegnung mit Ruhe entgegengesehen. Diese braunen Gesellen verstanden es eben, kaltblütig sich in die Tiefe sinken zu lassen und dem über ihnen erscheinenden Meeresräuber mit ihrem haarscharfen Kris (gebogenes Messer) den Leib aufzuschlitzen.

Hans Palwner freilich besaß die Gewandtheit und Sicherheit im Tauchen nicht, wenn er auch ein guter Schwimmer war.

Blitzschnell durchzuckten jetzt allerlei Gedanken sein Hirn. In solchen Augenblicken, wo es sich in Sekunden um Tod und Leben handelt, zieht ja oft unser ganzes Dasein blitzschnell vor unserem geistigen Auge in allerlei Bildern vorüber.

Palwner war in seinen leichten Kleidern ins Wasser gesprungen. Halb unbewußt glitt seine Hand jetzt nach der Tasche seines Beinkleides, in der er das starke Klappmesser trug. Und ebenso unbewußt hielt er es gleich darauf mit geöffneter Klinge in den Fingern.

Jetzt war der Hai, dessen spindelförmiger Körper sich bereits in dem klaren Wasser wie ein dunkler Strich abzeichnete, bis auf drei Meter heran.

Was dann geschah, spielte sich so schnell ab, daß der junge Mensch in seiner Todesnot offenbar rein mechanisch handelte, ohne jedes Überlegen, ohne die furchtbare Gefahr zu berücksichtigen.

Er sank – sank tiefer und tiefer mit rückwärtsgebeugtem Kopf und offenen Augen. Undeutlich sah er durch die grünlich schimmernde Flut jetzt den Hai über sich erscheinen, stieß mit den Füßen aus, schoß empor mit erhobener Rechten, fühlte einen Widerstand an der Spitze des Messers, stieß zu und schnellte sich gleichzeitig nach links herüber. Er merkte, daß seine Waffe an der hellen Bauchseite der Meeresbestie entlangglitt … Nun wurde ihm die Luft knapp, nun war er wieder an der Oberfläche. Neben ihm kam es wie rote Nebel aus der Tiefe hervor. Es war das Blut des schwerverletzten Haies. Der ließ sich nicht mehr blicken, hatte den Kampf aufgeben müssen.

Wieder begann Hans Palwner nun dem Boote nachzuschwimmen. Aber er erreichte es erst, als sich bereits die Schatten der Nacht über das Meer herabsenkten.

Im Vorderteil lag noch die regungslose Gestalt des toten Matrosen unter dem braunen Gummimantel. Palwner war dieser stille Gefährte nicht gerade angenehm. Aber den Gedanken, die Leiche in die See gleiten zu lassen, gab er doch wieder auf.

So gut es ging, hißte er das Segel bei festgebundener Ruderpinne, was immerhin nicht ungefährlich war, da das Boot längst außerhalb des Schutzes der Uferfelsen sich befand und der Wind hier bereits ganz gehörig blies. Einmal war das schlanke Fahrzeug dicht am Kentern. Aber noch im letzten Augenblick sprang der junge Deutsche zu und drückte das Steuer herum, so daß das Boot sich wiederaufrichtete.

Die Dunkelheit nahm mit jener überraschenden Geschwindigkeit zu, wie man dies nur in den Tropen beobachten kann. Bald war das kleine Eiland in den Schleiern der Nacht ganz untergetaucht. Aber Hans Palwner wußte, daß er es kaum verfehlen konnte, wenn er nur ungefähr den einmal eingeschlagenen Kurs beibehielt.

Nach zehn Minuten tauchte denn auch wirklich vor ihm eine dunkle Masse auf. Und am unteren Rande der Umrisse des Inselchens bemerkte er jetzt etwas, das ihn sehr in Erstaunen setzte: ein rotes Pünktchen, das bald als ein in der Nähe der Küste brennendes, offenes Feuer zu erkennen war.

Palwner, überzeugt, nur der Professor könne das Feuer angezündet haben, um ihm den Weg nach der Insel zu weisen, hielt gerade darauf zu, obwohl eine schwache Brandung an dieser Stelle ihm verriet, daß er mehr nach der Nordseite des seltsam geformten Eilandes hingeraten sein müsse, also die Keilinsel wahrscheinlich vor sich habe. Das machte ihn nun wieder stutzig. Er sagte sich, daß der Professor, wenn er ein Feuer angefacht hatte, dies doch sicherlich an der Ostseite, wo sie zuerst gelandet waren, getan haben würde. – Doch hierüber lange nachzugrübeln blieb ihm keine Zeit.

Der weiße Gischt der brandenden Wogen zeigte ihm, welchen Stellen er auszuweichen habe. Und die Bedienung des Steuers erforderte nun seine ganze Aufmerksamkeit. Vom Glück begünstigt, brachte er das Boot bei halbgerefftem Großsegel ohne Unfall durch den Riffgürtel hindurch, unterstützt durch die Flut, die jetzt ungefähr ihre Höchstwassergrenze erreicht hatte. Allerdings war er gezwungen, etwa hundert Meter östlich von dem Feuer das Boot auf den Strand auflaufen zu lassen. Vorhin schon hatte er einige Gestalten bemerkt, die sich um das Feuer herumbewegten. Dieses brannte ohne Zweifel im Hintergrunde einer Felsschlucht in der Nähe der Küste, denn jetzt, wo der Kiel den Boden schrammte und das scharfgebaute Fahrzeug festsaß, war von den rötlichen Flammen nichts mehr zu sehen.

Palwner befestigte aus Vorsicht das Boot noch mit einer Leine an einer Felszacke und schritt dann in Richtung auf das Feuer am Ufer entlang. Jetzt sah er, daß er sich tatsächlich auf der Keilinsel befand. Das Gestade des Sicheleilandes war weit schroffer und höher.

Nun bemerkte er jedoch, halb verdeckt von ein paar hohen Klippen, ein großes, gedecktes Fahrzeug mit umgelegtem Mast, eine indische Schipana, wie sie die Bewohner der Malediven und Lakkadiven ebenso wie die Ceylonfischer benutzen.

Ein frohes Gefühl freudiger Erwartung beflügelte bei diesem Anblick seine Schritte. Die Leute, denen das Boot gehörte, würden ja ohne Frage gegen Bezahlung gern bereit sein, die Schiffbrüchigen mitzunehmen.

Jetzt wollte er gerade um eine vorspringende Felswand biegen, hinter der er einen schwachen Lichtschein aufleuchten sah, als das gellende Angstgeschrei einer Frauenstimme an sein Ohr drang.

Die Stimme kannte er. Das war Madame Letourneur, die Gattin des französischen Vizekonsuls aus Batavia.

Unwillkürlich blieb Hans Palwner stehen und lauschte. Dann vernahm er Herrn James Gownerkrats kräftiges Organ:

„Ich bin Engländer …! Vergeßt das nicht!! Ich werde Euch später …“

Ein Aufschrei, und alles war still.

Der junge Deutsche legte sich lang auf den Boden und schob sich um die Ecke herum. Doch vorläufig sah er nichts als eine tiefe Schlucht, die weiterhin eine Biegung machte. Und hinter dieser Biegung brannte das Feuer.

Dann konnte er um die Ecke lugen. Das Feuer war absichtlich in einem Winkel der Schlucht angezündet worden, wo es von See aus nur zu bemerken war, wenn man sich der Insel aus einer ganz bestimmten Richtung näherte.

