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Das brennende Wrack

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das brennende Wrack.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Eine Millionärslaune.

„Lesen Sie vor, Meinhart“, sagte der junge Blenken mit seiner leicht näselnden und stets so müde gelangweilt klingenden Stimme.

Rechtsanwalt Meinhart erhob sich von dem prachtvoll geschnitzten Lederstuhl und hielt den Bogen Papier dicht vor die kurzsichtigen, mit einer modernen, großen Hornbrille bewaffneten Augen. Dann begann er:

„Zwischen Herrn … (es folgten die Namen von drei in Berliner Sportkreisen sehr bekannten reichen Nichtstuern) … und Herrn Armin Blenken wird folgende Wette abgeschlossen. – Armin Blenken verpflichtet sich, mit seiner Acht-Meter-Jacht „Möwe“, nur begleitet von einem Bootsmann und einem Kajütjungen, den Atlantik von Hamburg nach einem Hafen der Ostküste Mexikos in 25 Tagen zu durchqueren, wobei er verpflichtet ist, die meistbefahrenen Schiffsrouten zu vermeiden … (Hieran schloß sich eine Menge von Bedingungen, die der abenteuerlustige junge Millionär zu erfüllen hatte, um diese tolle, waghalsige Wette auch wirklich zu gewinnen, bei der als Wettsumme eine runde Million ausgesetzt war)“ – –

Der Rechtsanwalt reichte jetzt den vier beteiligten Herren nacheinander den Federhalter, damit sie das Schriftstück unterzeichneten. Bald war auch dies geschehen, und die Anwesenden leerten nun die Sektkelche auf ein glückliches Gelingen des mehr als kühnen Unternehmens. – –

Sehen wir uns den Raum näher an, in dem diese Wette, die lediglich einer Laune ihre Entstehung verdankte, zustande gekommen war.

Es war Blenkens Herrenzimmer, ein mit fürstlicher Pracht eingerichtetes Gemach, das mitten in einer Flucht von acht ebenso verschwenderisch ausgestatteten Räumen lag. Die Möbel aus geschnitztem, dunkelgebeiztem Eichenholz waren von Künstlern angefertigt und hoben sich von der mattblauen Seidentapete wirkungsvoll ab. Die Gemälde und der übrige Wandschmuck hatten einen Wert von Tausenden. Überall, wohin man blickte, traf das Auge auf erlesene Kunstgegenstände und seltene Altertümer: Waffen, Urnen, Gewebe und anderes. Die Deckenbeleuchtung, die mit ihren zahllosen kleinen Glühbirnen ein mildes Licht spendete, täuschte geradezu irreführend einen nächtlichen Sternhimmel vor. Es schien, als säßen die fünf Herren um den großen Mitteltisch in einem oben offenen Gemach, welches von dem fernen Sternenzelt überspannt wurde.

Und der Besitzer all dieser Herrlichkeiten? – Nur ein Mensch ohne inneren Gehalt konnte ihn beneiden …! – Armin Blenken hatte als einziges Kind eines durch Grundstückspekulationen reichgewordenen ehemaligen Bauunternehmens als kaum Zwanzigjähriger ein Vermögen von vielen Millionen geerbt, hatte dann wie ein Unsinniger alle Freuden dieser Welt genossen, das Geld mit vollen Händen ausgestreut und … es erreicht, daß er fünf Jahre später völlig übersättigt war und an nichts mehr Freude fand. Was arbeiten hieß, wußte er nicht. Seine einzige Sorge war stets gewesen: „Wie verbringe ich nur diesen neuen Tag auf eine Art und Weise, die mich nicht zu sehr langweilt!“ Das Erhebende einer geregelten Tätigkeit und mühsam errungener Erfolge war ihm fremd. Er spottete über die, die sich plagten, obwohl sie hätten faulenzen können. – Ein Kreis Gleichgesinnter hinderte ihn daran, Einkehr zu halten und von diesem Pfade, der ihn dem Lebensüberdruß und vollständiger geistiger Verflachung entgegenführte, in einer einsichtsvollen Stunde abzubiegen.

Armin Blenken, mittelgroß, schlank und in allen seinen Bewegungen träge und lässig, hatte ein blasses, schmales Gesicht mit einem kurzgeschnittenen blonden Schnurrbärtchen und ein Paar müden grauen Augen. Jeder, der den mit übertriebener Modeeleganz gekleideten jungen Menschen sah, erkannte schon aus den schlaffen Gesichtszügen die Neigungen und Fehler dieses anscheinend vom Glück so sehr begünstigten Millionenerben. –

Die Freunde Blenkens waren heute im Laufe der Unterhaltung auch auf die mannigfachen, abenteuerlichen Versuche zu sprechen gekommen, die Wagehälse meist infolge von Wetten unternommen hatten, um den Atlantischen Ozean auf recht eigenartige Weise zu durchqueren: im offenen Ruderboot, auf einem Floße[1], in einem aus leeren Konservenbüchsen zusammengelöteten Fahrzeug, – und so weiter. Und dieses Gespräch veranlaßte Armin Blenken dann zu der Bemerkung, er stelle sich es durchaus nicht schwer vor, in 25 Tagen den Atlantik zu durchfahren und zwar auf einer Jacht, die nur leidlich seetüchtig zu sein brauche. Die Folge dieser Bemerkung war eben die Wette, bei der es um eine volle Million ging. – –

Blenken zeigte sich, nachdem er die Wettbedingungen unterzeichnet hatte, von einer seltenen Lebendigkeit. Er ging jetzt mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab und erklärte, er würde schon übermorgen früh sechs Uhr Hamburg verlassen. Dort lag nämlich in einem Nebenarme der Alster seine von dem Bootsmanne Schwendling behütete Jacht vor Anker.

„Den Kajütjungen, der ja nicht über fünfzehn Jahre alt sein darf, wird mir Schwendling schon besorgen“, meinte er. „Ich werde ihn sofort telegraphisch verständigen, damit er auch Proviant einkauft und alles Nötige vorbereitet.“

* * *

Am nächsten Morgen sechs Uhr – es war der 23. April 1905 – erhielt August Schwendling an Bord der Jacht, die ihm als Wohnung diente, die Depesche ausgehändigt. Da er am Abend vorher eine leichte Erkältung nur allzu kräftig durch einige und etliche Gläser Grog bekämpft hatte, vermochte er zunächst aus dem langen Telegramm seines Herrn nicht recht klug zu werden. Dann aber begann er fürchterlich zu schimpfen und zu wettern … „Na – hat’n Mensch so ne Verrücktheit schon jesehn …?! – Nach Mexiko mit der „Möwe“ in 25 Tagen …!! – Blödsinn … !! Da mach’ ich nich mit – auf keenen Bums!!“ – – Hm … da stand ja aber so etwas von „500 Mark Extragehalt …“ – „Dunnerwetter“, knurrte der rotnasige Schwendling und kratzte sich den grauen Kopf, „Dunnerwetter – 500 Emmchen!! Die Jeschicht’ wär’ doch zu überlegen …“ – – Und eine halbe Stunde darauf stampfte er schon mit schweren Schritten über die Bohlen des Hafenbollwerks einer engen Seitenstraße zu, wo die Witwe Zulpe wohnte, bei der er regelmäßig die Mahlzeiten einnahm.

Wie so oft, redete August Schwendling auch heute wieder laut vor sich hin, so daß die Vorrübergehenden dem alten, verwitterten Seebären lächelnd nachschauten.

„… Der Emil Zulpe – das wär’ der richtige für so ne Fahrt! Der Bengel ist zwar ein Windhund, aber ’n guter Kern steckt doch in ihm. Und bei dem Schuster, wo er jetzt in der Lehre ist, fühlt er sich nur unglücklich und kneift nächstens doch aus …“

Wir sehen: der Alte hatte schon einen Kajütjungen für die Reise nach Mexiko ausgewählt. Aber – die Witwe Zulpe, eine saubere, brave, arbeitsame Frau, deren einziger „der Bengel Emil“ war, wollte nicht. „Auf keinem Fall erlaube ich das!“ sagte sie. „Emil bleibt Schuster! Wasser hat keine Balken!“

August versuchte umsonst sein Möglichstes.

