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Die rote Rose

 

 

Walther Kabel

 

Die rote Rose

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Hein van Geldern schaute von seiner Zeitung auf. Er hatte da einen Artikel gefunden, der ihn überaus interessierte. Alles, was ungewöhnlich war, interessierte ihn. Nun war diese weiche Stimme zum zweiten Male an sein Ohr gedrungen. Sein Blick verriet den Unwillen über die Störung. Aber dieser Blick wurde teilnehmend und freundlich, als er die Gestalt der schlanken Blumenverkäuferin wie prüfend überflog.

„Oh – kaufen Sie mir doch etwas ab!“ flehte diese von Tränen verschleierte Stimme abermals.

Hein van Gelderns graue Augen blieben auf dem schmalen Gesicht des ärmlich gekleideten Mädchens ruhen.

„Welch wundervoll regelmäßige Züge!“ dachte er und griff in die Tasche.

„Hundert – hundert Mark!“ stammelte das Mädchen. „Ich kann leider nicht wechseln, mein Herr –“

Hein machte eine kurze Handbewegung.

„Die Rose ist es wert,“ sagte er und legte die dunkelrote, langstielige Blüte auf das Marmortischchen.

Das Mädchen flüsterte ein paar Worte des Dankes und schritt weiter.

Ein Kellner kam und rief ihr etwas zu. Sie zuckte zusammen, senkte verschüchtert den Kopf und verließ die Terrasse des Cafee Josty, die jetzt gegen zehn Uhr vormittag noch wenig besetzt war.

Hein hatte der Blumenverkäuferin nachgeschaut. Sein hageres[1], leicht gebräuntes Gesicht nahm einen grüblerischen Ausdruck an.

Dann sprang er plötzlich auf, warf dem Kellner einen Fünfzigmarkschein hin und stand nun vor dem Cafee in dem Menschengewühl des Potsdamer Platzes.

Ah – dort ging das Mädchen über die Straße in der Richtung nach dem Bahnhof zu.[2] Hein hatte sie bald eingeholt. Sie schritt gerade die Gasse nach dem Wannsee-Bahnhof entlang.

„Verzeihen Sie, Fräulein,“ sagte Geldern und zog leicht den Hut. „Glauben Sie nicht, daß ich lediglich aus Neugier Sie etwas fragen möchte –“

Sie ging weiter, hatte nur flüchtig aufgeblickt.

Aus dem Körbchen an ihrem linken Arm wehte Hein der süße Duft köstlicher Rosen entgegen.

„Gestatten Sie mir also eine Frage,“ fuhr er doch etwas verwirrt fort, denn dieses Mädchen hatte trotz der überaus ärmlichen Kleidung ein unbestimmtes Etwas an sich, das an die Dame von Welt erinnerte.

„Bitte,“ kam die leise Erwiderung nach längerer Pause.

„Ich war gestern abend im Theater des Westens,“ erklärte Hein fast überstürzt. „In der Nebenloge saß eine junge Dame, die – ja, jetzt sehe ich das immer deutlicher – mit Ihnen eine geradezu verblüffende Ähnlichkeit hatte. Hm – haben Sie vielleicht eine Verwandte hier, Fräulein, die in besseren Verhältnissen lebt als –“

Das Blumenmädchen hatte schon den Kopf geschüttelt. „Bitte – lassen Sie mich allein,“ bat sie dann und beschleunigte ihre Schritte.

Geldern blieb stehen. Seine Augen prüften jede Bewegung des Mädchens. – Kein Zweifel, das war derselbe schwebende Gang, das war auch derselbe winzige Fuß und der schmale Enkel[3].

„Das kann nur ein und dieselbe Person sein!“ dachte Hein und runzelte die Stirn. „Sie müßte denn vielleicht eine Zwillingsschwester haben! Aber selbst dann! Nein – ich möchte wetten: es ist dasselbe Weib, und hinter alledem steckt irgend etwas, das –“

Da hatte er bereits seinen Weg fortgesetzt. Das Mädchen bog nach rechts in den Durchgang zur Linkstraße ein.

„– das ich schon ergründen werde!“ dachte Heinrich van Geldern den Satz zu Ende. Und dabei verzog sich sein scharfgeschnittenes Gesicht zu einem zufriedenen Lächeln.

Als er nun selbst in die Linkstraße einbog – ganz atemlos, da war das Mädchen verschwunden, obwohl sie kaum zwanzig Schritt Vorsprung gehabt hatte.

Geldern preßte die Zähne in die Unterlippe.

„Verdammtes Pech!“ – Dann erspähte er auf der anderen Straßenseite eine Gemüsehändlerin, die neben ihrem Handwagen stand.

Die dicke Frau nickte. „Stimmt, Herr, – ’ne Dunkelblonde ohne Hut mit Rosen ins Körbchen! Die is auf die Straßenbahn gesprungen, Herr –“

Hein dankte und lief, bis er ein freies Auto an der Ecke der Potsdamer Straße bekam.

„Fahren Sie der Elektrischen nach!“ befahl er dem Chauffeur.

Hein van Geldern hatte jedoch abermals Pech. In der Straßenbahn saßen nur acht Personen. Das Mädchen war nicht darunter.

Hein schalt sich jetzt einen Narr.

„Cafee Josty!“ rief er dem Chauffeur zu. Er wollte den Artikel über das rätselhafte Verschwinden zweier Amerikanerinnen hier in Berlin nunmehr auf der Josty-Terrasse zu Ende lesen.

Er zahlte dann, stieg aus und schritt auf das Tischchen zu, an dem er vorhin gesessen hatte. Der Kellner brachte den Eiskaffee und die Zeitung, und Hein überflog nochmals den Anfang des eingehenden Berichts:

„Seit drei Tagen werden hier zwei Amerikanerinnen vermißt, die in dem Pensionat Treblitz in der Joachimstaler Straße seit zehn Tagen die drei elegantesten Räume innehatten. Es handelt sich um eine Miß Honoria Brax und deren Gesellschafterin Miß Ellen Housting. Die beiden Damen waren am 16. Mai mit einem Wagen der Berolina-Rundfahrt vormittags ½11 Uhr nach Potsdam gefahren, trennten sich hier im Park von Sanssouci von den übrigen Teilnehmern und sind seitdem verschwunden. Die Polizei hat alles versucht, den Verbleib der Amerikanerinnen aufzuklären, die angeblich aus Neuyork nach Europa gekommen waren und über sehr beträchtliche Geldmittel verfügten, außerdem auch wertvollen Schmuck besaßen. Am zweiten Tage nach ihrem Verschwinden wurde durch eine Radiodepesche festgestellt, daß die beiden Frauen in Neuyork in der 114. Straße Nr. 62 ganz unbekannt sind. Ihre in ihren Pässen vermerkte Wohnung kann also nicht die richtige sein. Eine zweite Radiodepesche ergab, daß in Neuyork weder eine Miß Honoria Brax, Tochter eines Arztes Dr. Brax, existiert noch ein Arzt dieses Namens oder eine Miß Ellen Housting. Hierdurch bekam die merkwürdige Angelegenheit eine ganz neue Beleuchtung. Die Kriminalpolizei hat sodann die drei Koffer der Verschwundenen aufbrechen lassen. Der Inhalt bestand aus Damengarderobe, die nicht so recht, was ebenfalls zu denken gibt, dem sonstigen Auftreten der Amerikanerinnen entsprach. Ein Teil der Sachen soll sogar recht bescheiden gewesen sein. – Gestern abend nun ist abermals ein neues Moment hinzugetreten, das die Sache noch rätselhafter macht. Der Hausdiener des Pensionats, in dem hauptsächlich Ausländer wohnen, begegnete nachmittags fünf Uhr vor dem Lehrter Bahnhof einer tief verschleierten Dame, in der er Miß Housting, die Gesellschafterin wiedererkannte. Er folgte ihr bis zum Lessing-Theater, wo die Betreffende jedoch in ein Auto sprang und davonfuhr. Der Hausdiener behauptet nun, es sei bestimmt Miß Housting gewesen, und sie habe vor ihm die Flucht ergriffen. – Jedenfalls darf man sehr gespannt darauf sein, wie diese mysteriöse Geschichte sich aufklären wird. Durch einen Zufall sind wir in den Besitz zweier Photographien der Verschwundenen gelangt, deren Vergrößerungen wir in unserem Lesesaal Unter den Linden ausgehängt haben. Vielleicht erkennt jemand nach diesen Bildern eine der beiden Damen wieder und macht dann einen Schupo-Beamten auf sie aufmerksam. – Unsere Ansicht über dieses geheimnisvolle Geschehnis möchten wir vorläufig noch für uns behalten.“

Hein van Geldern legte die Zeitung nachdenklich auf einen leeren Stuhl und wiederholte in Gedanken: „Also am 16. Mai sind sie verschwunden. Heute haben wir den 20. Man müßte eigentlich mal –“

Da sprangen seine Gedanken plötzlich auf etwas anderes über. Sein Gesicht spannte sich förmlich, so genau horchte er auf das, was hinter ihm am nächsten Tische gesprochen wurde.

Diese Stimme – da gab es keinen Zweifel! – Und so drehte er sich denn fast ruckartig um.

Dort stand ein Kellner und gab einer jungen Dame im modefarbenen Frühjahrskostüm Geld heraus.

Und diese Dame war Hein van Gelderns Logennachbarin, – mußte es sein!

Er erhob sich ebenso rasch. Er wollte dieser Sache auf den Grund gehen – sofort! Denn die Stimme war für ihn ausschlaggebend: es war seine Logennachbarin, es war aber auch die Rosenverkäuferin von vorhin. –

Der Kellner zog sich zurück. Hein trat einen Schritt vor. Seine Hand begann die Aufwärtsbewegung, um den Hut zu lüften.

Die mit unauffälliger Vornehmheit gekleidete junge Dame hatte Hein flüchtig angeschaut – mit jenem abwesenden Blick, der nichts zu sehen scheint. Sie schob den Stuhl zurück, stand auf und ging davon.

Hein krauste die Stirn.

„Du entschlüpfst mir nicht!“ dachte er.

Und er stellte fest, daß die Dame ebenso schwebend und graziös sich bewegte wie die Blumenverkäuferin und die Logennachbarin.

„Es ist ein und dasselbe Weib!“ wiederholte er im stillen, um sich Mut zu machen.

Er legte schnell einen Geldschein auf den Tisch. Er war kaum acht Schritt hinter der Dunkelblonden. Sie bog links in die Bellevuestraße ein. Hier hielt dicht am Bürgersteig ein großes, geschlossenes Privatauto. Der Motor lief leer. Die Dame stieg ein, und der Wagen fuhr sofort an.

Das alles kam Hein so überraschend, daß er kostbare zwei Minuten verlor, bevor er ein Taxameterauto herbeigewinkt hatte.

Er mußte die Verfolgung sehr bald aufgeben. Das Privatauto war irgendwo im Tiergarten verschwunden. Geldern ließ sich jetzt nach dem Zeitungslesesaal Unter den Linden fahren. Er hatte sich zur Beruhigung eine Zigarette angezündet. Er war wütend – auf sich selbst.

Dann lächelte er und zeigte seine tadellosen Zähne.

„Unsinn – was gehen mich dieses Weib oder diese Weiber an, falls es doch zwei sein sollten!“ murmelte er. „Ich will mir nur mal die Bildvergrößerungen der beiden Amerikanerinnen anschaun. Und dann besuche ich Blottner. Der wird mich noch mehr auf andere Gedanken bringen!“ –

Er betrat die Lesehalle. Da hingen gleich rechts die beiden Photographien, darüber ein großer Zettel mit kurzen Angaben über die Bedeutung der Bilder.

Hein von Geldern stand jetzt wie angewurzelt und stierte auf die eine Photographie.

„Unglaublich!“ entfuhr es ihm.

Ein paar Leute drehten sich nach ihm um. Pfeifend verließ er die Lesehalle wieder.

„Endlich mal ein Abenteuer – endlich!“ dachte er fast übermütig. „Blottner wird sich wundern! Und – er macht sicher mit!“

 

2. Kapitel.

Erwin Blottner saß nun schon eine volle Stunde vor dem leeren Briefbogen.

Er hatte es sich doch leichter vorgestellt, Hilde die ganzen so überaus traurigen Verhältnisse auseinanderzusetzen, die ihn jetzt dazu zwangen, ihr das Jawort zurückzugeben.

Es wäre gewissenlos von ihm gewesen, wenn er geduldet hätte, daß sie ihre blühende Jugend noch länger an einen Mann kettete, der keinerlei Aussichten hatte, je eine Familie begründen zu können. –

Blottner war bis vor vier Monaten Redakteur bei einer Provinzzeitung gewesen, die dann der Papierteuerung wie so viele andere zum Opfer gefallen war. Er war nach Berlin gekommen, weil er hier leichter eine neue Anstellung zu finden gehofft hatte. Alles war bisher umsonst gewesen, obwohl er doch wahrlich in seinen Ansprüchen immer bescheidener geworden und obwohl das tägliche Beisammensein mit Hilde seinen Eifer und seine Zähigkeit noch erhöht hatte. –

Wieder tauchte er die Feder ein.

Und jetzt begann sie über das Papier hinzufliegen.

Seite um Seite füllte sich.

Nun noch der letzte Gruß.

Er warf die Feder hin und starrte auf diese letzten Worte.

Ein qualvoller Seufzer rang sich aus seiner Brust los – Zwei Jahre verlobt – und dies war nun das Ende! –

Es klopfte. Hein van Geldern rief schon von der Tür aus:

„Junge, ich bringe einen Leckerbissen! – Zunächst mal: Guten Morgen! – He – verdammt – was fehlt Dir? Dies Gesicht?!“

Blottner hatte schnell ein großes Löschblatt über die eng beschriebenen Briefbogen gedeckt.

Die Freunde drückten sich die Hand.

„Geheimnisse?!“ meinte Hein und deutete auf das Löschblatt. „Also – was fehlt Dir?! Raus mit der Sprache!“

Doktor Blottner schwieg erst.

„Rein persönliche – Schmerzen,“ sagte er dann.

Gelderns Gesicht wurde argwöhnisch.

„Unsinn! Rein persönlich! Gibt’s ja gar nicht!“ brummte er. „Zwischen uns beiden! Wo wir wie Brüder sind! Du gestattest!“

Und er nahm die Briefbogen und trat ans Fenster des bescheiden möblierten Zimmers.

Blottner war ihm gefolgt.

„Gib her, Hein!“ verlangte er schroff.

Aber Hein schob ihn mit der linken Hand zurück, stieß dann einen Pfiff aus.

„Schwindler!“ rief er empört. „Also habe ich mit meiner Vermutung doch recht gehabt! Du hast Deine geringen Ersparnisse bereits verbraucht und –“

Er schleuderte die Briefbogen auf den Schreibtisch. Sein Gesicht war dunkelrot geworden.

„– und hast mich dauernd belogen, nur damit ich nicht etwa auf die Idee käme, Dir zu helfen! Das ist gemein, Erwin, – hundsgemein!“

Blottner hatte sich in den Schreibsessel fallen lassen.

Geldern schritt im Zimmer auf und ab.

„Du weißt,“ fuhr Hein nicht minder erregt fort, „daß ich als sogenannter Deutschamerikaner mit meinem Dollarvermögen hier vielfacher Milliardär bin – Valutamilliardär! –, daß ich ferner keinerlei Anhang habe, sondern nur einen einzigen Menschen, der mir näher steht, und das bist Du! Und da beschwindelst Du mich seit drei Monaten fortgesetzt, eben seit meiner Ankunft in Hamburg, wo wir uns nach einem vollen Dezennium[4] wiedersahen. – Beschwindelst mich Deiner Prinzipien wegen – sogenannter Prinzipien, die geradezu idiotenhaft sind –“

„Danke!“

„Bitte! – Du bist eben ein sogenannter prinzipientreuer Ehrenmann, der lieber der Braut das Jawort zurückgibt, als daß er von seinem Freunde sich –“

„Hör’ auf!“ bat Erwin Blottner gequält. „Soll ich mir von Dir etwa eine Million schenken lassen, damit ich mir einen Kintopp kaufen kann?!“

„Oho, Jungchen, der Ton gefällt mir schon besser!“

Hein lehnte sich an den Schreibtisch, riß die beiden Briefbogen in kleine Stücke, warf die Schnitzel in den Papierkorb und fügte hinzu:

„So – die Sache wäre erledigt! – Hättest Du Neigung, Dich als Privatdetektiv zu versuchen? – Du brauchst mich mit Deinen treuen braunen Dackelaugen nicht so erstaunt anzublicken. Ich bin nicht übergeschnappt. Wenigstens nicht mehr und nicht weniger als der Durchschnitt der Menschen. Ich möchte Dich – engagieren – als Hilfskraft! Ich habe da gestern und heute etwas erlebt, das meine Gründlichkeit und meinen Hang für besondere Geschehnisse reizt. Die Sache ist die –“

Er berichtete alles ganz eingehend.

Doktor Erwin Blottner wurde von Minute zu Minute aufmerksamer, streute Fragen ein und sagte dann, als Heinrich van Geldern zum Schluß bemerkte, daß er diese beiden Amerikanerinnen mit einer „ganz großen Gaunergeschichte“ irgend welcher Art in Zusammenhang bringe:

„Hein, da magst Du recht haben! Das ist nichts Alltägliches. Wir Zeitungsmenschen haben einen feinen Riecher für so etwas.“

„Na also, mein Junge! – Ich engagiere Dich also vorläufig mit zehntausend Mark monatlich als Detektiv, der mir helfen soll, diese Sache aufzuklären.“

„Das – das muß ich ablehnen!“

„Dann sind wir geschiedene Leute, mein Lieber! Verlaß Dich drauf! Deine deutsche biedere Feinfühligkeit ist Quatsch! Du warst ja leider schon auf der Schule so, schriebst nie von Deinem Banknachbar ab und –“

Blottner hatte mit einem Seufzer Hein die Hand hingestreckt. „Gut – es sei!“ sagte er rasch.