Acht hochgewachsene braune Gestalten, die er an der eigenartigen Haartracht sofort als Bewohner der Malediven erkannte, standen im Kreise um Madame Letourneur und den Engländer herum und waren eben dabei, die beiden gründlich auszuplündern. Der Französin protzige Brillantringe, James Gownerkrats Busennadel und Brieftasche wechselten gerade ihre Besitzer. –

Die Bewohner der Malediven, einer Kette von 12 bis 15 000 kleinen Koralleneilanden, sind ein Mischvolk von Singhalesen und Arabern, tüchtige Seefahrer und gelegentlich auch ebenso freche Piraten. Sie selbst nennen sich Maleatolls, nach der Hauptinsel Maleatoll, auf der der Sultan „der 12 000 Inseln“ seine Residenz hat. Berühmt sind die Malediven als Ausfuhrstätten der in ganz Ostindien als Münze geltenden Kaurimuscheln, deren Bedeutung in den letzten Jahren allerdings wesentlich geringer geworden ist. –

Aber nicht nur die Beraubung der beiden Leidensgefährten war es, die Palwners Aufmerksamkeit fesselte. In der Schlucht lagen überall ganze Haufen von Muscheln umher, deren faulende Fleischteile einen widerlichen Gestank verbreiteten.

Es waren Perlmuscheln, und die Maleatolls hatten hier fraglos der Perlenfischerei obgelegen. Weshalb sie sich jedoch so feindselig den beiden Europäern gegenüber verhielten, vermochte Palwner nicht sofort zu ergründen.

Jetzt vernahm er auch wieder James Gownerkrats Stimme, die aber ganz bescheiden klang:

„Dort drüben sind noch zwei Männer und eine Frau“, sagte der verräterische Schurke, indem er mit der Hand nach Süden deutete, wo der Felsenberg auf der Sichelinsel sich erhob. „Vielleicht findet Ihr bei denen auch noch so einiges, was Euch wertvoll erscheint …“

Unter diesen Umständen hielt es der junge Deutsche für angebracht, schleunigst sich davonzumachen, um die Gefährten zu warnen, damit sie noch rechtzeitig ihre kostbarste Habe verbergen konnten, bevor die Perlenfischer sie ausplünderten.

Aber als er nun am Strande nach Osten zu davoneilte, um über die schmale Felsenbrücke auf die Sichelinsel hinüberzugelangen, kam er an dem Rettungsboot der „Amsterdam“ vorüber.

Mit einem Ruck blieb er stehen. – Daß er auch nicht an das Boot gedacht hatte …!! Sollte er dieses etwa in die Hände der Maleatolls fallen lassen, aus deren Benehmen gegenüber den beiden Schicksalsgenossen klar hervorging, daß sie sich nie dazu bereitfinden würden, die Schiffbrüchigen von hier fortzubringen …?! – Ja – das Boot!! – Beides konnte er nicht – die Gefährten warnen und das Fahrzeug wieder ein Stück in die See hinaussteuern …!

Während er noch unschlüssig dastand, hörte er hinter sich das Knirschen des feinen Geröllschuttes unter menschlichen Füßen. Er fuhr herum. Ein heißer Schreck durchzuckte ihn. Zu lange hatte er gezögert.

Vier der Perlenfischer waren es, die offenbar nach der Sichelinsel gewollt hatten, um dort weitere Beute bei den übrigen Schiffbrüchigen zu machen. Im Nu war Hans Palwner umringt und nach der Schlucht geschleppt. Trotzdem gelang es ihm unterwegs, sein Messer und seine Taschenuhr, begünstigt von der Dunkelheit, fallen zu lassen.

Auch ihm erging es dann nicht anders als der Französin und dem anmaßenden Engländer. – James Gownerkrat lächelte schadenfroh, als er den jungen Deutschen erkannte. Der würdigte den feigen Verräter keines Blickes.

Nun – bei Palwner fanden die Maleatolls nicht gerade allzuviel. Sie waren denn auch recht enttäuscht und zogen sich jetzt in den Vordergrund der Schlucht zu einer Art Beratung zurück.

Was sie hierbei beschlossen hatten, zeigte sich sehr bald. Die drei Schiffbrüchigen wurden ziemlich unsanft nach der Sichelinsel geführt wobei es ohne Püffe und Stöße nicht abging.

Hier brachte der edle Brite unaufgefordert die Perlenfischer an den Ort, wo der Professor und die Holländerin sich noch jetzt befanden. Rößler hatte in der Felsspalte ein Feuer angezündet, neben dem er für Antje van Muitenzork einen Sitz aus Steinen errichtet hatte.

Beim Erscheinen der Gefährten, die von den recht wenig vertrauenerweckend aussehenden Maleatolls begleitet waren, sprangen beide erschreckt auf. Auch sie mußten dann alles hergeben, was sie bei sich trugen. Der Professor leistete nicht den geringsten Widerstand, nachdem Hans Palwner ihn mit ein paar Worten über die Sachlage aufgeklärt hatte.

Der Anführer der Perlenfischer, ohne Frage ein reinblütiger Singhalese aus Ceylon, wie Palwner inzwischen erkannt hatte, wandte sich jetzt in fließendem Englisch an den deutschen Gelehrten und erteilte diesem als dem Ältesten der Schiffbrüchigen den strengen Befehl, daß sie sich lediglich auf der Innenseite der Sichelinsel aufzuhalten hätten. Jeder Verstoß hiergegen würde blutig geahndet werden. – Er erläuterte dieses Verbot dann noch ganz eingehend, so daß über seine Wünsche kaum ein Zweifel bestehen konnte. – Was er beabsichtigte, war leicht zu durchschauen: er wollte verhindern, daß die Schiffbrüchigen Gelegenheit fanden, sich mit einem vielleicht vorüberkommenden Schiffe in Verbindung zu setzen. Und diese Möglichkeit war ihnen durch die Einzelheiten dieses Befehls tatsächlich genommen.

Gleich darauf verschwanden die braunen Piraten.

Die fünf Europäer waren wieder unter sich.

Professor Rößler machte jetzt Herrn James Gownerkrat eine ironische Verbeugung.

„Ich freue mich, Sie hier wieder begrüßen zu können“, sagte er. Dann wandte er sich an Palwner. „Ihnen, mein junger Freund, hat dieser klägliche Wicht vorhin, als Sie so opferfreudig dem Boote nachschwammen, unter allerlei schwer beleidigenden Äußerungen den Vorwurf gemacht, Sie seien allein schuld daran, wenn das Boot verloren ginge. – Nun – ich habe dies nicht auf Ihnen sitzen lassen. Es kam zu einer lebhaften Aussprache, in deren Verlauf ich sehr deutlich wurde, woraufhin England, dem Frankreich sich sofort anschloß, die Beziehungen zu uns abbrach und nach der Keilinsel übersiedelte, um nicht mit uns dieselbe Luft atmen zu müssen.“

Ähnlich hatte Palwner sich die Anwesenheit der beiden auf dem nördlichen, dreieckigen Teil der Insel auch schon erklärt. Jetzt berichtete er seinerseits dem Professor, daß Gownerkrat es gewesen sei, der die Holländerin und Rößler an die Perlenfischer verraten habe.