„Frau Zulpe, bedenken Sie: es kann Ihres Jungen Glück werden! Wenn er meinem Herrn gefällt, läßt dieser ihn vielleicht nachher die Seemannsschule besuchen, und Emil kann Kapitän werden!“

„… falls er nicht auf der verrückten Reise ertrinkt“, fügte die Witwe ärgerlich hinzu. „Ich bleibe bei meinem Nein!“

Brummend zog der Alte ab und begab sich zu dem Schuster, bei dem Emil Zulpe in die Geheimnisse des „Stiefelversohlens“ eingeweiht wurde. Und als August Schwendling eine halbe Stunde später die Kellerwohnung Meister Birnenkopfs verließ, grinste er still vor sich hin …

Emils Vormund war ein pensionierter Schiffskapitän. Den suchte der alte Bootsmann nun auf. Und Friedrich Kielschwart zeigte auch wirklich für Augusts Vorschläge mehr Verständnis als die Witwe Zulpe. Er war eben ein echter Seebär, und die tolle Wette erschien ihm durchaus nicht so gefährlich, als die Mutter seines Mündels es annahm. Doch auch er hatte bei ihr kein Glück mit seinen Überredungskünsten. So mußte sich August Schwendling denn notgedrungen nach einem anderen Kajütjungen umsehn.

Drei Wochen später.

Die „Möwe“ war, von Wind und Wetter selten begünstigt, in unaufhaltsamer Fahrt über den Atlantik und durch die die Inseln Kuba und Haiti trennende Windward-Passage in das Karibische Meer gelangt, hatte nun auch die Straße von Yukatan durchquert und steuerte vor einer scharfen Nordbrise unter vollen Segeln dem Hafen von Tampiko zu.

Es war ein klarer, warmer Tag, und auf den Gesichtern der drei kühnen Insassen der kleinen Jacht lag nicht nur der helle, strahlende Sonnenschein dieses Maientages, sondern auch das Leuchten der Vorfreude des schon halb errungenen Sieges.

Armin Blenken saß auf dem niedrigen Dache des kleinen Kajütaufbaus und neben ihm August Schwendling mit der kurzen Stummelpfeife im Munde, während den Sitz am Steuer ein hagerer, sehniger Junge mit braungebranntem Gesicht innehatte, dessen flachsblondes, unter der blauen Schirmmütze sichtbares Haar neben der von Sonne und Seeluft tief gedunkelten Haut noch heller erschien.

Versonnen schaute der Knabe vor sich hin. Soeben hatte der Millionär ihm abermals zugesichert, ihn nach glücklich gewonnener Wette in Hamburg auf die Seemannsschule zu schicken, ein Versprechen, das in des Kajütjungen blauen Augen ein helles Blinken hervorgezaubert hatte. Aber dieses Blinken erlosch schnell wieder wie ein Feuer, dem es an der rechten Nahrung fehlt. Der Gesichtsausdruck des kleinen Seemannes wurde ernst und nachdenklich, und traurig schauten jetzt die früher stets so übermütigen Augen in die Ferne, wo Himmel und Meer zur Horizontlinie zusammenschmolzen.

Der alte Bootsmann beobachtete den Knaben heimlich. Schon oft hatte er in den letzten Tagen bemerkt, daß sein kleiner Freund sich nur zu einer Fröhlichkeit zwang, die doch nicht von Herzen kam.

„Hör’ mal, Emil, ich glaub’ gar, Du hast Gewissensbisse, weil Du schließlich doch Deinen Willen durchgesetzt hast und einfach der strengen Zucht Deiner braven, nur etwas kurzsichtigen Mutter davongelaufen bist, – Deiner Mutter und dem langweiligen Schusterschemel Meister Birnenkopfs …!“

Auf diese halb besorgten, halb brummigen Worte des graubärtigen Alten traten Emil ein paar Tränen in die Augen und rannen ihm langsam über die braunen Wangen.

„Ja, Bootsmann, ich bereue bitter, was ich getan habe“, preßte der Junge dann mühsam hervor. „Ich bin Mutters Einziger, und sie wird sich in Angst und Sorge um mich verzehren …! Ich hätte ihr dies nie antun dürfen! Und wenn ich …“

Er konnte den Satz nicht beenden. Armin Blenkens helle Stimme, die seit Beginn der Reise all das Müde, Träge ganz abgelegt hatte, rief dazwischen …:

„Geradeaus ein Wrack …! – Wahrhaftig: das Wrack einer Brigg …! – Da – schaut hin, wie es steuerlos umhertreibt, wie die zerfetzten Segel flattern, wie es schwerfällig auf den Wogen rollt …! Zehn Minuten dürfen wir wohl opfern, um es uns einmal genauer anzusehen …“

August Schwendling und der Knabe waren aufgesprungen und starrten nach dem heftig schlingernden Schiffe hinüber, das etwa zwei Seemeilen vor ihnen auf der leeren, endlosen Wasserwüste des Golfes von Mexiko steuerlos in einer unregelmäßigen Zickzacklinie seinen Weg nahm.

Schnell näherte sich die schlanke Jacht dem offenbar von der Besatzung verlassenen Fahrzeuge, das mit seinem hellen Anstrich und dem Kajütaufbau mit den blinkenden Fenstern einen fast freundlichen Eindruck machte.

Am Heck hing ein dickes Hanftau herab und schleifte im Wasser nach. Daran gedachte der Bootsmann die „Möwe“ zu befestigten. – Nur fünfzig Meter lagen noch zwischen den beiden an Größe so ungleichen Schiffen, als Emil Zulpe hinter einem der Fenster der Kajüte ein bärtiges Gesicht zu bemerken glaubte. Da er sich seiner Sache aber nicht ganz sicher war, erwähnte er nichts von seiner Beobachtung, zumal gleich darauf die Jacht an dem Tau festgemacht wurde und Blenken ihm befahl, an Bord zu klettern und womöglich eine Strickleiter herabzulassen.

Der gewandte, kräftige Junge stand denn auch sehr bald auf dem Deck der „Donna Inez“. Dieser Name war in vergoldeten Buchstaben am Heck der Brigg zu lesen gewesen, während der des Heimathafens offenbar absichtlich weggekratzt war.

Auch das Deck war leidlich sauber und aufgeräumt. Das erste, was dem Jungen in die Augen fiel, war eine kleine Hundehütte, die unweit des in der Mitte befindlichen Kajütaufbaus dicht an der Steuerbordreling stand. Vor diesem Hundehäuschen lag ein dunkler, regungsloser Tierkörper – ein schwarzer, großer Pudel. Emil Zulpe liebte Tiere, sei es, was es sei. Und das Mitleid mit dem offenbar durch Hunger und Durst umgekommenen Hunde bewog ihn, sich zunächst einmal den toten Pudel zu betrachten.

Da – wirklich! – da hob dieser plötzlich matt den Kopf, und ein Paar flehende, runde Augen schauten hilfesuchend den Knaben an, der sich jetzt sofort zu dem bedauernswerten Tiere herabbeugte, es liebevoll streichelte und dann nach dem Vorderdeck hineilte, um in der Kombüse (Küche) nach Trinkwasser zu suchen.

Dort stand auch in der Tat ein mächtiges, eisernes Wasserfaß. Als der Junge den Hahn öffnete, schoß sofort ein Strahl noch leidlich klaren Wassers heraus.

Eine Blechkanne war schnell gefüllt. Und der Pudel, dem Emil Zulpe in kleinen Mengen jetzt das belebende Naß einflößte, erholte sich denn auch sehr bald so weit, daß er allein in die Hundehütte hineinkriechen konnte, um den unbarmherzigen Strahlen der prallen Sonne zu entgehen.

Immerhin hatte dieser Samariterdienst gute fünf Minuten in Anspruch genommen. Als der Kajütjunge sich nun auch nach einer Strickleiter umsah, die er schließlich in einer Segelkammer neben der Kombüse fand, und dann eilends nach dem Heck zurückeilte, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Erst traute er seinen Augen nicht … Was bedeutete das …?! – Die Jacht fuhr davon, war schon einige hundert Meter entfernt und eilte mit ihren weißen Segeln unaufhaltsam nach Nordwesten zu, also auf dem alten Kurse weiter … Und am Steuer saß der alte Bootsmann, und neben ihm der Besitzer der „Möwe“. Aber keiner von beiden wandte auch nur ein einziges Mal den Kopf zurück nach der verlassenen Brigg, – nicht ein einziges Mal …

Endlich schüttelte der Knabe die ungläubige Erstarrung von sich ab. Seiner Kehle entrang sich ein gellender Schrei, während in seinem Kopf die Gedanken einen wilden Tanz vollführten …

Ja – was bedeutete es, daß die Gefährten ihn hier an Bord der „Donna Inez“ allein ließen …?! Vergessen konnten sie ihn doch nicht haben …?! – Und wieder schickte der arme Junge ein lautes „Boot ahoi!“ über die weite Wasserfläche …

Doch nur ein paar Albatrosse, die in wiegendem Fluge das Wrack umkreisten, antworteten ihm mit mißtönendem Kreischen. Weder Blenken noch Schwendling kümmerten sich um das, was hinter ihnen geschah. Und vorwärts jagte die „Möwe“, unaufhaltsam, als flüchte sie vor der Brigg und dem jungen Menschenkinde, das einsam auf ihrem Deck stand und verzweifelt die Hände nach den ungetreuen Gefährten ausstreckte.

