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Das Wrack des Korsarenschiffes

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das Wrack des Korsarenschiffes.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Der Untergang des „Phönix“.

In aller Stille hatte die Bremer Bergungsgesellschaft ihren eigens für Bergungszwecke ausgerüsteten Dampfer dem erhaltenen Auftrage gemäß nach dem Orte geschickt, wo der eiserne neue Motorschoner „Phönix“ am 12. März 1908 in einem heftigen Sturm gesunken war.

Der „Phönix“, ein sehr seetüchtiges Fahrzeug, hatte unter Führung des Kapitäns van der Bolten Kapstadt drei Wochen vor seinem Untergange mit einer außerordentlich wertvollen Ladung von Diamanten, die aus den Kimberley-Diamant-Minen Südafrikas stammten, verlassen. Daß er für Millionen Edelsteine mit sich führte, war nur dem Kapitän bekannt gewesen. Außerdem hatten zwei Angestellte der Diamant-Minengesellschaft „Südrand“ als Wächter die Überfahrt nach Europa unter der Maske harmloser Passagiere mitgemacht. Mithin hatten sich an Bord des Motorschoners nur drei Leute befunden, die etwas von dem Geheimnis der Ladung wußten, deren wertvollster Teil, eben die Diamanten, in zwei kleinen Kistchen aufbewahrt wurde, die in der Kajüte von Murwell und Prastelney – so hießen die beiden Angestellten – in einem besonders konstruierten Koffer untergebracht waren.

Die Tatsache, daß die Südrand-Gesellschaft die Diamanten nicht einem der großen, doch offenbar sichereren Dampfer anvertraut hatte, die von Kapstadt den regelmäßigen Verkehr nach Europa vermitteln, hatte einen besonderen Grund. Den Direktoren der Mine war nämlich bekannt geworden, daß sich eine Bande von gefährlichen Hochstaplern aus aller Herren Länder gebildet habe, die mit der Absicht umging, gerade die Tourdampfer von Südafrika, die Edelsteine als Fracht angenommen hatten, zu berauben.

Deshalb war man dieses Mal besonders vorsichtig gewesen. Zum Schein hatte man zwei äußerlich völlig ähnliche, aber nur mit wertlosen Kieseln gefüllte Kistchen an Bord eines mächtigen Ozeanriesen gebracht, um jene Bande zu täuschen. Alles war mithin getan, um die Millionenwerte glücklich an die Erwerber, die Amsterdamer Edelsteinhändler Ruyters und Ko. abzuliefern. –

Am 9. März hatte dann jedoch ein Orkan eingesetzt, der den „Phönix“ weit nach Norden verschlug, und am Morgen des 12. März war der Schoner plötzlich nach einem heftigen Knall im Laderaum genau an einer Stelle gesunken, wo sich nördlich der Inselgruppe der Azoren mitten im Atlantischen Ozean eine Untiefe befand, über der nur eine Schicht von dreißig Metern Wasser lag.

Der „Phönix“ war nach dem merkwürdigen, unerklärlichen Knall im Laderaum fast augenblicklich von den mit gurgelndem Brausen durch ein offenbar sehr bedeutendes Leck einströmenden Wassermassen gefüllt und zum Sinken gebracht worden, wobei als recht ungünstig das für ihn verwandte Baumaterial mit ins Gewicht fiel – in vollstem Sinne des Wortes. Ein hölzernes Schiff hätte sich länger gehalten. Der „Phönix“ mit seinen Eisenwänden schoß wie ein Bleigewicht auf den Meeresboden hinab.

Trotzdem hatte noch die ganze Besatzung wenigstens das nackte Leben retten können. Der Koffer, in dem die Kistchen mit den Diamanten sich befanden, war jedoch nicht mehr zu bergen gewesen und lag jetzt zusammen mit dem Schoner in dreißig Meter Tiefe auf dem Grunde des Atlantik.

Ein wahres Glück mußte es genannt werden, daß Kapitän van der Bolten kurz vor dem unter so auffälligen Begleiterscheinungen erfolgten Wegsinken des Schoners den Schiffsort festgestellt hatte, so daß er, als die beiden Rettungsboote die Schiffbrüchigen zuerst nach den Azoren gebracht hatten, von wo diese mit einem Dampfer die Weiterreise nach Amsterdam antraten, der Firma Ruyters u. Ko. die tröstliche Versicherung geben konnte, es würde weiter keine Schwierigkeiten bieten, die Edelsteine mit Hilfe von Tauchern aus dem Wrack des Schoners heraufholen zu lassen.

Ruyters u. Ko. wandten sich daraufhin an die Bremer Bergungsgesellschaft, die ihren Dampfer „Hansa“ alsbald an die Unfallstelle schickte. Inzwischen waren jedoch zwei Monate vergangen. Erst am 14. Mai traf die „Hansa“ in der Nähe der Untiefen ein, wo das Diamantenschiff liegen mußte, das man denn auch nach einigem Suchen, begünstigt durch ruhiges Wetter, am 15. gegen Abend fand.

Am nächsten Morgen sollte dann sofort ein Taucher zu dem Wrack hinabsteigen und den Koffer mit seinem Millioneninhalt hinauf befördern.

Über Nacht änderte sich jedoch das Wetter. Ein steifer Nordwest war den Bergungsarbeiten sehr hinderlich. Die „Hansa“ hatte das größte ihrer Boote zu Wasser gebracht, in dem sich sechs Leute befanden, von denen zwei die Druckluftpumpe, die dem Taucher die nötige Luft zum Atmen zuführen sollte, zu versehen hatten. Außerdem waren noch der Taucher selbst und drei weitere Bedienungsmannschaften in dem Boot.

Die „Hansa“ rollte schwer vor ihrem Anker in der ständig unruhiger werdenden See. Und auch für die Leute im Boot war die Arbeit keineswegs leicht. Gerade als der Taucher, ein stämmiger Hamburger namens Hellgard, sich in die Tiefe hinablassen wollte, geschah etwas so Furchtbares, daß die sechs Mann im Boot minutenlang vor Schreck völlig erstarrt waren.

Urplötzlich erhob sich mit dumpfem Krach über dem Deck der „Hansa“ eine dichte Dampfwolke, die das Schiff schnell völlig einhüllte. Einer der Kessel des Schiffes war offenbar geplatzt …! – Entsetzliche Angstschreie drangen aus den weißen Dampfmassen hervor, neue Knalle erschütterten die Luft, und gleich darauf sahen die Leute in dem Taucherboot ihr Schiff mit dem Heck zuerst in die Tiefe schießen. Gerade im letzten Augenblick vor diesem Schlußakt eines unheimlichen Meeresdramas hatte der Wind den Dampf so weit beiseite geweht, daß man der „Hansa“ wieder ansichtig wurde, die etwa zweihundert Meter westlich ihr Wellengrab finden sollte.

Nachdem das lähmende Entsetzen vorüber war, ruderten die sechs Mann schleunigst nach der Unfallstelle, vermochten aber keinen einzigen ihrer Kameraden mehr zu retten. Der Strudel, den die wegsinkende „Hansa“ erzeugt hatte, war den Unglücklichen wie ein sie mit gierigen Armen hinabzerrendes Meeresungeheuer verderblich geworden.

Zwei Stunden lang suchten die wackeren Leute unermüdlich. Dann mußten sie sich sagen, daß alle weiteren Anstrengungen zwecklos seien.

Ihre eigene Lage war jetzt gleichfalls recht verzweifelt. Sie befanden sich in einer Gegend des Atlantischen Ozeans, die von keiner Schiffsschraube durchschnitten wurde. Das nächste Land, die Azoren, die im Süden zu suchen waren, zu erreichen, dazu brauchte man bei günstigem Wetter gut zehn Tage, da man lediglich auf die Ruder als Fortbewegungsmittel angewiesen war. Proviant hatte man freilich in einem Verschlage des Bootes für eine Woche genügend bei sich, ebenso Trinkwasser. Trotzdem verhehlten die Leute sich nicht, daß die Aussichten auf Rettung für sie nicht besonders gut standen. Ein einziger heftiger Sturm mußte ihnen verderblich werden.

Aber so schnell ließen sie den Mut trotz alledem nicht sinken.

„Gott verläßt keinen Deutschen!“ meinte Jakob Hellgard, der Taucher. „Das seht Ihr schon daran, Kameraden, daß der Wind merklich abflaut.“

Der Matrose Swendsen, der für die „Hansa“ erst kurz vor deren letzter Fahrt angeworben worden war, deutete jetzt auf die rote Boje, die über dem Wrack des Diamantenschiffes, um den Platz stets wiederzufinden, verankert worden war, und sagte in seinem schlechten Deutsch, das ihm der lange Aufenthalt in indischen Gewässern auf englischen Schiffen eingebracht hatte:

„Warten wir, bis die See wieder ruhig geworden ist. Dann wollen wir den Koffer heraufholen. Unsere Gesellschaft wird uns reich belohnen, wenn wir, obwohl die „Hansa“ verunglückt ist, die Diamanten mit heimbringen.“

Der Schiffsjunge Peter Kulling, ein etwas vorlautes, kräftiges Bürschchen, rief denn auch sofort:

„Swendsen hat das Richtige getroffen! Ja, die Edelsteine nehmen wir mit!“

Worauf Hellgard erklärte, das sei doch einfach selbstverständlich.

Aber Johann Preister, ein alter, verwitterter Seebär, der bei der Bergungsgesellschaft schon einige zehn Jahre in Dienst stand, schüttelte den Kopf.

„Unser offenes Boot ist eine schlechte Transportgelegenheit für Millionenschätze. Lassen wir den Koffer ruhig im Wrack unten. Uns kann unterwegs etwas Ähnliches zustoßen, wie unserer armen „Hansa“. Dann sind die Diamanten unwiederbringlich verloren, während sie doch ohne größere Gefährdung von einem anderen unserer Schiffe, das die Gesellschaft hierher schickt, geborgen werden können.“

Swendsen suchte mit Eifer diese Bedenken des Alten zu zerstreuen. Besonders betonte er immer wieder die zu erwartende Belohnung, wenn man die Edelsteine gleich mitbringe.