Inzwischen hatten Madame Letourneur und Jung-England unweit des Feuers eifrig miteinander geflüstert und verließen nun wieder die Felsspalte, indem die Französin giftig zu Palwner sagte: „Wenn Sie besser auf das Boot achtgegeben hätten, wäre all das nicht gekommen … Dann hätten wir schnell wieder absegeln können und wären nicht ausgeplündert worden! – Wir haben nichts mehr miteinander gemein – nichts!!“ Und stolz verschwand sie neben ihrem Ritter Gownerkrat in dem Dunkel der tropischen, warmen Nacht.

Rößler lachte vergnügt hinter ihnen her. „Gut, daß wir die beiden los sind“, meinte er. „Ich bin nur neugierig, wie lange sie sich vertragen werden. Zwei so selbstsüchtige Naturen dürften sehr bald Reibungsflächen finden, aus denen Funken des Hasses schnell aufsprühen.“

Dann setzten die drei übriggebliebenen Bewohner der Felsspalte sich um das Feuer, das der Professor mit trockenem Seetang und verlassenen Möwennestern bisher in Brand gehalten hatte, und besprachen kühl und sachlich ihre wenig angenehme Lage.

Die Maleatolls hatten ihnen alles bis auf die Kleidungsstücke geraubt, die sie auf dem Leibe hatten. Nur ein Notizbuch mit Bleistift, das Rößler gehörte, war als wertlos verschmäht worden, ebenso ein kleiner Taschenspiegel Antje van Muitenzorks.

Man beschloß nun, sofort für die junge Holländerin im Hintergrunde der Felsspalte ein besonderes Gemach in der Weise herzustellen, daß man eine Mauer von Felsstücken aufschichtete. Sodann wollte man zusehen, sich Lagerstätten zu bereiten, um erst einmal im Schlaf neue Kräfte zu sammeln.

Während Antje und Rößler die Steinwand errichteten, begab sich Hans Palwner auf die oberen Terrassen, um dort weiteres Brennmaterial sowie Möweneier zu einem Nachtmahl zu sammeln. Inzwischen hatte sich das Bild draußen insofern erheblich verändert, als der Himmel jetzt vollständig sternhell war und auch der beinahe volle Mond seine nächtliche Wanderung angetreten hatte.

Daher herrschte nunmehr ein ungewisses Zwielicht, das jedoch vollkommen genügte, damit Palwner sich zurechtfinden konnte. Reich beladen kehrte er schon nach zehn Minuten zurück. Noch dreimal besuchte er die Terrassen. Dann hatte man genug Feuerungsmaterial und Möweneier beisammen. Hierauf eilte der flinke, diensteifrige Bursche zum Innenstrande hinab, um von dort Seegras und Tangpflanzen zu holen. Diese Arbeit hatte jedoch wenig Erfolg. Nur für das Lager der Holländerin reichte das Gefundene aus.

Möweneier bildeten die Abendmahlzeit. Dann zog Antje sich mit freundlichem Gutenachtgruß hinter die Steinwand zurück. Der Professor und Palwner aber traten noch ins Freie hinaus und betrachteten schweigend, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, das wildromantische Bild der seltsamen Insel, auf die das Schicksal sie verschlagen hatte und über die jetzt das geheimnisvolle Licht des Nachtgestirns seine milden Strahlen ausgoß.

Neben ihnen murmelte leise das von den beiden Quellen gespeiste Bächlein. Über ihnen auf den Höhen der Steilküste kreischten unruhige Möwen und Albatrosse. Und von links her tönte das ununterbrochene Brausen der Brandung herüber.

Dann begann der Professor allerlei Fragen zu erörtern, die die Anwesenheit der Maleatolls auf der Insel betrafen. Den ganzen Umständen nach unterlag es keinem Zweifel, daß die Perlenfischer bereits hier gewesen waren, als die Schiffbrüchigen landeten. Daß man sie nicht zu Gesicht bekommen hatte, erklärte Hans Palwner nach einigem Überlegen damit, daß die braunen Gesellen zu der betreffenden Zeit entweder in ihrer Schlucht am Nordstrande der Ruhe gepflegt oder die aus der Tiefe durch Tauchen herausgeholten Perlmuscheln geöffnet und auf Perlen untersucht hatten.

Während die beiden Landsleute sich über diesen Gegenstand noch unterhielten, tauchte von links her Herrn James Gownerkrats lange Gestalt auf. Er kam und bat um ein paar Brände aus dem Feuer, da es ihm und Madame Letourneur an jedem Mittel fehle, sich ein Feuer anzuzünden. Gutmütig, wie der Professor nun einmal war, antwortete er kurz, der Engländer solle sich nur bedienen. Gownerkrat stellte sich aber beim Tragen der knisternden Pflanzen und Aststücke der auseinandergerissenen Nester so ungeschickt an, daß er viermal umkehren mußte, bevor es ihm gelang, einige noch lodernde Brände bis zu der Stelle hinzubringen, wo er für sich und die Französin einen Unterschlupf gefunden hatte. Dieser lag, wie Rößler und sein junger Gefährte jetzt feststellen konnten, im Westen der Insel auf einer der unteren Terrassen zwischen ein paar riesigen Felsblöcken.

Bald darauf streckten die beiden Deutschen sich neben der heißen Quelle, wo der kahle Felsboden angenehm durchwärmt war, zum Schlafe hin.

Als Hans Palwner erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel.

Der Professor schlief noch. Er hatte sich seine zusammengerollte Jacke als Kopfkissen in den Nacken geschoben, atmete tief und ruhig und schien recht angenehm zu träumen, da ein feines Lächeln um seinen Mund spielte.

Palwner war jedoch nicht als erster von den drei Bewohnern der Felsspalte munter geworden. Antje hatte sich bereits unten am Innenstrande im Bache gewaschen, mußte also ganz leise an ihren beiden männlichen Beschützern vorübergeschlichen sein.

Als der junge Deutsche sich nun zu ihr gesellte, reichte sie ihm ganz heiter die Hand und erklärte, sie habe vorzüglich geschlafen. – Zu zweit machten sie dann einen kurzen Spaziergang am Innenufer entlang bis zu der Felsbrücke hin, die nach der Keilinsel hinüberführte. Bei dieser Gelegenheit fanden sie auf dem Ufersande ein paar Schildkröten, bei deren Anblick Hans Palwners erster Gedanke war, daß diese Tiere von den Malaien mit Vorliebe in der heißen Asche geröstet werden und so zubereitet auch einem verwöhnten Gaumen munden sollen.

Freilich – zunächst mußte man die Schildkröten, die zu der im Indischen Ozean besonders häufigen Art der echten Karettschildkröte gehörten, von denen auch das beste, gelb und braun geflammte Schildpatt stammt, ungestört lassen, da man nicht einmal ein Messer besaß, um das Fleisch aus dem Panzer herauszuschneiden.

Bald darauf wurde dann auch der Professor sichtbar, und fast gleichzeitig erblickte man auf den westlichen Terrassen auch die Gegenpartei, Madame Letourneur und James Gownerkrat, die auf Eiersuche ausgingen.

Rößler rückte dann beim Frühstück, das vor der Felsspalte eingenommen wurde und abermals nur aus Vogeleiern bestand, mit dem Vorschlage heraus, man solle alsbald damit beginnen, die Felskluft etwas behaglicher zu Wohnzwecken einzurichten und besonders sie zu überdachen, damit man bei schlechtem, regnerischem Wetter im Trockenen sei.