Eine halbe Stunde später war von der Jacht nichts mehr zu erblicken. Emil Zulpe lehnte an die Reling und weinte ganz fassungslos. Das niederschmetternde Gefühl der Einsamkeit hatte ihn mit aller Macht gepackt. Und hinzukam noch die quälende Reue über seine leichtfertige Flucht aus dem Hause seiner Mutter … Wie gern hätte er dies jetzt ungeschehen machen mögen, wie gern hätte er wieder auf dem Schemel in Meister Birnenkopfs Werkstatt gesessen, in der es so scharf nach Leder und Pech roch …

Wie lange er so dagestanden und sich seiner Verzweiflung überlassen hatte, wußte er nicht. Plötzlich fühlte er dann an seiner Hüfte eine schwache Berührung, fuhr entsetzt herum …

Es war der Pudel, der sich mühsam bis zu seinem Wohltäter hingeschleppt hatte, ihn jetzt aus klugen Hundeaugen wie tröstend ansah und sagen zu wollen schien:

„Du hast ja noch mich! Und wir beide werden uns schon durchschlagen.“

Emil Zulpe schämte sich plötzlich seiner Tränen. Ja, – wenn es nur Zähren der Reue gewesen wären …!! Aber die Angst vor der ungewissen Zukunft, vor dem, was nun aus ihm werden sollte, quälte ihn mindestens ebenso stark wie das längst erwachte Gewissen. Mit einem Male dachte er daran, daß außer diesem schwarzen, vierbeinigen Freunde, der schweifwedelnd vor ihm stand, vielleicht noch ein zweiter Mensch an Bord der Brigg sich befand, – der, dessen Gesicht er vorhin am Kajütfenster bemerkt zu haben glaubte. Dieser Gedanke und das Bewußtsein, den Pudel sich schnell zum Freunde gemacht zu haben, gaben ihm schnell jene abenteuerlustige Entschlossenheit zurück, die ihn schon bei den Spielen mit seinen Altersgenossen in Hamburg stets als deren Anführer hatte auftreten lassen.

Er streichelte den Hund und sagte fast zärtlich:

„Ich weiß nicht, wie Du heißt. Aber ich will Dich Montag nennen, – nach dem heutigen Tage. – Komm’ Montag, zunächst wollen wir sehen, ob wir für Dich nicht etwas Genießbares auftreiben können.“

Der Pudel folgte ihm nach der Kombüse. In der Vorratskammer entdeckte der Knabe eine ganze Menge Lebensmittel, zumeist in Konservenform, darunter auch Fleisch in mannigfacher Zubereitung. Bald hatte Montag sich an einer Fleischbrühe gesättigt und war nun schon recht munter und guter Dinge, was er durch vergnügte Sprünge und halblautes Bellen zum Ausdruck brachte.

Dann begaben die beiden sich nach dem Kajütaufbau, in den eine niedrige, unverschlossene Tür hineinführte Der erste Raum, offenbar die Wohnung des Kapitäns, war leer. Alles deutete hier darauf hin, daß der Kapitän sehr eilig sein Schiff verlassen haben mußte. Vergeblich suchte der Knabe aber nach dem Schiffstagebuche, aus dem er Näheres über die Brigg, ihren Heimathafen und ihr Reiseziel zu erfahren gehofft hatte. Was er an Papieren fand, war alles in einer ihm fremden Sprache (in spanischer, wie er später erfuhr) niedergeschrieben.

Aus dieser Kapitänskajüte gingen rechts und links Türen in zwei Nebengelasse. Beide Türen waren jedoch versperrt, und die rechte sogar mit Eisenplatten benagelt und mit zwei Vorhängeschlössern versehen.

Jetzt machte Emil Zulpe sich klar, daß das Gesicht des bärtigen Mannes nur an dem Fensterchen sichtbar geworden sein könne, das zu diesem besonders gut verwahrten Raume gehörte. Als er nun mit der Faust gegen die eisenbeschlagene Tür hämmern wollte, hinter der vielleicht ein Mensch eingesperrt war, stieß der Pudel plötzlich ein dumpfes Knurren aus, und auch seine Rückenhaare sträubten sich zu einem förmlichen Wulste empor.

Wie als Antwort erklang nun auch aus dem Seitenraume ein heiseres Gebrüll hervor, das so entsetzlich klang, daß der Kajütjunge mit ein paar Sprüngen schleunigst wieder auf das sonnbeschienene Deck flüchtete.

Am ganzen Leibe zitternd blieb er hier stehen und lauschte den schrecklichen Tönen, die er jetzt nur noch gedämpft vernahm, die aber doch noch furchtbar genug waren, um ihm das Blut in den Adern gerinnen zu lassen. Zu alledem begann der Pudel auch noch wütend zu bellen. Auf dem bisher so stillen Wrack war mit einemmal die Hölle los. Es dauerte Minuten, ehe der nervenaufpeitschende Lärm verstummte. Dann erschien auch Montag wieder in der offenen Tür der Kapitänskajüte, knurrte leise und drehte immer wieder den Kopf nach dem Innern des Raumes hin.

Emil Zulpe faßte sich jetzt ein Herz und holte sich aus dem Schreibtisch des Kapitäns den geladenen Revolver, den er dort vorhin bemerkt hatte. Mit Schußwaffen wußte er gut umzugehen. Als er erst die Waffe in der Hand hielt, wurde er ruhiger, schlich leise um den Deckaufbau herum nach dem Fenster hin, das zu dem rechten Nebengelaß gehörte, und schaute hinein.

Das Fenster, ein Quadrat von kaum einem halben Meter Seitenlänge, war von innen vergittert. Der Knabe drückte jetzt das Gesicht ganz dicht an die Scheiben, prallte aber sofort wieder zurück … Ein verzerrtes, bleiches Gesicht war hinter dem Gitter sichtbar geworden, das eines älteren Mannes mit grauem Haupt- und Barthaar. Und nun stieß der Eingekerkerte abermals jenes beinahe tierische Brüllen aus, in das Montag sofort mit wütendem Kläffen einstimmte.

Das war zuviel für des Kajütjungen Standhaftigkeit. Er floh mit langen Sätzen nach dem Heck hin und lehnte sich hier schwer atmend gegen das Steuerrad. Seine Gedanken suchten sich Klarheit zu verschaffen über das, was er in dieser letzten Stunde erlebt hatte. – Was hatte jener Unglückliche, jener offenbar Wahnsinnige, verbrochen, den man dort eingekerkert und den die Besatzung der „Donna Inez“ als einzigen an Bord zurückgelassen hatte? Wer war dieser Mann …?! Und – weshalb zertrümmerte er nicht, durch das Gitter hindurchlangend, die Scheiben, um frische Luft in sein Gefängnis hineinzulassen …?! Waren ihm vielleicht die Arme gefesselt? Hatte man ihn vielleicht als Gesunden eingesperrt, und hatten erst Hunger und Durst seinen Geist verwirrt …?!

Emil Zulpe wurde immer unheimlicher zu Mute. Und mit einem Male glaubte er nun auch eine Erklärung für das sonderbare Verhalten seiner Gefährten gefunden zu haben, die mit der Jacht in solcher Eile davongesegelt waren. Ja – so mußte es sein: irgend etwas hatte sie derart in Schrecken gesetzt, daß sie Hals über Kopf geflohen waren, nur um schleunigst aus der Nähe des Wracks fortzukommen …

Immer fester krallten sich des Jungen Finger um den Kolben des Revolvers. Und nun war’s, als ströme aus der Waffe etwas Beruhigendes, Aufmunterndes in seinen Körper über. Dann leckte auch noch des Pudels feuchte Zunge dankbar die herabhängende Linke des Knaben, und ganz dicht drängte der vierbeinige Freund sich an ihn heran.

Da war auch dieser Anfall von Kleinmut und Angst überwunden. Emil Zulpe sagte sich nicht zu Unrecht, daß Montag ihn schon warnen würde vor einer neuen Gefahr, die irgendwoher drohte. Im Vertrauen auf die Waffe und den klugen Pudel begann er jetzt, sich genauer auf dem Schiffe umzusehen.