Geldern behielt Blottners Hand in der seinen.

„Bravo, Erwin! Das freut mich. Also dann – los auf die Jagd! Erst mal in Gedanken. Wie sollen wir die Geschichte anpacken? Was hältst Du von alledem? Bitte um Äußerung –“

Er drückte nochmals Blottners Hand und bot ihm dann eine Zigarette an.

Des ehemaligen Redakteurs etwas weichliches, bartloses Gesicht nahm einen sinnenden Ausdruck an. Er rauchte schweigend ein paar Züge.

„Was ich davon halte?“ begann er nun. „Es ist jetzt doch klar, daß diese Miß Brax und Miß Housting sich absichtlich in Potsdam von den übrigen Fahrtteilnehmern getrennt haben. Sie gaben dadurch ihr Gepäck in dem Pensionat in der Joachimstaler Straße preis. Mithin müssen sie Grund gehabt haben, ganz plötzlich zu verschwinden. Man könnte vermuten, daß sie merkten, man sei ihnen auf den Fersen – vielleicht ausländische Polizei. – Fragwürdig sind die beiden Weiber ja bestimmt. Eben Hochstaplerinnen – dergleichen –“

Wieder rauchte Blottner hastig und fügte hinzu:

„Hm – mein lieber Hein, wenn ich ganz ehrlich sein soll: ich glaube, sie haben es auf Dich abgesehen!“ Seine klugen, nur etwas verträumten Augen blickten Geldern fest an.

„Teufel – auf mich?! Wie das?!“ – Heins Stirn zeigte über der Nase drei Faltenwülste[5]. „Auf mich?! Wie kommst Du auf den ausgefallenen Gedanken?! Das ist Blech!“

„Gestatte, kein Blech! – Gestern im Theater bemerkst Du Honoria Brax – oder deren Zwillingsschwester – zum ersten Male in der Nebenloge. Du folgtest ihr in der Pause ins Foyer, prägtest Dir die Art und Weise ein, wie sie – schwebte, die Füße setzte, sich bewegte, hörtest auch ihre Stimme. Sie war ohne Begleitung im Theater, und sie verschwand kurz nach Beginn des dritten Aktes. Gestern hingen die Bilder der Brax und der Housting noch nicht im Lesesaal Unter den Linden. Honoria konnte es also schon wagen, noch ein Theater zu besuchen, zumal sie ja halb verschleiert war. – Und heute vormittag dann die Blumenverkäuferin, die der anderen so vollständig glich. Und nach ihr die Elegante, deren Stimme Dich herumfahren läßt, als sie vom Kellner für einen Tausendmarkschein –“

Hein begann zu pfeifen, nur drei Takte, rief dann: „Mir geht ein Licht auf, Erwin! Man wollte meine Aufmerksamkeit erregen; ich sollte die dunkelblonde Schönheit aus der Nebenloge nicht vergessen! Dann muß man mich aber doch wohl seit heute früh beobachtet haben, dann wußte man eben, daß ich auf der Josty-Terrasse saß, dann hat „man“ all das vorbereitet!“

„Ohne Frage. Der beste Beweis hierfür ist das in der Bellevuestraße wartende Auto mit dem leerlaufenden Motor. Das Weib wollte eben entschlüpfen können. Und es gelang ihr ja auch.“

„Toll – toll!“ murmelte Hein und preßte die Zähne in die Unterlippe. „Ob es wirklich zwei Schwestern sein mögen, Erwin?“ fragte er nach einer Weile.

„Schwer zu entscheiden, Hein. Ich möchte fast behaupten, es ist nur ein und dieselbe Person gewesen, die Blumenverkäuferin und die Elegante im modefarbenen Kostüm. Auch ein Weib kann sich im Handumdrehen umkleiden, wenn alles dazu vorbereitet ist.“

Geldern schaute vor sich hin. „Dann müßte die Gesellschafterin der Brax also mit im Spiele sein und mir heute von der Linkstraße im Auto –“ Er schüttelte den Kopf. „Ne, mein Junge, das alles ist mir zu phantastisch! – Und – angenommen, es ist alles so: der Zweck der Übung?!“

Blottner zuckte die Achseln. „Du bist reich, Hein!“

Geldern lachte. „Wie?! Etwa mich erleichtern, mich betrügen?! Mich?!“ Seine grauen Augen wurden hart. „Mein lieber Junge, mich betrügt niemand! An mich wagt sich solches Gesindel gar nicht heran! Der Name Hein van Geldern ist auch in den Kreisen gut bekannt – und gefürchtet!“

Erwin Blottners treue Dackelaugen blickten Geldern überrascht an.

„In den Kreisen, Hein?! Wie gerietest denn Du mit der Gilde der Beutelschneider mal aneinander?“

Hein lachte wieder. Diesmal drohend, fast brutal und anmaßend.

„Junge, da hatte sich kurz nach dem Kriege so ’ne ganze Bande dieser Raubritter zusammengetan. Wollten mir die Warnba-Mine abschwindeln. Ist ’n Roman, die Geschichte. Und ein Jahr später hatten sie’s auf das Panzergewölbe der India-Bank in Dehli[6] in Indien abgesehen, wo die Diamantenausbeute zweier Jahre deponiert war. Hat mir riesigen Spaß gemacht, ein paar der Kerle ins Loch zu bringen!“ – Er warf den Zigarettenrest in den Aschbecher, daß die Asche herausstäubte. „Schon damals war ich mein eigener Detektiv, Erwin. Was heißt denn überhaupt Detektiv?! Jeder helle klare Kopf schafft doch solche Arbeit! Jedenfalls – man kennt Hein van Geldern! Und man wird sich bei mir nicht die Finger verbrennen!“

Blottner strich mit der tadellos gepflegten Hand über die Löschblattunterlage des Schreibtisches hin – ganz langsam, tief in Gedanken. Dann meinte er: „Wie, wenn die Genossen jener Leute sich an Dir rächen wollen, Hein? – Es ist das so eine Mutmaßung von mir, die –“

Geldern beugte sich tiefer und legte Blottner die Rechte schwer auf die Schulter.

„Rächen – rächen?!“ sagte er, und im Ton seiner Stimme lag unendlich viel Verachtung für die, die solches gewagt hätten. „Lieber Junge, es ist ja schade, daß die Bande so was nie riskieren wird!“

Er griff nach hinten in die Beinkleiderschlüsseltasche und holte eine kaum handlange, schwarze Repetierpistole hervor.

„Dies Spielzeug trage ich stets bei mir, geladen, gespannt und gesichert, Erwin. Es ist das noch so eine Angewohnheit von Indien her – Wildnisreminiszenzen!“

Die kleine Pistole verschwand wieder.

„Erwin, los, mach’ Dich zum Ausgehen fertig! Wir wollen aufs Präsidium[7] – Polizeipräsidium!“

Er hatte beim Eintritt in das Zimmer die rote Rose, die er dem blonden Mädchen abgekauft hatte, auf seinen weichen hellen Filzhut gelegt. Jetzt nahm er sie wie spielend in die Hand.

„Polizeipräsidium?“ fragte Doktor Blottner. „Willst Du Deine Erlebnisse der Polizei mitteilen?“

Hein schaute den Freund kopfschüttelnd an.

„Ne, Junge. Ich will nur feststellen, wem das Auto Nummer 12 131 gehört. Denn die Nummer hatte der Wagen, mit dem die Elegante mir auskniff.“

„Ah – und das sagst Du mir erst jetzt?!“

„Dachtest Du, ich hätte das Auto davonfahren lassen, ohne mir die Nummer – Verdammt!“ unterbrach er sich. „Was ist das – ein Zettelchen hier in der Rose – ein Papierröllchen?!“

Blottner trat rasch neben Hein, der das Stückchen Seidenpapier schon entfaltete. Es enthielt jedoch nichts als ein Bildchen, mit Wasserfarben getuscht: eine rote Rose!

 

3. Kapitel.

Eine Stunde später hatten die Freunde festgestellt, daß Nummer 12 131 dem Autoverleiher Salomon in der Kantstraße in Charlottenburg gehörte.

Sie fuhren zu Salomon. – Der Firmeninhaber musterte die beiden mißtrauisch, als Hein ihn um Auskunft bat, wer den Wagen Nummer 12 131 gemietet hätte.

„Detektive, nicht wahr?“ fragte er.

Hein nickte und legte dreihundert Mark auf den Tisch. Herr Salomon kniff ein Auge zu, schob Hein das Geld wieder hin und erklärte:

„Der Wagen ist gestern verkauft worden, meine Herren. An einen Herrn Müller. Das Geschäft war in zehn Minuten erledigt. Wo dieser Müller wohnt, weiß ich nicht. Er bezahlte bar.“

Hein fragte: „Wie sah er aus? War’s ein Ausländer?“

Salomon nickte. „Es war einer. Wahrscheinlich Amerikaner. Aussehen – hm – klein, hager, bartlos, rotes Gesicht, graues Haar, ganz kurz geschnitten, etwa 45 bis 50 Jahre alt.“

„Besondere Kennzeichen?“ fragte Hein weiter.

Salomon streichelte nachdenklich sein Kinn. Und abermals prüften seine kleinen, schlauen Äuglein die beiden Freunde auf Herz und Nieren.

„Weshalb interessiert Sie der Mann so?“ antwortete er mit einer Gegenfrage.

Geldern blinzelte den Firmeninhaber vertraulich an. „Große Sache, Herr Salomon, – unter Diskretion!“

„Nu – konnt’ ich mir denken! – Der Müller hatte es mit dem Kaufabschluß sehr eilig – sehr! Und er fuhr mit dem Wagen gleich selbst davon. Er besaß einen auf Franz Müller ausgestellten Führerschein. – Besondere Kennzeichen – ja, – sehr kleine Hände und Füße und –“ – er lachte grunzend – „eine scheußlich geschmacklose Krawattennadel, eine kleine rote Rose, anscheinend gefärbtes Elfenbein.“

„So – so!“ meinte Hein van Geldern. „Damit ist nicht viel anzufangen, Herr Salomon. Immerhin – besten Dank!“ Er ließ die dreihundert Mark liegen, und Salomon erinnerte auch nicht weiter daran. –

Blottner und Geldern bestiegen das draußen wartende Auto, das nun die Kantstraße nach dem Zoologischen Garten hin entlangrollte.

„Wieder die rote Rose!“ sagte Hein und schlug Blottner vergnügt auf den Schenkel. „Mein Junge, wenn Du recht hättest! Wenn’s wirklich ein Rachefeldzug gegen den früheren Diamantminenbesitzer Hein van Geldern wäre! Fein wäre das – sehr fein! Habe mit drei Kerlen jener Bande, die in Dehli den Tresor sprengen wollten, noch ein Hühnchen zu rupfen. Die Schufte hatten mich einmal in eine unangenehme Lage gebracht –“

Blottner schaute auf die Straße hinaus. Dann fragte er plötzlich: „Hieß einer der Leute vielleicht Rose, Hein, – oder so ähnlich?“

Geldern verneinte. Er hatte sein Gesicht gut in der Gewalt. Er war – mehr innerlich – bei Blottners Frage zusammengezuckt. Jetzt nagte er mit den Zähnen die Unterlippe. Seine Gedanken waren plötzlich in weiter Ferne.

Rose – Rose! Ja – damals in Dehli hatte der eine Kerl im Hotel Imperial sich mit diesem Namen ins Fremdenbuch eingetragen gehabt.

Rose – Justus Rose! Und – das war derselbe Mann gewesen, der nachher – Hein machte unwillkürlich eine ruckartige Kopfbewegung. – Unsinn! Weg mit den Erinnerungen. Er dachte nicht gern an jene Nacht zurück! –

Das Auto glitt durch das Brandenburger Tor, die Linden hinab, am Schloß vorüber, hielt dann vor einem elenden Cafee in einer der übelberüchtigten Straßen von Alt-Berlin. Es hieß Troubadour.

Das Cafee war stark besucht. Hein und Blottner wurden von allen Seiten mit mißtrauischen Blicken empfangen. Die Gäste hier waren beständig auf ihrer Hut. Und Geldern entging es nicht, daß ein paar Leute blitzschnell hinter dem Schanktisch verschwanden.

Sie setzten sich. Ein bleicher Kellner mit unruhigen Augen bediente sie. Geldern flüsterte ihm zu: „Ich möchte einen Autoführerschein kaufen –“ – Gleichzeitig hielt er dem Blassen einen Hunderter hin.

Die Banknote verschwand. – „Sehr wohl – sofort!“ nickte der Kellner und holte einen Mann herbei, der wie ein Landwirt aussah.

„Grunert,“ krächzte der biedere Agrarier, sich vorstellend. Dann nahm er am Tische Platz.

Hein ließ drei Glas Madeira bringen und begann den Handel. Herr Grunert erklärte, er hätte „auf Ehrenwort“ keinem Ausländer einen Schein letztens verkauft.

Geldern fragte, ob Grunert nicht denjenigen herausfinden könnte, der diesen auf Müller lautenden Führerschein einem kleinen Amerikaner mit rotem Gesicht besorgt hatte.

„Fünfhundert Mark, Herr Grunert, wenn ich abends den Betreffenden kennenlerne,“ fügte er hinzu. „Ich werde mich um elf Uhr hier wieder einfinden. Ich heiße van Geldern und wohne im Grunewald.“

Der Biedere war einverstanden, verlangte aber die Hälfte als Anzahlung. Hein gab ihm dreihundert Mark. Dann waren die Freunde wieder auf der Straße.

„Entschuldige mich jetzt, Hein,“ sagte Doktor Blottner, „ich möchte zu Hilde. Ich sehne mich nach ihr. Gerade heute mehr als sonst, weil ich eben heute –“

„– Schluß machen wollte, – Du Idiot! Ein Glück, daß ich den Brief zerrissen habe! – Gut, ich bringe Dich also nach der Belle-Alliance-Straße.“

Er gab dem Chauffeur das neue Ziel an. Kurz vor dem Hause Belle-Alliance-Straße 96 ließ Geldern halten und zwar vor einem Blumenladen. – „Los – hole für Hilde ein paar Rosen, mein Junge, – Du bist Hilde diese Aufmerksamkeit schuldig – gerade heute!“

Blottner öffnete die Tür, wandte den Kopf zurück.

„Hein, ich werde besser Veilchen kaufen. Ich weiß nicht, rote Rosen haben seit heute für mich eine – ja, eine üble Bedeutung!“

Geldern gab ihm lachend einen leichten Stoß.

„Verdammt – rote Rosen, Junge! Verstehst Du! Kaufe sie dann meinetwegen für mich und überreiche sie in meinem Namen!“ –

– – – – – – – –

Hilde Herger war heute wie immer um ½1 Uhr mittags aus dem Kontor von Gabriel u. Komp. heimgekehrt. Als sie die Flurtür aufgeschlossen hatte, kam ihr schon ihre Mutter, die verwitwete Frau Steuerrat Herger, entgegengeeilt.

„Kind, es ist eine Dame im Wohnzimmer, eine sehr elegante Dame –“ flüsterte sie atemlos vor Aufregung. „Sie will Dich allein sprechen – in einer rein persönlichen Angelegenheit, wie sie betonte. – Kind, was kann die – die Person nur wollen. Offen gestanden – für eine wirkliche Dame ist sie mir zu elegant angezogen, viel zu elegant.“

Sie schwieg. Eine Tür hatte sich geöffnet. Eine breite Lichtbahn fiel in den halbdunklen Flur. In dieser Lichtbahn erschien nun die Fremde, die der Rätin ihren Namen nicht genannt hatte.

„Entschuldigen Sie,“ sagte sie mit einer angenehmen, weichen Stimme. „Ich habe nicht viel Zeit. – Ah – Fräulein Herger –“

Hilde war vorgetreten. „Mit wem habe ich das Vergnügen?“ fragte sie nun doch etwas beklommen, denn die überlegene Sicherheit dieses jungen Weibes ver[wirrte sie ein wenig.][8]

Die Fremde erwiderte kühl: „Mein Name tut nichts zur Sache. Bitte gewähren Sie mir eine kurze Unterredung. Wir beide, Fräulein Herger, müssen sofort – Aber nein, nicht hier im Flur!“ Und sie trat in das bescheiden möblierte Zimmer zurück.

Hildegard folgte ihr und drückte die Tür hinter sich ins Schloß. – Die beiden jungen Mädchen standen einander gegenüber, gleich groß, gleich schlank, Hilde vielleicht etwas üppiger und derber und doch nicht minder reizvoll mit dem dunklen Madonnenscheitel und den großen, ernsten Augen, deren lange Wimpern dem Blick etwas Schwärmerisches gaben.

Die Fremde entnahm ihrem silbernen Handtäschchen einen Brief, der offenbar in kleine Stücke zerrissen gewesen und nun mit feinem Seidenpapier überklebt war. Es waren zwei eng beschriebene Briefbogen – der Abschiedsbrief Erwin Blottners an Hilde.

„Lesen Sie!“ sagte die andere kurz. Es klang wie ein Befehl; es klang auch scharf, unfreundlich, feindselig. Hilde lehnte sich an den Tisch. Der Boden wankte ihr unter den Füßen. Ihr Herz krampfte sich zusammen in jäher, ungewisser Angst.

Sie las – las und wurde immer bleicher.

Dann sank ihre Hand mit den beiden Briefbogen matt herab. Sie blickte die Fremde verstört an – bang fragend, gequält. Von einer Ahnung, die schon halb Gewißheit war.

„Der Brief ist eine Lüge!“ rief die andere leidenschaftlich. „Von Anfang bis zu Ende eine Lüge! Ich bin es, die ältere Rechte auf Erwin hat! Meinetwegen schrieb er den Brief! Und dann überkam ihn wieder die Feigheit! Er zerriß ihn in meiner Gegenwart!“

Ihre Augen flammten jetzt. Ihre Stimme wurde heiser und kreischend: „Ich werde es nie dulden, daß er Sie heiratet! Nie! Geben Sie ihn frei!“

Hildegard stützte sich schwer auf den Tisch. Ihre Lippen zitterten. Sie bekam keinen Ton über die Zunge. Etwas, an das sie so felsenfest geglaubt hatte, brach jetzt kläglich zusammen! Erwin hatte sie betrogen!