Die Spalte wurde nach oben hin immer enger, hatte aber doch eine zu bedeutende Breite, um sie vielleicht mit flachen Geröllstücken bedecken zu können. Jedenfalls schien die Dachfrage gar nicht so leicht zu lösen zu sein, bis Hans Palwner an die überall in dem Basaltgestein zutage tretenden Schieferadern erinnerte und meinte, man solle zusehen, ob man nicht irgendwo auf den Terrassen ein paar infolge von Verwitterung losgelöste, größere Platten fänden die man über die Kluft legen könne.

Antje und Palwner begaben sich dann auch auf die Terrassen hinauf, um dort Umschau nach großen Schieferstücken zu halten. Inzwischen wollte der Professor die Ränder des Baches, die mit gelblichem Schlamm bedeckt waren, näher untersuchen. Zu welchem Zweck, darüber ließ er sich nicht weiter aus. – –

Um das Leben und Treiben der drei in voller Eintracht zu gemeinsamem Nutzen arbeitenden Bewohner der Felsspalte während der ersten fünf Tage ihres Aufenthaltes auf der Sichelinsel im einzelnen zu schildern, dazu würden Seiten und Seiten gehören. Jedenfalls schafften sie sozusagen aus dem Nichts sich ein Heim, wie es praktischer kaum angelegt sein konnte. Professor Rößlers vielseitige Kenntnisse, Hans Palwners Fleiß und Anstelligkeit und Antje van Muitenzorks Geschicklichkeit und Sinn für Behaglichkeit vereinigten und ergänzten sich aufs vorteilhafteste. Halb lose Schieferplatten, bei denen man nur mit passenden Steinen als Hammer und Meißel etwas nachzuhelfen brauchte, um sie ganz abzusprengen, gaben nicht nur ein Dach für die Felsspalte her, sondern auch im Innern die Zwischenwände für drei Gemächer ab: eins für Antje, eins als Küche und gemeinsames Wohnzimmer, das dritte wieder als Schlafraum für die beiden Deutschen. Türöffnungen, die durch leicht verschiebbare Schieferplatten verstellt werden konnten, führten aus diesen abgetrennten Räumen in den Flur, wenn man so sagen darf, der sich an der östlichen Seitenwand der Felsspalte entlangzog und auch seinerseits mit einer Tür versehen war. Bei schönem Wetter wurden oben bestimmte Dachplatten offen gelassen, um genügend Licht zu erhalten. Dieses Dach zog sich auch noch so weit nach dem Eingang der Felskluft hin, daß auch die Quellen mit geschützt waren und man also eine Art offener Veranda vor den Wohnräumen besaß.

Das Aneinanderreihen der Schieferplatten war ein Problem gewesen, welches der Professor aufs glänzendste gelöst hatte.

Seine Untersuchung des unteren Bachbettes hatte eine starke Schicht eines fetten, rötlichen Tons als Ablagerung der Bestandteile der heißen Quelle ergeben. Aus diesem Ton wurden große, schraubenähnliche Verschlüsse mit richtigen Muttern gebrannt, durch die man die an den geeigneten Stellen durchlöcherten Schieferplatten fest vereinigte. – Gewiß – mancher Versuch mußte erst angestellt werden, bevor man etwas Brauchbares in dieser Hinsicht anzufertigen vermochte. Die Tonschicht lieferte auch allerlei Gefäße, ja sogar richtige Ziegel, aus denen ein Herd erbaut wurde, der wieder einen Rauchfang aus Schiefer erhielt. Dieser lieferte ebenfalls das Material zu Bänken, Tischplatten und manchen anderen Gegenständen.

Kurzum – bereits nach fünf Tagen, die den drei Gefährten wie im Fluge hingingen, war ihre Behausung und der größte Teil der Inneneinrichtung fertig.

Die Perlenfischer hatte man inzwischen nur hin und wieder auf der Keilinsel zu Gesicht bekommen. Und die Gegenpartei, die Französin und den Engländer, traf man nur, wenn diese sich aus der kalten Quelle Trinkwasser holten. Einer stillschweigenden Vereinbarung nach gehörte ihnen die westliche Hälfte des Sicheleilandes, den drei anderen die östliche. Im übrigen wechselte man miteinander nicht einmal einen Gruß. Jedenfalls konnten die Letourneur und der träge Gownerkrat es zwischen ihren Felsblöcken lange nicht so gemütlich haben wie ihre östlichen Nachbarn, da diese niemals bemerkten, daß die beiden sich mit irgendwelchen Arbeiten zum Ausbau ihres Schlupfwinkels beschäftigten.

Auch die Verpflegung war bei den Bewohnern der Felsspalte mittlerweile aufs beste geregelt worden. Das Feuer auf dem Herde ging nie aus. Das durfte auch nicht geschehen, da die Maleatolls das Feuerzeug des Professors gleichfalls geraubt hatten. In den Kochgeschirren brodelte jetzt oft genug eine Schildkrötensuppe, nachdem Hans Palwner aus Schieferstücken leidlich brauchbare Messer hergestellt hatte. Auch junge, über dem Feuer gebratene Möwen, die hartherzig aus den Nestern in der Dunkelheit geholt wurden, verschmähte man nicht, obwohl der Fischgeschmack nicht gerade angenehm war.

Am Abend des fünften Tages ereignete sich dann ein Zwischenfall, der bewies, daß die Perlenfischer ihre Drohung, jede Übertretung ihrer Befehle gewaltsam zu verhindern, nicht umsonst ausgesprochen hatten.

Kurz vor Sonnenuntergang war James Gownerkrat nach der die beiden Inselchen vereinigenden Felsbrücke gegangen, offenbar, um mit den braunen Räubern Verhandlungen über eine Rückbeförderung nach bewohnten Gegenden anzuknüpfen.

Kaum hatte er jedoch seinen Fuß auf die Keilinsel gesetzt, als auch schon ein Büchsenschuß ein donnerndes Echo in den Felsen hervorrief. Antje und die beiden Deutschen, die vom Innenstrande aus den Engländer gespannt beobachtet hatten, merkten an seinem schleunigen Rückzuge, daß die Kugel in recht bedrohlicher Nähe an seinem Körper vorübergegangen sein mußte.

„Die Burschen machen ernst“, meinte Hans Palwner mit leichter Schadenfreude, indem er Gownerkrat, der eben über die Terrassen nach der Westseite der Insel zurückkehrte, übermütig mit der Mütze zuwinkte.

„Nun – ewig können sie hier aber doch nicht bleiben“, sagte der Professor nachdenklich. „Meiner Ansicht nach haben sie hier einmal zufällig reiche Perlenmuschelbänke entdeckt, die sie jetzt in aller Heimlichkeit zeitweise ausbeuten. Über kurz oder lang werden sie wieder verschwinden. Dann dürften wir mehr Bewegungsfreiheit haben.“

„Falls sie nicht eine Wache hinterlassen“, meinte Antje. – Damit war vorläufig dieser Gegenstand erledigt.

In der folgenden Nacht hatte Hans Palwner gerade wieder ein paar Möwennester der halbflüggen Jungen beraubt, als er von der obersten Terrasse an der Nordspitze des Sicheleilandes in der sternklaren Nacht deutlich zwei Fahrzeuge erkannte, die den Riffgürtel der Keilinsel passierten und dann unter vollen Segeln in die offene See hinaussteuerten.