Nicht eines der Rettungsboote war mehr vorhanden. Die Ladeluken zeigten sich durch schwere Riegel mit eisernen Schlössern versperrt, so daß man nicht in das Innere der Brigg eindringen konnte. Nur im Vorschiff neben der Kombüse war der Eingang zu dem Logis (Mannschaftswohnraum) offen. Aber auch hier gab es nur wild umhergestreute Kleidungsstücke und allerlei Kleinkram – sonst nichts – kein lebendes Wesen.

So war denn der Knabe mit seinem Rundgange bald fertig. Der Hunger trieb ihn wieder in die Kombüse, wo noch das Holzfeuer brannte, das er vorhin im Herde angezündet hatte, um für Montag eine warme Suppe zuzubereiten. Nachdem er eine reichliche Mahlzeit eingenommen und auch dem Pudel wieder zu fressen gegeben hatte, schaute er nach dem Zeigerstand seiner Nickeluhr. Es war jetzt vier Uhr nachmittags. Die Brigg trieb mit ihren zerfetzten Segeln steuerlos bald hierhin, bald dorthin und schlingerte daher mitunter so heftig, daß der Junge sich festhalten mußte, wenn er ein paar Schritte gehen wollte.

Der kleine Hamburger verstand nun immerhin so viel von der Führung eines Segelschiffes, um Mittel und Wege zu finden, die „Donna Inez“ wenigstens einigermaßen in regelrechte Fahrt zu bringen. Aus der Segelkammer holte er einige Reservesegel hervor, die er nach vieler Mühe, – zwar nicht gerade kunstgerecht! – so an den Masten und Rahen befestigte, daß das Schiff, nachdem auch das Steuer in der richtigen Lage festgebunden war, mit nordwestlichem Kurse langsam die See zu durchschneiden begann.

Über diesen Arbeiten war es sechs Uhr nachmittags geworden, und Emil Zulpe fühlte jetzt eine solche Müdigkeit, daß er sich im Schatten des niedrigen Kombüsenaufbaus auf das Deck zum Schlafe hinstreckte. Der Pudel wanderte noch immer unstät hin und her, winselte leise und legte sich erst neben seinem neunen Herrn nieder, als dieser ihn energisch anrief. Von dem Eingekerkerten war nichts mehr zu hören. Gewiß – der Knabe hatte sich überlegt, ob er den Mann nicht mit Gewalt, vielleicht durch Zertrümmern des Fensters, befreien solle, war aber hiervon wieder abgekommen, da er sich sagte, daß der Wahnsinnige womöglich diesen Liebesdienst schlecht lohnen und zum Angriff auf ihn übergehen würde.

Der Kajütjunge schlief bald ein. Er wußte ja den treuen Pudel neben sich, der ihn nötigenfalls schon schützen würde. Er träumte lebhaft – von daheim, von der Mutter ... Er sah sich in dem kleinen, sauberen Wohnzimmer. Die Mutter saß am Fenster und strickte, und er stürzte ihr zu Füßen und flehte sie unter heißen Tränen um Verzeihung an. Aber sie blieb unerbittlich, stieß ihn ärgerlich in die Seite … immer wieder …

Da ging das Traumgesicht in die Wirklichkeit über … Er merkte, daß die leichten Stöße in die Rippen keine Einbildung waren, riß die Augen auf … Neben ihm stand Montag, heulte laut … Und das Deck der Brigg war wie in dichten Nebel gehüllt. – Nein – nicht Nebel war’s … Rauch – Rauchschwaden zogen über das Deck hin. Und die grauen Qualmmassen kamen aus dem Eingang der Kombüse hervor.

Emil Zulpe war mit einem Satz auf den Füßen Die Schlaftrunkenheit schüttelte er ab, überschaute die Lage, horchte auf das Prasseln des fraglos im Schiffsinnern wütenden Brandes …

Mit einem Schlage war ihm alles klar. Der Pudel hatte ihn durch Stöße mit der Nase geweckt, und – vielleicht war er selbst an dieser Feuersbrunst schuld, vielleicht hatte er nicht darauf geachtet, daß ein Funke aus dem Herde in den dicht dabei aufgestapelten Holzvorrat fiel.

Ein heftiger Hustenanfall zwang ihn diesen Platz zu verlassen. Ganz vorn war das Deck rauchfrei. Dorthin eilte er und sammelte zunächst einmal seine wirren Gedanken. – Es war für ihn gänzlich ausgeschlossen, etwa einen Versuch zu machen das Feuer zu löschen. Die Rauchentwicklung nahm von Minute zu Minute zu, und die Brigg war auch bereits trotz des frischen Windes förmlich von einem Hitzemantel eingeschlossen, während unter Deck das gierige Element mit Tönen, die der Arbeit der Kinnbacken eines unheimlichen, unbekannten Raubtieres glichen, weiter und weiter das trockene Holz verzehrte und sich tiefer und tiefer in die Eingeweide der „Donna Inez“ fraß. – Daß hier sein Leben auf dem Spiele stand, wußte der Knabe nur zu gut. Nur eine Möglichkeit der Rettung war vorhanden: ein Floß zu bauen und sich auf diesem dem Meere anzuvertrauen. – Jetzt dachte der kleine Hamburger auch wieder an den in die Nebenkajüte eingesperrten Mann. Der Kajütaufbau, seit einigen Minuten bereits völlig von grauen Rauchschwaden eingeschlossen, mußte kaum noch einem lebenden Wesen die nötige Luft zum Atmen gewähren. – Kaum hatte Emil Zulpe sich dies überlegt, als er auch schon in das Logis hinabstürmte und in dem halb von gelbem Qualm angefüllten Raume nach der Axt suchte, die er dort vorhin bemerkt hatte. Endlich hielt er sie in der Hand und jagte nun in langen Sprüngen nach dem Mittelaufbau, hindurch durch die beizenden, dunklen Rauchnebel und die schreckliche Hitze. Der Pudel wollte ihm folgen, machte aber sofort wieder kehrt, da die Deckplanken bereits so heiß wahren, daß er ängstlich tänzelnd die Pfoten hob.

Da, als der Junge gerade vor der Kajütentür angelangt war, fegte mit wildem Heulen ein einzelner Sturmstoß wie die Ankündigungsfanfare des gleich darauf losbrechenden Orkanes hin. Die Rauchmassen wurden zur Seite gedrückt, knallend platzen die Segel und die Brigg begann zu torkeln wie ein schwer Trunkener … Und jetzt erblickte der Knabe auch den schon im Abenddämmerlicht daliegenden Horizont mit den hochgetürmten, schwarzen Wolkenmassen, die nur noch über der „Donna Inez“ ein rundes Stück blauen Himmels freiließen, durch das das Licht in diese riesige, von Meer und Himmel gebildete Glocke hineinfiel.

Gleich darauf sauste die Axt mit dumpfen Schlägen auf den Holzrahmen der eisenbeschlagenen Tür nieder. Und in das Splittern des Holzes mischte sich das Gebrüll des Wahnsinnigen, das Heulen der Windsbraut und das Pfeifen der Sturmstöße in der Takelage der Brigg, die schwer rollte und stampfte, jetzt nicht mehr im Kurse gehalten durch den Druck der Segel und daher ein willenloser Spielball der Elemente …

Die Tür sprang auf … Ein furchtbarer Geruch drang dem Knaben entgegen. Aber noch furchtbarer war der Anblick des Mannes, der mitten in dem niedrigen Raume mit auf dem Rücken gefesselten Händen stand und seinem Retter mit blutunterlaufenen Augen und teuflisch verzerrten Zügen entgegenstarrte.

Regungslos stand der Gefangene da, knirschte mit den Zähnen und zeigte in einer ganzen Haltung eine so zügellose Wut und Wildheit, daß der Junge es nicht wagte, ihm mit dem Messer die Armfesseln zu durchschneiden, wie er dies anfänglich beabsichtigt hatte.

Emil Zulpe versuchte es mit den wenigen Worten englisch, die er in Hamburg aufgeschnappt hatte.

„Das Schiff brennt. Kommen Sie an Deck“, rief er dem Manne zu.

Dieser nickte zum Zeichen, daß er verstanden habe. Gleichzeitig veränderte sich auch sein Gesichtsausdruck, wurde sanfter und sanfter, verlor alle Wildheit. Und dann kam es wie ein Stöhnen über seine Lippen:

„Wasser – Wasser …!!“

Der Knabe zuckte zusammen, denn der Fremde hatte … deutsch gesprochen …, – deutsch!!