„Ich habe erst vor kurzem von dieser Verlobung erfahren!“ fügte die Fremde noch erregter hinzu. „Ich habe Erwin seit acht Tagen förmlich bestürmt, Ihnen alles mitzuteilen! Ich – ich gebe ihn nicht frei – niemals – niemals! Ich warne Sie! Die Fesseln, die Erwin an mich ketten, sind stärker, als Sie ahnen!“

Sie hatte die Rechte wie drohend erhoben. Dann riß sie Hilde die beiden Briefbogen aus der Hand und stürmte hinaus, prallte im Flur mit der Rätin zusammen, die an der Tür gehorcht hatte, und warf die Flurtür hinter sich ins Schloß.

Auf der Treppe aber ging sie langsamer, blieb plötzlich stehen.

Sie seufzte – seufzte nochmals. Dann schritt sie weiter. –

Das Auto der beiden Freunde fuhr vor dem Hause Nummer 96 vor.

Erwin stieg aus. Geldern war aufgestanden.

„Grüße Deine Damen, mein Junge!“ rief er Blottner noch nach.

Dann schaute er zufällig nach rechts. Seine Augenbrauen hoben sich.

„Verdammt – das ist sie wieder!“ rief er noch lauter. Die Elegante zog gerade die Tür des geschlossenen Autos hinter sich zu, und der Wagen Nummer 12 131 sauste davon.

Blottner hatte sich umgedreht. Er sah, wie Hein van Geldern sich neben den Chauffeur auf den Vordersitz schwang, wie Hein ihm zuwinkte, wie das Taxameterauto die Verfolgung begann.

Die beiden Kraftwagen verschwanden. Und Doktor Blottner stieg die Treppe zu der Wohnung der Rätin empor – mit den roten Rosen und dem Veilchenstrauß, mit Sehnsucht im Herzen.

Er läutete. Läutete nochmals. Endlich wurde geöffnet. Vor ihm stand die Rätin mit eisigem Gesicht.

„Herr Doktor,“ sagte sie mit bebender Stimme, „ich verbiete Ihnen hiermit mein Haus – für immer! Sollten Sie an uns schreiben, gehen die Briefe an Sie ungelesen zurück. Hilde kennt die Geschichte des Absagebriefes, den Sie dann wieder zerrissen haben – aus Feigheit!“

Krach – die Tür wurde zugeschlagen und die Sicherheitskette geräuschvoll vorgelegt.

Blottner starrte die braungestrichene Tür fassungslos an.

Dann raffte er sich auf, läutete – läutete.

Niemand öffnete ihm.

Da ging er schließlich davon, unfähig, Klarheit in seine Gedanken zu bringen.

 

4. Kapitel.

Der Chauffeur des Taxameterautos wollte nur zu gern die tausend Mark verdienen, die Hein ihm versprochen, falls man das andere Auto einhole.

Die Hetzjagd schien so und so oft zu mißglücken. In dem Straßengewühl des Berliner Zentrums kam der andere Wagen dem Chauffeur wiederholt aus den Augen. Aber Geldern stand jetzt aufrecht, und seine scharfen Blicke fanden den Flüchtling immer wieder. Nun ging es die Charlottenburger Chaussee entlang, weiter bis zur Autorennbahn im Grunewald.

Hier gewann Nummer 12 131 spielend leicht einen immer größeren Vorsprung. Hein fluchte.

„Ihr verdammter Stänkerkasten schafft’s nicht,“ brüllte er den Chauffeur an.

12 131 war verschwunden. – „Weiter – weiter!“ rief Hein, dessen Gesicht verzerrt war. „Zweitausend Mark, Mann! Fahren Sie, und wenn das Ding zum Teufel geht!“

Der Chauffeur zuckte die Achseln.

„Ah – Panne! Sie haben Panne, die Schufte!“ jubelte Hein.

Da – dreihundert Meter vor ihnen – stand Nummer 12 131. Der Chauffeur kniete am linken Hinterrad. Hein van Geldern wurde plötzlich ruhig. Jetzt, wo die Entscheidung da war, hatte er sich wieder völlig in der Gewalt.

Noch fünfzig Meter. Das Taxameterauto fuhr langsamer, hielt.

Hein war mit einem Satz draußen.

Im selben Moment richtete der fremde Chauffeur sich auf.

In seiner Hand blinkte es metallisch. Die andere Hand machte eine blitzschnelle Bewegung.

Ein dünner Strahl zuckte durch die Luft, traf den Taxameterchauffeur, glitt zur Seite – auf Geldern zu. Hein warf sich zu Boden, sprang hinter sein Auto, riß die Pistole heraus.

12 131 fuhr an – der Chauffeur stand auf dem Trittbrett. Eine weißbehandschuhte Hand winkte Hein vom Führersitz ironisch zu.

Geldern schob die Waffe wieder in die Tasche. Er wagte es doch nicht zu schießen.

Dann sah er nach seinem Chauffeur. Der Mann war bewußtlos. Ein häßlicher Geruch entströmte dem noch feuchten Gesicht des Betäubten.

Hein legte ihn in den Wagen, wischte das Chloroform ab, schwang sich auf den Führersitz. Seine Lippen waren blutig, so fest hatte er die Zähne hineingepreßt; sein Gesicht, blaß und starr, zuckte im Spiel der Wangenmuskeln.

So nahm er die Verfolgung wieder auf.

In Nikolassee mußte er einsehen, daß er auch diesmal Pech gehabt hatte. Er kehrte um. Der Chauffeur erholte sich schnell. Hein fuhr nach seiner kleinen Villa dicht am Hubertussee in der Villenkolonie Grunewald. Er gab dem Chauffeur dreitausend Mark.

„Versprechen Sie mir durch Handschlag, reinen Mund zu halten,“ sagte er eindringlich. „Wenn Sie schweigen, bekommen Sie noch 3000 Mark – nach einer Woche. Melden Sie sich bei mir.“

Er betrat den Vorgarten, stutzte.

Auf der Terrasse stand Erwin Blottner und zerpflückte die roten Rosen, die er für Hilde gekauft hatte.

Hein ging schneller, sprang die Sandsteinstufen empor.

„Du hier, Erwin?“ begrüßte er den Freund.

Blottner warf den Veilchenstrauß ebenfalls über die Brüstung.

„Ich wußte, die Rosen würden Unheil bringen,“ sagte er dumpf. In seinen Augen war der tiefe Schmerz deutlich zu lesen. „Hilde hat – hat – mich fortgeschickt, Hein. Alles ist aus – alles!“

Er ließ sich in einen Korbsessel fallen und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Geldern pfiff die gewohnten drei Takte, rief dann:

„Junge – das Weib ist bei Hilde gewesen!“

Blottners Hände sanken herab. Er schnellte empor.

„Das Weib – die Honoria Brax, Hein?! Bei Hilde?!“ stammelte er.

„Natürlich. – Setz’ Dich! Erzähle!“

Und Blottner berichtete.

„Ah – wieder etwas Neues also!“ meinte Hein nun und streckte die Beine weit von sich. „Der Brief ist aus Deinem Papierkorb gestohlen worden. Die Bande hat also auch Dich beobachtet! – Komm’, fahren wir zu Frau Klempt, Deiner dicken Wirtin.“ –

Frau Klempt trank in ihrer Küche Ersatzkaffee.

„War jemand bei Doktor Blottner, nachdem wir das Haus verlassen hatten?“ fragte Hein die Alte.

„Ja, Herr von Geldern (das „van“ begriff sie nicht. Sie sagte stets „von“), ein Fräulein war’s mit Maschinenabschriften. Sie hat sie Herrn Doktor auf –“

„Und sie blieb eine Weile allein im Zimmer?“ fiel Geldern ihr ins Wort.

„Ja. Sie bat um ein Glas Wasser. Ihr war schlecht.“

Hein pfiff wieder und winkte Blottner.

„Danke, liebe Frau Klempt!“

In Blottners Zimmer lag eine Papierrolle auf dem Schreibtisch. Geldern riß den braunen Umschlag herunter. Der Inhalt waren fünf Zeitungen, Berliner Zeitungen von gestern.

Blottner schaute Hein hilflos an. „Begreifst Du das?!“

Hein ging auf und ab, die Hände in den Beinkleidertaschen, den Kopf halb gesenkt. Dann rief er die Klempt herbei.

„Frau Klempt, trug das Fräulein ein modefarbenes Kostüm und Hut mit Marabustutz?“

„Ja, Herr von Geldern –“

„Danke. Gehen Sie!“ –

Blottner holte aus dem Schränkchen eine Kognakflasche.

„Ich muß meine Nerven wieder in Ordnung bringen, Hein,“ sagte er kläglich.

„Tu’s. Aber besauf’ Dich nicht. Ich will zu Hilde. Warte hier auf mich.“ –

Nach einer Stunde, gegen vier Uhr nachmittags, war Geldern wieder zurück.

„Nichts zu erreichen, mein Junge,“ sagte er gleichmütig. „Die Rätin hat auch mir das Haus verboten und ballerte die Tür zu, bevor ich noch irgend was von meiner Weisheit ihr verzapfen konnte. Na – sie wird schon zur Vernunft kommen, genau so Hilde!“ Er schlug Erwin auf die Schulter. „Du, nicht diese Jammermiene! Wir werden dieser verdammten Brax schon beweisen, was wir können! Jetzt aber werden wir essen gehen. Mir ist schon ganz weh im Magen.“ –

Blottner wohnte in einer stillen Seitenstraße des Lützow-Platzes. Sie schritten dem Tiergarten zu. Geldern hatte sich in Blottners Arm eingehängt. Sie sprachen über diese neue Wendung der Dinge. Ganz unvermittelt sagte Hein dann:

„Verdammt, mein Junge, – ich spiele ein unehrliches Spiel! Jetzt, wo die Schufte auch Dir etwas am Zeuge geflickt haben, wo es also nicht nur um meine Person geht, will ich Dir nur eingestehen, daß Du den richtigen Riecher gehabt hast: einer der erfolglosen Tresorknacker damals in Dehli hieß tatsächlich Rose!“

Blottner, der nur halb hingehört hatte, denn seine Gedanken waren bei Hilde, blieb stehen.

„Wirklich?!“ – Er forschte in Heins Zügen. „Dann hat es mit diesem Rose noch eine besondere Bewandtnis!“ fügte er hinzu.

„Allerdings – leider!“ nickte Hein, und die drei Wülste auf der Stirn traten noch schärfer hervor.

„Gehen wir weiter. – Ich habe den Mann – erschossen!“

Blottner zuckte zusammen. „Erschossen?!“ stammelte er und wechselte die Farbe.

„Ja,“ erklärte Hein laut und hart. „Ja – erschossen, als ich den Kerlen entfloh, die mich sechs Tage gefangen gehalten hatten und mich hungern und dursten ließen. Du kennst Indien nicht. Dort geht es anders her als hier bei der alten, behaglichen Urgroßmutter Europa. Man verfolgte mich. Ich war matt wie eine Fliege. Ich hatte einem der Lumpen den Revolver weggenommen. Und – es ging eben um mein Leben, Erwin. Justus Rose nannte sich der Mann, der dann zusammenknickte. Er hatte nur noch Zeit, mit der Hand nach dem durchlöcherten Herzen zu fahren. Seine Leiche war nachher verschwunden. Ob er wirklich Rose hieß, konnte nicht festgestellt werden. So, nun weißt Du Bescheid –“

Er schaute Blottner verstohlen von der Seite an. Des Doktors Gesicht war noch immer[9] farblos und wie erstarrt vor Entsetzen.

Heins Lippen zuckten. Es war ein nachsichtiges Lächeln. Einem Manne von Erwins ganzer Veranlagung mußte es völlig unfaßbar sein, ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben.

„Mein Junge,“ sagte Hein da recht herzlich, „Du siehst, ich bin eine gefährliche Bekanntschaft. Es tut mir leid, daß Du nun meinetwegen mit in diese Sache hineingezogen worden bist.“

Doktor Blottner suchte nach irgend einer Antwort.

„Oh – das macht doch nichts!“ platzte er dann heraus. „Wirklich, Hein, das macht gar nichts aus! Hilde wird ja wieder zur Vernunft kommen. Und sonst –, na ja, ich mag dem Leben gegenüber in vielem unbeholfen sein, ich bin kein Draufgänger wie Du, aber feige, so richtig feige, das bin ich nicht!“

Hein drückte seinen Arm. „Glaub’ ich gern, Junge!“ meinte er etwas zerstreut. Und er dachte, daß Erwin doch nicht so recht zum Verbündeten in dieser Rose-Angelegenheit paßte und daß er ihn daher wieder unauffällig ausschalten würde. –

Es war sechs Uhr geworden, als die Freunde das Weinrestaurant Traube verließen. Wieder gingen sie zu Fuß. Hein suchte nur stille, einsame Straßen auf, um den Lützow-Platz zu erreichen. Wiederholt blieb er stehen und blickte zurück.

„Wir werden nicht verfolgt,“ erklärte er dann. „Es ist niemand hinter uns, der uns beobachtet. Schade!“

„Schade?!“

„Ja, lieber Junge. Wir hätten den Spion dann in eine Falle locken können.“

„Wie denkst Du Dir den weiteren Feldzug gegen diese Leute, Hein? Hast Du bereits einen Plan?“

„Alles hängt von dem biederen Herrn Grunert, unserer Cafee-Bekanntschaft, ab,“ entgegnete Geldern nicht ganz der Wahrheit gemäß. „Was Hilde und Dich angeht, so würde ich Dir folgendes raten. Schreibe an Deine Braut einen ausführlichen Brief, schildere ihr unsere Erlebnisse und Feststellungen und bringe den Brief ohne Umschlag nach der Belle-Alliance-Straße, wirf ihn durch den Briefspalt in den Flur der Wohnung und überlasse alles Weitere der weiblichen Neugier, die einem Schreiben ohne Umschlag nicht widerstehen wird.“

„Ah – das ist in der Tat ein guter Gedanke, Hein.“

„Morgen früh komme ich dann zu Dir und teile Dir mit, was Herr Grunert, Ehrenmann vom Knie bis zur Sohle, ausgerichtet hat.“

Gleich darauf trennten sie sich, nachdem Geldern dem Freunde noch schnell ein Päckchen Banknoten in die Manteltasche geschoben, wobei er schmunzelnd sagte: „Dein Monatshonorar, mein Junge!“ –

Geldern fuhr dann wieder den Linden zu und betrat den Lesesaal, wo die beiden Vergrößerungen der verschwundenen Amerikanerinnen hingen.

Für Honoria Brax’ Bild hatte er jetzt weniger Interesse. Er stand minutenlang regungslos und prüfte das faltige, knochige Gesicht Miß Ellen Houstings, der angeblichen Gesellschafterin. –

Geldern stieg eine Viertelstunde später die Treppe zum Fremdenheim Treblitz in der Joachimstaler Straße empor.

Als er das Stubenmädchen fragte, ob er Frau Treblitz sprechen könne, schüttelte das niedliche Zöfchen sehr energisch den Kopf.

„Die Kriminalpolizei ist wieder da,“ erklärte sie.

Hein ließ einen Fünfzigmarkschein in die Tasche des weißen Tändelschürzchens des Mädchens verschwinden.

„Weshalb?“ fragte er kurz.

„Na – oben im vierten Stock ist doch aus der Wohnung des Rentiers Grützner, der seit Wochen verreist ist, die Münzensammlung gestohlen worden, und die Polizei meint, die beiden Amerikanerinnen haben’s getan, die Brax und die Housting, die im dritten Stock wohnten und auf Grützners Balkon klettern konnten.“

„Das ist mir gleichgültig, Kleine,“ meinte Hein mit einer Handbewegung, die alles mögliche ausdrücken konnte. „Hm, die Housting. War die nicht ziemlich klein und hatte sie nicht sehr zierliche Hände und Füße?“

„Stimmt – und gepudert war sie immer – der reine Mehltopp!“ lachte das arglose Zöfchen.

Hein lachte ebenfalls. „Dann komme ich abends wieder. Auf Wiedersehen, Kleine –“

Geldern schritt zufrieden die Treppe hinab. Herr Franz Müller, der das Auto von Salomon gekauft hatte, war klein und hager gewesen und hatte gleichfalls kleine Hände und Füße gehabt; der Chauffeur, der auf der Autostraße im Grunewald mit der Nickelspritze operiert hatte, war ebenfalls von untersetzter Statur, wenn auch blondbärtig gewesen, und – das hatte Hein sofort bemerkt! – die Hände waren schmal, sehr schmal, fast Kinderhände! –

Hein lächelte. Nun hatte er also auch Miß Housting wiedergefunden – als Chauffeur! Und nun war auch aufgeklärt, weshalb das Paar am 16. Mai nicht mehr in das Pensionat Treblitz zurückkehren wollte: die beiden Spitzbuben fürchteten eben eine unerwartete Entdeckung des Münzendiebstahls, fühlten sich aus irgend einem Grunde nicht mehr sicher. –

Geldern kaufte an der Ecke Kurfürstendamm ein Abendblatt, winkte ein Auto heran und ließ sich nach seiner Villa fahren. Unterwegs las er den Artikel über den Diebstahl einer Münzensammlung im Werte von anderthalb Millionen Mark im Hause Joachimstaler Straße Nr. 203. – Die Diebe hatten den Tresor angebohrt und ihn so geöffnet; es müßten Leute vom Fach gewesen sein, und die beiden Amerikanerinnen kämen zweifellos als Mittäter in Frage.

 

5. Kapitel.

Als Hein van Geldern die Vorhalle seiner Villa betrat, meldete ihm der Diener, daß ein Herr Grunert vorhin angeläutet habe; Geldern solle, sobald er heimgekehrt sei, Zentrum Nummer 191 918 anrufen.