Dies konnten nur die Maleatolls sein, die das Rettungsboot der „Amsterdam“ gleichfalls mitnahmen.

Getrieben von dem Wunsche, sich darüber Gewißheit zu verschaffen, ob Antje van Muitenzorks Vermutung zutreffe, daß die Perlenfischer einen Aufpasser für ihre Gefangenen zurücklassen würden, schlich er sich eine Stunde später nach der Keilinsel hinüber, wobei er die allergrößte Vorsicht gebrauchte. Sehnsucht nach einer Flintenkugel verspürte er gerade nicht. Aber ungehindert gelangte er bis zu jener Schlucht, in der er die Insulaner damals zuerst heimlich beobachtet hatte. Glimmende Reste eines Feuers verrieten, daß die Maleatolls den Platz eben erst verlassen hatten. Auffallend war das Fehlen der Perlmuschelschalen, die sorgfältig fortgeschafft worden waren. Zweifellos hatten die braunen Piraten alle Zeichen Ihrer Tätigkeit beseitigen wollen, damit niemand auf die Vermutung käme, daß es hier in der Nähe reiche Perlengründe gäbe.

Hans Palwner begnügte sich jedoch nicht damit, nur die Schlucht näher zu untersuchen. Die Möglichkeit bestand ja noch immer, daß die Maleatolls hier auf der Keilinsel noch einen zweiten Schlupfwinkel hatten, in dem eine vielleicht zurückgebliebene Wache sich aufhielt.

Diese Vermutung traf nicht zu, wie der junge Deutsche bald feststellte. Dieser Teil des Gesamteilandes war ja so wenig ausgedehnt, daß Palwner nur eine knappe Stunde gebrauchte, um trotz der wildzerklüfteten Felsmassen, die überall Verstecke boten, das ganze Inselchen abzusuchen.

Als er nun nach der gemeinsamen Behausung zurückkehrte, fand er den Professor seiner wartend vor der Felsspalte auf einem Steine sitzend vor. Rößler hatte sich bereits über das lange Ausbleiben seines wackeren Gefährten allerhand Gedanken gemacht und war sogar auf die Terrassen gestiegen, ohne den Landsmann jedoch irgendwo zu bemerken.

Die Nachricht, daß die Maleatolls abgezogen seien, nahm er mit großer Freude auf, erklärte aber, man wolle zur Sicherheit am Morgen die Keilinsel nochmals durchstreifen, ob auch wirklich sämtliche Perlenfischer davongesegelt seien. –

Das Wetter war bisher mit Ausnahme von zwei starken Gewitterregen anhaltend schön gewesen. Auch der neue Tag brachte Sonnenschein, leichten, angenehm kühlenden Ostwind und – eine ungeahnte Menge von Überraschungen.

Rößler und der junge Deutsche waren bereits recht früh munter, erledigten schnell ihre Morgenwäsche unten am Bach, aßen ein paar Möweneier und begaben sich dann nach der Keilinsel hinüber, nachdem sie vorher die nächsten Steinblöcke jenseits der Brücke genau gemustert hatten, ohne jedoch etwas Verdächtiges zu bemerken.

Hans Palwner war recht gespannt, ob er seine damals in der Nacht fortgeworfene Uhr und das Messer noch im Geröll des Uferstreifens vorfinden würde. Er erlebte in dieser Hinsicht jedoch eine Enttäuschung. Leider waren sie verschwunden.

Jetzt bei Tageslicht war deutlich zu sehen, mit welcher Sorgfalt die Maleatolls die Reste der Perlmuscheln fortgeschafft hatten. In der Nähe der Feuerstelle in der Schlucht fanden die Gefährten noch ein paar Holzstücke, offenbar die Überbleibsel eines gescheiterten Bootes. Diese waren für die Deutschen insofern von großem Wert, als in ihnen noch einige Nägel steckten, die Palwner zu Angelhaken umzuformen beschloß. Enthielt doch das von den beiden Inselteilen eingeschlossene Wasserbecken eine große Menge Fische, denen nachzustellen schon längst des jungen Kajütwärters heißer Wunsch gewesen war.

Nachdem die beiden Kameraden die Schlucht genau besichtigt hatten, wollten sie auch die übrige Insel sorgfältig durchstreifen, um diese bis ins einzelne kennen zu lernen. Hans Palwner bemerkte nun, daß dicht neben der Schlucht vom Strande aus ein nur bei scharfem Hinsehen undeutlich sich abzeichnender Strich zwischen den Felsblöcken sich ins Innere hineinzog. Dieser Pfad führte bis zu einer steilen Wand, vor der eine Menge Steine aufgehäuft waren, die diesen Felsabhang bis zur halben Höhe verdeckten. Hier hörte der durch häufiges Hin und Hergehen entstandene schmale Weg plötzlich auf.

Nicht nur diese Tatsache war es, die den beiden Gefährten zu denken gab. Auch die Steine vor der Felswand waren in einer Weise aufgeschichtet, daß hierbei unmöglich nur der Zufall mitgewirkt haben konnte. Diese lose übereinander liegenden Felsstücke hatten offenbar Menschenhände aufgetürmt, natürlich zu einem bestimmten Zweck.

Nach kurzer Verständigung gingen der Professor und Palwner eifrig an die Arbeit. In wenigen Minuten hatten sie einen Teil dieser unregelmäßigen Mauer beseitigt und dadurch den Eingang zu einer schmalen, allmählich in die Tiefe sich hinabziehenden Höhle freigelegt.

Gleichzeitig stießen sie jetzt einen Schrei freudiger Überraschung aus. War doch dieser dunkle Schlund, in den nur einige Meter weit das Tageslicht eindrang. geradezu vollgepfercht mit allerlei Gegenständen, die offenbar sämtlich von entweder gestrandeten oder durch Seeraub erbeuteten Fahrzeugen stammten. Von der großen Schiffslaterne mit farbigen Gläsern bis zu einem kostbaren Präzisionskompaß, von ganzen Ballen von Segeln bis zu Ankern aller Größe war hier ein richtiges Schiffsarsenal aufgestapelt. Daneben standen Fässer, Kannen aus Blech, Holzkisten mit Firmenstempeln, hingen an in die Wand eingelassenen Haken Kleidungsstücke aller Art und Waffen, darunter Gewehre in sauberen Ledertaschen, sicherlich wertvolle Jagdflinten eines reichen Reisenden, der vielleicht in Indien Königstiger hatte erlegen wollen.

Eine der Laternen stand ganz vorn. Daneben auf einer Kiste lagen mehrere Schachteln Zündhölzer, – alles dies auch im Dunkeln leicht zu finden, damit die Maleatolls sich schnell die nötige Beleuchtung schaffen konnten.

Hans Palwner bückte sich schon, um die Laterne in Brand zu setzen. Er schüttelte sie. Das Bassin war mindestens halb gefüllt.

Dann schritten sie tiefer in die Höhle hinein. Dieselbe war kaum zwanzig Meter lang. Eine glatte Rückwand erhob sich vor den beiden Gefährten, die sich sorgfältig umschauten, da sie hier noch weitere unterirdische Räume vermuteten. Aber es gab keine mehr, wie sie sich bald überzeugt hatten.