Also Durst hatte der Unglückliche …! – Und Emil Zulpe jagte schon davon der Kombüse zu. In einer Kanne brachte er Trinkwasser an Deck, wo der Verschmachte sich inzwischen, von einem Schwächeanfall gepackt, auf die heißen Planken niedergesetzt hatte. Gierig trank der Alte, dem der Knabe vorher die Hände freigemacht hatte.

Inzwischen raste die Brigg, jetzt auch ohne Segel vom Orkane vorwärtsgetrieben, durch die hochgehenden Wogen wie ein wildgewordener Renner dahin. Der Rauch des Feuers zerflatterte bei diesem Sturme so schnell, daß er die Insassen der Brigg nicht mehr belästigte. Dann aber barst mit dumpfem Knall gerade über der Kombüse das Deck, eine Feuersäule schoß empor und ein Funkenregen stob über das ganze Schiff hin. In der tiefen Dunkelheit – die Lichtöffnung oben am Himmel hatte sich längst geschlossen – wirkte dieses natürliche Feuerwerk ebenso grausig wie großartig.

Bei dem Knall war der Wahnsinnige mit einem Schrei hochgefahren. Urplötzlich glomm in seinen Augen wieder die tierische Wut auf. Und ehe es sich der mitleidige Junge versah, hatte der Alte die Wasserkanne ergriffen und führte damit einen fürchterlichen Schlag nach seinem Retter. Dieser Angriff kam so überraschend, daß Emil Zulpe nicht mehr die Zeit fand, zur Seite zu springen.

Das Letzte, was er noch wahrnahm, bevor er bewußtlos umsank, war Montags geschmeidige, schwarze Gestalt, die dem Wahnsinnigen wie ein losgeschnellter Gummiball an die Brust flog. Dann nichts mehr, nichts – nicht einmal eine Schmerzempfindung von dem Schlage, der seinen Kopf traf … – –

Als der Knabe wieder zu sich kam, fand er sich auf feuchtem Sande in völlig durchnäßten Kleidern mit heftig schmerzenden Schläfen wieder. Fahles Dämmerlicht eines neuen, eben heraufziehenden Tages lag über der Umgebung. – Da es Emil Zulpe sehr schwer fiel, den Kopf auch nur einige Zentimeter zu heben, vermochte er sich nicht gleich darüber klar zu werden, wo er eigentlich nach dem gefährlichen Abenteuer auf der Brigg nunmehr hingeraten war. Im Freien befand er sich, und zwar offenbar dicht am Wasser auf einem Uferstreifen. Ob dieses Wasser aber ein Binnensee, ein Fluß oder das Meer war, ließ sich so schnell nicht unterscheiden. Jedenfalls war es dem Knaben weit wichtiger, daß sich jetzt neben ihm der schwarze, wollige Körper Montags, des treuen Pudels, erhob … So war er doch nicht ganz allein sich überlassen, hatte wenigstens einen Gefährten, auf den er vielleicht fester bauen konnte als auf einen menschlichen Genossen.

Montag wedelte vor Freude über die offenen Augen und die matten Bewegungen seines neuen Herrn lebhaft mit der buschigen Rute, winselte leise und drückte seinen Kopf immer wieder an des Kajütjungen Gesicht. Diese Zärtlichkeiten rührten Emil Zulpe geradezu, und langsam hob er nun den Arm und streichelte Montags vor Wohlbehagen sich leicht krümmenden Rücken. Allmählich brachte er es dann auch bis zu einer sitzenden Stellung, schaute sich mit leicht schmerzenden Augen neugierig um und stellte so bei der schnell zunehmenden Helle fest, daß er am Ufer einer runden, von hohen, kahlen Sanddünen eingeschlossenen Bucht saß, die vielleicht zweihundert Meter Durchmesser hatte und mit dem Meere, das in der Nähe brandete und rauschte, durch einen schmalen Kanal in Verbindung zu stehen schien.

Wie er hierhin gelangt war, blieb ihm zunächst ein Rätsel. Erst zwei Stunden später, als er sich genügend erholt hatte, um über die Sandhügel nach dem Außenstrande zu wandern, bemerkte er auf einer Sandbank etwa vierhundert Meter vor sich das völlig ausgebrannte Wrack der „Donna Inez“ und sagte sich nun, das die Brigg in dem Orkan sehr bald nach dem Angriff des Wahnsinnigen auf ihn gescheitert sein mußte und daß Montag dann wahrscheinlich seinen bewußtlosen Retter von dem brennenden Schiff in die See gezerrt und irgendwie an Land gebracht haben müsse.

Bald darauf ermittelte der Knabe dann auch von der Spitze eines der höchsten Sandhügel aus, welcher Art das Land war, auf das sein vierbeiniger Freund ihn gerettet hatte. Es war eine Insel von recht merkwürdiger Gestalt, dabei zumeist aus kahlen, unfruchtbaren Dünen bestehend, – ein Eiland also, das für einen Robinson gerade keine besonders günstigen Aussichten bot, hier sein Leben wenn auch nur kümmerlich zu fristen.

Mittlerweile war die Sonne aufgegangen. Die See tobte und wütete noch, beruhigte sich aber doch zusehends. Der Himmel, völlig wolkenlos, verhieß einen schönen Tag. Und diese Aussicht erhöhte den Mut des Knaben, der immer wieder vergeblich die Augen über das Eiland hatte hinschweifen lassen, ohne irgendwo Spuren menschlicher Behausungen zu entdecken, und der daher sich mit Recht sagen mußte, daß er hier ganz allein auf seine eigene Tatkraft angewiesen war, wenn er nicht elendiglich verhungern und verdursten wollte.

Und beides quälte ihn jetzt von Minute zu Minute immer stärker, beides, Hunger und Durst. Auch der Pudel hatte die rote Zunge lang aus dem japsenden Maule heraushängen und schaute häufig zu seinem Herrn auf, als erwarte er von diesem auch jetzt wieder rasche Hilfe wie gestern auf der Brigg.

Die runde Bucht lag ziemlich genau in der Mitte des Eilandes. Der Kanal ging nach Osten zu durch die Hügel als enge Fahrrinne hindurch, und die Halbinsel wieder zeigte an ihrer Spitze eine kopfartige Erweiterung, die aus hohen, zu einem Berge sich auftürmenden Hügeln bestand. Und diese Hügel schienen doch wenigstens eine Spur von Vegetation zu besitzen, zeigten hier und da einen grünlichen Schimmer und lockten den Knaben daher wie eine sehnsüchtig erhoffte Oase in der Wüste an.

So machten sich Emil Zulpe und Montag denn auf den Weg nach der Spitze der Halbinsel, indem sie am Oststrande des Eilandes entlangschritten. Nach einer halben Stunde näherten sie sich den grünlichen Hügeln, die tatsächlich stellenweise mit spärlichen Gräsern, zumeist aber mit weiten, oft mannshohen Kakteenfeldern von derselben Art bedeckt waren, wie sie auf den Hochebenen Mexikos so häufig vorkommen.

Auf gut Glück war dieser in ein Tal eingedrungen, das sich in vielfachen Windungen den Sandberg hinanzog. Oft mußte er weite Umwege machen, um Kakteenfeldern auszuweichen, die ihm drohend ihr Meer von Stacheln entgegenreckten. Dann fiel das Tal plötzlich steil nach Westen zu ab, und der Knabe sah einen tiefen Kessel vor sich, bei dessen Anblick er freudig aufjubelte. Ein paar Bäume und Strauchgruppen und grünes, frisches Gras verrieten ihm, daß es dort unten Wasser geben mußte. Eiliger schritt er dahin, ging zuletzt sogar in einen lebhaften Trab über, zumal Montag plötzlich laut bellend davongerast und zwischen den grünen Büschen verschwunden war.

Als Emil Zulpe jetzt ebenfalls um die erste Strauchgruppe bog, hatte er einend kleinen Weiher vor sich, der aus einer bescheidenen Quelle gespeist wurde. Der Pudel, der seinen Durst bereits gelöscht hatte, kam seinem Herrn übermütig entgegengesprungen. Auch dieser schlürfte aus der schöpfenden Hand das erquickende, kühle Naß, wusch dann Gesicht und Brust und fühlte sich hiernach wie neugeboren.

Nun erst besichtigte er den engen Talkessel genauer. Die Wände waren fast überall mit Kakteenfeldern bewachsen. Nur im Osten, woher der Knabe gekommen, gab es einen Durchgang nach diesem Garten Eden.