Hein war gespannt, was Grunert wünschte. – Er sah im Telephonbuch nach. 191 918 war die Nummer eines Zigarrengeschäfts in der Brüderstraße.

Dann verlangte er 191 918 und erhielt auch sofort Anschluß.

„Hier Brösecke, Zigarren,“ meldete sich eine heisere Stimme.

„Ich möchte Herrn Grunert sprechen –“

„Einen Augenblick –“

Dann meldete sich ein Baß.

„Hier Grunert. – Sind Sie’s, Herr van Geldern? – So, danke. – Ich wollte Sie nur bitten, heute nicht ins Cafee Troubadour, sondern lieber in meine Wohnung zu kommen. Ich habe meine Gründe dafür. Die Sache hat nämlich eine recht überraschende Wendung erhalten. Der Betreffende findet sich ebenfalls bei mir ein. Falls Ihr Freund Sie begleiten soll, erscheinen Sie besser einzeln und mit zehn Minuten Abstand. Der Betreffende wird scheinbar beobachtet. Vorsicht dürfte ratsam sein. Ich wohne Brüderstraße 18, Gartenhaus zwei Treppen. Ich werde dafür sorgen, daß die Haustür offen ist. Um zehn Uhr – paßt Ihnen das?“

„Ja. Meinen Freund bringe ich nicht mit. – Wer beobachtet den Betreffenden?“

„Ein dunkelblondes Mädchen, ziemlich einfach gekleidet. Doch darüber abends Näheres. Also zehn Uhr. Wiedersehen.“ –

Geldern schritt in seinem Herrenzimmer auf und ab.

„Dunkelblondes Mädchen – natürlich die angebliche Brax!“ dachte er. „Dieses Weib ist allgegenwärtig! Es müssen doch wohl Zwillingsschwestern vorhanden sein!“

Er stellte sich an das Fenster und blickte auf den Hubertussee hinab. Zwei Schwäne zogen still und stolz ihre Bahn durch das metallisch blinkende Wasser.

Dann stieg vor Heins Augen ein anderes Bild auf: das der Blumenverkäuferin!

Schade – schade um dieses süße, liebe Gesichtchen, hinter dem sich die Seelenabgründe einer moralisch Entgleisten verbargen!

Und es war ihm, als hörte er wieder diese weiche, melodische Stimme, die sich wohl jedem ins Herz schmeichelte.

Auch die Stimme war Trug.

Das Mädchen war eine Verbrecherin, doppelt gefährlich durch ihre Schönheit! –

Hein zog plötzlich seine Brieftasche hervor.

Da war die rote Rose schon breitgedrückt zwischen den Blättern des Notizheftes, schon welk und unansehnlich, – die Rose, die er heute vormittag jenem Mädchen abgekauft hatte.

Und hier das Stückchen Seidenpapier mit der Tuschzeichnung – auch eine rote Rose.

Was lag alles zwischen jener Minute, wo er auf der Josty-Terrasse von seiner Zeitung aufgeblickt hatte und zum ersten Male ihm die Ähnlichkeit jener beiden Frauen aufgefallen war! Welch ereignisreicher Tag! Er steckte das Blättchen wieder in die Brieftasche. Im selben Moment klopfte es, und der Diener trat ein.

„Herr Doktor Blottner,“ meldete Tom Hawkin, den Hein nun schon drei Jahre in dieser Stellung beschäftigte. Hawkin war vordem Aufseher in Gelderns Mine gewesen.

„Weshalb melden Sie den Doktor mit einem Male, Tom?!“ fragte Hein. „Blottner ist hier doch so gut wie zu Hause!“

„Dem Herrn Doktor geht es nicht gut. Ihm ist in der Vorhalle schwach geworden. Ich habe ihn –“

Hein stürmte schon hinaus.

Erwin Blottner lag ganz zusammengesunken in einem Klubsessel mit geschlossenen Augen.

Geldern rief ihn an.

„Alter Junge, was ist denn passiert?“ Er nahm des Freundes Hand und beugte sich über ihn.

Blottner hob müde die Augenlider.

„Ver – verreist – Hilde und die Mama – unbekannt wohin. Die Portierfrau – sagte es mir –“ Er quälte jedes Wort mühsam hervor.

Der Doktor erholte sich bald. Hein hatte ihn auf den Diwan im Herrenzimmer gebettet, und Blottner schlief dann gegen neun Uhr vor seelischer Erschöpfung ein.

„Tom,“ sagte Geldern im Flur zu seinem treuen Diener, „lassen Sie ihn ruhig schlafen. Ich habe noch in der Stadt zu tun. Um halb zwölf hoffe ich zurück zu sein.“

Es war jetzt fünf Minuten nach ein halb zehn. Gelderns Auto, ein ganz neuer Wagen, war soeben vor der Treppe der Terrasse vorgefahren.

„John,“ rief er nun dem Chauffeur zu, der auch bereits einige Jahre in seinem Dienst stand, „wissen Sie, wo die Brüderstraße ist?“

John verneinte. Hein sagte ihm Bescheid. Dann fuhr das dunkelrot gestrichene Auto davon.

Am Nordende der Brüderstraße stieg Geldern aus.

„Sie warten hier, John,“ befahl er kurz.

Die Haustür von Nummer 18 war offen. Es war eins der ältesten Häuser und schien nur Geschäftsräume zu enthalten.

Hein hatte einen Leuchtstab mitgenommen, schaltete dessen winzige Birne ein und fand sich leicht zurecht. Auf dem düsteren, verwahrlosten Hofe standen ganze Stapel von Kisten. Hier trat Geldern der Portier des Hauses gegenüber. Hein fragte nach Herrn Grunert.

„Dort – Seitenflügel, zwei Treppen,“ brummte der Hauswart unfreundlich.

Oben war an der Flurtür eine mit Tinte geschriebene Karte befestigt:

Hermann Grunert.
Agent.

Hein drückte auf den weißen Knopf, drückte nochmals. Dann klopfte er. Ein geschminktes Weib öffnete und fragte leise: „Herr van Geldern? – Dann bitte hier hinein.“ – Sie stieß eine Tür auf und machte eine einladende Handbewegung. „Herr Grunert muß jeden Moment kommen,“ erklärte sie weiter. „Er holt seinen Freund Bisnitzki ab. – Das is der mit die Drucksachen,“ erläuterte sie mit der etwas rauhen Alkoholstimme in waschechtem „Berlinisch“.

Hein trat nur recht zögernd über die Schwelle. Dieser Empfang behagte ihm nicht. Er behielt die linke Hand in der Tasche des kurzen Sportpaletots. Dort hatte er das entsicherte siebenschüssige Spielzeug stets griffbereit.

In dem schmalen Zimmer brannte eine Gaslyra mit defektem Glühstrumpf. Das Gas puffte und flackerte. Hein setzte sich auf einen Rohrstuhl mit dem Gesicht nach der Tür hin, schlug ein Bein über das andere und begann mit dem recht ungeschickt geschminkten Frauenzimmer, das scheußlich nach Patschuli stank und nicht minder scheußlich auffallend gekleidet war, eine Unterhaltung.

Das Weib hatte sich an den Türrahmen gelehnt und rauchte ihre Zigarette weiter. Sie war nicht sehr gesprächig. Ihre Antworten blieben einsilbig. Als Hein sie fragte, ob sie Herrn Grunerts Schwester sei, lachte sie frech.

„Na – so wat Ähnliches, Herr van Geldern. – Was sind Sie denn eejentlich? Schieber und so?“

„Wat Ähnliches!“ nickte Hein gut gelaunt.

„Det hab’ ick mir schonst jedacht. Mit anständje Leute vakehrt der Hermann nich –“

„Sehr schmeichelhaft – für Hermann und mich! – Die Wohnung hier ist wohl sehr klein?“

„Und ob! Nur zwee sone Lecher! – Mit was schieben Sie denn? Mit Diamanten?“

„Wie kommen Sie gerade auf Diamanten, Fräulein?“

„Na, die Diamantenschieber haben alle sone feine Fassade – ick meene die Kluft – Sie vastehn –“

„Ich verstehe. – Nein, früher habe ich mal mit Diamanten Geschäfte gemacht, jetzt nicht mehr. Hat Ihnen denn Grunert nicht gesagt, wer ich bin?“

Pause.

Die Geschminkte lächelte eigentümlich und schaute auf ihre Armbanduhr.

„Ich habe mit Grunert in meinem Lebens noch kein Wort gewechselt,“ erklärte sie nun mit völlig veränderter Stimme. „Diese Wohnung ist –“

Hein war von seinem Stuhl hochgeschnellt und hatte einen Panthersatz nach der Tür zu getan.

Die Tür schlug zu. Das Weib war draußen. Ein Riegel wurde vorgeschoben.

Hein hob den rechten Fuß, um die Türfüllung einzudrücken.

Da erlosch das Gas.

„Verdammt!“ zischte er und riß den Leuchtstab heraus. Der dünne weiße Strahl irrte durch die schwarze Finsternis.

Draußen fiel die Flurtür ins Schloß. Nun kein Laut mehr – nichts – nichts.

Hein stand noch auf demselben Fleck. Er hatte das Bein wieder sinken lassen. Es war keine Türfüllung da. Die Türfüllung war dick und gleichmäßig stark.

„Verdammt!“ sagte er wieder.

Und vernahm nun doch ein schwaches Geräusch – ein feines Sausen.

Er stieg auf einen Stuhl, zog sein Feuerzeug und hielt das Flämmchen über den Gasbrenner. Das Gas puffte auf.

„Aha – Gashahn draußen zu, Gashahn wieder auf,“ dachte Hein grimmig.

Nun hatte er wieder das flackernde Licht der Gaslyra um sich, das immer noch besser war als die geringe Leuchtstärke der Stabtaschenlampe.

Er sah sich jetzt die einzelnen Möbelstücke an, rückte einen Fichtenschrank von der Wand und fand dahinter eine kleine Holztür ohne Klinke. Das Schlüsselloch des Schlosses deutete auf einen wenig komplizierten Schlüssel hin.

Hein überlegte und schaute sich suchend um. Wenn er nur ein Stück starken Draht gehabt hätte, dann sollte der Schloßriegel bald zurückschnappen.

Er nahm sein Schlüsselbund und probierte mit seinen Schlüsseln. Nein, die paßten nicht.

Er stand und starrte auf das Schloß.

Und – hörte wieder dasselbe Sausen ausströmenden Gases, zog die Luft prüfend ein und spürte deutlich Gasgeruch. Es mußte hier im Zimmer noch eine zweite Gaszuleitung geben, und die mußte offen sein.

Fünf Minuten lang suchte er. Der Gasgeruch wurde immer stärker. Dann verriet ihm seine Nase die ungeheure Schurkerei: unter den rissigen Dielen an der Flurtür drang das Gas hervor!

Bisher war Hein um sein Leben nicht im geringsten besorgt gewesen. Jetzt erkannte er: es wurde ernst.

Er kniete noch am Boden, wo er den Gasgeruch am stärksten festgestellt hatte.

Da – das Sausen hörte auf.

Er horchte. – Ja, der Gashahn war geschlossen worden. Dunkelheit um ihn her; die Lyra war ausgegangen. Hein erhob sich. Der Leuchtstab zeigte ihm den Weg bis zu dem Stuhl, auf dem er vorhin gesessen, als das geschminkte Weib plötzlich die Stimme nicht mehr verstellt und er diese Stimme sofort wiedererkannt hatte.

Honoria Brax – das Blumenmädchen – die Elegante aus der Theaterloge, – oh, man konnte ihr viele Namen geben! Jedenfalls – sie war’s gewesen!

„Honoria Brax als Name sagt gar nichts!“ dachte Hein jetzt. „Ich werde sie nur mehr die rote Rose nennen! – Hm – ihr Gewissen scheint doch noch nicht tot zu sein. Sie hat die Gaszufuhr unterbrochen. Sie muß also ganz leise zurückgekehrt sein. Vielleicht steht sie noch im Flur hinter der Tür. Klopfen wir mal!“

Er tat es. Es meldete sich niemand. Aber – sein linker Fuß war in dem Winkel des Türrahmens auf etwas Weiches getreten – auf eine rote Rose!

Er hielt sie in der Hand und ließ den weißen Strahl des Leuchtstabes darauf fallen. Sein Fuß hatte ihre duftige Schönheit vernichtet; sie war platt gedrückt.

Hein lächelte.

„Spielerei! Was soll das?! Wozu immer wieder die roten Rosen?! Wenn Justus Rose hinter alledem steckt und mir ans Leben will, dann liebt er Theatermache! Albern ist das!“

Sein Lächeln ward unendlich geringschätzig.

Er saß eine lange Weile still.

„Ich könnte Lärm schlagen,“ überlegte er. „Vielleicht käme der unfreundliche Portier oder sonst jemand. Aber – dann käme auch die Polizei! Und morgen würde in den Zeitungen stehen, daß Heinrich van Geldern, der letztens für das Kriegerwaisenhaus drei Millionen Mark – hört sich im Markkurs großartig an! – gestiftet hat, von einer Bande von internationalen Verbrechern – und so weiter! Ne, das paßt mir nicht!“

Er sah nach der Uhr. Ein Viertel Zwölf.

Er schaltete den Leuchtstab aus, denn die kleine Birne glühte schon schwächer.

„John wird mein langes Fernbleiben auffallen,“ dachte er dann weiter. „John ist energisch. Er wird Tom benachrichtigen – irgendwie, und dann werden Erwin und Tom nach mir suchen. – Warten wir also!“

Er knipste sein Zigarettenetui auf und rauchte nun. Er hatte Zeit; er hatte in seinem reichbewegten Leben schon andere Situationen durchgemacht – ganz andere! Wer von einem unversöhnlichen Vater schon als Einundzwanzigjähriger über den großen Teich abgeschoben wird, der lernt alles, auch Geduld, der verlernt vieles, auch die sogenannten Nerven. –

John Ploncar, der Chauffeur war abgestiegen und rauchte neben dem Auto gleichfalls eine Zigarette. Als er die dritte an der zweiten angezündet hatte, kam ein kleiner hagerer Herr mit blondem Spitzbart und Brille auf ihn zu und sagte:

„Mein Name ist Schneider. Herr van Geldern schickt mich. Sie sollen nach Hause fahren und Herrn Doktor Blottner holen. Sie halten dann wieder hier am Ende der Straße. Ich werde Herrn Blottner hier erwarten. Beeilen Sie sich bitte.“

John nickte, faßte an die Mütze und fuhr nach Hause. Blottner schlief noch immer. Als Tom, der Diener, ihn nun weckte und ihm mitteilte, daß Hein ihn in die Brüderstraße rief, bestieg er noch recht schlaftrunken das Auto.

John war gegen ein Viertel Zwölf wieder in der Brüderstraße. Der kleine blonde Herr trat an den Wagen heran.

„Schneider,“ stellte er sich Erwin Blottner vor.

Dann sagte er zu John: „Sie sollen die Herren um ein Uhr morgens Unter den Linden vor der großen Passage abholen – aber pünktlich! Der Diener Tom soll gleichfalls dorthin kommen.“

John fuhr wieder davon, und Blottner und Schneider gingen die Brüderstraße hinunter.

 

6. Kapitel.

Hein van Geldern zog abermals die Uhr und schaltete den Leuchtstab für Sekunden ein.

Mitternacht!

Er stand auf, brummte: „Verdammt! Ich glaube, heute spüre ich doch, daß jeder Mensch Nerven hat, die rebellisch werden können! Mir steckt eine Unruhe im Blute, die –“

Er lauschte, hielt den Atem an.

Ah – wieder das Sausen der Gasleitung!

Mit drei Schritten war er an der Tür.

Bückte sich, ganz tief.

Ja – das Gas strömte wieder aus.

„Das Gewissen der roten Rose scheint eingeschlafen zu sein! Sie hat sich’s wieder anders überlegt!“ dachte er und merkte, wie es ihm unter der Stirnhaut seltsam kühl wurde.

„Verdammt – ich muß hinaus!“ sagte er halblaut. „Sonst bin ich in einer Stunde abgetan!“

Er stieg auf den Stuhl und drehte den Hahn der Gaslyra zu; stieg herab, legte den eingeschalteten Leuchtstab auf den Stuhl, ließ den Lichtkegel auf die Flurtür fallen, packte den Fichtentisch und – warf ihn mit der einen Ecke gegen die Tür.

Zwei Beine brachen ab. Das war der ganze Erfolg. Er packte ihn abermals, benutzte ihn als Sturmbock.

Die Tür widerstand. –

Der Gasgeruch machte ihm die Kehle rauh. Der Leuchtstab glühte nur noch schwach.

Hein nahm die Repetierpistole.

Sieben Schuß! Vielleicht konnte er mit den sieben Kugeln das Schloß der zweiten Tür zerstören.

Dann war er jedoch ohne Waffe.

Nein – besser nicht! – Und er steckte das Spielzeug wieder ein, hob den Tisch empor und bearbeitete nun – den Fensterladen, um das mit Blech benagelte Holz zu zertrümmern.

Und – das gelang! Das Loch wurde größer. Scheiben zersplitterten. Hein griff mit der Hand hindurch.

Und – wieder das Kältegefühl unter der Stirnhaut.

Es war kein Fenster mehr; es war zugemauert!

Hein lehnte sich matt an den braunen, plumpen Kachelofen.

Er fühlte, wie ein Schwindel seinen Köper zum Kreisel machte.

Er biß die Zähne in die Unterlippe.

„Verdammt, ich lasse mich nicht wie einen räudigen Hund in einem Gaskasten ersticken,“ dachte er.

Und – bückte sich plötzlich, tastete nach der eisernen Ofentür, schraubte sie auf, nahm sie aus den Gelenken, ging zu der Flurtür.

„Nein – die andere Tür ist schwächer!“ schoß es ihm durch den Kopf.

Er spürte bereits, daß sein Hirn träger arbeitete, daß eine bleierne Müdigkeit ihn halb lähmte. –

Schlag auf Schlag gegen das Holz – immer mit der Kante.