Schließlich gab denn auch Jan – so nannte man den Alten kurz – widerwillig nach.

Und gegen zwölf Uhr mittags hatte Jakob Hellgard den Koffer dann tatsächlich aus dem Wrack herausgeholt. Dies war ohne Schwierigkeiten von statten gegangen. Gleich darauf holten die Leute auch die rote Boje ein und traten die Fahrt nach Süden an.

 

2. Kapitel.

Die Leiden der Hansaleute.

Das Wetter blieb bis zum Abend günstig. Dann aber zog eines jener Seegewitter auf, wie man sie in solcher Furchtbarkeit nur in den Tropen erlebt.

Der Wind, der bisher aus Nordwest geweht hatte, sprang um und wurde zum Sturm, der mit unregelmäßigen Stößen aus Süden kam und bald ungeheure Wogen vor sich her trieb.

Der alte Preister sah das Unheil rechtzeitig voraus. Schnell ließ er einen Notmast aus einem Ruder errichten und den Ölleinwandüberzug des Bootes daran als Segel befestigen. Außer ihm verstand keiner der übrigen Leute etwas von der Bedienung eines Segelbootes, zumal bei solchem Unwetter. Alle waren lediglich auf Dampfern gefahren und galten bei Jan Preister deshalb nie und nimmer für voll. Er allein stammte noch aus der alten Schule, hatte auf einem Fischerkutter seine seemännische Laufbahn begonnen und schließlich nur des bequemen Lebens wegen die Stelle bei der Bergungsgesellschaft angenommen.

Etwas Unheimlicheres als das Meer bei einem Gewittersturm kann man sich kaum denken. – Rabenschwarze Finsternis lagerte über der See. Gespenstisch leuchteten die weißen Wogenkämme ringsum auf. Hin und wieder zerriß eine Feuergarbe, förmliche Bündel von Blitzen, das dunkle Firmament. Ihnen folgten Donnerschläge, die in ihrer Stärke geradezu betäubend wirkten. Dazu noch die Musik des Orkanes, das Heulen in der Luft, das Brausen der sich überstürzenden Wellen und das Prasseln der in wahren Gießbächen herabströmenden Regenmassen, – das alles wirkte so sinnverwirrend auf die Schiffbrüchigen, daß sich bei ihnen das Bewußtsein, lediglich in einem offenen Boot diesem Toben der Elemente ausgesetzt zu sein, zu starrem Entsetzen steigerte.

Nur der alte Jan, der am Steuer saß, bewahrte seine Kaltblütigkeit. Die anderen kauerten auf dem Boden des kaum acht Meter langen Fahrzeugs und duckten bei jedem neuen Blitzstrahl ängstlich die Köpfe tiefer.

Nachdem das Unwetter eine halbe Stunde mit steigender Kraft gewütet hatte, war es merkwürdigerweise der Schiffsjunge, der sich als erster aufraffte und dem Alten bei der Bedienung des Bootes hilfreich zur Hand ging. Vielleicht geschah dies nur deshalb, weil Jan sich des frischen, kecken Burschen stets fürsorglich angenommen und ihn sozusagen zu seinem Schüler gemacht hatte, dem er aus dem reichen Schatze seiner Erfahrungen allerlei Wissenswertes mitteilte.

Jan Preister und Peter Kulling hatten jetzt nebeneinander auf der Steuerbank Platz genommen. Der Alte, der trotz Sturm und Regen die längst erloschene Pfeife im Mundwinkel festgeklemmt hielt, sprach nur hin und wieder ein paar Worte. Langes Reden war nicht seine Sache.

„Schöpf’ das Regenwasser aus, Junge!“ befahl er jetzt. „Und gib den Hasenfüßen da jedem einen ordentlichen Puff in die Seite! Nette Seeleute sind’s!! Dampfergesindel …!!“

Dabei war’s den vier Leuten wirklich kaum zu verargen, daß sie die Gewalt über ihre Nerven verloren hatten. Der Orkan wuchs von Minute zu Minute, und zeitweise war der ganze südliche Horizont in ein Flammenmeer gehüllt. Sicherer Untergang schien dem Boot und seinen Insassen gewiß. Und es gehörte schon Jan Preisters stumpfe Kaltblütigkeit und Peter Kullings Unkenntnis der rings drohenden Gefahren dazu, um dem Verhängnis ruhig ins Auge sehen zu können.

Die körperliche Aufmunterung durch die Rippenstöße half daher nicht viel. Gewiß – mit Ausnahme Swendsens, jenes Matrosen, der seine Muttersprache über dem Englischen fast vergessen hatte, rappelten sich die drei anderen auf und halfen dem Schiffsjungen beim Ausschöpfen des Bootes. Aber ihrem ganzen Gehabe merkte man an, daß sie sich wenig Hoffnung auf Erhaltung ihres Lebens machten und jeden Moment erwarteten, der gierigen See zum Opfer zu fallen. Als die Arbeit getan war, duckten sie sich wieder zusammen und … beteten vielleicht, daß Gott ihnen gnädig sein möge, so wie es Leute stets tun, die den Weg zu ihrem allgütigen Schöpfer in guten Tagen nie zu finden wissen und denen erst die Todesangst den Glauben ein über uns wachendes höheres Wesen wiedergibt.

Gegen Mitternacht flaute der Orkan ab. Aber es dauerte doch noch bis zum Morgen, ehe die Wogen sich so weit glätteten, daß man die Gefahr als völlig überwunden betrachten konnte. Der Himmel klärte sich nach Tagesanbruch sogar vollständig auf, und der lachende Sonnenschein bewirkte selbst bei den Verzagtesten der Hansaleute einen erfreulichen Stimmungsumschwung. Nachdem man sich dann noch durch Speise und Trank erquickt hatte, wollte Jan Preister gerade wenden, um wieder einen südlichen Kurs einzuschlagen, als der Schiffsjunge, der eben auf die Ruderbank gestiegen war, mit der Hand nach Nordost deutete und rief:

„Mir ist’s, als ob ich dort am Horizont Land sehe – eine niedrige, flache Küste, die sich freilich nur als feiner Strich von der Wasserfläche abhebt …!“

Jan stand schon neben Peter Kulling, beschattete die Augen mit der Hand und meinte dann zweifelnd:

„Land …?! Ausgeschlossen!! Ich weiß bestimmt, daß es hier ringsum auf hunderte von Seemeilen auch nicht mal die kleinste Insel gibt! Und doch …!! Auch ich bemerke da vor uns so etwas wie einen Streifen, der doch nur Land sein kann …! Vielleicht liegt dort ein Eiland, dessen Vorhandensein die Seekarten nicht anzeigen.“

Man beschloß, sich hierüber Gewißheit zu verschaffen. Auf die drei oder vier Stunden, die dieser Abstecher beanspruchte, kam es nicht an, da man ja jetzt die Aussicht hatte, baldigst sich auf festem Boden von den Schrecken der verflossenen Nacht erholen zu können.

Guten Muts steuerte Jan Preister das Boot nach Nordost zu, während seine Gefährten eifrig darüber sich unterhielten, welcher Art die Insel wohl sein könne, auf die man zulief.

Eine Stunde verging. Inzwischen war Peter, der weitaus die besten Augen besaß, verschiedentlich auf die Ruderbank geklettert und hatte Ausschau gehalten, konnte aber stets nur melden, daß der ferne Küstenstreifen seine Form nicht verändert habe und noch immer einer feinen Linie gleiche.

Eine zweite Stunde war um. Jan Preister hatte seit einiger Zeit mit unruhigen Blicken das Wasser gemustert, durch das das scharfgebaute Boot langsam dahintrieb. Allerlei grüne Pflanzen schwammen, bisweilen zu großen Haufen vereinigt, auf der Oberfläche. Immer bedenklicher wurde der Gesichtsausdruck des Alten. Dann übergab er dem Hamburger das Steuer, stieg auf die Ruderbank und spähte lange in die Ferne, wandte auch den Kopf rückwärts und rief plötzlich Hellgard zu:

„Herum mit dem Ruder, – herum damit! Wir haben uns schön narren lassen!! – Wißt Ihr auch, was der Streifen da vor uns ist …?! …: der Rand der ungeheuren Tangwiese, die man Sargassomeer nennt und die, zwischen dem 25. und 35. Grad nördlicher Breite und 38. und 60. Grad westlicher Länge sich hinziehend, einen Flächenraum von rund 50 000 Quadratmeilen des Atlantischen Ozeans bedeckt.“ –

Das Sargassomeer, so benannt nach Sargasso, Seetang, ist eine der eigenartigsten Erscheinungen des Atlantik. Es wird durch eine bestimmte Algenart, Fucus natans, gebildet, die bis zu zwei Meter Tiefe hinabreicht und in sich so fest verkrautet ist, daß Schiffe die größte Mühe haben hindurchzukommen. Durch Meeresströmungen an derselben Stelle festgehalten, vermögen selbst die wütendsten Stürme dieser schwimmenden Masse nicht viel anzuhaben, in der sich dann höchstens hier und da offene Rinnen bilden, die sich jedoch ebenso schnell und heimtückisch hinter dem unvorsichtigen Fahrzeug wieder schließen, das sich in sie hineinwagt. Kein Geringerer als der große Naturforscher A. von Humboldt war es, der das Wesen des Sargassomeeres näher untersucht hat. Aber auch er getraute sich mit seinem Schiff nur wenige Meilen weit in die Krautwiese hinein, von der endlose Strecken noch immer unerforscht sind, so daß man mit Fug und Recht sagen kann, der Atlantik sei ein teilweise noch „dunkles“ Meer, wie man Afrika „den dunklen Erdteil“ zu nennen pflegt. –

Sehr bald stellte es sich dann heraus, daß die sechs Hansaleute ahnungslos in eine tiefe, meilenlange Einbuchtung der Tangmasse hineingeraten waren.