Nun wurden die Kisten, deren Deckel sämtlich nur lose aufgelegt waren, untersucht. Eine davon stach dem Professor besonders in die Augen. Sie enthielt eine vollständige Kücheneinrichtung und war sicherlich für eine Expedition nach unerforschten Gegenden bestimmt gewesen. – „Die holen wir uns nachher“, meinte er lächelnd zu Palwner. „Antje wird ihre helle Freude an dem Aluminiumgeschirr haben.“

Nachdem sie den Eingang dann wieder zugebaut hatten, kehrten sie nach ihrer Behausung zurück. Aber jeder von ihnen trug jetzt zwei Revolver sowie zwei doppelläufige Kugelbüchsen nebst einem reichlichen Patronenvorrat bei sich. –

Dicht vor der Felsspalte erlebten sie die zweite große Überraschung: Madame Letourneur saß neben Antje friedlich auf einer Bank, die Hans Palwner unter der „Veranda“ errichtet hatte.

Die Französin schaute verlegen zu Boden, als Rößler sie mit übertrieben höflicher Verbeugung und den Worten begrüßte: „Ah, welch’ seltener Besuch …!“

Dann aber sprudelte sie in einem Atem eine wahre Flut von Vorwürfen gegen James Gownerkrat hervor, – diesen faulen, gleichgültigen, ungalanten, unpraktischen Menschen, der sie allein arbeiten lasse und noch nicht den Finger gerührt habe, um ihr ein einigermaßen menschenmögliches Heim zu schaffen. Daher bäte sie jetzt auch hier um Aufnahme. Sie habe eingesehen, daß mit Gownerkrat auf die Dauer nicht auszukommen sei.

Der Professor erklärte darauf kühl, daß er nichts gegen ihre Anwesenheit einzuwenden habe.

Und dann kam das Schönste: Herr James Gownerkrat folgte dem Beispiel Frankreichs und kroch ebenfalls zu Kreuze. Und das geschah kaum eine Viertelstunde später. – Ihm gegenüber blieb der Professor aber zunächst unerbittlich. Schließlich ließ er sich jedoch erweichen, freilich nur unter recht harten, demütigenden Bedingungen, die den edlen[4] Briten zu einer Art Hausknecht degradierten. Aber Gownerkrat war mit allem einverstanden, selbst damit, daß ihm verboten wurde, die Keilinsel zu betreten. Rößler traute dem verräterischen Burschen eben nicht und wollte ihm die Höhle mit ihren reichen Vorräten verbergen. –

Vierzehn Tage vergingen dann wieder ohne besondere Ereignisse. Madame Letourneur, die den Engländer völlig als Luft behandelte, benahm sich jetzt sehr verständig und half Antje eifrig bei den häuslichen Arbeiten. Auch Gownerkrat gab sich alle Mühe, nicht wieder in seine alten Fehler zu verfallen, obwohl ihm dies nicht ganz leicht wurde. Für ihn war noch ein vierter Schlafraum hergestellt worden, dessen Eingang jedoch in das gemeinsame Schlafgemach der beiden Deutschen mündete, so daß der Engländer nachts so gut wie eingesperrt war.

Unter irgend welchen Entbehrungen hatten die fünf Bewohner der Amsterdam-Insel, – so hatte der Professor die beiden Eilande, die ja eigentlich ein Ganzes bildeten, in Erinnerung an das untergegangene Schiff getauft – jetzt kaum mehr zu leiden. Daß sie trotzdem sich von hier fortsehnten, war ihnen kaum zu verargen, obwohl sie sich sämtlich gesundheitlich außerordentlich frisch fühlten.

Professor Rößler und Hans Palwner berieten so manches Mal, auf welche Weise man wohl am schnellsten von hier fortkäme. Gownerkrat wurde zu diesen gelegentlichen Besprechungen nicht hinzugezogen. Das Mißtrauen, das man gegen ihn gefaßt hatte, wollte nicht schwinden. Unter den Versuchen, etwa vorüberfahrende Schiffe herbeizurufen, sei nur einer erwähnt, der acht Nächte hintereinander auf Antjes Vorschlag unternommen wurde. Auf der flachen Spitze des Berges, der in der Mitte der Sichelinsel aus den Terrassen herauswuchs, zündete man allabendlich ein loderndes Feuer an. Ein Erfolg blieb jedoch aus. Selbst am Tage erblickte man ja nur höchst selten in weiter Ferne ein weißes Segel oder die Rauchfahne eines Dampfers. Da dieses Feuer nun eine Unmenge Brennmaterial verschlang, mußte man diese flammenden Hilferufe bald wieder einstellen. Aber eins taten der Professor und sein junger Landsmann regelmäßig: jede Stunde erkletterte einer von ihnen, so lange es hell war, den Berg und hielt mit Hilfe eines vorzüglichen Fernrohrs, das aus dem Beutelager der Maleatolls stammte, sorgfältig Ausschau. Auch nachts hatten sie ein paar Tage eine regelmäßige Wache ausgestellt, an der sich auch der Engländer beteiligen mußte. Dann nahmen sie hiervon aber wieder Abstand, weil diese Vorsichtsmaßregel, die sie mehr der Perlenfischer wegen durchführten, auf die Dauer doch zu anstrengend wurde und der Professor auch einem Überfall vonseiten der Maleatolls dadurch vorgebeugt hatte, daß man die Felsspalte durch starke Schiefertafeln in eine kleine Festung verwandelte, die Dachplatten durch ringsum aufgehäufte Felsstücke künstlich verbarg und eine Strickleiter anfertigte, mit deren Hilfe man auf die ohnehin schwer zugängliche Bergnase hinaufgelangen konnte, durch die die Spalte sich oben hindurchzog.

Der Gelehrte hatte inzwischen die ganze Amsterdam-Insel auch auf ihre Beschaffenheit hin untersucht und festgestellt, daß sie vulkanischen Ursprungs war. Hierbei war er auch an der Westküste des Keileilandes an eine Stelle gelangt, wo er verschiedene Anzeichen dafür fand, daß die Maleatolls gerade diesen Platz sehr häufig betreten hatten. Sofort war da in ihm die Vermutung aufgetaucht, daß sich in der Nähe Perlenbänke befinden müßten.

Hans Palwner, der dann die hier recht zahlreichen, steilen Korallenriffe durch Tauchen auf das Vorhandensein von Perlmuscheln absuchte, entdeckte schließlich durch einen reinen Zufall, daß diese kostbaren Schaltiere sich auf dem Meeresboden etwas weiter südlich in dem Kanal angesiedelt hatten, der die einzige Verbindung des Wasserbeckens mit der offenen See darstellte.