Schlag auf Schlag.

Seine Hände wurden wund und feucht – von Blut.

Schlag auf Schlag.

Das Holz splitterte; Späne flogen; das Loch vergrößerte sich; Stücke fielen herab.

Und – die Tür ließ sich mit einem Male nach innen aufziehen. Der Riegel war samt dem Schloß herausgebrochen.

Hein hatte im Dunkeln gearbeitet. Jetzt leuchtete er in den Nebenraum hinein.

Kein Nebenraum – ein Fahrstuhlschacht.

Hätte er einen unvorsichtigen Schritt getan, dann läge er jetzt dort unten – vielleicht mit kaputtem Genick! Das Drahtseil des Fahrstuhles, eines Lastenaufzugs ohne Zweifel, schwang etwas nach hinten, als Hein es im Sprunge umklammerte.

Er kletterte höher und höher. Unter der Decke links eine kleine Tür. Der Leuchtstab enthüllte mit mattem, rötlichem Glühen, daß sie nur angelehnt war.

Hein wagte den zweiten Sprung, fiel halb in die Tür hinein, kroch weiter.

Wieder ein Schwindelanfall, ein würgendes Übelkeitsgefühl.

Aber auch das ging vorüber. Er erhob sich, schritt durch einen Speicherboden, fand eine Luke zum Dach, kletterte vom Dach an der eisernen Sicherheitsleiter in die Tiefe und befand sich auf dem Hofe des Nachbargrundstücks, setzte sich auf den Müllkasten und ruhte sich aus.

Die Mainacht war warm. Der Himmel klar. Über die Dächer zog bereits das Zwielicht hin. Der Morgen nahte.

„Ich war dort oben doch wohl eine Weile bewußtlos,“ dachte Hein und stellte fest, daß es bereits drei Uhr morgens war.

Er schaute sich um. Man sollte ihn hier nicht bemerken. Er wollte ungesehen das Haus verlassen. – Immerhin – man konnte mal versuchen, ob die Haustür offen war.

Er ging leise über den Hof in den Flur. Die Haustür hatte vergitterte Glasscheiben. Aber sie war verschlossen. Hein machte kehrt und wollte die Treppen nach oben bis zur Bodentür, wollte sich dort niedersetzen und später hinaus, wenn das Haus geöffnet war.

Da – hinter ihm ein Geräusch. Ein Herr hatte den Schlüssel in das Schlüsselloch der Haustür geschoben.

Hein trat näher, lüftete den Hut.

„Ich werde abschließen,“ sagte er zu dem Herrn, der ihn mißtrauisch musterte, und klapperte mit dem Schlüsselbund.

Der Herr ließ ihn vorüber. Hein tat, als schlösse er ab. Und der andere ließ sich täuschen.

Pfeifend ging Hein davon. Am Schloß winkte er ein Auto herbei und fuhr heim.

Bald hielt das Auto vor der Villa, und Heins Denken bekam eine andere Richtung.

„Wie – das Gittertor der Einfahrt weit offen?! Was bedeutet das?!“

Er sprang hinaus, bezahlte den Chauffeur und betrat langsam den Garten, hielt die Augen auf den Fahrweg gerichtet.

„Das sind die Spuren eines fremden Autos!“ überlegte er beunruhigt. „Und – das Tor offen?! Und – John mit meinem Auto nicht in der Brüderstraße! John, der freiwillig nie –“

Und dort auf der dritten Stufe der Treppe der Terrasse glühte im Morgenlicht etwas Rotes.

Eine – rote Rose.

Hein begann zu laufen; Hein ahnte das Schlimmste, stürmte die Treppe empor, schloß auf, fand die Hintertür nur angelehnt, fand seine Wirtschafterin und das Stubenmädchen endlich im Keller vor, beide aschfahl und völlig verstört, – im Keller eingeschlossen, den er erst aufbrechen mußte.

In seinem Schlafzimmer aber, neben dem Tom in einem einfenstrigen Zimmer untergebracht war, war der kleine Panzerschrank gesprengt.

Und John und Tom waren nicht daheim; auch Erwin war nicht mehr hier. –

Frau Schmalz, die Wirtschafterin, mußte erst drei Tassen kalten Kaffee trinken, bevor sie wieder leidlich zu Vernunft kam.

Sie erzählte dann: daß Hein doch den Chauffeur geschickt hätte, der den Herrn Doktor nach der Brüderstraße bringen sollte; daß John dann Tom geholt hätte, und daß gleich darauf zwei maskierte Männer in ihre Stube eingedrungen waren; daß beide Frauen von den Einbrechern in den Keller eingesperrt wurden. – Mehr wisse sie nicht. – Nein, nein, keine Ahnung habe sie, wie die Banditen gekleidet, ob sie groß, klein, dick oder hager gewesen.

Hein läutete die Polizei an. Er war rasch mit sich ins Reine gekommen, was er nun zu tun hätte. Dieser Einbruch ließ sich nicht verschweigen.

Er meldete also den Diebstahl.

„Mir sind Diamanten gestohlen worden, vierzig Stück, die in einem Ebenholzkasten auf Seide aufbewahrt wurden, weiter gegen 80 000 Mark bares Geld –“ –

Bevor die Polizei eintraf, kamen John und Tom mit dem Auto nach Hause. Hein begrüßte sie von der Terrasse herab.

„Boys, wir sind fein ausgeplündert worden!“ sagte er. „Beeilt Euch, bringt den Wagen in die Garage und kommt in mein Zimmer.“

Tom und John fluchten wie altenglische Vollmatrosen.

„Boys!“ erklärte Hein, nachdem er ihnen mitgeteilt, was er mitteilen wollte, „die Polizei wird sehr bald erscheinen. Ihr bleibt ganz aus dem Spiel, verstanden! Ich werde den Beamten nur das erzählen, was ich für gut befinde. Solltet Ihr trotzdem vernommen werden, so sagt Ihr die Wahrheit, freilich ohne anzudeuten, daß der Blondspitzbärtige mit der Brille Euch und mich hineingelegt hat.“

Tom schnitt ein Gesicht. „Das wird nicht gehen, Herr,“ meinte er. „Wir werden uns in Widersprüche verwickeln. Und – wo ist Herr Doktor Blottner geblieben?!“

Hein kaute die Unterlippe. „Blottner wird nach Hause gegangen sein,“ brummte er, halb gegen seine Überzeugung.

Tom schüttelte unzufrieden den Kopf.

„Herr, Sie haben doch in dieser Nacht Böses erlebt,“ sagte er mit der teilnahmsvollen Vertraulichkeit des erprobten Dieners. „Ihre Hände sehen aus, als ob –“

Hein nickte zerstreut. „Ihr sollt die Wahrheit erfahren. Ihr besinnt Euch auf Dehli –“

„Und ob!“ platzte John heraus. „Wir machten ja zum Teil damals mit, Herr.“

„Nun – dieselbe Bande regt sich wieder, besser die, denen man damals nicht an den Kragen konnte –“ Und er berichtete jetzt kurz und sehr übersichtlich die ganzen Ereignisse, die mit der roten Rose zusammenhingen.

„Herr,“ meinte Tom darauf, „John und ich werden zu Doktor Blottner fahren und sehen, ob er daheim ist. Inzwischen ist dann die Polizei hier gewesen, und wir entgehen einem Verhör.“

Hein war einverstanden, gab seinen beiden Getreuen die Hand und beobachtete nun von der Terrasse aus, wie sie davonfuhren.

Er hatte sich an die Brüstung gelehnt. Die ersten Sonnenstrahlen schossen über die Parkbäume hin.

Das Auto verließ den Vorgarten; das Rattern verklang in der Ferne.

Hein ging in das Badezimmer und duschte, wechselte den Anzug, rasierte sich und trank Kaffee im Speise-Zimmer, wo Frau Schmalz ihm nochmals alles erzählte. Und jetzt besann sie sich: der eine Einbrecher war klein und hager gewesen!

„Also die sogenannte Miß Ellen Housting!“ dachte Hein.

Frau Schmalz’ Gedächtnis wachte immer mehr auf. „Der kleine Kerl hatte braune Halbschuhe an,“ sagte sie. „Bestimmt – braune Halbschuhe, die mir deshalb aufspielen, weil sie –“

„– ganz gut zu einem Weibe der Größe nach gepaßt hätten!“ ergänzte Hein.

„Ach nee – woher wissen Sie das, Herr van Geldern?!“

„Es war so – so ein Einfall von mir.“

Hein stand auf. Das Frühstück schmeckte ihm nicht. Er bekam den Gasgeschmack nicht aus der Kehle heraus.

Er ging in den Garten. Und – als er die Terrassentreppe hinabschritt, lag da noch die rote, langstielige Rose. Er hob sie auf. Er riß die Blütenblätter ab. Vielleicht war wieder ein Zettel darin.

Nein – nichts! Er warf die gemordete Rose ins Gras. Und – wieder fiel ihm die Blumenverkäuferin ein, wieder grübelte er darüber nach, ob er es hier mit zwei Zwillingsschwestern oder nur einem Weibe zu tun hätte.

Da bog ein Polizeiauto in den Vorgarten ein.

Geldern ging den beiden Herren entgegen.

„Kommissar Treutler, Assistent Sommer,“ stellten die Herren sich vor.

Hein führte sie ins Haus und ins Schlafzimmer, zeigte das geknackte Panzerspind und erklärte dazu folgendes:

„Ich hatte mich gestern abend mit einem Herrn in der Brüderstraße verabredet und ließ mein Auto dort warten. Ein Fremder schickte den Wagen angeblich in meinem Auftrage weg; mein Chauffeur sollte meinen Freund Blottner holen. Derselbe Unbekannte befahl John, meinem Chauffeur, mit meinem Diener Tom Unter den Linden dann mich zu erwarten – alles scheinbar Befehle von mir. So blieben denn hier in der Villa nur die Wirtschafterin und das Hausmädchen seit ein halb eins zurück. Als ich um halb vier heimkehrte, entdeckte ich den Einbruch.“

Der Kommissar blickte Hein scharf an. „Sie waren im Hause Brüderstraße Nr. 19. Was wollten Sie dort?“

Gelderns Stirn zeigte die drei Wülste. „Privatangelegenheit,“ sagte er kurz.

„Hm – eine merkwürdige Privatangelegenheit, die Sie zwang, eine Tür in Nr. 18 zu zertrümmern, am Fahrstuhlseil emporzuklettern und –“

Hein hatte frei herausgelacht. „Ich kann mir denken, wie Sie so schnell dahinter gekommen sind,“ meinte er zwanglos. „Der Herr, der mich aus Nr. 19 herausließ, wird Argwohn geschöpft haben.“

„Allerdings,“ nickte Treutler. „Sie haben Pech gehabt. Der Herr war Kriminalbeamter, wohnt im Hause und kam vom Dienst. Er folgte Ihnen und hörte, wie Sie dem Taxameterchauffeur das Fahrtziel zuriefen. Als er wieder vor Nr. 19 anlangte, traf er den Portier von Nr. 18, der unten im Seitenflügel wohnt und durch die Schläge, die Sie mit der Ofentür gegen das Holz geführt hatten, munter geworden war und gerade im Hofe erschien, als Sie die Feuerleiter hinabstiegen. Jedenfalls, Herr van Geldern: diese Privatangelegenheit, bei der noch ein unter den Dielen liegender Gasschlauch eine Rolle spielt, dürfte kaum –“

Hein hatte eine kurze Handbewegung gemacht.

„Ich kapituliere!“ sagte er gereizt. „Ich hätte all das lieber allein erledigt. Aber hier in Deutschland ist man gründlich. In Amerika rührt die Polizei gegen den Willen des Betroffenen keinen Finger. – Bitte, meine Herren, setzen wir uns in mein Arbeitszimmer. Meine Geschichte wird Sie interessieren.“

 

7. Kapitel.

Als Tom und John mit dem Auto zurückkamen, war die Polizei noch in der Villa.

Sie brachten die Nachricht mit, daß Doktor Blottner nicht daheim war. – Kommissar Treutler fragte nun John sehr genau über den Blondbärtigen aus. Dann konnte John wieder gehen.

„Herr van Geldern, Ihr Freund ist entweder ermordet oder verschleppt worden,“ sagte Treutler ernst. „Sie hätten besser getan, gleich gestern mittag Ihr Abenteuer auf der Autorennbahn uns zu melden, denn dieses Spritzenattentat hätte Ihnen klar machen müssen, daß Sie in Gefahr waren, und ebenso Ihr Freund Blottner.“

Hein nickte nur. Er sah jetzt selbst ein, daß er schuld daran war, wenn Erwin etwas zugestoßen sein sollte.

„Alles, was Sie gestern am Tage erlebt haben,“ fuhr Treutler fort, „hatte nur den Zweck, Sie und den Doktor nach der Brüderstraße zu locken. Der Agent Grunert zum Beispiel hat die beiden leeren Lagerräume im Seitenflügel von Nr. 18 erst gestern für drei Tage von dem Portier gemietet. Dieser Grunert ist uns gut bekannt. Ein schlauer Fuchs, schwer zu fassen, – Fälscher, Betrüger und Schieber. Aber für Gewalttätigkeiten nicht zu haben. Deshalb wird er auch ohne Zweifel nicht geahnt haben, was die Leute eigentlich vorhatten, für die er die Räume mietete. Er ist eben von noch Schlaueren hineingelegt worden. Wir werden ihn finden, und dann hören wir ja das Nähere.“

Treutler verabschiedete sich recht kühl.

Hein sah das Polizeiauto davon fahren. Er fühlte sich geradezu gedemütigt. Sein Selbstbewußtsein hatte heute einen bösen Stoß bekommen. Die Sorge um Erwin Blottner bedrückte ihn. Er dachte an Hilde Herger. Sie würde ihn dafür verantwortlich machen, falls Erwin – nein, nein, das konnte ja nicht sein, – weshalb sollte man Erwin ermorden – weshalb?! Etwa um ihn, Hein van Geldern, dadurch zu treffen?!

Tom Hawkin betrat die Terrasse.

„Herr, was wird nun?“ fragte er. „Wir werden doch nicht untätig bleiben! John und ich haben die Sache durchgesprochen. Man müßte doch Fräulein Herger benachrichtigen. Und dann –“

Hein zuckte die Achseln. „Die Damen sind doch verreist. Wohin? Ich weiß es nicht.“

„Die Portierfrau wird es wissen, Herr.“

„Gut!“ Hein richtete sich auf. „Gut, Tom. Ich werde nach der Belle-Alliance-Straße fahren. Sie haben ganz recht: ich darf nicht untätig bleiben – Erwins wegen.“

Um halb acht war Hein in der Wohnung des Portiers von Nummer 96.

Die rundliche Frau Specht schwor zunächst tausend Eide, daß sie keine Ahnung hätte, wohin „Rats“ gereist seien. – Hein legte einen Tausendmarkschein auf den Tisch.

„Frau Specht,“ sagte er eindringlich, „durch ein raffiniertes Ränkespiel hat man Doktor Blottner verdächtigt, Hilde Herger betrogen zu haben. Ich will den Damen die nötige Aufklärung bringen.“

„Na – jut,“ meinte sie endlich. „Also die Damen sind in Wannsee bei dem Bruder der Rätin, dem Geheimrat Birch, Uferstraße42.“

Hein fuhr nach Wannsee, dem idyllischen Vorort, dem Segler-Eldorado. Dort lag auch seine Jacht Nixe vor Anker. –

Hilde Herger hatte sich von Gabriel u. Komp., wo sie seit zwei Jahren als Korrespondentin eine ebenso angenehme wie gut bezahlte Stellung hatte, vierzehn Tage Urlaub geben lassen.

Sie saß jetzt im Liegestuhl unter der alten Linde dicht am Wasser und sagte sich nun schon zum so und so vielten Male, daß sie gestern in jeder Beziehung vorschnell gehandelt hatte.

Sie war durch die Ereignisse überrumpelt worden. Sie hatte nicht Zeit gehabt, diese Anschuldigungen, die die Fremde gegen Erwin erhoben hatte, zu prüfen. Und ihre Mutter hatte dann noch ihrerseits alles getan, die Sache auf die Spitze zu treiben. Frau Herger war ja nie so recht mit dieser Partie einverstanden gewesen. Seitdem Erwin dann stellenlos geworden, war nicht ein Tag vergangen, an dem sie Hilde nicht vorgehalten hatte, daß diese Verlobung ein „Unsinn“ sei.

Die Rätin war es gewesen, die diese Flucht nach Wannsee vorgeschlagen hatte. Hilde ließ alles geschehen. Aber schon abends, als sie hier in ihrer trostlosen Stimmung im Liegestuhl gesessen und dort auf dem See in flinken Booten die Liebespaare beobachtet hatte, war die Einsicht gekommen.

Niemals hätte sie Erwin ungehört verdammen dürfen! Was besagte denn jener zerrissene, überklebte Brief?! Doch nur, daß Erwin in einem Anfall von Kleinmut sie hatte freigeben wollen! –

Hein van Geldern stand vor der Rätin im Salon der Villa. Er hatte sich als „Herr Müller“ melden lassen. Er wußte, daß die Rätin ihn sonst nicht vorgelassen hätte.

Frau Herger wollte denn auch sofort wieder kehrtmachen, als sie Hein erkannte. Hein beachtete weder den niederschmetternden Blick noch das deutlich gemurmelte „Welche Unverfrorenheit!“

„Gnädige Frau,“ sagte er rasch, „Erwin ist seit gestern verschwunden.“

Die Rätin wurde bleich. Sie mußte mit der Hand nach dem nächsten Stuhl greifen.

„Ist – ist er tot?“ stammelte sie.

Hein verneinte. „Er ist verschwunden. Ich hoffe, daß er lebt.“ Auch seine Stimme klang gepreßt. –

Nach fünf Minuten schritt Hein durch den Garten, bog um eine Hecke und zog vor Hilde den Hut.

Sie sprang auf. Sein Gesicht verriet, daß er der Überbringer schlechter Botschaft war.