Jakob Hellgard hatte den Befehl Jans sofort befolgt und gewendet. Inzwischen war aber der Wind so ungünstig geworden, daß man nicht genau südlichen Kurs segeln konnte, sondern mehr einen südöstlichen. Dieser Umstand war wohl hauptsächlich Schuld daran, daß die vor einer Stunde noch offene Einfahrt in die Einbuchtung Zeit fand sich wie eine Mausefalle zu schließen und daß besondere Strömungen, die wahrscheinlich der Gewittersturm der vorigen Nacht erzeugt hatte, ungeheure schwimmende Tangfelder nunmehr dem Boote den Weg in die offene See versperrten, sich immer mehr zusammenschoben und schließlich in bis zum Horizont reichenden Massen die Schiffbrüchigen dicht umlagerten.

Das Boot lag jetzt still. Der Segeldruck genügte nicht mehr, es von der Stelle zu bringen. Und nachdem die Männer sich eine halbe Stunde mit Rudern abgequält hatten, um dem Verhängnis zu entrinnen, gaben sie auch diesen Versuch als zwecklos auf. Das Sargassomeer hielt sie in seinen tausenden von feinen Pflanzenarmen wie eine Riesenspinne ihr Opfer fest. Die frohe Hoffnung, die die Leute noch vor kurzem so sehr belebt hatte, wich nun schnell einer tiefen Niedergeschlagenheit.

Jan Preister verhehlte den Gefährten nicht, daß ihre Lage jetzt überaus ernst sei. Er schlug vor, die Rationen, um mit den Lebensmitteln recht lange zu reichen, möglichst klein zu bemessen. Alle erklärten sich damit einverstanden, wie sie überhaupt die Anordnungen des Alten als des erfahrensten unter ihnen ohne weiteres befolgten. –

Zehn Tage später …

Das Sargassomeer hatte seine Beute nicht freigegeben, Gleich in der ersten Nacht, als Jan schlief, hatte eine breite, nach Norden zu verlaufende Rinne in den Krautmassen sich geöffnet, in die Jakob Hellgard, nachdem das Segel gehißt war, eiligst hineinsteuerte, da er so den Weg in die Freiheit zurückzufinden hoffte. Aber gegen Morgen erst merkte er, daß die Tangwiese sie noch weiter in ihre Netze gelockt hatte, deren grüne Massen die Oberflächenbewegung des Atlantik kaum merklich mitmachten und selbst bei starkem Wind nur träge auf und ab wallten. – War schon die Stimmung der Leute infolge ihrer hoffnungslosen Lage eine mehr wie trostlose, so kam zu allem Unheil jetzt noch hinzu, daß jeden Tag die Sonne mit unheimlicher Glut bei völliger Windstille vom klaren Äther herabbrannte. Aus der Ölleinwand hatte man ein Sonnensegel hergestellt. Aber was nützte dieses gegenüber den furchtbaren Hitzestrahlen des Tagesgestirns, die unbarmherzig vom Morgen bis zum Abend auf das Boot niederprallten und alle Teile so durchwärmten, daß man das Holz gar nicht mehr mit der bloßen Hand berühren konnte. Bald stellten sich dann auch die Qualen des Durstes ein. Das wenige Wasser, das jedem für den Tag zustand, genügte nicht im entferntesten, um Kehle und Mund feucht zu halten. Trotzdem verkürzte Jan die Portionen noch mehr. Er wollte die Hoffnung auf Rettung nicht aufgeben. Und deshalb versuchte er die Gefährten möglichst lange vor dem sicheren Tode zu bewahren, der notwendig eintreten mußte, sobald das Wasserfäßchen leer war.

Aber auch diese Stunde kam. Am elften Tage morgens verteilte der Alte wortlos den letzten Rest des lauwarmen Trinkwassers. Mittlerweile waren jedoch gerade die äußerlich am kräftigsten aussehenden Leute körperlich bereits so weit heruntergekommen, daß schon am Abend desselben Tages in drei Augenpaaren das unheimliche Glimmen des nahenden Wahnsinns aufleuchtete. Der erste, bei dem statt eines langsamen Erschöpfungstodes der Geist sich völlig verwirrte, war der Hamburger, der Taucher Jakob Hellgard. Plötzlich erhob er sich taumelnd, schaute sich wild um und … sprang mit dem gellenden Ruf: „Wasser … Wasser!“ über Bord, wo er in den Tangmassen versank, ohne nach den ihm hingereichten Rudern zu greifen.

Dies geschah bei anbrechender Dunkelheit. – Es schien, als ob das Beispiel des wahnsinnigen Hellgard ansteckend wirkte. Bis Mitternacht folgten ihm noch zwei Matrosen, stämmige Burschen, denen jeder ohne weiteres größere Widerstandskraft zugetraut hätte als den drei Überlebenden der Hansaleute – dem alten Jan, Rolf Swendsen und dem Schiffsjungen.

„Morgen sind wir dran!“ sagte Swendsen dumpf. „Falls wir’s bis morgen aushalten …! – Legt Ihr beide Euch jetzt schlafen. Ich übernehme die erste Wache. Eigentlich könnten wir’s uns ja schenken, daß stets einer munter bleibt. Aber sicher ist sicher … Vielleicht … vielleicht …!“ – Worauf er hoffte, das sprach er nicht mehr aus.

Jan und Peter schliefen sehr bald ein. Kaum verrieten Swendsen ihre tiefen, gleichmäßigen Atemzüge, daß er vorläufig unbeobachtet war, als er leise nach vorn schlich, die Tür des kleinen Verschlages öffnete, wo die Taucherrüstung untergebracht war, und aus dem Taucherhelm eine dort versteckte Wasserflasche hervorholte, aus der er gierig ein paar Schlucke trank. Dann setzte er sich wieder auf die Ruderbank und grübelte finster vor sich hin. Bisweilen ballte er auch wie in ohnmächtiger Wut die Fäuste.

Sollte er wirklich hier in diesem verteufelten Sargassomeer den Tod finden?! Sollten alle seine Pläne in ein Nichts zerrinnen und statt der erhofften Millionen ein qualvolles Ende sein Lohn werden …?!

Plötzlich schreckte er zusammen. Das Boot hatte sich etwas nach Backbord übergeneigt. – Er schaute auf, sah, daß das Licht des gerade heraufziehenden Tages auf einer breiten, offenen Wasserstraße schimmerte und daß die Oberfläche dieser Rinne von einem frischen Winde leicht gekräuselt wurde.

Endlich ein Luftzug – endlich!! – Schnell hatte er die Gefährten geweckt. Jan war erstaunt, daß der Morgen bereits dämmerte. Er belobte Swendsen für dessen scheinbare Selbstlosigkeit, mit der dieser allein all die Stunden munter geblieben war. Dann wurde die Ölleinwand schleunigst wieder an dem Notmast befestigt, und bald schoß das Boot in eiliger Fahrt die breite Rinne entlang. – Wohin die Fahrt ging – das war den dreien gleichgültig … Überall konnte ja die Erlösung winken – das offene Meer, wo man vielleicht einem Schiffe begegnete, noch bevor der Durst und die Hitze auch ihnen das Hirn versengt hatten.

Gegen zehn Uhr vormittags – Peter hatte soeben nach seiner Nickeluhr gesehen – brachte dann auch eine dunkle Wolke einen wohltätigen Platzregen mit. In ihren Jacken fingen die Überlebenden der „Hansa“ das rettende Naß auf, füllten das Fäßchen und tranken … tranken, obwohl das Regenwasser fade und widerlich schmeckte.

Vor ihnen wurde die Rinne jetzt enger und enger. Sie merkten, daß die Tangfelder sich wieder zusammenschoben. Jan stieg auf die Ruderbank. Hatte es ihm doch eben geschienen, als ob er da weit voraus eine größere Fläche offenen Wassers blinken sah. Er hatte sich nicht getäuscht. Die Rinne, in der sie sich soeben befanden, mündete in dieses Becken ein. Aber Eile tat not, wenn sie noch hindurch wollten, bevor die beweglichen Tangfelder das Boot wieder festhielten. So griffen sie zu den Rudern. Leidlich erfrischt durch den Regen und den reichlichen Wassergenuß arbeiteten sie mit ungeahnten Kräften. Sie durften sich nicht wieder von den Tangmassen einschließen lassen – durften nicht!! – Und es glückte, wenn auch mit knapper Not. Das Boot glitt in das Becken hinein … Peter stieß ein lautes Hurra aus … Soviel offenes Wasser hatten sie ja schon lange nicht mehr vor sich gesehen! Gut eine halbe Meile lang und halb so breit mochte diese eirunde, freie Stelle sein. Kleine Wellen warf der Wind hier empor, und eine Schar fliegender Fische waren die ersten Lebewesen, die die Schiffbrüchigen jetzt seit zwölf Tagen wieder einmal zu Gesicht bekamen.

Der Junge hatte sich auf die Ruderbank gestellt und musterte prüfend die Umgebung. Jenseits der Grenzen des Beckens nichts als das Grün der Tangwiesen, endlos, eintönig und drohend in ihrer starren, trägen Ruhe … Nirgends eine Rinne, die wie ein Fluß in diesen See mündete, nirgends … Nur ganz in der Ferne blinkten hier und da offene Stellen. Aber die waren weit, weit weg und daher unerreichbar.

Peter wollte schon das Beobachtete den beiden Gefährten wenig erfreut melden, als er plötzlich förmlich zusammenfuhr …

„Land – Land!!“ jubelte er dann. „So wahr ich Peter Kulling heiße und ein Emdener Junge bin: dort auf der anderen Seite des Sees ragt sogar ein grüner Hügel aus der Tangwiese empor …!“ –

Wieder kreischten die Dollen, in denen hoffnungsfrohe Arme die Ruder taktmäßig hin und her bewegten …

 

3. Kapitel.

Ein uraltes Wrack.

Die Meere unserer Erde sind einst nichts als gewaltige Niederungen gewesen, aus denen erst unendliche Zeiträume, die sie mit Wasser füllten, das gemacht haben, als was sie uns heute erscheinen.

Hieraus geht schon hervor, daß der Meeresboden nicht etwa, wie man vielleicht annehmen könnte, eine nach der Mitte zu allmählich tiefer werdende Senkung darstellt. Nein – die Gestaltung des Grundes unserer Weltmeere ist genau so unregelmäßig wie die der Oberfläche des Festlandes. Hochflächen, Gebirgszüge, tiefe Schluchten und einzelne hoch emporragende Berge verteilen sich nicht anders über den Meeresboden, als sie auf den Kontinenten zu finden sind.