Ja – für die kahle Sandinsel war dieses grüne Fleckchen Erde wirklich ein Garten Eden, wo es außer köstlichem Trinkwasser noch zahlreiche schattenspendende Büsche und ein gutes Dutzend von Bäumen gab, die mit den Buchen der deutschen Wälder große Ähnlichkeit hatten.

Der Durst der beiden Gefährten war also gestillt. Es galt, sich auch noch etwas Eßbares zu verschaffen. Und deshalb machte Emil Zulpe nun denselben Weg zurück, den er vorhin eingeschlagen hatte. Hoffte er doch am Meeresstrande etwas Genießbares zu finden.

Er hatte sich nicht getäuscht: hier und da stieß er auf eine Schildkröte, die sich träge im Sande sonnte. Aber deren Fleisch roh zu verzehren widerstrebte ihm. Woher jedoch ein Gefäß und – die Hauptsache! – Mittel und Wege finden, um ein Feuer anzuzünden …?!

Nun – Gefäße hatte er bald entdeckt und zwar in Gestalt von großen, flachen Muscheln, von denen er eine Anzahl mitnahm. Aber Feuer – Feuer?! Wie sollte er nur dazu gelangen?! – Umsonst zermarterte er sich den Kopf, umsonst suchte er in seinen Taschen nach einem Streichholz. Sein Anzug war längst wieder trocken. Aber die Taschen enthielten zwar so mancherlei, nur nichts, was sich zum Erwecken eines noch so kleinen Flämmchens eignete.

Mittlerweile war er wieder an die Stelle des Strands gelangt, der gegenüber auf der Sandbank das verkohlte Wrack der Brigg lag. Leichte Rauchschwaden stiegen noch aus dem Innern des jetzt während der Ebbe völlig auf dem Trocknen daliegenden Wrackes empor. Und diese gelben Wölkchen erfüllten des Knaben Herz nun plötzlich mit der frohen Gewißheit, daß er sich bald im Besitz eines lustig flackernden Feuers befinden würde.

Das Meer zwischen der Sandbank und dem Strande war während der gerade herrschenden Ebbe so flach, daß der kleine Hamburger ohne langes Zögern nach der „Donna Inez“ hinüberzuwaten begann. Das Wasser reichte ihm an der tiefsten Stelle tatsächlich nur bis unter die Arme. In fünf Minuten hatte er die Brigg erreich. Diese war in der verflossenen Nacht bis zum Wasserspiegel niedergebrannt. Das Innere bildete eine wüste Trümmerstätte verkohlter Balken, verbogener Eisenteile und glimmender Reste der Zwischenwände der Laderäume.

Gleich darauf schlug der Kajütjunge, in jeder Hand ein paar lodernde, schwere Scheite haltend, den Rückweg nach dem Strande ein, wo der Pudel inzwischen unruhig hin und her gelaufen war, nachdem er zunächst seinen Herrn ein Stück schwimmend begleitet hatte.

Wohl zehnmal legte Emil Zulpe die Strecke zwischen Wrack und Eiland zurück, da er nicht nur trockenes Holz, sondern auch allerlei Geräte bergen wollte, die er aus den Trümmern herausholen konnte. Unter diesen Geräten befanden sich zwei eiserne Töpfe, eine Bratpfanne, die ausgeglühte Schneide eines Beiles, eiserne Türangeln, eiserne Klammern und noch manches andere, was ihm von großem Nutzen sein mußte.

Gegen zehn Uhr vormittags befand der Knabe sich dann wieder in seinem grünen Talkessel. Über einem lodernden Feuer kochte im Topf Schildkrötenfleisch, und unser Robinson selbst beschäftigte sich inzwischen mit dem Bau einer Hütte, die er unter der größten der Buchen aus Zweigen errichtete.

Inzwischen hatte Emil Zulpe aber auch festgestellt, daß die Insel zwar unbewohnt, aber doch in letzter Zeit fraglos von Menschen besucht worden sein mußte. Er fand nämlich an der Südseite des Kessels lediglich durch einen Zufall so etwas wie einen natürlichen Pfad, der sich hier durch die scheinbar unzugänglichen Kakteenfelder hindurchschlängelte und nach der Westseite der Halbinsel hinüberlief. Dieser Pfad war unlängst begangen worden. Spuren von Männerstiefeln konnte man noch undeutlich im Sande erkennen. Die Spuren führten am Weststrande nach dem Eiland hin, wurden dann aber in dem lockeren Dünensande bald immer verschwommener und verschwanden schließlich in der Nähe der runden Bucht gänzlich.

Der Knabe war den Fährten erst am Nachmittag gefolgt, nachdem er sich in der Hütte ordentlich ausgeschlafen hatte. Dann kam die erste Nacht, die unser Robinson auf seiner einsamen Insel im Golfe von Mexiko zubrachte. Wie froh war er, daß er in dem klugen Hunde einen wenn auch stummen Freund besaß, daß er nicht allein war …! Montag lag dicht neben ihm auf dem Graslager in der Hütte, und als er gegen Morgen dann von dem Heulen und Toben eines neuen Orkanes erwachte, brauchte er nur die Hand auszustrecken, um zu fühlen, daß dicht bei ihm ein treuer Beschützer ruhte.

Eine Woche verging. Emil Zulpe hatte diese Zeit gut ausgenutzt, sich nicht nur zu der Beilschneide einen Holzstiel mit Hilfe seines starken Taschenmessers geschnitzt, sondern auch allerlei Handwerkszeug hergestellt und eine neue Hütte erbaut, schon mehr ein kleines Häuschen, wobei er als Material die sehr leicht zu bearbeitenden Säulenkakteen benutzte, aus denen sich unschwer Balken und Bretter gewinnen ließen. Daß eine Hütte aus Zweigen für einen längeren Aufenthalt nicht genügte, war ihm nämlich schon nach dem ersten Regengusse klargeworden.

Das Häuschen erhielt auch allerlei Einrichtungsgegenstände, soweit sich diese mit dem recht primitiven Handwerkszeug zusammenbasteln ließen. Über Langeweile hatte unser Robinson jedenfalls nicht zu klagen. Kaum war eine Arbeit beendet, so ergab sich schon die Notwendigkeit, etwas Neues vorzunehmen, und die erste Woche ging wie im Fluge hin. Der Knabe verabsäumte dabei keineswegs, auch nach vielleicht vorüberkommenden Schiffen auszuspähen, hatte jedoch bisher auch nicht ein einziges bemerkt. Das Eiland lag also zweifellos weit ab von allen Schiffsrouten, und nur ein Zufall konnte einmal ein rettendes Fahrzeug herbeiführen. Zunächst sehnte sich Emil Zulpe auch gar nicht allzu sehr nach Befreiung. Es gefiel ihm ganz gut auf seiner Insel, zumal er sehr bald gelernt hatte, auch einige Abwechslung in seinen Speisenzettel hineinzubringen, der zuerst ja nur immer wieder Schildkrötensuppe aufgewiesen hatte. Krebstiere, Fische und Eier von Seevögeln (am Weststrande der Halbinsel gab es eine kleine Möwenkolonie) genügten ihm vollauf, ebenso dem munteren Montag, der sich auf der Insel ebenfalls sehr wohl fühlte. Besonders die Ebbezeit, wenn das Meer weit zurücktrat, verschaffte ihm in flachen Tümpeln stets reiche Beute, darunter auch einmal einen Haifisch von gut drei Meter Länge, der durch mehrere Gewehrkugeln schwer verletzt war. Die Haut dieses gefährlichen Meeresräubers lieferte dem Jungen auch eine Sehne für einen Bogen, dessen mit Eisenspitzen bewehrte Pfeile und zwei Wurfspeere neben dem Beile seine Waffen darstellten.

So war nieder ein Dienstag herangekommen, der zweite, den er auf der Insel verlebte. Emil Zulpe hatte geben sieben Uhr morgens, wie immer begleitet von dem Pudel, einen Ausflug nach der Bucht gemacht. Als er, am Weststrande entlanggehend, sich dem runden Wasserbecken näherte, stieß er auf frische Fährten im Sande. Hier waren fraglos mehrere Männer nebeneinander in Richtung auf den grünen Talkessel auf der Spitze der Halbinsel dahingeschritten. Der taufeuchte Boden hatte ihre Spuren noch recht deutlich festgehalten.