Er aber sah, wie angstvoll sie auf eine schnelle Erklärung über den Zweck seines Besuches wartete.

„Erwin ist in der verflossenen Nacht verschwunden,“ sagte er zögernd.

Sie trat rasch auf ihn zu. „Verschwunden?“ – Ihre Augen forschten in seinen Zügen. Sie vermutete das Schlimmste.

Hein zog einen Gartenstuhl herbei. – Dann saß er neben ihr und erzählte.

Hilde weinte jetzt. Sie schämte sich vor sich selbst. Sie weinte nicht aus Angst um Erwin, „denn,“ sagte sie leise, „weshalb sollte man ihn getötet haben?! Nein – das glaube ich nicht! Man wird von Ihnen für seine Freigabe Geld erpressen wollen –“

„Ja, das nehme auch ich an,“ meinte Hein. „Und – das wäre noch die beste und einfachste Lösung. Meinetwegen mag die Bande eine Million fordern, auch mehr. Sie soll das Geld haben! Wenn nur Erwin bald wieder frei ist!“

Hilde tupfte die Augen trocken. „Aber Ihre Diamanten, Herr van Geldern!“ meinte sie zaghaft.

„Sie fürchten, ich könnte die Steine nicht zurückerhalten, falls die Schufte die Bedingung stellen, daß ich –“

Hein schwieg. John war plötzlich vor ihnen aufgetaucht.

„Was gibt’s, John?“

„Herr, ich habe soeben den Mann gesehen, der mich gestern in der Brüderstraße nasführte.“

Hein flog förmlich empor.

„Kein Irrtum, John?“

„Nein, Herr. Der Mann geht so sehr einwärts und hat so kleine Füße.“

„Wo sahen Sie ihn, John?“

„Draußen auf der Straße. Er schritt dem Walde zu. Ich wäre ihm gefolgt. Ich konnte den Wagen aber nicht ohne Aufsicht lassen.“

Hein van Geldern lief in langen Sprüngen davon. Der Mann konnte ja kaum drei Minuten Vorsprung haben. Und der Mann war abermals die angebliche Ellen Housting.

Hein lief weiter, kam in den Wald. Die Kiefern standen so weit auseinander. Unterholz gab es hier nicht. Der Mann war verschwunden – spurlos!

Hein kehrte nach zehn Minuten um. Hochrot, verärgert begrüßte er Hilde, die vor der Gartenpforte der Villa stand.

„Pech!“ meinte er. „Wie immer – Pech! – John, wenn Sie nur so schlau gewesen wären, den Kerl anzuhalten, der mir natürlich wieder nachspioniert hat!“

Hein ging mit Hilde in den Garten.

„Vielleicht meldet sich einer der Bande bei Ihnen, Fräulein Hilde,“ sagte er nachdenklich. „Es ist ganz gut, daß Sie jetzt hier draußen so halb in der Einsamkeit wohnen. Da wagt sich leichter jemand an Sie heran. Möglich, daß die Halunken gerade Sie als Vermittlerin hinsichtlich des Lösegeldes benutzen wollen. Aber – seien Sie auf Ihrer Hut, Fräulein Hilde!“

„Keine Sorge! Ich werde vorsichtig sein, doch auch wieder nicht zu vorsichtig. Mein Onkel hat einen Schäferhund. Den werde ich auf meinen Spaziergängen mitnehmen.“

Hein verabschiedete sich bald. Als er gegen halb zwölf mittags in seiner Grunewald-Villa wieder anlangte, traf er den Kriminalbeamten Sommer dort an.

„Den Grunert haben wir bereits,“ erzählte Sommer. „Auch Grunerts Freund, der den gefälschten Führerschein dem Housting geliefert hat. Grunert ist von Housting –“

„Also ist die Ellen Housting wirklich ein Mann?“

Sommer nickte. „– von Housting, was die Wohnung Brüderstraße 18 betrifft, hineingelegt worden, ganz wie Herr Kommissar Treutler schon angenommen hatte. Grunert hat gestern auch nicht mit Ihnen telefoniert. Der, der Sie vom Zigarrengeschäft Brösecke anrief, war Housting. Außerdem wissen wir, daß die Bande aus drei Leuten besteht, die wir alle drei im Verbrecheralbum haben. Der Kleine ist der Vater des Mädchens, die sich Honoria Brax nannte, ist ein geborener Deutscher namens Brose und war noch 1913 Artist. Jetzt betreibt er die Hochstapelei im großen, soll auch ein paar Bankeinbrüche ausgeführt haben. Seine Spezialität ist es, als Dame aufzutreten, wobei ihm seine fast winzigen Hände und Füße und die Fähigkeit, seiner Stimme jede beliebige Klangfärbung durchaus natürlich geben zu können, sehr nützlich sind. Zur Zeit wird er von der Neuyorker Polizei wegen einer Riesen-Scheckfälschung gesucht.“

„Alle Achtung!“ meinte Hein van Geldern. „Sie sind gründlich. Der wahre Name Houstings ist also Brose. Das hat große Ähnlichkeit mit dem in diesem Falle so ominösen Rose. Und doch: der Mann, den ich damals in Dehli niederschoß, war nicht dieser Rose. Nein, der war sehr schlank, etwas kleiner nur als ich und schwarzbärtig.“

„Sehr schlank?!“ sagte Sommer mit eigenem Lächeln. „Dann wird dieser angebliche Mann wohl Broses Tochter Helene gewesen sein. Diese Helene Brose ist jetzt 24 Jahre alt. Sie wurde mit achtzehn Jahren Artistin, und zwar Verwandlungskünstlerin und – Bauchrednerin. In den Vereinigten Staaten erfreute sie sich unter dem Künstlernamen Helianta einer bescheidenen Berühmtheit. Unsere amerikanischen Kollegen behaupten, daß Brose sein Kind durch irgend einen besonderen Einfluß völlig in der Gewalt hat. Was daran wahr ist, ließ sich bisher nicht nachkontrollieren, da Julius Brose bis heute noch nicht ein einziges Mal verhaftet werden konnte, wie ich schon andeutete.“

Hein starrte den Beamten sprachlos vor Staunen an. „Wie – dann hätte ich damals also ein Weib niedergeknallt?!“ rief er nun. „Und diese Helene Brose soll im Hotel in Dehli als Justus Rose gewohnt haben?! Sie war es doch auch, die hauptsächlich mit mir verhandelte, als die Bande mich gefangen genommen hatte.“

Sommer zuckte die Achseln. „Herr van Geldern, dies Weib hat noch ganz andere Rollen gespielt. Vor acht Monaten wurde in Panama –“ – Er schwieg. Hein war aufgesprungen. Hein streckte den Arm gegen Sommer aus.

„Ah – vieles ist mir soeben klar geworden!“ stieß er hervor. „Nur Helene Brose kann es gewesen sein, die mir damals durch eine scheinbare Nachlässigkeit die Flucht ermöglichte. Und bei der Verfolgung – was war ich nur blind! – ja – bei der Verfolgung erleichterte sie mir ebenfalls das Entkommen. Es war Nacht, und sie leitete die anderen durch ihre Rufe in eine falsche Richtung. Ich habe ihr all das schlecht gedankt. Ich durchschaue erst jetzt ihren wahren Charakter. Es wird schon stimmen, Herr Sommer, daß Brose das arme Weib durch weiß Gott welche niederträchtigen Mittel völlig in der Hand hat. Ich erzählte Ihnen ja morgens, daß die Gaszufuhr nach einer Weile wieder unterbrochen wurde. Das hat fraglos Helene Brose getan. Und der, der das Gas wieder ausströmen ließ und mich umbringen wollte, war dann ihr Vater.“

„Mag sein, Herr van Geldern. – Nun noch etwas über den dritten im Bunde, den Herrn Aloysius Steffke[10], ebenfalls seit vielen Jahren ein Schmerzenskind der Weltpolizei. Auch er war in seiner Jugend ehrlichen Tagen Artist; auch er warf die mannigfachen Unbequemlichkeiten der deutschen Nationalität als überaus vielseitiger Mann von sich und ist jetzt Mexikaner. Jedenfalls „arbeitet“ er stets mit Brose und Tochter zusammen. Er ist mittelgroß und hat graublaue, gutmütige Augen. Seine Spezialität sind Dienerrollen. Auch er wird von den Fahndungsbehörden eifrig gesucht; auch er ist schwer zu fassen. Dieses Kleeblatt Brose, Helene und Steffke verfügt eben über Verkleidungstricks, die der schärfsten Polizeiaugen spotten. – So, Herr van Geldern, dies sollte ich Ihnen im Auftrage Herrn Treutlers mitteilen.“

 

8. Kapitel.

Hein hatte schon eine Frage auf den Lippen.

„Herr Sommer, seit wann wissen Sie denn, daß die beiden verschwundenen Amerikanerinnen mit den Broses identisch sind?“

„Seit dem 17. Mai abends, also einen Tag nach dem „Verschwinden“ der beiden.“

„Aber – aber die Zeitungen erwähnten doch –“

„Die Zeitungen erfahren nur das, was uns zweckdienlich erscheint,“ fiel Sommer ihm ins Wort. „Auf unsere Veranlassung wurden auch die beiden Vergrößerungen im Lesesaal Unter den Linden ausgehängt.“

Und Sommer fügte hinzu: „Ihr Freund Blottner ist tatsächlich entführt worden. Wir haben jetzt die Beweise dafür.“

Geldern seufzte erleichtert auf. „Bitte, erzählen Sie –“

„Brose hat ihn in das Haus Brüderstraße 18 gelockt,“ erklärte Sommer. „Das wissen Sie ja bereits, Herr van Geldern. Wir haben nun zwei Zeugen ermittelt, die in den Häusern gegenüber von Nr. 18 wohnen und gegen Mitternacht noch munter waren. Sie haben beobachtet, daß zwei Herren einen Dritten, der betrunken zu sein schien, aus Nummer 18 in ein geschlossenes Auto schleppten und mit ihm davonfuhren. Das Auto, Nummer 12 131 ist heute früh in einer Straße in Wilmersdorf als scheinbar herrenlos beschlagnahmt worden. Es stand vor einem Cafee. Das Kleeblatt braucht es eben nicht mehr.“

Hein schüttelte den Kopf. „Unglaublich! – Blottner war natürlich nicht betrunken, sondern betäubt.“

„Ja – mit Chloroform und Äther. Im Treppenflur des Seitenflügels von Nummer 18 lag ein Wattebausch, und dicht daneben dies –“

Er hielt Hein eine Krawattennadel hin: die geschnitzte Elfenbeinrose, die jedoch stark beschädigt war. „Wir nehmen an, Doktor Blottner hat sich gewehrt und Brose dabei die Nadel herausgerissen, Herr van Geldern. Sie lag auf der ersten Treppenstufe, und jemand hatte sie mit dem Fuße zertreten. Der Wattebausch roch noch stark nach den Betäubungsmitteln.“

Sommer beschaute seine polierten Fingernägel, als er fortfuhr: „Hm – Sie waren in Wannsee, Herr van Geldern, nachdem Sie Frau Portier Specht durch den Tausender erfreut hatten. Wir sind eben in allem gründlich, Herr van Geldern –“

Hein trommelte auf der Tischplatte einen Marsch. „Ich werde ja, scheint’s, überwacht!“

„Oh – das nicht gerade! Einer unserer Beamten wollte zur Specht und sah, wie Sie in der Portierwohnung verschwanden, erfuhr auch dasselbe wie Sie bei der Specht. Da dachten wir uns, daß Sie nach Wannsee zu Fräulein Herger fahren würden.“

„Stimmt, Herr Sommer. Und – jetzt kann ich Ihnen etwas Neues mitteilen: Brose war in Wannsee! Brose muß mir gefolgt sein!“

Er berichtete Einzelheiten.

„John hat den Mann also nur von hinten gesehen,“ meinte Sommer bedächtig. „Und der Mann ging stark einwärts. Das trifft zu, das ist eine Eigentümlichkeit Broses. Hm – ob Ihnen vielleicht ein Auto folgte, als Sie nach Wannsee hinausfuhren, Herr van Geldern?“

„Ich habe nicht darauf geachtet. Aber es muß wohl so sein.“

Sommer nickte. „Sie sehen, wie frech dieser Brose ist! – Herr Kommissar Treutler läßt Sie noch warnen. Er fürchtet, man wird Ihnen nochmals eine Falle stellen. – Wie viele Leute wurden damals in Dehli verhaftet und verurteilt?“

„Vier, Herr Sommer. Wie denken Sie darüber: die Entführung Blottners wird wohl auf eine Erpressung hinauslaufen, nicht wahr?“

„Ganz sicher! Die Bande wird sich irgendwie mit Ihnen in Verbindung setzen. Deswegen bin ich hauptsächlich zu Ihnen gekommen. Man wird von Ihnen verlangen, die Polizei auszuschalten, und drohen, Doktor Blottner zu töten, falls Sie dennoch uns mitteilen sollten, daß Sie mit Geld herausrücken sollen. Diese Drohung darf Sie nicht einschüchtern. Wir müssen unbedingt alles erfahren, was geschieht, und zwar sofort. Ich werde Ihnen nachher Herrn Treutlers Telephonnummer aufschreiben[11].“

Hein äußerte sich hierzu nicht. Er blickte an Sommer vorüber auf Erwin Blottners Bild, das auf dem Schreibtisch stand. Er dachte: „Ich darf Erwins Leben nicht aufs Spiel setzen! Ich muß tun, was die Bande befiehlt. Durch meine Schuld ist Erwin in diese Lage geraten. Ich bin es Hilde und ihm schuldig, alles zu tun, ihm wieder die Freiheit zu verschaffen!“

Sommer hatte Heins Gesicht beobachtet.

„Das, was Sie jetzt denken, Herr van Geldern,“ sagte er unvermittelt, „mag von Ihrem Standpunkt richtig erscheinen. Und doch ist es falsch.“

„Können Sie Gedanken lesen?!“ fuhr Hein etwas gereizt auf.

„In diesem Falle ja. – Sie wollen uns ausschalten. Tun Sie es nicht. Ihnen muß doch daran liegen, Ihre kostbaren Diamanten zurückzuerhalten und uns zu helfen, Leute endlich unschädlich zu machen, die –“

Hein war aufgestanden. „Herr Sommer, ich habe bisher stets nur das getan, was ich für richtig halte! Ob meine Diamanten mir verloren gehen, ist mir gegenüber der Sorge um meinen Freund und dessen Braut sehr gleichgültig. Außerdem, Herr Sommer: ich fühle mich jetzt Helene Brose gegenüber zu Dank verpflichtet. Ich habe damals in Dehli die Ereignisse jener Nacht falsch bewertet. Das Mädchen hat mir das Entkommen ermöglicht. Das weiß ich jetzt. Mein Dank war eine Revolverkugel. Ich werde keinen Finger rühren, Helene der Polizei in die Hände zu spielen. Dabei bleibt’s. Sie können mich nicht zwingen, Ihnen Häscherdienste zu leisten.“

Sommer erhob sich gleichfalls. „Nein, wir können Sie nicht zwingen,“ meinte er höflich. „Ich begreife Sie sogar vollkommen. Und doch warne ich Sie, Herr van Geldern. Brose und Steffke werden –“

Hein winkte ab. „Und ich werde auf meiner Hut sein! – Für meine Handlungsweise ist auch das mitbestimmend, Herr Sommer, daß Helene von ihrem Vater auf die Bahn des Verbrechens gedrängt worden sein soll. Ich möchte derjenige sein, der sie rettet. Und das kann ich nur ohne die Polizei. Haben Sie die drei erst in Ihrer Gewalt, Herr Sommer, ist Helene Brose mit verloren, wandert ins Zuchthaus oder – tut sich ein Leid an.“

„Wie Sie wollen, Herr van Geldern. – Auf Wiedersehen!“

Hein reichte Sommer die Hand.

„Ich kann nicht anders – wirklich nicht!“ meinte er wie entschuldigend. „Das Mädchen soll nicht untergehen! – Ob – ob dieser Steffke zu ihr in intimeren Beziehungen steht?“

Sommer schüttelte den Kopf. „Nein. Auch hierüber sind wir genau unterrichtet.“

Dann verließ er die Villa und – lächelte wieder so sonderbar, beinahe schalkhaft, – etwa so, als habe er soeben eine Entdeckung gemacht, die Hein van Gelderns Absichten in ein neues Licht rückte.

Ja – die Frage, ob Steffke der Geliebte des Mädchens sei, ließ sich recht verschiedenartig deuten. –

Hein aß zu Hause Mittag. Es schmeckte ihm. Er war wieder der alte Hein van Geldern; er wußte, was er wollte. Und das war die Hauptsache. –

Dann suchte er Hilde Herger in Wannsee wieder auf. Er fuhr mit der Stadtbahn hinaus. Und auf dem Bahnsteig des Grunewald-Bahnhofs hielt er sehr sorgfältig nach einem Verfolger Ausschau. Er bemerkte niemand, der ein Spion hätte sein können.

In Wannsee war er nicht minder vorsichtig. Doch auch hier überzeugte er sich bald, daß ihm niemand nachschlich. –

Hilde sei vor zehn Minuten in den Wald gegangen, erklärte die Rätin nicht gerade sehr freundlich, denn sie sah in Hein nur den Förderer dieser Verlobung, die jetzt noch durch Blottners Verschwinden vielleicht dem Zeitungsgeschwätz preisgegeben war.

„Mit dem Hunde?“ fragte Hein.

„Ja. Sie wollte sich nicht weit entfernen.“ –

Hein sagte, er würde Hilde suchen, und verabschiedete sich.

Er fand Hilde sehr bald. Sie saß dicht am Seeufer auf der dicken Luftwurzel einer Kiefer und hatte ein kleines Opernglas im Schoße liegen. Dicht neben ihr hatte sich der Schäferhund niedergetan.