Uns interessiert hier hauptsächlich der Atlantische Ozean und seine Tiefenverhältnisse. Zunächst sei hier bemerkt, daß seine Bodenbeschaffenheit weit einheitlicher ist wie die seines Konkurrenten an Größe, des Stillen Ozeans. Nur wenige unterseeische Gebirgszüge sind in ihm vorhanden, die mit ihren höchsten Stellen über die Meeresoberfläche hinausragen und Inseln bilden. Seine durchschnittliche Tiefe kann mit 4000 Meter bewertet werden. Nur an drei Stellen hat man bisher eine Tiefe von 6000 Meter gemessen, während die Gegend um die Azoren herum zu den flachsten des Atlantik gehört, ein Beweis, daß hier ein gewaltiges Gebirgsmassiv den Meeresboden ansteigen läßt und zwar stellenweise bis zu 20, ja noch weniger Meter Abstand von der Oberfläche.

Da nun die Hauptmasse des Sargassomeeres ziemlich genau nordwestlich der Azoren zu suchen ist, so war es für einen mit den Tiefenverhältnissen des Atlantik Vertrauten nicht weiter wunderbar, hier auf eine Reihe flacher, kaum ein Meter über den Meeresspiegel herausragender Felsriffe zu stoßen, die, zu einer Kette von gut zweihundert Meter Länge vereint, sich ziemlich genau von Ost nach West hinzogen und den nördlichen Rand des eiförmigen Wasserbeckens bildeten, das zu erreichen unseren Schiffbrüchigen eben noch geglückt war.

Diese niedrigen Felsenriffe waren zumeist mit einer dicken Schicht getrockneten oder auch modernden Seetanges bedeckt, so daß das Gestein nur hier und da offen zutage trat. Einige hatten immerhin eine solche Ausdehnung, daß man sie als winzige Eilande ansprechen konnte. Und auf dem ausgedehntesten dieser Inselchen, welches vielleicht fünfzig Meter lang und zwölf bis fünfzehn Meter breit war, landeten die Überlebenden der „Hansa“, weil sich eben auf dieser großen Klippe jener Hügel befand, der die höchste Erhebung der ganzen Riffreihe darstellte und den Peter Kulling schon von der anderen Seite des Beckens erspäht hatte.

Auch dieser Hügel war mit einer verfilzten, trockenen Decke von Seetang überzogen. Er lag am Nordrande des kleinen Eilandes, so daß die drei Gefährten jetzt erst das Inselchen durchqueren mußten, – im ganzen einige vierzig Schritte über den dicken, weichen Pflanzenteppich –, ehe sie dicht davorstanden.

„Ein merkwürdiges Dings!!“ meinte Jan Preister kopfschüttelnd. Dann trat er einige Schritte zur Seite und schaute sich auch die Rückfront an.

Der alte Seemann hatte nicht zuviel gesagt. Es war in der Tat ein eigenartiges Gebilde von Hügel. Die Südwand war fünf Meter breit. Dann senkte er sich als schräge Fläche allmählich nach Norden zu abwärts und verschwand unter der Wasseroberfläche.

Jan Preister holte jetzt sein Messer hervor, das eine einzige, breite Klinge besaß, klappte es auf und begann an der Seitenwand des Hügels den Pflanzenüberzug zu zerschneiden. Große Stücke flogen ab … Dann lachte er mit einem Mal in seiner lautlosen Art in sich hinein.

„Dacht’ ich’s doch!“ schmunzelte er, seine beiden Gefährten listig anblinzelnd. „Netter Hügel …! – Wißt ihr, was es ist? – Ein Schiffswrack! Nichts anderes! – Seht her … Ist das hier Eichenholz oder nicht?! – Na also! – Ein Wrack – hm, und zwar das eines sehr, sehr alten Fahrzeuges. Die viereckige Vorderseite des vermeintlichen Felshügels ist der Stern des einstigen Seglers, den ich seinen Abmessungen nach auf einen Dreimaster einschätze. Ein solches Heck findet man aber heute nur noch bei elenden, stinkenden Schonern, die Heringe und ähnliche duftende Dinge von England oder Norwegen über die Nordsee schleppen. – Der liebe Gott mag wissen, wann dieser Segler hier in einem Orkan auf die Felsen geworfen wurde, mit dem Heck voraus, während der Bug noch im Wasser liegen blieb. So einige Jährchen dürfte das schon her sein, glaub’ ich. Jedenfalls – wäre das Schiff nicht seiner Zeit aus Eichenholz gebaut worden, das selbst im Wasser nicht fault, so würde kaum noch etwas von ihm übrig sein. Freilich, – die Wellen haben’s ja auch besonders gut mit dem Wrack gemeint, indem sie es fein säuberlich mit Sargasso wie mit einem braunen Teppich einhüllten. – Ja, da sperrt Ihr Mund und Ohren auf!! Das ist aber wirklich mal ’ne feine Überraschung. – Nun wollen wir hier jedoch nicht wie die berühmten Ochsen vor dem berühmten Berge stehen bleiben, sondern uns das Wrack auch mal von oben ansehen – und von innen, wenn’s geht!“

Es war nicht schwer, auf das nach dem Bug zu geneigte Deck hinaufzugelangen. Auch hier lagerte überall eine stellenweise bis zu einen halben Meter dicke Decke in sich völlig verfilzter Meerespflanzen. Trotzdem waren jedoch noch sowohl die Stümpfe der Masten als auch Teile der wahrscheinlich von den Wogen zerschlagenen Kajütaufbauten am Heck zu erkennen. Hier war es, wo Jan nun mit der Arbeit beginnen ließ. Swendsen und Peter mußten gleichfalls ihre Messer zur Hand nehmen und die Trümmer der Kajüte von dem zähen Teppich befreien. Bald lag eine breite Treppe frei, die in die sechs Stufen tiefer als das Deck angelegten Kajüträume führte, deren rechte Seite nur noch einen wirren Haufen von Brettern bildete, während die linke noch tadellos erhalten war, wie sich jetzt zeigte. Die Tür dieses Raumes hing nach innen zu nur noch in den unteren Angeln. Helles Tageslicht flutete nach Entfernung der Pflanzendecke ein Stück in das länglichviereckige Gemach hinein. Und Jan Preister betrat als erster neugierig den Raum, prallte aber sofort zurück, da dicht vor ihm auf dem Boden zwei menschliche Skelette lagen, umgeben von einer Schicht grauen Staubes und einigen Stoffresten. Dann aber lachte er ärgerlich auf, stieg über die Skelette hinweg und schritt geradeaus auf die Rückwand zu, wo er in der hier lagernden halben Dämmerung ein von außen mit einem dicken Eichendeckel versichertes Fenster bemerkt hatte, das er nun öffnete. Dieser Eichendeckel ließ sich jedoch erst entfernen, nachdem Peter auf des Alten Geheiß auch vom Stern des Wracks den dicken Filzteppich losgeschnitten hatte. Jetzt drang strahlender Sonnenschein durch die Fensteröffnung in die geräumige Kajüte, jetzt vermochten die drei Gefährten jeden Gegenstand, jede Einzelheit deutlich zu unterscheiden.

Die Einrichtung bestand aus zum Teil recht kostbaren Möbeln. Diese besaßen jedoch eine Form, wie sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Mode gewesen war. An den Wänden hingen, zu Gruppen vereint, allerlei Waffen, daneben Seekarten, auf Schweinsleder gezeichnet und mit allerlei Eintragungen in verschiedenen Farben versehen.

Die beiden Skelette verschlossen Swendsen und Peter den Mund. Wenn der Alte, der alles genau besichtigte, gelegentlich das Wort an sie richtete, gaben sie nur flüsternd Antwort. Endlich merkte er, weshalb sie so still und einsilbig waren.

„Euch stören diese Knochenmänner“, meinte er gutmütig. „Schaffen wir sie also hinaus. Sie liegen uns ohnehin im Wege. Nachher wollen wir zusehen, ob wir sie nicht begraben können.“

Peter mußte die Ölleinwand aus dem Boot holen, und auf diese legte man die Skelette. Sie fielen aber sofort in einzelne Teile auseinander, als man sie aufzuheben suchte, so daß das Öltuch schließlich nur einen wirren Haufen von Gebeinen enthielt.

Jetzt fühlten Rolf Swendsen und der Schiffsjunge sich freier. Während sie sich hauptsächlich die Waffen besahen, unter denen sich gut ein Dutzend Feuersteinflinten befanden, kramte Jan Preister in einem reichverzierten Schreibtisch herum, der neben dem Fenster mit eisernen Bändern an der Rückwand befestigt war.

Was er in den verquollenen und schwer zu öffnenden Schubladen an Papieren fand, war so vermodert, daß es bei der geringsten Berührung in Staub zerfiel. Nur einige wenige auf Schweinsleder niedergeschriebene Aufzeichnungen hatten dem Zahn der Zeit getrotzt, ebenso zwei Bücher, von denen das eine das Schiffsjournal, das andere eine Bibel war.

Der Alte hatte sich jetzt einen der geschweiften Stühle herbeigezogen und studierte eifrig die Pergamente und das Schiffsjournal. Inzwischen hatte Peter, der seine Keckheit schon wieder zurückgewonnen hatte, aus einem vierarmigen, an der Wand hängenden Leuchter ein dickes Licht herausgenommen, um es anzuzünden und dann den rechter Hand gelegenen dritten Raum zu untersuchen, in den von der Kajüte aus eine niedrige Tür, die sich leicht öffnen ließ, hineinführte. Aber es zeigte sich jetzt, daß seine Zündhölzer in der Schachtel sämtlich durch die Nässe verdorben waren. Nicht besser stand es um Swendsens Streichhölzer. Und als Peter sich nun an den Alten wandte, zuckte der zerstreut gleichfalls die Achseln. Der Inhalt des Schiffsjournals schien ihn sehr zu interessieren.