Das Wasser war hier kaum drei Meter tief, so daß selbst ein ungeübter Taucher wie der junge Deutsche es war ohne Schwierigkeiten die Muscheln losreißen und an Land befördern konnte. –

Die Seeperlmuschel findet sich ausschließlich in tropischen Meeren, wo sie sich mittelst ihres Bartes von Byssusfäden an den felsigen Grund anklammert. Sie bildet wie die Auster zu Tausenden an einer Stelle sogenannte Bänke. Würde nun jede Muschel auch eine Perle enthalten, so wäre das Geschäft der Perlfischerei sehr einträglich. Im Durchschnitt findet man jedoch nur in jeder fünfzigsten Muschel ein einigermaßen wertvolles Exemplar. Auch in Deutschland kommt in der Elster, auch in einigen Bächen des bayerischen Berglandes, eine Perlen erzeugende Muschel vor. So werden in dem berühmten Grünen Gewölbe in Dresden einige Schnüre schöner erbsengroßer Flußperlen aus der Elster aufbewahrt. –

Weniger um sich zu bereichern, als vielmehr zu seinem Vergnügen verbrachte Hans Palwner nun manche Stunde damit, Perlmuscheln aus der Tiefe herauszuholen, bei deren Untersuchung ihm Antje gern behilflich war, obwohl diese Arbeit nicht gerade angenehm genannt werden konnte. Die Holländerin liebte den matten Glanz und das eigentümliche Farbenspiel der Perlen über alles und freute sich wie ein Kind, wenn sie einmal ein etwas größeres dieser merkwürdigen Kalkgebilde fand. So poesielos es ja auch klingen mag: Perlen sind nichts weiter als aus einer besonderen Kalkmasse bestehende, schichtweise sich vergrößernde Kerkerzellen für winzig kleine Würmer und Wassermilben, die das Muscheltier, sobald sie in seinen Fleischmantel gelangen, unschädlich machen will, indem es sie mit Kalkteilchen, der sogenannten Perlmutter, umgibt. Etwas Poesie ist mithin doch in der Entstehungsgeschichte dieser kostbaren Schmuckstücke vorhanden. –

Professor Rößler wieder beschäftigte sich neben seinen wissenschaftlichen Untersuchungen, die er auch auf das Tier- und Pflanzenleben der Amsterdam-Insel ausdehnte, noch mit der Führung eines genauen Tagebuches, wozu er das von den Maleatolls verschmähte Notizbuch benutzte.

Nach seinen Aufzeichnungen waren die Schiffbrüchigen am 8. August 1909 auf dem Eiland gelandet. Am 13. verließen die Perlenfischer die, wie nachgewiesen war, außerdem noch so ein wenig Seeraub betrieben, die Insel. Am 14. entdeckte Rößler in Gemeinschaft mit seinem jungen Landsmann das geheime Beuteversteck der Maleatolls, und am 28. wieder fand Hans Palwner die ersten Perlmuscheln in dem schmalen Kanal.

Dann enthielt das Tagebuch bis zum 18. September lediglich belanglose oder streng wissenschaftliche Eintragungen.

Unterm 19. desselben Monats mußte der Professor jedoch die Bemerkung niederschreiben:

„Gownerkrat wird wieder reichlich lästig. Ich war töricht genug, ihm eine Schrotflinte anzuvertrauen, mit der er jetzt unter den Möwen wie ein Massenmörder aufräumt. Als ich ihm dies heute untersagte, da er uns die Seevögel vielleicht gänzlich verscheucht, die wir zu unserer Ernährung so notwendig brauchen, wurde er unverschämt. Zur Strafe ist er bis auf weiteres wieder in den Westteil der Sichelinsel verbannt worden, wo er allein für seinen Unterhalt zu sorgen hat. Der Bursche ist unverbesserlich. Selbst die Französin stimmte für seine strafweise Ausschließung aus unserem kleinen Kreise.“ –

Dies sollte auch die letzte Eintragung des Tagebuches bleiben. In der Nacht vom 19. zum 20. September traten Ereignisse ein, die eine Fortführung der Aufzeichnungen überflüssig machten.

Nachmittags gegen vier Uhr war Herr James Gownerkrat etwas gewaltsam ausquartiert worden. Eine Stunde später überzog sich der Himmel mit dichten Wolken, und abends umtobten Sturm und Regenschauer aufs ungemütlichste den Berg der Sichelinsel. – Freilich – die Bewohner der Felsenbehausung befanden sich im Trockenen und ließen die wolkenbruchartigen Wassergüsse ruhig auf die Schieferplatten des Daches niederfallen. – Etwa um acht Uhr abends war’s. Die vier Schiffbrüchigen saßen gerade bei der Mahlzeit im Wohngemach beisammen, als es an die Außentür, die vom Flur in den offenen Teil der Felsspalte führte, stark klopfte. Diese Tür bestand aus Kistenbrettern, zwischen die Schieferplatten eingefügt waren, und besaß sogar einen Eisenriegel und ein Schloß.

Hans Palwner nahm eine der Schiffslaternen und ging hinaus. Es konnte ja nur Gownerkrat sein, den der Regen offenbar schon wieder abgekühlt und bescheiden gemacht hatte.

„Öffnen Sie!“ rief der Engländer ganz aufgeregt „Ich bin’s – James Gownerkrat! – Ein Schoner ist an der Westküste der Insel gestrandet … Vor kaum einer Viertelstunde.“

Wenige Minuten später eilten die drei Männer schon wieder in das Unwetter hinaus. Als sie auf der steilen Höhe der Westküste der Sichelinsel anlangten, trat gerade der Mond zwischen den jagenden Wolken für einige Sekunden hervor, so daß man deutlich den unglücklichen Segler erkennen konnte, der da draußen mitten in der Brandung auf den Riffen festsaß und über den die Wogen ohne Unterlaß hinwegspülten. – Der Mond verschwand wieder. Neue Regenschauer kamen herab, hüllten alles in ihre undurchsichtigen Schleier ein.

Die Besatzung des Schoners schien verloren. Unten am Strande leckten die gierigen, auslaufenden Wellen beinahe bis an die steilen Felswände heran, ließen nur noch wenige Schritte des Geröllstreifens frei.[5]

„Eilen wir hinab“, rief der Professor. „Vielleicht gelingt es uns, diesen oder jenen Halbtoten zu bergen, den die See ans Ufer wirft.“

Wieder hasteten die drei über die Felsmassen hin, stolperten durch die Schlucht im Osten des Eilandes abwärts und liefen weiter am Strande entlang, bis sie sich der Strandungsstelle gegenüber befanden. Durchnäßt bis auf die Haut, hin und her geschüttelt von den Stößen des Sturmes harrten sie hier geduldig aus, verteilten sich über eine breite Strecke des Ufers, wanderten auf und ab und bohrten ihre Augen gespannt in die tobenden Wassermassen und spähten nach einem menschlichen Antlitz aus, das in dem Gischt erscheinen sollte. – Und ihre Opferfreudigkeit war nicht umsonst.

Im Laufe einer Stunde fischten sie glücklich acht armselige, tatsächlich halbtote Männer, darunter auch zwei Farbige, aus dem Wassergrabe heraus, die ohne ihre Hilfe nie mehr die Kraft gehabt hätten, das feste Land zu erreichen. Die meisten waren bereits bewußtlos. Nur die beiden Farbigen, offenbar vorzügliche Schwimmer, schienen noch leidlich bei Kräften zu sein.

Gegen Mitternacht konnte man dann die Geretteten nach der Felsenwohnung geleiten. Als das Licht der in dem Wohngemach brennenden Laternen die Gestalten und Gesichter der soeben dem Wellentode Entronnenen deutlich erkennen ließ, zuckte Hans Palwner überrascht zusammen. Und auch Madame Letourneur wies jetzt mit erhobenem Arm auf einen der Farbigen, einen großen Singhalesen, der sich scheu im Hintergrunde neben dem zweiten braunen Gesellen, offenbar einem Maleatoll, mehr im Halbdunkel hielt.

„Ah der Anführer der Perlenfischer!“ rief die Französin. „Es ist der Mann, der mir meine Brillantringe raubte!“

Da auch Palwner den Singhalesen mit Sicherheit wiedererkannte und anzunehmen war, daß der Maleatoll mit zu der Piratenbande gehörte, die auf der Amsterdam-Insel ihren Schlupfwinkel hatte, da ferner der Kapitän des spanischen Schoners, dessen ganze Besatzung gerettet worden war, erklärte, daß er die beiden Farbigen gleichzeitig in Kolombo als Passagiere für Bombay an Bord genommen habe, wurden die verdächtigen Gesellen sofort gefesselt und in Gownerkrats Schlafraum eingesperrt.