Der Hund knurrte, als Hein sich näherte. Hilde wandte den Kopf. – „Ah – Herr van Geldern!“ – Ihre Augen wurden von bangen Fragen starr. „Was bringen Sie? Schlechte Nachricht?“

„Nein, nein, Fräulein Hilde. Erwin ist tatsächlich entführt worden –“ – Er begann ihr alles mitzuteilen, was zwischen Sommer und ihm erörtert worden war.

„Sie finden meine Absicht, Helene Brose auf den Pfad der sogenannten Ehrbarkeit und Moral zurückzuführen, wohl etwas romantisch,“ schloß Hein jetzt mit etwas Selbstironie im Ton. „Seien Sie nur ehrlich, Fräulein Hilde. Ich vertrage ein offenes Wort.“

„Ich finde es nicht romantisch, sondern nur Ihrer ganzen Wesensart entsprechend,“ erwiderte sie sofort. „Nur fürchte ich, daß Sie sich diese Rettung zu leicht vorstellen. Mag das Mädchen auch halb zur Teilnahme an den Verbrechen gezwungen worden sein, – ganz schuldlos ist es wohl kaum. Sie hätte sich doch von ihrem Vater heimlich trennen können, wenn –“

„Oh – bitte!“ meinte er lebhaft. „Wissen wir denn, welcher Art der Zwang ist, der auf sie ausgeübt wird?! Nein – wir wissen nichts, und doch das eine: daß sie mich retten wollte, zwei Mal, in Dehli und hier! – Und diese Hilfe, die sie mir leistete, wird ihr vielleicht teuer zu stehen gekommen sein. Ein Mann wie Brose dürfte nicht gerade zart mit seiner Tochter umgehen, die seine Pläne zu durchkreuzen sucht.“

Hilde blickte ihn verstohlen von der Seite an. Ihr feiner weiblicher Instinkt ließ sie Ähnliches ahnen, wie dies schon Sommer mit schalkhaftem Lächeln vermutet hatte.

 

9. Kapitel.

Erwin Blottner hatte bereits gelindes Mißtrauen gegen diesen Herrn Schneider gefaßt, bevor er ihm noch in das Haus Nr. 18 gefolgt war. Blottner fand, daß dieser Mann zu viel schwatzte. Es machte ganz den Eindruck, als wollte er ihn nicht recht zur Besinnung kommen lassen.

„Ich war’s, der dem Autokäufer den Führerschein besorgt hat,“ hatte Schneider mit plump vertraulichem Grinsen sofort erklärt. „Sie werden sich wundern, Herr Doktor, was ich sonst noch über die rote Rose weiß, – he – he, mächtig werden Sie sich wundern.“

Dann im Treppenflur des Seitenflügels der Überfall, der Blottner nicht überraschend kam. Schneider war mit einer eingeschalteten Taschenlampe vorausgegangen. Plötzlich hatten dann zwei Arme Blottner von hinten umklammert. Schneider drehte sich blitzschnell um und drückte Blottner den Wattebausch auf den Mund.

Der Doktor hielt den Atem an, warf sich nach hinten über. Er, der bisher nie Gelegenheit gehabt hatte, sich verteidigen zu müssen, wunderte sich selbst, daß er so gar keine Angst empfand. Nur eine ungeheure Wut war in ihm aufgeflammt, Wut und auch die Sorge um Hein, der sich ja fraglos schon in der Gewalt dieser Schurken befand.

Das Ringen war kurz. Blottners Muskeln hielten den Bärenkräften der beiden Angreifer nicht stand. Er mußte ja auch Luft holen, sog die betäubenden Dünste tief ein, wollte jetzt um Hilfe rufen, fühlte sich plötzlich wie in einem tiefen Abgrund versinken – und verlor die Besinnung. –

Das Auto 12 131 jagte mit dem Bewußtlosen davon. Als Blottner wieder zu sich kam, lag er in einer kleinen engen Kammer auf einer Holzbank, die mit ein paar Decken belegt war. Über ihm hing an einem Draht eine Petroleumlaterne, deren rötliches Licht die kahlen, hell gestrichenen Holzwände, ein niedergeklapptes Wandtischchen und eine schmale Tür beschien.

Ihm war nach dem Chloroformrausch hundeelend zu Mute. Die stickige Luft in der Kammer erhöhte noch das Übelkeitsgefühl. – Er lag ganz still. Er wußte, daß er die unangenehmen Folgen der Narkose nur unterdrücken konnte, wenn er sich ruhig verhielt. – Seine Gedanken klärten sich langsam. – Was wollten die Leute gerade von mir? dachte er. Und weiter: Ob sie Hein wohl ebenfalls überrumpelt haben? – Er konnte nicht recht daran glauben; Hein wäre mit zwei Angreifern fraglos fertig geworden.

So überlegte er dies und jenes. Aber sein Denken war doch zumeist bei Hilde. – Wo mochte sie jetzt wohl weilen?! Wenn sie wüßte, daß er hier nun ein Gefangener war! – Hier – wo, wo mochte er sich befinden?

Abermals blickte er sich um, drehte nur etwas den Kopf. – Eine Kammer mit Holzwänden. Und dieser scharfe Geruch nach Farbe und nach –, ja, da war noch eine andere Beimengung. Was war das nur? – Die Laterne stank nach Petroleum. Aber – auch außer diesem Geruch hatte die Luft hier etwas so Charakteristisches an sich. –

Blottner schlief wieder ein. Als er erwachte, war das Tischchen hochgeklappt. Ein Glas Zitronenwasser stand darauf; daneben ein Teller mit zwei belegten Brötchen. Er setzte sich aufrecht; trank in kleinen Schlucken, aß ebenso langsam. Dann sah er nach der Uhr. Seine bescheidene Stahluhr war genau sechs. – Wahrscheinlich sechs Uhr nachmittags, sagte Blottner sich.

Dann hob er lauschend den Kopf. Er hörte irgendwo Schritte, dumpf dröhnende Schritte, nun auch das ferne, schwache Knattern eines Motors.

Plötzlich zuckte er zusammen. – Was bedeutete das?! Die Kammer bewegte sich ja – nicht viel, aber doch – es war ein Schwanken.

Ein Schwanken – und diese Mischung von Gerüchen: ein Schiff! Ja – er befand sich auf einem Schiffe! – Gleich darauf näherten sich Schritte. Die Tür wurde nach außen geöffnet. Ein kleiner, hagerer Mann mit bartlosem Gesicht nickte Blottner zu.

„Mein Name ist Brose, Herr Doktor,“ sagte er mit geschäftsmäßiger Höflichkeit. „Ich muß mit Ihnen einiges besprechen. Sie dürften wohl wissen, daß Ihr Freund van Geldern mir und meinen Freunden seiner Zeit in Dehli ein großes Unternehmen vereitelt und daß er dabei meine Tochter schwer verwundet hat –“

Blottner nickte schwach. Er mußte sich erst von seiner Überraschung erholen. Dieser Brose schlug einen Ton an, als hätte er mit seinem Gefangenen wie mit einem Kaufmann etwa über einen Grundstückskauf zu verhandeln.

„Als wir erfuhren, daß Herr van Geldern sich in Berlin endgültig niedergelassen hatte,“ erklärte der kleine Brose in derselben Art weiter, „sind wir zu dreien hier wochenlang tätig gewesen, um das Terrain für einen letzten, recht gewinnbringenden und mehrteiligen Schlag zu sondieren. Unser Plan wurde dann unter genauer Berücksichtigung der obwaltenden Verhältnisse aufgebaut. Wir wollten drei Geschäfte hintereinander erledigen. Glückten sie, dann konnten wir uns als schwerreiche Leute in den wohlverdienten Ruhestand zurückziehen –“

Blottner mußte lächeln, ob er wollte oder nicht. Einen großzügigen internationalen Verbrecher hatte er sich etwas weniger humorvoll vorgestellt.

„Zwei der „Schläge“ sind geglückt,“ fuhr Brose unbeirrt fort. „Der dritte halb. Sie wissen, daß wir des Rentiers Grützner Münzensammlung mit Beschlag belegt haben. Dasselbe taten wir mit den Diamanten van Gelderns. Diese beiden Unternehmungen erforderten nicht viel Nachdenken, waren mehr gröbere Arbeit. Anders verhielt es sich mit unserer Absicht, von van Geldern Geld zu erpressen. Geldern ist kein zu verachtender Gegner. Wir mußten diese Sache sehr sorgsam nach der seelischen Seite erwägen, bevor wir uns an ihn heranwagten. Er liebt das Phantastische. Gut – wir taten ihm den Gefallen und begannen das Spiel recht geheimnisvoll unter Zuhilfenahme der roten Rosen. Er biß auch sofort auf den Köder an. Wir mußten ihm aber auch, bevor wir Sie entführten, beweisen, daß es uns auf ein Menschenleben scheinbar nicht ankäme. Deshalb lockten wir auch ihn in die Falle und taten so, als ob er durch Gas umgebracht werden sollte. Er hat sich selbst befreit. Hätte er dies nicht vermocht, dann hätten wir gewartet, bis er bewußtlos geworden, und hätten ihn dann irgendwie schnell durch die Polizei auffinden lassen. Er sollte ja nicht sterben. Er sollte im Gegensatz zu Ihnen uns scheinbar im letzten Augenblick entkommen. Denn er mußte ja unserem Plane gemäß die volle Bewegungsfreiheit behalten, damit er für Sie das Lösegeld anweisen könnte. Wie gesagt: er entfloh! Inzwischen hatten wir aber seiner Villa einen Besuch abgestattet und auch Sie in Sicherheit gebracht. Sie sehen, Herr Doktor, die drei Teile des großen Schlages greifen ineinander, besonders Teil zwei und drei –“

Blottner lächelte nicht mehr. Er hörte gespannt zu. Verbrecherisches Genie, Frechheit, Selbstbewußtsein und Menschenkenntnis – all das vereinigte dieser Brose in seiner Person. Blottner lernte hier eine Spezies von Gesetzesbekämpfern kennen, die er einfach für unmöglich gehalten hatte.

Brose schwieg jetzt eine Weile, schaute Blottner gleichmütig an und fragte dann: „Wünschen Sie noch eine Aufklärung über irgend einen Punkt, Herr Doktor?“

„Ja. Weshalb das infame Ränkespiel gegen meine Braut? Das – das war gemein, das war ein –“

„Oh bitte – das war die allerfeinste Berechnung, Herr Doktor. Sie sind Gelderns Intimus. Aber das bürgte uns doch noch nicht genügend dafür, daß Geldern auch bereit sein würde, ein Lösegeld in jeder Höhe zu zahlen. Wir mußten die Sache also so drehen, daß für ihn eine moralische Verpflichtung bestand, jede Summe zu opfern, damit Sie wieder frei würden. Deshalb wurde Ihre Braut mit in das Geschäft hineingezogen. Geldern glaubt jetzt, daß wir in erster Linie ihm ans Leben wollten und daß wir uns nur an Ihnen deshalb vergriffen haben, um ihn dadurch zu treffen. Sie sind also als sein Freund in diese Lage geraten, und als sein Freund, nimmt er an, sollten Sie noch durch den Verlust der Braut –“

„Schändlich!“ rief Blottner empört. „Mensch, Sie sind der –“

Broses Gesicht hatte sich höhnisch verzogen. Seine Stimme klang hart, als er Blottner unterbrach.

„Bitte – wir wollen höflich bleiben, Herr Doktor! Sie werden jetzt an Geldern einen Brief schreiben und ihn bitten, daß er die Summe von 500 000 Dollar bereit hält und daß er sich nicht etwa an die Polizei wendet. Wann und wo die Summe uns übergeben werden soll –“

„Niemals!“ Blottner war aufgesprungen. „Niemals – und wenn Sie mich hier bis an mein Lebensende –“

Broses schrilles Auflachen ließ ihn verstummen.

„Herr Doktor, wetten, daß Sie bereits nach acht Tagen den Brief schreiben werden?! Hunger und Durst tun weh. Und Geldern besitzt ein Vermögen von rund dreißig Millionen Dollar. Wenn wir ganz bescheiden nur eine halbe Million fordern, so ist das –“

Abermals brüllte Blottner, fast erstickend vor ohnmächtigem Grimm:

„Niemals!“

Brose zuckte die Achseln. „Wie Sie wollen, Herr Doktor. – Hier im Vorraum befindet sich ein Waschbecken und – na, jedenfalls stehen Ihnen diese beiden Räume zur Verfügung. Hilferufe und Lärmen, ebenso Ausbruchsversuche sind zwecklos. Sie werden ständig beobachtet, und dieses Haus liegt ganz einsam. Die Hungerkur beginnt – durch Ihre Schuld! – sofort. Ich werde nach drei Tagen wieder anfragen, ob Sie anderen Sinnes geworden sind.“

Er ging davon. Die Tür zum Vorraum blieb offen. –

Blottner sank auf die Holzbank zurück. Eine tiefe Mutlosigkeit befiel ihn. Er sagte sich selbst, daß ein Entkommen von hier unmöglich war. Er dachte an Hilde. Wie würde Hilde sich um ihn ängstigen.

Er sah sie in Gedanken vor sich – vergrämt, verweint. Er sah Hein van Geldern, der ihr ohne rechte Überzeugung Trost zusprach.

Und er überlegte sich, daß Hein wirklich mit Freuden die halbe Million opfern würde, daß Hein fraglos empört sein würde, wenn er gewußt hätte, daß Erwin Blottner ihm jetzt all die Sorgen um den Verschwundenen nur deshalb weiter aufbürdete, weil dieser zu stolz war, sich auslösen zu lassen.

Blottner saß regungslos da. Immer wieder kamen ihm diese Gedanken; immer wieder zermarterte er sich das Hirn, wie er diesem Brose entschlüpfen könnte. –

In einem behaglich ausgestatteten Salon saßen zu derselben Zeit keine zehn Schritt von dem Gefangenen entfernt Brose, Steffke und Helene.

„Er will nicht, der Narr!“ wiederholte Brose wütend. „Ich hatte gehofft, der Kerl würde aus Angst sofort zu allem bereit sein –“

Steffke rauchte ein paar Züge. „Wird schon klein werden, der Herr Doktor! Wir haben ja Zeit,“ meinte er nun.

Brose warf seiner Tochter, die teilnahmlos in einem Korbsessel lehnte, einen unfreundlichen Blick zu.

„Zeit haben wir, gewiß,“ brummte er. „Aber Geldern ist ein schlauer Fuchs. Wer bürgt uns dafür, daß er unseren Schlupfwinkel nicht doch entdeckt?! Ich fühle mich selbst hier nicht sicher. Wenn Helene nicht so albern wäre, zur Zeit wieder unter sogenannten Gewissensqualen zu leiden, dann könnte sie ganz gut an die Hilde Herger sich heranmachen und –“

Steffke rief dazwischen: „Bitte – wo steckt Blottners Bräutchen denn?! Weißt Du es?! Ne, Du weißt es nicht. Zum Teufel – laß die Helene in Ruhe! Deine Tochter zu sein, ist kein Spaß!“

Brose beachtete diese Bemerkung nicht. „Die Hilde wird sich finden lassen. Habe ich sie gefunden, so wird Helene sich ihr nähern und sie veranlassen, an Blottner zu schreiben, daß er auf alles eingehen soll –“

Helene war aufgestanden. Sie kämpfte mit Tränen.

„Ich tue es nicht!“ sagte sie mit unnatürlicher Ruhe. „Ich – ich will nicht mehr! Ich mache nicht mehr mit!“

Brose kniff die Augen zu. „Nicht wollen?! – Du mußt, mein Kind! Du vergißt immer wieder, daß Du reif für das Zuchthaus auf Lebenszeit bist! Wer wie Du einen Menschen durch Gift –“

Helene hatte die Fäuste geballt, war näher an Brose herangetreten, keuchte mit flammenden Augen: „Das ist nicht wahr! Das weißt Du am allerbesten! Ich bin keine Mörderin! Nur Du hast es verstanden, Scheinbeweise gegen mich in Deine Hand zu bringen! Ich habe den Juwelier Batting nicht vergiftet!“

Steffke rückte unruhig in seinem Sessel hin und her.

„Verdammt – zankt Euch nicht! Immer wieder diese ekelhafte Geschichte, die –“

Helene hatte sich ihm zugewandt. „Du bist der Mörder – Du!“ rief sie mit zuckenden Lippen. „Endlich wage ich’s, Dir dies ins Gesicht zu schleudern, Du Elender! Zum Schein trittst Du immer für mich ein, damit ich ja nicht –“

Steffke hatte sich in seinem Sessel zusammengeduckt. Er lachte schallend. Aber das Lachen klang gekünstelt.

„Du bist übergeschnappt, Helene!“ meinte er dann. Und zu Julius Brose: „Es wird Zeit, daß wir sie als Werkzeug beiseite tun. Sie macht sonst noch Dummheiten. Denke an Dehli, Julius, und jetzt hier wieder an Brüderstraße 18, wo sie den Geldern abermals schonen wollte! Ich glaube, Helenchen ist in Geldern verliebt – he, he – verliebt, – das kühle Helenchen verliebt!“

Helene stand sekundenlang wie erstarrt da. Dann sagte sie kalt:

„Ich habe Euch gestern schon gewarnt. Die Geldgier hat Euch die Sinne verwirrt. Wenn ich mich heute abermals weigere, Euch noch Helferdienste zu leisten, so geschieht es hauptsächlich deshalb, weil ich fürchte, wir könnten bei dieser Erpressung abgefaßt werden. Ich rate Euch nochmals: wir wollen Deutschland einzeln verlassen und Blottner freigeben! – Den Unsinn von Verliebtsein hättest Du Dir sparen können, Steffke. Ich bin nur äußerlich Weib. Innerlich bin ich längst tot – gemordet durch Euch beide! Ich habe nur eine Sehnsucht: irgendwo in Ruhe zu leben – irgendwo!“

Sie hatte ihre Worte, jede Geste, den Tonfall ihrer Stimme fein berechnet. Sie verstand sich ja darauf.

Brose schüttelte den Kopf. „Kind, eine halbe Million Dollar läßt man nicht so ohne weiteres schießen. Ich werde nach Hilde Herger forschen. Und dann wirst Du hübsch verständig sein, Kind.“

Steffke belauerte Helenes Mienenspiel. Er traute ihr nicht.