Da fiel des Jungen Blick auf ein zusammenschiebbares Fernrohr, das seitwärts auf einem niedrigen Schränkchen lag. Er schraubte die unterste der Linsen ab, ging an das offene Fenster und versuchte, indem er sie als Brennglas benutzte, durch die in einem winzigen Punkt vereinigten Sonnenstrahlen die Köpfe von sechs zu einem Bündelchen zusammengefaßten Hölzchen zur Entzündung zu bringen. Der Gedanke erwies sich als praktisch. Mit leisem Zischen flammten die Köpfchen auf, und gleich darauf brannte auch das eine Wachslicht, an dem Swendsen nun ein zweites in Brand setzte, worauf er und Peter im Nebenraum verschwanden.

Als sie dann nach einer guten halben Stunde wieder in der Kajüte erschienen, war Jan gerade mit der Durchsicht des Schiffsjournals fertig geworden.

„Na, habt Ihr etwas Neues entdeckt?“ meinte er, sich behaglich in den Stuhl zurücklehnend, der bei der schrägen Lage des Wracks allerdings recht schief stand.

Peter nickte eifrig. „Sehr viel sogar, sehr viel! Aus dem Nebenraum dort läuft eine Treppe in die unteren Schiffsräume hinab. Wir haben diese genau in Augenschein genommen, der Swendsen und ich. Und wir sind zu der Ansicht gelangt, daß dieses Wrack mal ein Kriegsschiff gewesen sein muß. Es gibt hier ein richtiges Batteriedeck mit zwölf Geschützluken auf jeder Seite. Die alten Vorderladerkanonen sind auch noch vorhanden, nur etwas durcheinander geworfen. Sogar bis in den Kielraum kletterten wir hinab. Nur die Räume des Vorderteils stehen unter Wasser. Sonst kann man sich überall frei bewegen – überall. Da gibt’s zum Beispiel mittschiffs eine Kombüse (Küche), die mit allem versehen ist, was man an Geschirr braucht. Nur … Eßbares fehlt gänzlich! Aber im Laderaum hier gerade unter der Kajüte liegen eine Menge Fässer und Kisten, die wir noch nicht auf ihren Inhalt hin untersucht haben.“

Der Alte machte jetzt eine einladende Handbewegung nach dem altertümlichen Sofa hin, vor dem ein großer, runder Tisch stand.

„Setzt Euch mal ein bißchen. Dann will ich Euch erklären, was für ’ne Art Kriegsschiff dieser Dreimaster, der den schönen Namen „Teufelskralle“ – ins Deutsche übersetzt – führte, gewesen ist. Aus dem Schiffstagebuch hier geht’s hervor. – Ich weiß nicht, ob Ihr mal was von dem Holländer van Decken gehört habt? – Nicht? – Nun, damit beweist Ihr nur, daß Ihr noch echte Grünschnäbel seid und Euch zum Seemann nicht weniger als alles fehlt. Einer Landratte ist’s zu verzeihen, wenn sie die Namen der berühmtesten Freibeuter nicht kennt. Aber für einen Maat geziemt es sich, die Korsaren aller Zeiten wie am Schnürchen herleiern zu können. Waren diese Burschen auch zumeist recht blutdürstige, habgierige Scheusale, so muß man es ihnen doch lassen, daß sie ihr Seemannshandwerk glänzend verstanden. – Nun – van Decken war auch ein solcher Korsar, ist es aber eigentlich mehr aus Haß gegen England als aus Habsucht geworden. Erst war er ein ehrlicher Kapitän wie jeder andere. Dann trat er in die Dienste des großen Napoleon und führte eine Fregatte. Zu der Zeit, als die Engländer den Korsen nach St. Helena geschleppt hatten, begann van Decken, der in Napoleon das größte Feldherrngenie aller Zeiten verehrt hatte, auf eigene Faust dem englischen Überseehandel nach Kräften Abbruch zu tun, kurz – er wurde Pirat. Ganze Geschwader haben auf ihn und seinen schnellen Dreimaster „Teufelskralle“ Jagd gemacht. Aber van Deckens überlegene Kunst als Schiffsführer spottete aller Verfolgungen. Von weit her strömten ihm tüchtige Männer zu, die unter seiner Flagge, einem schwarzen Tuch mit einer weißen, geballten Faust darauf, dienen wollten. Und diese Leute waren nicht etwa verkommenes Gesindel, sondern sämtlich wütende Englandfeinde, die in dem riesigen britischen Kolonialreich schon damals den Welttyrannen erblickten. 1818 verfügte van Decken über insgesamt fünf Schiffe, mit denen er im März einen Versuch zur Befreiung Napoleons unternahm. Das Wagnis mißglückte. In einem Seegefecht gegen eine weit stärkere Flotte verlor er vier seiner Schiffe und mußte mit der arg zerschossenen „Teufelskralle“ flüchten, hatte aber die Genugtuung, vier englische Fregatten bei dem stundenlangen Kampf in den Grund gebohrt zu haben. – Aus seinen Eintragungen geht hervor, daß sein Dreimaster am 4. August 1818 hier strandete. Er und seine Leute sind dann, nachdem das Sargassomeer sich wieder fest zusammengeschoben hatte und jeden Ausweg versperrte, infolge von Hunger und Durst eines qualvollen Todes gestorben. Seine letzte Aufzeichnung trägt das Datum des 25. August 1818. – So, das wäre das wichtigste. Hinzufügen will ich noch, daß van Decken, wie man sich erzählt, nie irgend welche Grausamkeiten verübt hat, und den größten Teil seiner Beute den alten napoleonischen Veteranen zukommen ließ. Er ist also ohne Frage ein Charakter gewesen, dem man eine gewisse Achtung nicht versagen kann. – Nahrungsmittel, die im Laufe der Zeit ohnehin verdorben wären, dürften wir hier also nicht finden.“

„Aber vielleicht irgend welche Beutestücke“, fiel Swendsen hastig ein. „Ich denke, wir untersuchen sogleich die Fässer und Kisten da unten. Sie sind zum Teil recht schwer. Ich habe ein paar davon angehoben.“

„Hinterm Golde scheinst Du ja mächtig her zu sein!“ meinte Jan Preister unwillig. „Zunächst haben wir hier besseres zu tun, wenn es uns nicht ebenso ergehen soll, wie der Besatzung der „Teufelskralle“. Wir befinden uns jetzt gerade in der Jahreszeit, wo die beiden Arme des Golfstromes, die um das Sargassomeer herumlaufen, eine Menge Niederschläge bringen, die wir sammeln müssen, um genug Trinkwasser zu haben. Mit dem Sammeln allein ist’s aber nicht getan. Das Regenwasser soll sich auch halten, und das tut’s am besten in einer Zisterne. Wie wir uns eine solche anlegen, weiß ich bereits. Davon später. – Als erstes jedoch brauchen wir etwas Eßbares. Fische scheint es in dem Becken reichlich zu geben. Wenigstens bemerkte ich vorhin bei der Brandung im flachen Wasser recht stattliche Lachse und Schellfische. Ich werde uns jetzt also ein paar Angeln anfertigen, Eisen zu Haken ist genug vorhanden, und Material zu Schnüren besitzen wir auch. Nur Köder – wo nehmen wir Köder her …?!“

„Oh, dafür ist auch gesorgt“, erklärte Peter eifrig. „In den faulenden Teilen der Tangdecke sah ich sowohl Seekrabben als auch ein paar dicke, wurmähnliche Tiere, die ganz weiß wie Maden sind.“

Der Alte nickte vergnügt. „Also dann an die Arbeit. Wenn ich die Angeln fertig habe, geht Ihr beide auf den Fischfang aus. Ich werde inzwischen den Eingang zur Kombüse freilegen. Haben wir Glück, so steht nach zwei Stunden ein schönes Gericht auf dem Tisch.“

 

4. Kapitel.

Die Robinsons auf den Sargassoriffen.

Bereits nach einer halben Stunde hatte Jan fünf Angeln fertig. Die genügten für’s erste. – Peter Kulling und Swendsen fuhren ein Stück in das Becken hinaus, um das Angelgerät sofort zu erproben. Der alte Seemann aber zündete mit Hilfe des einen noch brennenden Lichtes die an der Decke der Kajüte hängende, noch halb gefüllte Öllampe an und begann nun auch seinerseits die unteren Schiffsräume zu besichtigen.

Er suchte nach etwas ganz Bestimmtem: Schießpulver und Rauchtabak. – Hierzu mußte er notwendig einige der Fäßchen mit einem Beil, das er sich aus der Kammer des Schiffszimmermannes holte, aufschlagen. Zu seiner großen Freude fand er beides, Pulver und Tabak, in so großer Menge vor, daß er diesen ersten Erfolg seiner Forschungsreise durch die Räume des einstigen Korsarenfahrzeugs als glückliche Vorbedeutung ansah und nun wieder mit aller Ruhe der Zukunft entgegenblickte.

Das Pulver war durch das lange Lagern zwar zu festen Stücken zusammengeballt worden, sonst aber noch vollständig gebrauchsfähig. Auch den Tabak schmeckte der Alte sofort, um endlich wieder einmal seinen geliebten Nasenwärmer qualmen zu sehen. Nun – ein Genuß war dieses durch die Feuchtigkeit halbverdorbene Kraut gerade nicht. Immerhin schmeckte und roch es noch etwas nach Tabak. Und das blieb die Hauptsache.

Bei der Untersuchung der Fäßchen war Jan doch neugierig geworden, woraus die übrige Ladung der „Teufelskralle“ wohl bestehen mochte. Zu seiner nicht geringen Überraschung fand er ein paar der größten Tonnen mit Goldstaub, Silber- und Goldbarren und allerlei Schmuckstücken gefüllt. Ferner enthielten die meisten Kisten kostbare, golddurchwirkte Stoffe und andere wertvolle Gegenstände der verschiedensten Art. Jedenfalls lagerte hier ein riesiges Vermögen, herrenloses Gut, das dem gehörte, der es in Besitz nahm. – Jan Preister lachte trotzdem verächtlich vor sich hin. Was halfen ihm und seinen Gefährten hier alle Reichtümer, wo sie von der Außenwelt so gut wie abgeschnitten waren …!! Ein paar Fässer Pökelfleisch und Schiffszwieback wären ihm lieber gewesen.