Auch der Pudel zeigte für die Fährte lebhaftes Interesse, beschnüffelte sie, knurrte leise und lief eilfertig und aufgeregt hin und her. Der Knabe hatte in dieser ersten Woche an seinen eigenen Spuren schon so viel Erfahrungen gesammelt, um sich sagen zu können, daß die Leute erst in der eben verflossenen Nacht hierher vorübergekommen waren. Dies beunruhigte ihn etwas, da er sich überlegte, daß die Fremden doch nur nach dem Talkessel gewandert sein konnten, um dort vielleicht Trinkwasser zu holen. War dies der Fall gewesen, so mußten sie auch seine Hütte bemerkt und gesehen haben, daß das Eiland einen ständigen Bewohner besaß. Weshalb waren sie dann aber wieder abgezogen, ohne sich irgendwie bemerkbar zu machen?! Das mußte doch einen sehr triftigen Grund haben! – Jedenfalls beschloß der kleine Hamburger nun, der Fährte nachzugehen und festzustellen, ob seine Vermutung zutraf. Bald sah er, daß die Leute tatsächlich den schmalen Pfad benutzt hatten, der durch die Kakteen in den Talkessel führte, also denselben Weg, auf dem er am ersten Tage seines Robinsondaseins verwischte Fußspuren beobachtet hatte. Die Fährte lief nach dem Weiher hin, verschwand dann aber vollständig. Erst nach längerem Suchen fand der Knabe heraus, daß die Fremden absichtlich die Eindrücke im Sande verwischt und den Talkessel nach Osten zu wieder verlassen hatten. Dieses Auslöschen der Fährte war so geschickt ausgeführt, daß es schon Montags scharfer Nase bedurfte, um die Spuren weiterzuverfolgen. Der Pudel brachte seinen Herrn jedoch mit größter Sicherheit bis nach dem Haupteilande hin. Hier in den Dünen wurden die Fußeindrücke plötzlich wieder ganz deutlich, das heißt, die Fremden hatten es für überflüssig erachtet, ihre Spuren noch weiter zu verwischen.

Sehr vorsichtig, immer wieder umherspähend und lauschend, rückten Emil Zulpe und der Pudel der runden Bucht näher und näher. Der Junge glaubte bestimmt, daß in der Bucht vielleicht ein Fahrzeug ankerte. Dies traf jedoch nicht zu. Weder auf dem stillen Wasserbecken noch in der Nähe des Eilandes lag ein Schiff, wie der Knabe bald feststellte. Trotzdem war in der Nacht ohne Zweifel ein Dampfer hier gewesen. Das war nicht nur an den vielfachen Eindrücken von Bootskielen im Ufersande der Bucht zu erkennen, sondern auch an einigen ölgetränkten Stücken Putzbaumwolle, die zum Reinigen von Maschinenteilen benutzt worden waren und jetzt auf dem Wasser umherschwammen.

Sehr auffallend war, daß in der Nähe der Anlegestelle der Boote so gut wie gar keine menschlichen Fährten sich vorfanden. Der Knabe ließ sich hierdurch aber nicht täuschen, und wieder war es nun der kluge Pudel, der bald zwischen den Dünen hindurch nach dem Südstrande zu eine aufs beste ausgelöschte Spur annahm, auf der offenbar eine ganze Anzahl Männer des öfteren hin und her gegangen waren.

Diese unsichtbare Fährte machte schließlich vor einer Talwand halt, wo auffallenderweise auch hier ein weites Kakteenfeld wuchs. Der Pudel war vor diesem stachligen Walde stehen geblieben, schnüffelte eifrig am Boden umher, bellte auf besondere Weise und versuchte immer wieder, an einer bestimmten Stelle in die Kakteen einzudringen, die hier besonders dicht und hoch waren. Das Benehmen des Hundes war so merkwürdig, daß der kleine Hamburger notwendig auf die Vermutung kommen mußte, es müsse einen Zugang in das Innere des stachligen Dickichts geben. Als er nun mit dem Speerschaft die Kaktusstauden bei Seite zu drücken suchte, erlebte er eine ungeahnte Überraschung: die Pflanzen waren hier nur zum Teil mit dem Boden verwachsen, so daß der Junge, nachdem er die lose mit den anderen verschlungenen entfernt hatte, den Zugang zu einem schmalen Pfade freilegte, der in vielfachen Windungen durch das unzugängliche Dickicht lief und schließlich vor einem schräg in die Erde führenden Loche endete, dessen Wände und Decke mit Brettern verkleidet waren.

Im Hintergrunde dieses Schachtes befand sich eine Tür aus stark verwitterten, aber noch festem Holz, die mit Eisennägeln verziert und nur durch eine altertümliche Krampe verschlossen war, die sich leicht öffnen ließ.

Der Knabe zögerte, in den halbdunklen, kellerartigen Raum einzutreten, der jetzt durch die offenstehende Tür immerhin so viel Licht erhielt, daß das Innere ein Stück weit zu überblicken war. – Nein, ein Keller war’s doch nicht, wie Emil Zulpes Augen bald feststellten, vielmehr ein zimmerartiges, niedriges Gelaß von erheblicher Ausdehnung mit gedieltem Boden, festen Bretterwänden und einer Balkendecke. Der Raum war bis auf ein paar zertrümmerte Kisten leer. Nur in der Mitte stand merkwürdigerweise eine flache Blechschüssel mit einer weißen Flüssigkeit.

Montag war beherzter als sein junger Gebieter und trottete jetzt langsam in das Gelaß hinein, indem er immer wieder mißtrauisch den Kopf hob und prüfend die Luft einsog. Nun beschnüffelte er die Schüssel und … begann plötzlich gierig den Inhalt auszulecken. Aber nur ein paar Sekunden konnte er ungestört die rote, lange Zunge nach Art der Säugetiere als Schöpflöffel benutzen. Mit einemmal erklang hinter den Kisten in der linken Ecke ein seltsames Geräusch, etwas wie ein Rasseln, – als ab man Hornknöpfe in einem Holzgefäß schüttelt. Bei diesen Tönen änderte sich des Hundes Verhalten sofort. Sein Kopf fuhr empor, seine Rückenhaare sträubten sich, und sprungbereit wie in Erwartung eines Gegners stand er jetzt da, die Augen starr auf die Kisten gerichtet.

Und jetzt schob sich hinter diesen ein gelbbrauner Schlangenleib hervor, während sich das Rasseln noch mehr verstärkte.

Der Knabe war zunächst von dem Anblick des gut zwei Meter langen Reptils so überrascht, daß er kein Glied rührte. Es konnte nur eine Klapperschlange sein, dieses gefürchtete, giftige Gewürm, das in Nordamerika und Mexiko so häufig zu finden ist. Gerade wollte er nun den Hund zurückrufen, als ein zweites Reptil von der anderen Seite auftauchte, das, unbemerkt von dem Pudel, auf diesen zuglitt.

Emil Zulpe liebte seinen Montag über alles. Und daher besann er sich jetzt auch keinen Augenblick, dem treuen Gefährten beizuspringen, dessen Leben in so drohender Gefahr schwebte.

Der erste Schlag mit der eisernen Speerspitze ging vorbei. Dafür traf der zweite desto besser und trennte der heimtückisch den Hund von hinten beschleichenden Klapperschlange den Kopf fast ganz vom Rumpfe.

Blitzschnell wandte der Junge sich nach diesem leichten Siege der zweiten Feindin zu. Und er kam gerade noch zur rechten Zeit. Montag schien in völliger Unkenntnis der Gefährlichkeit des lautlos näherkommenden Reptils beabsichtigt zu haben, seinerseits zum Angriff überzugehen. Der Knabe packte ihn schleunigst beim Schwanze, riß ihn zurück und jagte ihn ins Freie. Als er sich dann nach der Schlange umsah, war diese verschwunden. Sie hatte sich hinter die Kisten geflüchtet, wurde von Emil Zulpe aber sehr bald aus ihrem Schlupfwinkel herausgescheucht und fiel einem kräftigen Speerhiebe zum Opfer.

Jetzt glaubte der Junge auch zu wissen, was in der Blechschüssel enthalten war: Milch, – Milch als Nahrung für die giftigen Wächter dieses Verstecks, die man hier also offenbar absichtlich eingesperrt hatte …!

Die Anwesenheit der Klapperschlangen mahnte Emil Zulpe zur größten Vorsicht. Da er inzwischen bemerkt hatte, daß aus dem Gelaß eine schmale Tür in ein zweites führte, und da die Vermutung nahelag, daß es hier noch mehr Räume gäbe, beschloß er, zunächst nach seiner Behausung zurückzukehren, sich mit einigen Fackeln aus trockenem Reisig zu versehen und dann erst die Gelasse zu durchsuchen.