„Das Wagnis, mit Hilde Herger sich in Verbindung zu setzen, wäre zu groß,“ meinte Helene zögernd. „Es muß sich etwas Besseres finden lassen. Wenn Ihr schon nicht auf mich hören wollt, so seid wenigstens vorsichtig!“

 

10. Kapitel.

Wortlos saßen Hilde Herger und Hein am Ufer des Wannsees.

Hilde spielte mit dem Operngucker in ihrem Schoße. Endlich brach sie das Schweigen.

„Ich werde Ihnen das mitteilen, was seit drei Stunden als geringe Hoffnung meine Phantasie beschäftigt,“ sagte sie leise. „Ich will ehrlich sein: meine Absicht war, abends nach Berlin zu Kommissar Treutler zu fahren und ihm das Beobachtete vorzutragen, weil ich fürchtete, Sie könnten bei Ihrem Draufgängertum etwas verderben. Jetzt sind Sie –“

„Verzeihung,“ unterbrach er sie gespannt. „Das Beobachtete? Was haben Sie denn beobachtet?“

„Als Sie sich mittags von mir verabschiedet hatten, trieb mich die Unruhe in den Wald – die Unruhe und die Sorge um Erwin. Ich dachte mir, daß ich vielleicht das Glück hätte, jenem Menschen zu begegnen, der von Ihrem Chauffeur als Brose wiedererkannt worden war, – vielleicht! Erst hier im Walde wurde mir klar, daß lediglich diese ungewisse Hoffnung mich hinausgetrieben hatte. Ich nahm den Hund mit. Nach zehn Minuten kehrte ich um und ging dicht am Ufer zurück. Und plötzlich stutzte ich. Dort links hinter der kleinen Halbzunge waren meine Blicke auf Spuren gefallen, die in einer feuchten sandigen Stelle ziemlich scharf ausgeprägt waren. Ich hatte mich ja in Gedanken so viel mit dem Manne beschäftigt, der kleine Füße haben und stark einwärts gehen sollte. Die Spuren nun rührten von einem Menschen her, der diese Kennzeichen in dem nassen Sande zurückgelassen hatte. – Ich blieb stehen. Ich sah noch etwas: den Eindruck eines Bootskieles! Und das Spurenbild bewies, daß der Mann das Boot bestiegen hatte.“

Hein hatte unwillkürlich Hildes Hand ergriffen.

„Weiter!“ drängte er. „Und dann?!“

„Dann mußte ich zum Mittagessen, mußte hier in die Villa zurück. Nach Tisch eilte ich wieder dorthin, dort an die sandige Stelle. Ich hatte mir dieses Glas mitgenommen. Auch Hektor war wieder bei mir. Ich – ich fand ein kleines Boot dort vor – dort hinter der Halbinsel. Es war halb aufs Ufer gezogen. Und im Sande waren frische Spuren zu sehen, doch nicht solche eines Menschen, der einwärts ging. Ich überzeugte mich, daß niemand in der Nähe war, und setzte mich dann hinter ein paar Büsche, die mich genügend verbargen. Nach einer halben Stunde erschien ein hagerer, älterer Herr mit leicht ergrautem Vollbart. Er trug eine Handtasche und verschiedene Pakete. Sein Benehmen war das eines Mannes, der befürchtet, man könnte ihm nachgeschlichen sein. Er schaute sich häufig um. Dann bestieg er das Boot und ruderte davon. Er ruderte der Brücke zu, die den Kanal zwischen dem Großen und dem Kleinen Wannsee überspannt. Ich hätte ihn auf dem belebten See wohl aus den Augen verloren, wenn ich das Glas nicht bei mir gehabt hätte. So aber stellte ich fest, daß er nur zum Schein diese Richtung eingeschlagen hatte. Er ruderte drüben am Südufer wieder zurück und – sehen Sie dort nach Schwanenwerder zu das große Hausboot, Herr van Geldern? – Dort legte das Boot an; dort erschien auf Deck eine weißhaarige Frau und nahm dem Herrn die Pakete ab –“

Hein preßte Hildes Hand. „Schneller – was dann?“

„Ein kleiner Herr erschien noch auf Deck – klein und hager –“

Hein sprang empor, griff nach Hildes anderer Hand, schaute sie strahlend an.

„Noch etwas?“ fragte er.

„Ja. Ich habe dann meinen Onkel gefragt, wem das große Hausboot gehört. Er wohnt seit zwanzig Jahren hier, ist Segler und kennt jedes Fahrzeug. So erfuhr ich – Sie müssen zugeben, alles entwickelte sich ganz natürlich –, daß eine westpreußische Flüchtlingsfamilie vor vierzehn Tagen das Boot für den Sommer gemietet hätte – drei Personen, zwei Herren und eine Dame, ältere Leute, frühere Gutsbesitzer. – Und jetzt – jetzt bewache ich hier das Hausboot. Vielleicht –“

„Das Glas her!“ rief Hein leise.

Er stellte es ein, blickte hinüber.

Das Hausboot war etwa dreihundert Meter entfernt, lag vor zwei Ankern.

Auf dem mit einem Sonnensegel überspannten Achterdeck hatte Hein die weißhaarige Frau bemerkt. Sie hatte sich an die Reling gestellt. Hein sah ihr Profil. „Sie ist’s!“ flüsterte er, und das Blut schoß ihm in starker Welle ins Gesicht.

Er ließ das Glas sinken. Abermals nahm er Hildes Hand. „Kommen Sie, wir wollen vorsichtig sein. Man könnte auf uns aufmerksam werden.“

Er zog sie tiefer in den Wald hinein. „Wir beide werden Erwin befreien, wir beide!“ sagte er fast fröhlich. „Und Tom und John sollen uns helfen. Wir vier genügen. Brose ahnt nicht, daß Sie sich jetzt hier aufhalten. Sonst hätte er nicht jene Landungsstelle benutzt.“ – Er blieb stehen. „Sie dürfen niemandem verraten, was wir vorhaben. Wir wollen –“ – Da erst sah er, wie blaß sie geworden, wie ihre Augen voll Tränen standen. „Freuen Sie sich doch, Fräulein Hilde,“ sagte er herzlich. „Erwin ist bestimmt dort auf dem Hausboot. Oh, wie schlau dieser Brose ist – wie schlau! Ein Hausboot als Schlupfwinkel! Da hätte man lange suchen können!“

„Ich freue mich ja!“ schluchzte Hilde auf.

Hein pfiff vergnügt seine drei Takte. „Freude mit Tränen – das ist die tiefste, ehrlichste! – Gehen wir, ich muß nach Hause. Abends um zehn erwarte ich Sie vor der Villa Ihres Onkels –“ –

Am Abend dieses glutheißen Maitages zog sich im Westen ein schweres Gewitter zusammen.

Aloysius Steffke und Helene saßen unter dem Sonnensegel auf dem Achterdeck. Brose war soeben nach unten gegangen, um durch das Guckloch in der Tür des Vorraumes den Gefangenen zu beobachten.

Es war kurz nach zehn Uhr. Die schwarze Wolkenwand schob sich höher und höher. Völlige Windstille und der Widerschein des Himmels verwandelten die Oberfläche des Sees in einen grauschwarzen Spiegel. Das ferne Grollen klang lauter und lauter. Immer häufiger lief über den drohend finsteren Himmel ein fahles Leuchten hin.

Helene mit der Greisinnenperücke und den geschickt geschminkten Wangen hatte die Hände im Schoße ruhen. Ihre Finger bewegten sich in nervösem Spiel.

Steffke sah nur verschwommen die Umrisse ihrer Gestalt und den hellen Fleck der Perücke und des Gesichts. Helene hatte ein schlichtes, dunkles Kleid an, das zu ihrer Rolle als alte Dame paßte.

Steffke trank Zitronenwasser. In einer Schale lagen noch drei Zitronen, die in der Mitte durchgeschnitten waren. Die Schale hatte Helene vorhin wie spielend auf der Tischplatte mehr zu sich herübergezogen.

„Woran denkst Du?!“ sagte Steffke plötzlich. Und fügte ohne Pause drohend hinzu: „Du sinnst Unheil! Hüte Dich! Ein Weib, das liebt, ist unberechenbar! Und – Du liebst Geldern! Wir haben von Dir jetzt alles zu erwarten. Vorhin ließ ich mich noch täuschen. Als Du Dich dann anbotest, von zwei Uhr morgens die Wache bei Blottner zu übernehmen, fing ich den Blick auf, der –“

„Du langweilst mich,“ unterbrach Helene ihn mit deutlichem Spott. „Wenn ich Verrat begehen wollte, brauchte ich ja nur eine der vorüberkommenden Jachten anzurufen. Gegen neun Uhr zum Beispiel umrundete eine Jacht mit sechs Herren und zwei Damen unser Hausboot.“

Steffke schwieg. – Helene dachte: „Er darf nicht argwöhnischer werden! Sonst vergreifen sie sich an mir und schaffen Blottner anderswohin!“

Steffke trank sein Glas leer. – „Reiche mir die Schale herüber,“ sagte er unfreundlich.

Helenes Arme flatterten wie im Fieberfrost. Wenn er jetzt die halbe Zitrone nahm, in die sie vorhin das weiße Kügelchen gedrückt hatte, dann –

Sie zwang sich zur Ruhe.

„Bitte –“ – Sie schob ihm die Schale hin – so, daß jene Zitronenhälfte ihm recht griffbereit lag.

Steffke rückte den Korbsessel näher an den Tisch heran. Er nahm eine halbe Zitrone, preßte den Saft in das Glas und warf sie über Bord.

Es war nicht die gewesen, die Helene für Steffke präpariert hatte.

Und wieder langte er nach einer Hälfte.

Helene holte ganz tief Atem. Es klang wie ein Seufzer.

Ein Blitz zerriß die schwarze Wolkenwand.

Steffke drückte die Zitrone aus, blickte nach Helene hin.

„Wohl ein Sehnsuchtsseufzer!“ spöttelte er.

Dann füllte er das Glas mit Wasser aus der Kanne, in der kleine Eisstücke klapperten, schüttete Zucker in das Glas, rührte um.

Ein krachender Donnerschlag folgte jetzt der elektrischen Entladung; der erste Windstoß fegte über das Wasser hin, setzte sich unter das Sonnensegel und ließ es knallend hochschnellen und wieder zurückfallen.

Helene war aufgesprungen. Steffke hatte das Glas in der Hand, meckerte: „Ah – die Gnädige hat Nerven!“ Dann trank er mit kurzen Schlucken.

Helene trat an die Reling. Und wieder holte sie tief Atem.

„Geglückt – geglückt!“ dachte sie. –

Erwin Blottner war längst zu einem Entschluß gelangt. Er wollte erst dann an Hein den verlangten Brief schreiben, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gab; er wollte zu fliehen versuchen; Hilde sollte später nicht denken, daß er wie ein Feigling gehandelt hätte; Hilde besaß Willenskraft und schnelle Entschlußfähigkeit. Sollte er geringer sein als sie?!

Er hörte den heftigen Donner bis in seine Kammer hinab. Das Hausboot schwankte unter dem Druck der sich mehrenden Windstöße. – Vielleicht ist jetzt keine Wache vor der Tür, überlegte er sich; vielleicht haben die Männer an Deck zu tun.

Er stand auf, betrat den Vorraum und klopfte kräftig gegen die Tür, rief:

„Hallo – ich habe eingesehen, daß –“

Brose antwortete schon: „Ich öffne, einen Augenblick!“

Blottner besaß keine Waffe. Aber – hier im Vorraum stand auf dem kleinen Regal über dem Waschbecken eine gefüllte Wasserkaraffe.

Er griff danach. –

Julius Brose traute Blottner keinen Gewaltstreich zu, hielt ihn für einen versonnenen, unpraktischen Zeitungsschreiber.

Die Tür ging nach außen auf. Broses Gestalt wurde durch die Lampe, die im Schiffsgange hing, scharf umrissen. Er nickte Blottner zu.

„Brav von Ihnen, Herr –“

Da wollte er zurückspringen. Blottners Arm war schneller. Die schwere Karaffe krachte auf Broses Schädel, zersplitterte.

Brose sank mit einem Ächzen hintenüber.

Blottner fühlte, wie ihm das warme Blut über die zerschnittenen Finger lief. Einen Moment war er wie gelähmt, stierte auf den Reglosen; einen Moment packte ihn das Grauen vor sich selbst.

Dann stieg er schnell über Brose hinweg. Dort links war eine Treppe. Er klomm die steilen Stufen empor, gelangte an Deck.

Ein Blitz erleuchtete für Sekunden die Umgebung.

Blottner hatte dort hinten an der Reling eine weißhaarige Frau bemerkt.

Nun wieder nachtschwarze Finsternis. Er schwang sich über Bord. Der Donner übertönte das Plätschern im Wasser. – Er schwamm auf die nächste vor Anker liegende Jacht zu, deren weißer Anstrich matt in der Dunkelheit schimmerte. –

Zu derselben Zeit näherte sich von der anderen Seite ein plumper, schwarz geteerter Kahn und legte an der Schiffstreppe an. Drei Männer eilten die Treppe empor.

Ein neuer Blitz. Steffke sah die drei, und trotz der bleiernen Müdigkeit, die auf ihm lastete und die ihn ohne ersichtlichen Grund befallen hatte, schnellte er hoch und riß die Waffe aus der Tasche.

Der Knall des Schusses und ein betäubender Donnerschlag erklangen in eins. Helene breitete die Arme aus, drehte sich halb um, wäre auf die Deckplanken gestürzt, wenn Hein sie nicht aufgefangen hätte.

Tom hatte Steffke bereits einen Boxhieb versetzt, der nur matt pariert wurde. Mit letzter Kraft ließ Steffke sich über die Reling fallen. Toms Hand packte nur noch den Schoß der bastseidenen Jacke. Der Stoff riß. Steffke fiel ins Wasser, tauchte unter – schien zu tauchen, versank. –

Von der nächsten Jacht kam ein Ruf herüber.

„Hein – Hein! Hier bin ich!“

Hein van Geldern hörte nichts. Er hielt Helene in den Armen. Und der grelle Schein der Blitze zeigte ihm das geschminkte Antlitz, zeigte ihm trotzdem den schnellen Verfall der Züge. Er hatte schon oft Menschen sterben sehen; er kannte die Anzeichen des nahe bevorstehenden Endes; er kümmerte sich um nichts ringsum.

Er hob Helene jetzt empor, schritt langsam der Treppe zur Hauptkajüte zu.

Im Wohnsalon brannte Licht. Als Hein die Tür aufstieß, öffnete draußen der Himmel seine Schleusen.

Er legte Helene auf den Diwan. Sie lag mit geschlossenen Augen da. Er nahm einen Sessel, saß nun dicht neben der Sterbenden, hielt ihre Rechte in der seinen, tastete nach dem schwachen Pulsschlag.

Dann ging die Tür abermals auf. – Blottner war nach dem Hausboot hinübergeschwommen, und unter dem Sonnensegel schloß er seine Hilde in die Arme – sehr vorsichtig, denn er troff ja vor Nässe. Und nun betraten sie leise die Kajüte, blieben an der Tür stehen.

Hein wandte nicht einmal den Kopf.

Auch John und Tom schlichen herbei. Sie ahnten wohl dunkel, daß es zwischen ihrem Herrn und dem sterbenden Mädchen dort Beziehungen gab, die nur mit der Sonnenseite des Lebens, mit dem großen Rätsel der Liebe, etwas zu tun hatten. –

Helene schlug die Augen auf. Ein bewußter Blick glitt zu Hein van Geldern hin, blieb auf seinem starren, schmerzgelähmten Antlitz haften. Wie ein Aufstrahlen war’s dann in diesen Augen. – Und Hein fühlte den Druck ihrer Finger, die die seinen umschlossen.

Ein Schleier schien sich über Helenes Gesicht zu ziehen; der Blick trübte sich; die Schatten um die Augen wurden dunkler.

Nochmals ein schwacher Druck ihrer Finger, – noch ein letztes tiefes Atmen. –

Hein legt den Arm der Toten sanft in ihren Schoß, erhob sich.

„Die Tragödie der roten Rose ist zu Ende!“ sagte er zu seinen Freunden, die still an der Tür standen. Er reichte Blottner die Hand, wollte noch etwas hinzufügen, ging schnell nach oben an Deck.

Blottner wandte sich an Tom.

„Brose liegt im Vorschiff,“ flüsterte er. „Sehen Sie doch einmal nach, wie –“

„Er ist tot!“ sagte Tom hart. „Ich war schon da, Herr Doktor. Er erschoß sich in demselben Moment, als ich die Treppe hinunterkam –“ –

Hein van Geldern stand im strömenden Regen an der Reling. Das Gewitter war nach Süden zu ausgewichen. Dumpfes Grollen begleitete seinen Abzug.

Hein dachte: „Vielleicht war es am besten so – vielleicht. Für sie und mich. Sie starb in dem Bewußtsein, daß über all das Schlechte hinaus die Liebe uns verband. Was die Zukunft uns gebracht hätte, konnten wir nicht wissen. So aber wird sie als eine Reine, Entsühnte in meinem Gedächtnis fortleben.“

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „hagers“.
  2. Die folgende halbe Zeile ist doppelt: („sie schritt gerade die“).
  3. Knöchel.
  4. Ein Jahrzehnt (auch Dekade).
  5. „Wulste“ / „Wülste“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Wülste“ geändert.
  6. Alte Schreibweise für Delhi laut Meyers-Blitzlexikon von 1932.
  7. In der Vorlage steht: „Präsidum“.
  8. Hier fehlt eine Zeile bzw. ein Teil davon, da Satzende. Text sinngemäß ergänzt.
  9. In der Vorlage steht „imer“.
  10. „Neffke“ (5) / „Steffke“ (21) – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Steffke“ geändert.
  11. In der Vorlage steht: „aufzuschreiben“.