Dann begann er auf dem Deck den Zugang zu der Kombüse von dem Pflanzenteppich freizumachen. Mit Hilfe eines großen Bootshakens riß er die Tangdecke auseinander und hatte auch bald die kleine Treppe bloßgelegt, die zu der reichausgestatteten Küche hinabführte. Hier sah es recht wüst aus. Aber er schuf bald Ordnung, zündete im Herd ein Feuer an und säuberte das nötige Geschirr. Kaum hiermit fertig, hörte er auch schon Peter Kullings lautes „Hallo!“, durch das der Junge schon von weitem einen guten Erfolg des Fischzuges anzeigte.

Salz und allerlei Gewürze gab es in der Vorratskammer noch in großen Mengen. Und tatsächlich stand schon eine Stunde später eine dampfende Fischsuppe auf dem Tisch der Kajüte, den Peter durch Unterlegen von Bretterstücken unter die Tischbeine leidlich gerade gestellt hatte. – Selten hat wohl drei Menschen eine Mahlzeit so geschmeckt wie diese. Hier traf ja nicht lediglich das Sprichwort zu: „Hunger ist der beste Koch!“ Nein, der alte Jan hatte seine Sache wirklich vorzüglich gemacht. Drei von den gefangenen Lachsen, recht stattliche Exemplare ihrer Art, ergaben ein Gericht, an dem nur noch Butter als Zutat fehlte, um es auch einem verwöhnten Gaumen anbieten zu können.

Während man von dem altertümlichen Geschirr und mit silbernen Löffeln, Gabeln und Messern speiste – auf ganz einwandfreie Weise waren diese teuren Eßbestecke sicherlich nicht an Bord des Piratenschiffes gelangt! – traf Jan Preister seine Anordnungen für den Rest des Tages. Da der Aufenthalt in der Kajüte mit dem schrägen Boden auf die Dauer nicht gerade angenehm war, wollte der Alte aus den Trümmern der Nebenkajüte ein kleines Häuschen neben dem Wrack errichten. Handwerkszeug gab es ja genug auf der „Teufelskralle“, ebenso auch Nägel, eiserne Bänder und anderes, was man gut verwerten konnte. Daher sollten Swendsen und Peter sogleich mit den Vorarbeiten beginnen, während Jan selbst an einer geeigneten Stelle des winzigen Klippeneilandes in den Fels eine Zisterne mittels Pulver aussprengen wollte. Daran, eine möglichst große Menge Regenwasser zu sammeln, lag ihm am meisten.

Swendsen, überhaupt ein ziemlich träger Mensch, war wenig erfreut über die Aussicht, hier sogleich gehörig arbeiten zu müssen. Er meinte denn auch, man solle sich heute doch erst mal nach all den Strapazen ausruhen. Morgen sei doch auch noch ein Tag, und … „Eile mit Weile!“ – Aber Jan ließ sich in seine Entschlüsse nicht hineinreden. – „Ich bin hier der Älteste. Und wenn es Dir nicht paßt, mir zu gehorchen, so kannst Du Dich ja auf einem der anderen Inselchen allein häuslich einrichten oder faulenzen, ganz wie es Dir beliebt“, sagte er barschen Tones, da er den Matrosen, der von seinem Handwerk auffallend wenig verstand, nicht sehr schätzte.

Swendsen lenkte denn auch sofort wieder ein. Er war einer von jenen Charakteren, die jedem zum Munde reden, wenn es ihr Vorteil erheischt, und dabei heimlich die Faust in der Tasche ballen.

Bei leicht bedecktem Himmel begannen unsere drei Robinsons ihre Tätigkeit. – Swendsen und der Schiffsjunge rissen die zertrümmerte Kajüte auseinander, die offenbar dem Steuermann des Korsaren zur Wohnung gedient hatte. Das so gewonnene Holz stapelten sie neben dem Wrack an einer Stelle auf, die Jan vorher als zukünftigen Platz für die Hütte bestimmt hatte.

Der Alte wieder hatte bald an der Westspitze des Eilandes eine erhöhte Felspartie gefunden, die sich unschwer nach der Mitte zu vertiefen ließ und dann eine ganze Menge Regenwasser auffangen mußte. Das Gestein war hier an der Oberschicht ziemlich rissig und brüchig, so daß Jan die von ihm selbst sehr geschickt hergestellten Sprengpatronen zahlreich in dem harten Boden unterbringen konnte. Er hatte sie mit Zündschnüren versehen, die aus dünn aufgeschütteten Pulverlinien bestanden, welche sich sämtlich in einem stärkeren Pulverstrich vereinigten, der bis zum Schiffe hinlief. Gegen sechs Uhr nachmittags fand die erste Sprengung statt, indem der Alte den Pulverstrich anzündete, so daß eine zischende Flamme blitzschnell nach der zukünftigen Zisterne hinschoß und gleich darauf eine Menge von Detonationen erfolgte, die fast zu einem einzigen Knall verschmolzen.

Der Erfolg entsprach durchaus Jans Erwartungen. Das lose Gestein, darunter recht bedeutende Stücke, wurde von dem Alten schnell fortgeräumt und alles für eine zweite Sprengung vorbereitet. Bis zum Abend hatte er auf diese Weise bereits eine Mulde von drei Meter Durchmesser geschaffen, die nur in der Mitte noch weiter ausgehöhlt zu werden brauchte, um als Regensammelbecken dienen zu können.

Die Abendmahlzeit, diesmal geröstete Fische, vereinigte die drei Gefährten wieder in der Kajüte. Dann bereitete man sich aus den kostbaren Stoffen, die die Piraten seinerzeit erbeutet hatten, die nötigen Lagerstätten, und sehr bald waren Swendsen und Peter eingeschlafen. Nur der Alte lag noch lange wach. Trotz seiner Jahre besaß er einen selten regen Geist. Und in Gedanken überlegte er sich jetzt genau, wie er und seine Gefährten sich ihr Leben hier auf den Sargassoriffen einrichten sollten, und wie er es möglich machen könnte, später in bewohnte Gegenden zurückzukehren.

So blieb er wohl noch eine Stunde munter. Dann wurde er auf Swendsen aufmerksam. Der warf sich unruhig auf seinem Lager hin und her. Schwere Träume schienen ihn zu ängstigen. Hin und wieder murmelte er auch ein paar Worte im Schlaf. Manches verstand Jan ganz gut, da er sowohl das Holländische als das Englische beherrschte. Ersteres war ihm bei der Durchsicht der Aufzeichnungen van Deckens zugute gekommen, letzteres wieder sprach jetzt der von tiefem Schlaf befangene Swendsen.

Gold und Diamanten schienen die Hauptrolle in dessen wilden Träumen zu spielen. Jetzt hörte Jan ganz deutlich, wie Rolf Swendsen heiser flüsterte: „Kessel – die Dynamitpatrone – „Phönix“ in die Luft fliegen …“ – Die Zwischenworte verstand der Alte nicht. Aber auch dies genügte ihm.

Ein unsicherer Verdacht zuckte plötzlich in ihm auf. Er kannte ja die Geschichte des rätselhaften Unterganges des Schoners, der nach einem heftigen Knall im Laderaum sehr schnell weggesunken war, wußte auch, daß damals schon gemutmaßt wurde, verbrecherische Hände hätten hier nachgeholfen. – Jetzt, wo Swendsen dies im Traum so offen aussprach und sogar eine Dynamitpatrone erwähnte, entstand mit einemmal in dem schlauen Jan Preister, der sich nicht umsonst jahrzehntelang in aller Herren Länder umhergetrieben hatte, ein so starkes Mißtrauen gegen den habgierigen Burschen, der aus seiner Sucht nach schnellem Reichtum kaum ein Hehl machte, daß er beschloß, Swendsen fortan schärfer zu beobachten, besonders da er an dessen deutscher Abstammung schon längst gezweifelt hatte.

Über diesen wenig angenehmen Gedanken, womöglich einen gefährlichen Bösewicht zum Gefährten zu haben, schlief er schließlich doch ein. –

Am nächsten Tage wurden die begonnenen Arbeiten mit allem Eifer fortgesetzt. Jan hatte die Zisterne bis zum Abend ganz nach seinem Wunsch vollendet und hoffte jetzt auf recht ergiebigen Regen. Aber der ließ eine halbe Woche auf sich warten, so daß der Alte bereits sorgenvoll die schnelle Abnahme des alten Trinkwasservorrates feststellte. Inzwischen war die Hütte fertig geworden. Da die vorhandenen losen Bretter bei weitem nicht hingereicht hatten, mußte man aus dem Wrack eine Anzahl Verschläge herausbrechen. Das Häuschen war dann aber auch recht schmuck ausgefallen, besaß drei Räume, Fenster und einen Küchenanbau, und war mit den wertvollen Möbeln aus den Kajüten ausgestattet. Später, als erst zu Jans großer Freude eine Menge von Seehunden sich auf den Sargassoriffen einfanden, die sie jährlich zur Paarungszeit zu besuchen schienen, bereitete er dann auch aus Tran und gebrannten, feingestoßenen Knochen eine helle Farbe, mit der er das Häuschen übermalte.

Der heißersehnte Regen kam schließlich auch und dann gleich als wahre Sintflut, so daß unsere Robinsons sechs Tage lang ihre Hütte kaum verlassen konnten. Um möglichst viel Regenwasser aufzufangen, stellten sie noch Tonnen und Fässer auf, so daß sie, als das Wetter wieder klar wurde, mit dem notwendigen Naß für lange versorgt waren.

Der Alte, der wohl wußte, daß ein regelmäßiges Leben, in dem Arbeit und Erholung zweckmäßig verteilt sind, die beste Abwehr gegen Krankheiten und die schädliche Langeweile bildet, hielt streng darauf, daß stets nach einer vorher festgelegten Tageseinteilung die Zeit ausgefüllt wurde. Für Beschäftigung sorgte er schon. Zunächst wurde jetzt eine zweite, noch größere Zisterne auf dem benachbarten Inselchen angelegt. Dann wurde ein vorn offener Schuppen mit weit überragendem Dach gebaut, um auch bei schlechtem Wetter dort allerlei Tischler- und Zimmermannsarbeiten erledigen zu können. Neben dem Schuppen erhob sich auch bald ein Räucherofen und eine Vorrichtung zum Trocknen von Fischen an freier Luft.