Der Kapitän berichtete dann noch, daß der Singhalese, als der Sturm dem Schoner schwer zusetzte, behauptet habe, er kenne in der Nähe eine Insel mit gutem Hafen, in den er den Segler als erfahrener Lotse wohlbehalten hineinbringen wolle. Statt dessen steuerte er den Schoner so ungeschickt, daß dieser auf dem Riffgürtel strandete.

Hans Palwner wußte jetzt über die Art und Weise, wie diese Piratenbande Seeraub betrieb, genau Bescheid. Hatte er in Seemannskreisen doch schon oft erzählen gehört, daß Fahrzeuge von schurkischen Eingeborenen, die sich als Lotsen anboten, ins Verderben geführt und von deren Genossen nachher ausgeplündert wurden. – Ein solcher Fall lag ohne Zweifel auch hier vor. Und sowohl der Professor als der Spanier stimmten Palwner vollkommen bei, als dieser behauptete, daß sicherlich das große Boot der Perlenfischer bereits morgen hier erscheinen werde, um das Wrack des Seglers auszuräumen, dessen Besatzung sie fraglos ertrunken glaubten.

James Gownerkrat nahm an dieser lebhaften Aussprache kaum teil. Nach einer Weile entfernte er sich dann unauffällig aus dem Wohngemach, wo Antje jetzt den Geretteten eine warme Schildkrötensuppe vorsetzte. – Madame Letourneur, die mit dem Engländer noch immer auf sehr gespanntem Fuße lebte, hatte dessen Verhalten jedoch mißtrauisch gemacht, zumal ihr nicht entgangen war, daß der edle Brite mit dem Singhalesen vorhin schnell ein paar leise Worte gewechselt hatte. Deshalb verlies auch sie jetzt den Wohnraum. Gleich darauf vernahmen die anderen gellende Rufe einer Frauenstimme draußen im Flur. Alles stürzte hinaus …

Die kleine Französin hielt den langen Gownerkrat fest umklammert. – „Er hat die Gefangenen befreit!“ kreischte sie. „Soeben sind sie entflohen …!“ – Es war ein Anblick, der beinahe zum Lachen reizte. Der Engländer versuchte stets aufs neue, seine Widersacherin abzuschütteln. Doch die hatte ihm die Arme wie Zangen um die Brust gelegt.

Die beiden braunen Gesellen waren tatsächlich verschwunden. Da stieß man den jämmerlichen Schuft recht unsanft in das Wohngemach zurück. Aber bei dem mit ihm angestellten Verhör war nicht ein einziges Wort aus ihm herauszubekommen.

Was er beabsichtigt hatte, lag trotzdem klar auf der Hand. In der Überzeugung, daß die Piraten sich sehr bald auf der Insel einfinden und dann, um keinerlei Mitwisser ihrer Schandtaten zu haben, mit den Weißen kurzen Prozeß machen würden, hatte er als richtiger Judas Ischariot durch Verrat die Gunst des Anführers der Bande zu erlangen gesucht. –

Eng gefesselt lag er gleich darauf in demselben Raum, aus dem er vor wenigen Minuten die beiden Piraten herausgelassen hatte.

Dann hielten die Männer Kriegsrat ab. Die Beschlüsse, die man faßte, erwiesen sich hinterher als recht zweckmäßig.

An Waffen besaß man fünf Gewehre und vier Revolver. Das genügte vollauf. Inzwischen hatten sich die beiden Entflohenen sicherlich gleichfalls auf der Keilinsel mit Schußwaffen versehen, so daß man sich, so lange es dunkel war, mit einer scharfen Beobachtung der Felsenbrücke begnügte.

Mit Tagesgrauen klärte sich das Wetter auf und der Sturm ließ völlig nach. Nun wurde der Versuch gemacht, die beiden Piraten zu überreden, sich freiwillig zu ergeben. Aber alle Rufe, die der spanische Kapitän mit einer wahren Trompetenstimme, gedeckt hinter einem Felsblock, nach der Keilinsel hinüberrief, blieben unbeantwortet. Nur zwei Flintenläufe erschienen drüben drohend zwischen ein paar Steinen.

Nun sollte Gownerkrat gutmachen, was er vorher gesündigt hatte. Mit gefesselten Händen, an eine lange Leine angebunden, die Hans Palwner festhielt, mußte er über die Brücke hinüber, um aus größerer Nähe mit den braunen Schurken zu verhandeln. Doch kaum hatte er die Mitte der Verbindung der Eilande erreicht, als drüben ein Schuß fiel und der Engländer, durch den Kopf getroffen, leblos zusammenbrach.

Der Singhalese, der dergestalt seinem Retter die verräterische Tat lohnte, hatte sich mit dem Oberkörper jedoch zu weit aus seiner Deckung vorgewagt. Der Spanier feuerte fast gleichzeitig mit ihm. Und mit wildem Aufschrei sank der Piratenanführer vornüber. Diese Gelegenheit benutzte Palwner, um als erster jetzt über die Brücke zu stürmen. Ihm folgten der Professor und einige der Matrosen, so daß es ohne weiteres Blutvergießen gelang, den bestürzten Maleatoll dingfest zu machen. –

Als das gedeckte Boot der Perlenfischer drei Stunden später an der Nordseite der Keilinsel landete, lag diese wie ausgestorben da. Kaum hatten die Maleatolls aber den Strand betreten, als sie sich plötzlich von Bewaffneten umringt sahen, denen sie sich dann auch nach kurzem Kampf ergaben.

Um die Mittagszeit stach das Piratenboot, jetzt bemannt mit den spanischen Matrosen, in See und gelange nach zweitägiger Fahrt glücklich nach Kalikut, wo die beiden Deutschen vor den Behörden ihre Erlebnisse zu Protokoll gaben.

Die Maleatolls fanden ihre gerechte Strafe. Professor Rößler, Madame Letourneur und Antje setzten ihre Reise dann mit dem nächsten Dampfer fort, nachdem sie herzlichen Abschied von Hans Palwner genommen hatten, der vorläufig noch in Kalikut bleiben wollte, da er beabsichtigte, die Perlenschätze der Amsterdam-Insel in Gemeinschaft mit einem ihm bekannten deutschen Kapitän, der eine schmucke Brigg besaß, zu heben. Er brachte es dann wirklich zu einer gewissen Wohlhabenheit und kehrte mit seinen Eltern zwei Jahre später nach der deutschen Heimat zurück.

Um die jetzt wieder wertlos gewordene Amsterdam-Insel aber kreisen nach wie vor die Möwen und Albatrosse, branden die Wogen des Indischen Ozeans und raunen sich die seltsamen Abenteuer der fünf Schiffbrüchigen des gesunkenen Dampfers zu …

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Eine Walfischjagd.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Kajütenwärter“. Einheitlich und bandübergreifend auf „Kajütwärter“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „des“.
  3. In der Vorlage steht: „ein“.
  4. In der Vorlage steht: „edler“.
  5. Dieser Absatz (4 Zeilen) ist in der Vorlage um eine ganze Seite nach hinten verschoben.