Emil Zulpe hätte kein Junge sein müssen, wenn seine Phantasie ihm nicht diese schöne Möglichkeit vorgegaukelt haben sollte. Mehr und mehr beeilte er seine Schritte … Er mußte Gewißheit haben!

Eine halbe Stunde später stand er wieder vor der Tür des Schmugglerschlupfwinkels. Ein Dutzend Reisigfackeln hatte er sich auf den Rücken gebunden, und eine brennende hielt er in der Linken, während seine Rechte den längsten der Speere abwehrbereit umklammerte.

Der Pudel wollte natürlich sofort wieder als erster in das vorderste Gelaß eindringen. Aber ein ernster, strenger Zuruf und ein leichter Schlag mit dem Speerschaft trieben ihn sofort zurück. Sehr sorgfältig suchte der Knabe nun zunächst diesen Raum nach vielleicht noch vorhandenen Schlangen ab, fand aber keine mehr. Dann wagte er sich in das zweite, anstoßende Gelaß hinein. Es war ebenfalls leer. Immerhin machte Emil Zulpe hier eine recht wichtige Entdeckung. Mitten durch diesen Raum ging nämlich ein runder, starker Balken von oben nach unten hindurch, – fraglos der Mastbaum eines Schiffes …!!

Da kam dem Jungen mit einem Male die Erleuchtung: Er befand sich in dem im Sande begrabenen Wrack eines Seglers, der sicherlich vor langer, langer Zeit auf der Insel gestrandet und von den wandernden Dünen schließlich völlig eingehüllt worden war …!

Bald bemerkte er nun auch weitere Einzelheiten, die für die Richtigkeit dieser seiner Annahme sprachen. Dieses zweite Gelaß war nur klein. Dahinter lag ein drittes, das seinen Abmessungen wieder völlig dem vordersten entsprach. Und hier führte sowohl eine leiterähnliche Treppe durch ein viereckiges Loch in der Decke nach oben.

Es war ein recht abenteuerlicher Gang durch die Räume dieses seltsamen Verstecks, den der Junge jetzt unternahm. Erst stieg er durch die Falltür nach unten hinab. Aber nichts wie Steinballast bemerkte er hier und die untersten Enden von drei Masten, die in dem Kiel befestigt waren.

Emil Zulpe machte ein recht enttäuschtes Gesicht, als er keine Spur von den Schätzen fand, die seine lebhafte Phantasie ihm so schön ausgemalt hatte. Er befand sich jetzt offenbar in der Kajüte des Kapitäns. Wenigstens nahm er dies an, da an den Wänden mehrere große Seekarten und allerlei nautische Instrumente hingen. Schon wollte er den Rückzug antreten, als er zwischen zwei vergilbten Stahlstichen, die die Seeschlacht von Trafalgar und den Admiral Nelson darstellten, einen mit einer Stecknadel an der Wandtäfelung befestigten Zettel bemerkte.

Eine Stecknadel …!! Und der Zettel hatte eine recht ausgefranste Seite, war also fraglos aus einem Notizbuche herausrissen. – Der Junge ahnte, daß es sich hier nur um eine besondere Art von Mitteilung handeln könne.

Tatsächlich: mit Bleistift geschriebene Worte bedeckten den Zettel! – Aber die einzelnen Zeilen liefen ineinander, bildeten ein fast völlig unleserliches Wirrsal von Buchstaben. Sicherlich war der Zettel im Dunkeln geschrieben worden, und der Schreiber hatte daher nicht genau Zeile unter Zeile setzen können.

Das flackernde Licht der qualmenden Fackel war nicht dazu geeignet, hier sofort den Inhalt des Zettels zu entziffern, – falls dies überhaupt gelang! Trotzdem bemerkte der Knabe, daß es deutsche Worte waren, und das unterste glaubte er sogar als „Blenken“ enträtseln zu können.

Blenken!! – Ein förmlicher Ruck ging durch des kleinen Hamburgers Körper. Sollte etwa der Millionär vielleicht hier geweilt haben, sollte …?! – Aber Emil Zulpe wollte die Zeit nicht mit ungewissen Vermutungen vertrödeln. Ihn drängte es jetzt hinaus ins Freie, in den hellen Sonnenschein ... Dort wollte er schon feststellen, was auf dem Zettel stand.

Als er durch den überdachten Gang wieder in das hohe Dickicht der Kakteen trat, ereignete sich etwas, womit er nie gerechnet hatte: er hörte in der Ferne lautes Rufen, – menschliche Stimmen!!

Der Pudel knurrte und schaute seinen jungen Gebieter mit seinen sprechenden Augen vielsagend an. Emil Zulpe dachte zuerst, die Schmuggler könnten vielleicht zurückgekehrt sein. Vorsichtig schlich er daher den gewundenen Pfad entlang. Bald vermochte er auch einen Blick in das Tal zu werfen, dessen Südabhang das Wrack des alten Dreimasters unter sich begraben hatte. Drei Männer in Matrosentracht mit Gewehren in der Hand bemerkte er kaum fünfzig Schritt vor sich. Die Leute, die schwarze, kurzgeschnittene Bärte und gelbbraune Gesichter hatten, schienen sich über die Spuren im Sande zu unterhalten, die Emil Zulpes derbe Schuhe hinterlassen hatten. Nach einer Weile verließen sie jedoch das Tal und schritten in Richtung nach der runden Bucht zu davon.

Als sie verschwunden waren, wartete der Junge noch eine gute Viertelstunde und folgte ihnen dann. So stellte er bald fest, daß in der Bucht ein schlanker, hellgrau gestrichener Dampfer vor Anker lag, – ein Kriegsschiff, wie die Geschütze auf Deck bewiesen. Am Heck wehte eine Flagge. Die Farben konnte der Knabe jedoch nicht genau unterscheiden. Trotzdem überlegte er nicht lange: sein Robinsondasein sollte ein Ende haben! Hier bot sich ihm ja die beste Gelegenheit, in bewohnte Gegenden zurückzukehren.

Als er am Strande der Bucht auftauchte und ein lautes „Ahoi!“ nach dem Dampfer hinüberrief, wurde von drüben sofort ein Boot ausschickt, das ihn aufnahm und an Bord des mexikanischen Kreuzers „Sonora“ brachte.

Der Kapitän unterzog ihn sofort mit Hilfe eines deutsch sprechenden Heizers als Dolmetscher einem langen Verhör.

Erst mußte der Junge seine Erlebnisse auf der „Möwe“ und der „Donna Inez“ genau erzählen. So abenteuerlich diese auch waren: der Kapitän Porfirio Malesta zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit des Gehörten. – „Ich hab von der Wette in den Zeitungen gelesen“, meinte er. – Dann forschte er den Knaben über dessen Aufenthalt auf dem Eiland aus. Emil Zulpe wußte selbst nicht, wie er dazu kam, die Entdeckung des Schmugglerversteckes zu verschweigen. Er folgte dabei lediglich einer Eingebung des Augenblicks. So verheimlichte er auch vollständig den Fund des Zettels. Im übrigen gab er zu, daß in der verflossenen Nacht offenbar ein Dampfer in der Bucht geankert haben müsse.

Zwei Tage später, lief der Kreuzer in den Hafen von Tampiko ein. Inzwischen hatte der Knabe heimlich längst den in dem verschütteten Wrack gefundenen Zettel zu entziffern versucht, aber nur herausbekommen, daß es sich tatsächlich um eine von Armin Blenken verfaßte Nachricht handelte. Im übrigen konnte er aus den durcheinandergehenden Zeilen und Worten nicht klug werden.

Der sehr höfliche Sennor Malesta übergab in Tampiko den kleinen Hamburger dem deutschen Konsul. Dieser sollte dafür sorgen, daß der Knabe baldigst nach Hamburg zurückkehren könne.

Emil Zulpe gelangte denn auch wirklich glücklich in die Heimat zurück, aber erst nach neuen, noch aufregenderen Abenteuern, die in dem nächsten Bande geschildert werden sollen.

Unseren lieben Lesern wollen wir hier schon verraten, daß der Zettel bei diesen Abenteuern eine wichtige Rolle spielte und daß der kleine Hamburger noch vor der Heimkehr mit seinen beiden Reisegefährten von der „Möwe“ ein unerwartetes Wiedersehen feiern durfte.

 

Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkung:

  1. In der Vorlage steht: „Flosse“ – Sowohl der Brockhaus von 1911 als auch die Regeln der Deutschen Rechtschreibung von 1938 geben „das Floß / die Flöße“ als korrekte Schreibweise an. Daher geändert auf „Floße“.