Jan Preister hatte bei alledem eine ganz bestimmte Absicht im Auge. Er wollte eine große Menge Proviant zurücklegen und eine solche Menge Trinkwasser ansammeln, daß man es wagen durfte, bei guter Gelegenheit, das heißt, wenn das Sargassomeer nach heftigen Stürmen von breiteren Rinnen durchzogen war, das Inselchen im Boot zu verlassen und zu versuchen, aus dieser Gefangenschaft sich zu befreien.

Aus diesem Grunde hatte er noch eine große Anzahl von Angelschnüren angefertigt, die jeden Abend, mit Köder besteckt, und in Abständen an einer Leine befestigt, welche sich von der einige fünfzig Meter von der Insel verankerten Boje bis zum Lande ausspannte, ausgelegt wurden und täglich guten Fang lieferten. – Als Räuchermaterial hatte man lediglich trockene Algen, eben die Pflanzen der Tangmassen, zur Verfügung. Diese enthalten etwas Jod und werden daher von den Matrosen vielfach ausgekocht und der Abguß dann gegen mancherlei Krankheiten getrunken. Der Jodgehalt gab den Fischen zwar einen strengen Geschmack, war aber auch ein gutes Konservierungsmittel. Die geräucherten Fische wurden leicht gesalzen und fest in Tonnen gepackt. Nach einem Monat besaßen die drei Gefährten bereits einen stattlichen Vorrat hiervon.

Dann erschienen eines Tages ganz unvermutet die ersten Robben. Die Anwesenheit dieser Meeressäugetiere bedeutete jedoch für die Schiffbrüchigen, wie sich leider bald herausstellte, keine ganz reine Freude, da die gefräßige Gesellschaft allnächtlich die Angeln plünderte und dabei die Schüre zerriß. Anderseits lieferten besonders die jungen Tiere ein gar nicht übel schmeckendes Fleisch, so daß der Fischfang nun ganz eingestellt wurde und man eifrig, aber auch nicht im Übermaß, der Robbenjagd oblag, wobei man sich der Steinschloßflinten bediente, die Jan bald in Ordnung gebracht hatte. Eingepökeltes, frisches und geräuchertes Robbenfleisch bildete eine willkommene Abwechslung nach dem ewigen Fischgenuß. Außerdem gewann man jetzt auch reichlich Tran, den man für mancherlei Zwecke gut gebrauchen konnte. – Die Robben wurden jedoch durch den Knall der Schüsse sehr bald so scheu, daß es allerlei Listen bedurfte, um sie beschleichen zu können.

Inzwischen hatte Jan Preister eine neue Arbeit in Angriff nehmen lassen: er wollte das Boot mit einem Verdeck ausstatten, um es seetüchtiger zu machen, ebenso es auch mit einer richtigen Kuttertakelage ausrüsten. – Zu diesem Zweck wurde vom Strande bis zum Schuppen eine Gleitbahn aus Brettern gebaut und so das Boot unter Dach und Fach gebracht, wo dann die nötigen Einbauten vorgenommen wurden.

In der zehnten Woche ihrer Anwesenheit auf den Sargassoriffen konnte der nunmehr gedeckte Kutter seinem Element wieder übergeben werden. Mittlerweile waren auch die aus weichgegerbten, enthaarten Robbenhäuten hergestellten Segel fertig geworden, so daß man einige Probefahrten erledigte, die zu Jan Preisters voller Zufriedenheit ausfielen.

Nichts hielt die drei Robinsons jetzt auf ihrem Inselchen mehr zurück. Jede Stunde konnten sie, falls sich günstige Rinnen öffneten, abfahren. Das Boot war auf gut sechs Wochen verproviantiert, und im Vorschiff lagen neben dem Koffer mit den Diamanten auch ein Teil der Goldbarren, die man hatte als Ladung beifügen können, soweit der Kutter diese Belastung vertrug.

 

5. Kapitel.

Swendsens Ende.

Während dieser ganzen Zeit hatte Swendsen keinerlei Anlaß zu Klagen gegeben. Er verrichtete das ihm Aufgetragene willig, wenn auch ohne Freude an der eigenen Arbeit.

Jan Preister hatte ihn nach jener Nacht, in der der Matrose die verdächtigen Worte im Schlaf gesprochen hatte, gut vierzehn Tage lang stets unauffällig beobachtet und sein Benehmen daraufhin geprüft, ob Swendsen nur den Deutschen spiele, in Wirklichkeit aber vielleicht ein Engländer sei. Dieses Belauern hatte jedoch keinen Erfolg eingebracht. Der Alte wurde sich darüber nicht klar, ob er dem Manne in Gedanken damals etwa Unrecht getan habe.

Dann kam wieder eine Nacht, in der Swendsen sich im Traume äußerst lebhaft mit den Goldschätzen des Piratenwrackes und dem Diamantenkoffer zu beschäftigen schien. Diese Träume waren offenbar darauf zurückzuführen, daß man an demselben Abend kurz vor dem Schlafengehen bei einem Spaziergang über die Riffe die Frage erörtert hatte, welchen Wert wohl die Ladung der „Teufelskralle“ haben möge. Bei diesem Gespräch war wieder deutlich Swendsens Goldgier zum Vorschein gekommen. Er sprach, eifrig mit den Armen in der Luft herumfechtend, die Absicht aus, man müsse später beim Verlassen des Inselchens unbedingt alles Gold und Silber mitnehmen, überhaupt sämtliche leicht im Boot zu verstauenden Sachen von Wert, und lieber die Proviantvorräte knapper bemessen, worauf der alte Preister spöttisch erklärte, „ne Goldbarre läßt sich ja auch ebenso gut verdauen wie ein geräucherter Fisch, wenn’s nottut!!“

Und in dieser Nacht murmelte Swendsen nun abermals etwas von Dynamitpatronen und dem Schoner „Phönix“ vor sich hin, und nach einer Weile lauter und energischer, als ob er sich mit jemandem zanke: „Auch Hansa … sprengen – nicht anders geht …“

Da war dem alten ehrlichen Jan förmlich ein eisiger Schauer über den Rücken gelaufen.

Klar stand ihm noch das Bild vor Augen, wie mit einemmal über dem Deck des Bergungsdampfers die weiße Dampfwolke erschienen war und wie die „Hansa“ dann unter mehrfachen Explosionen in den inneren Schiffsräumen wie ein Bleigewicht in die Tiefe geschossen war …

Dynamit …!! Ja, nur ein Sprengstoff von höchster Kraft hatte den Boden oder die Wände des Dampfers so arg zerreißen können, daß das Schiff wie ein Stein wegsackte.

Jetzt sah Jan Preister völlig deutlich das fluchwürdige Verbrechen vor sich, dem eine Anzahl braver Seeleute und zwei Fahrzeuge bisher zum Opfer gefallen waren, jetzt erst erinnerte er sich des Umstandes, daß dieser Swendsen sich bei der Bergungsgesellschaft für ganz bescheidenen Lohn hatte anwerben lassen und alles darangesetzt hatte, mit der „Hansa“ die Fahrt zu der Untergangsstelle des Schoners mitmachen zu dürfen …

In dieser Nacht tat der Alte kein Auge zu. Am nächsten Tage hatte er dann bei guter Gelegenheit seinen kleinen Freund, den Schiffsjungen, beiseite genommen und die Angelegenheit ganz offen mit ihm durchgesprochen. Peter erklärte hierbei, auch er habe die Überzeugung, Swendsen sei kein Deutscher, da er in Swinemünde, wo er herstammen wolle, gar nicht Bescheid wisse und auch über die Umgebung dieser Hafenstadt so wenig unterrichtet sich gezeigt habe, daß dies mehr als auffallen müsse. – Die beiden verabredeten nun, jederzeit ein scharfes Auge auf Swendsen zu haben, dem man auch das Schlimmste zutrauen konnte.

Besonders wachsam wurden Jan und Peter aber, nachdem der Kutter fix und fertig zu jederzeitiger Abfahrt bereitlag. –

Ein paar Sturmtage, die selbst das Sargassomeer[1] in eine wallende grüne Fläche verwandelten, verschafften den drei Robinsons dann die Aussicht, daß die Tangwiesen sich hie und da auseinanderschieben könnten, um den Kutter hindurchzulassen.

Jan Preister kletterte jetzt fast jede Stunde auf die höchste Stelle des Wracks und hielt mit dem Fernrohr nach allen Seiten Ausschau. – Gewiß – offenes Wasser sah er an verschiedenen Punkten aufblinken. Aber die Hauptsache, ein Ausgang aus dem Becken, das sein Freibleiben von Tangflächen ohne Frage nur unsichtbaren, eiförmigen Riffreihen verdankte, durch die die tief herabreichenden, verschlungenen Algen am weiteren Vordringen verhindert wurden, wollte und wollte sich nicht bilden.

Am zweiten Tage nach dem Abflauen des Orkanes zeigte sich gegen Abend im Süden eine breite Rinne, die zusehends sich erweiterte und schließlich nur noch einige fünfhundert Meter mit ihrer Nordspitze von dem Becken entfernt war. Jan ordnete daher an, daß man während der Nacht abwechselnd wachen wolle, damit, falls die Rinne etwa sich bis zum Becken ausdehne, man diese gute Gelegenheit nicht verabsäume.

Die erste Wache von zehn bis ein Uhr sollte Peter übernehmen. Ausgerüstet mit dem Fernrohr, das bei dem hellen Mondlicht und dem klaren Sternenhimmel recht gut die Sehkraft der Augen unterstützte, bestieg der Schiffsjunge das Wrack und setzte sich oben auf dem Kajütenaufbau nieder. Aber die drei Stunden schlichen hin, ohne daß die Rinne nach Norden zu länger geworden wäre.

Die zweite Wache hatte Rolf Swendsen.

Als Peter, nachdem er dem Matrosen das Fernrohr übergeben und ihm auch gute Nacht gewünscht hatte, den Schlafraum der Hütte leise betrat, um den Alten nicht aufzuwecken, flüsterte dieser ihm zu:

„Ich bin ganz munter, mein Junge, – munter und ebenso wachsam, als stände ich draußen auf der „Teufelskralle“. Wir müssen jetzt doppelt auf unserer Hut sein und stets abwechselnd wach bleiben, um zu verhüten, daß Swendsen nicht etwa mit dem Kutter allein davonfährt, sobald eine Rinne von hier in das Sargassomeer hineinführt. Wir wollen uns also abwechselnd draußen auf die Türschwelle setzen, von wo aus wir das Boot im Auge behalten können. Erst ich anderthalb Stunden, dann Du … – Sicher ist sicher …!“

Jan bezog denn auch sofort seinen Beobachtungsposten. Der Inselstrand und der dort festgemachte Kutter lagen keine zwanzig Schritte vor ihm. Doch der brave Preister hatte sich doch etwas zu viel zugetraut, als er bei seinem Alter sich vornahm, volle anderthalb Stunden auf einem Fleck still zu sitzen, ohne sich vom Schlaf überwältigen zu lassen.

Ein paarmal war ihm der Kopf schon auf die Brust gesunken. Dann fuhr er stets gleich wieder erschreckt auf. Er durfte ja nicht einschlafen – durfte nicht! – Und der Kampf mit der Müdigkeit ging weiter … Abermals nickte er ein. Und jetzt zeigten bald gurgelnde Schnarchtöne an, daß er fest eingeschlafen war.

Peter Kulling dagegen hatte die Erwartung, ob sich vielleicht etwas Besonderes während Swendsens Wache ereignen würde, bisher munter erhalten. Er hörte das wohlbekannte Schnarchkonzert des alten Mannes, und sofort erhob er sich leise, um Jan abzulösen. Er weckte ihn, tat so, als ob die anderthalb Stunden bereits vorüber wären, und wollte sich dann gerade auf die Türschwelle niederlassen, als er zufällig aufschaute und erschreckt zusammenzuckte …

Der Kutter schwamm bereits einige zwanzig Meter vom Strande entfernt auf dem Wasser, und ganz deutlich erkannte Peter, wie Swendsen eben das Segel losmachte.

Kein Zweifel: der Schurke wollte fliehen! Und sicherlich war er nach dem Boot geschlichen, als der alte Jan bereits fest schlief.

Mit einem Satz sprang Peter in den Schlafraum, der durch eine qualmende Tranlampe notdürftig beleuchtet war, die Preister absichtlich hatte brennen lassen.

Jan hatte es sich soeben auf seinem Lager bequem gemacht. Als der Junge jetzt wie ein losgeschnellter Pfeil auf ihn zugeschossen kam, ahnte er schon, daß draußen etwas passiert sein müsse.

Ehe Peter noch den Mund zu dem beabsichtigten Alarmruf öffnen konnte, winkte Preister ihm schon mit der Hand warnend zu und flüsterte: „Leise – leise –, mag geschehen sein, was da will …!“

Peter brauchte nur ein paar Worte, um Swendsens Flucht dem Alten mitzuteilen. – Der blieb merkwürdig ruhig.

„Sehen wir uns die Bescherung an“, meinte er. „Aber lassen wir uns ja nicht blicken! Swendsen soll weiter annehmen, daß wir ahnungslos fest schlafen.“

In der Eingangstür der Hütte stellten sie sich auf und schauten dem Kutter nach, der jedoch noch immer ziemlich auf demselben Fleck lag.

Jan Preister kicherte jetzt leise in sich hinein. „Ich habe die Ruder bis auf eins am Abend in den Schuppen getan, als Ihr beide in der Küche das Geschirr reinigtet“, flüsterte er. „Absichtlich tat ich’s. Mit den Segeln wird Swendsen nicht recht fertig. – Sieh nur, wie ungeschickt er sich benimmt und wie …“ Er unterbrach sich. „Dacht’ ich’s mir doch!“ fuhr er dann hastig fort. „Darauf habe ich gerechnet, seit der Wind umsprang, als ich hier auf der Schwelle saß. Swendsen muß kreuzen … Anders kommt er nicht von der Insel fort. – Los, Junge, hole zwei geladene Flinten aus dem Wohnraum. Aber hurtig …!“

Peter wußte nicht, was Jan vorhatte, tat aber, was ihm befohlen wurde.

Der Alte sah die Zündpfannen der Steinschloßgewehre nach, ob auch Pulver darin sei. Dann ein kurzes: „Folge mir!“ und schon schlich er gebückt nach Westen dem nächsten Inselchen zu, watete durch den flachen, trennenden Wasserarm und strebte so der westlichen Spitze der Riffreihe zu.

Hier angelangt, warf er sich lang auf den Tangteppich des Felsens und winkte Peter neben sich. Er keuchte noch von der Anstrengung, da sie die letzten fünfzig Meter in schnellem Lauf zurückgelegt hatten. Und heiser raunte er jetzt dem Knaben zu: „Ich hab’s mir genau berechnet. Swendsen muß beim Aufkreuzen sich uns hier bis auf Schußweite nähern, andernfalls erreicht er nie bei diesem Winde seinen Zweck … Schau hin – da kommt der Kutter schon …! – Schurke, warte, Dir zahle ich’s heim!!“

Jan Preister hatte sich mit den Steinschloßflinten bei der Robbenjagd recht gut eingeschossen. Auf hundert Schritt hoffte er selbst bei dem unsicheren Mondlicht sein Ziel zu treffen.

Das Boot näherte sich in spitzem Winkel den äußersten westlichen Riffen. Auch Peter erkannte jetzt, wie richtig der alte Seemann die Lage überschaut hatte.

Noch hundert – noch achtzig – noch vierzig Meter … Swendsen stand am Steuer, das er mit der Rechten bediente, während er mit der Linken die Schote (Leine) des Großsegels hielt, um rechtzeitig wenden zu können.

Da plötzlich Jan Preisters Stimme wie eine Trompete:

„Augenblicklich landest Du, Bursche, – augenblicklich, – sonst …!!“

Aber Swendsen schien auf diese Überraschung vorbereitet. Er hatte die beiden Gestalten vielleicht bemerkt, die über die Riffe hineilten. Jedenfalls stieß er ein höhnisches Gelächter aus, riß das Steuer herum und ließ die Schote locker …

Ein blaffender Knall, wie ihn nur Vorderlader ergeben, erschütterte die Luft … Swendsen schrie auf, taumelte und sank nach vorn über, so daß er mit der Brust auf die Ruderpinne (Hebelarm des Steuers) zu liegen kam. Der steuerlos gewordene Kutter aber beschrieb einen Bogen und fuhr sich dreißig Meter östlich von dem Standorte Jans und Peters auf den Riffen fest. –

Swendsen war die Kugel von der Seite durch die Brust gegangen. Er lebte noch, als die beiden Deutschen, die er hatte auf dem Inselchen zurücklassen wollen, ihn aufhoben und an Land trugen, röchelte aber so schwer, daß sein Ende nahe bevorzustehen schien.

Preister kniete neben ihm. Jetzt schlug der Todwunde die Augen auf.

„Swendsen“, sagte Jan auf Englisch, indem er sich tief über den Sterbenden beugte, „in wenigen Minuten stehst Du vor Gottes Richterstuhl. Erleichtere Dein Gewissen. Hast Du den „Phönix“ und die „Hansa“ durch Dynamit in die Tiefe geschickt? Und – war’s der Diamanten wegen?“

Ein schwaches Nicken war die Antwort.

„Bist Du ein Engländer?“ forschte Jan weiter. „Und hast Du noch Helfershelfer bei diesem Verbrechen gehabt?“

Abermals neigte Swendsen den Kopf. Dann ging es wie ein Ruck durch seinen Körper … Er war tot. – –

Schnell wurde die Leiche mit Stücken des Tangteppichs zugedeckt, schnell mußte Peter vorauslaufen und die Ruder holen. Hatten die beiden letzten Überlebenden der „Hansa“ doch keine Minute zu verlieren, wenn sich die Rinne im Süden, die jetzt, was aus dem Verhalten Swendsens ja klar ersichtlich war, bis an das Becken sich hinzog, nicht wieder schließen sollte, bevor der Kutter den Ausgang erreicht hatte.

Aber die Vorsehung meinte es gut mit Jan und Peter. Der Weg nach Süden zu war noch offen, als sie das Becken durchquert hatten. Die Rinne, die stellenweise bis zu fünfhundert Meter breit war, beschrieb sehr bald einen Bogen nach Osten, so daß die Segel nun entfaltet werden konnten. Als der Morgen graute lagen die Sargassoriffe schon weit, weit hinter ihren einstigen Bewohnern.

Die Leiden der beiden Gefährten begannen jetzt aufs neue. Vier endlose Wochen brauchten sie, bevor sie nach einem neuen furchtbaren Orkan, der das Sargassomeer für Tage in eine Anzahl großer Tangfelder zerteilte, die freie See gewannen.

Hier überraschte sie ein zweites Unwetter. Wild wurde der Kutter hin und hergeworfen. Die schweren Goldbarren rutschten polternd von Bordwand zu Bordwand. Sie wegzustauen, dazu war keine Zeit. Jan warf sie kaltblütig in die See – eine nach der anderen. Das Leben war ihm mehr wert, als das verderbliche Gold, das schon so viel Unheil auf Erden angerichtet hatte.

Und wieder vier Tage später nahm ein schwedischer Dampfer die beiden Deutschen auf. Nun erst durften sie sich als gerettet betrachten …

Die Firma Ruyters und Ko. zahlte Jan und Peter eine sehr ansehnliche Belohnung für die glückliche Bergung der längst verloren geglaubten Diamanten aus. Und sofort eingeleitete Nachforschungen ergaben dann, daß der angebliche Swendsen in Wahrheit John Murwell hieß und einer der beiden Angestellten der Diamantmine „Südrand“ gewesen war, die den Transport der kostbaren Ladung auf dem „Phönix“ hatten überwachen sollen, und daß der andere, jetzt spurlos verschwundene Angestellte mit ihm unter einer Decke gesteckt hatte.

Die Absichten der beiden Verbrecher sind nie völlig aufgeklärt worden. Der eine blieb verschollen, und des anderen Gebeine bleichen auf den Riffen im Sargassomeer …

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Das Findlingseiland.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkung:

  1. In der Vorlage steht: „Sargassomoor“.