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Max und Moritz als Robinsons

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Max und Moritz als Robinsons.

 

W. Belka.

 

„Maxe, ich kann noch gar nicht dran glauben, daß auch wir beide nun nächste Woche ins Schlaraffenland verschickt werden. Denk’ Dir – wir beede, wir langen Bengels, wo doch sonst nur alles so kleene Jung’s nach Ostpreußen kommen. Die janze Jeschichte haben wir dem Doktor zu verdanken. Schwache Lungen, hat ’r jesagt! – Na – blaß sehn wir ja aus, und ville Fett hab’n wir jrade nich auf die Knochens! – Aber, was rede ick – wozu?! Wir sind eben mit unter die Ferienkinder, det bleibt die Hauptsache!!“

Die beiden nun bald vierzehnjährigen Knaben, die allgemein in der Volksschule nur Max und Moritz genannt wurden, obwohl nur der eine wirklich mit Vornamen Max hieß, während „Moritz“ weit poetischer Siegfried getauft war, saßen neben dem Drahtzaune einer großen, im Norden Berlins gelegenen Laubenkolonie, hatten sich aus alten Ziegelsteinen so etwas wie einen Herd gebaut und brieten in der heißen Asche Kartoffeln, die ihnen einer der Laubenkolonisten als Entgelt für das Umgraben seines Gärtchens geschenkt hatte.

Max Röder holte jetzt eine der Kartoffeln mit der Spitze seines Taschenmessers aus dem Feuerloche hervor und begann zu essen.

Es war ein warmer Apriltag. Der Schulunterricht war heute wieder einmal ausgefallen. Weswegen, hatten die Jungen nicht erfahren. Ihnen blieb es ja die Hauptsache, daß „frei“ war und daß sie hinaus in den „wilden Westen“ konnten, wie sie das schluchtenreiche Gelände westlich der riesigen Laubenkolonie getauft hatten.

Max und Moritz’ Väter standen im Felde. Die Mutter und die älteren Geschwister arbeiteten in Munitions- und anderen Fabriken, und so waren die beiden Knaben viel sich selbst überlassen. Sie wohnten in demselben Hause im Hintergebäude, drückten dieselbe Schulbank, machten dumme Streiche wie alle ihre Altersgenossen und verdienten eigentlich die Namen Max und Moritz, die durch den Zeichnerhumoristen Wilhelm Busch zu solcher Berühmtheit gelangt sind, gar nicht so recht, da sie sich keineswegs durch besonderen Übermut oder durch besondere Ungezogenheiten hervortaten. Sie waren eben nur unzertrennlich, und lediglich aus diesem Grunde haftete ihnen bald das Namenpaar der beiden jugendlichen Haupthelden der Buschschen Spezialkunst an.

Siegfried Blank, Moritz genannt, half jetzt eifrig beim Vertilgen der Kartoffeln. Dann wurde das Herdfeuer ausgelöscht, und die beiden Freunde wandten sich dem großen Müllabladeplatz zu, der die Nordgrenze des „wilden Westens“ bildete. Hier untersuchten sie die Stellen, wo inzwischen neue Müllhügel angefahren waren, sehr genau. Aber die Ausbeute war heute gering. Gewerbsmäßige, ältere „Altertumsforscher“ waren ihnen schon zuvorgekommen und hatten alles Brauchbare aussortiert. Immerhin betrug die Beute noch ein Herrenregenschirmgestell, ein schartiges Küchenmesser mit Holzgriff und andere Kleinigkeiten.

Max und Moritz strebten nun der „großen Prärie“ zu. Das war die ausgedehnteste der Schluchten, und dort gab es auch eine längst wieder außer Betrieb gesetzte Lehmgrube, in deren steilen Wänden zahlreiche Erdschwalben nisteten, so daß der gelbbraune Lehm überall die Nistlöcher der graziösen Vögel aufwies und wie punktiert von ferne aussah.

Vorsichtig wie echte Rothäute näherten sich die Knaben, immer wieder um sich spähend, in dieser Lehmgrube einer Stelle, wo die Wand infolge starker Regengüsse einmal einen kleinen Erdrutsch durchgemacht hatte. Auf dieser schrägen Halde wuchs das Unkraut, vermengt mit Ginstersträuchern, besonders dicht. Hier und da standen Disteln so dicht, daß sie einen guten Schutz gegen Neugierige darstellten, die vielleicht einmal diese Halde durchstreifen wollten.

Mitten in so einer Fläche von Disteln, Ginster und Dornen lag „die Burg“ der Freunde, die diese hochtrabende Bezeichnung als einfache Erdhöhle mit ihrem durch einen Kistendeckel verschlossenen, engen Zugang gar nicht verdiente. Schon im vergangenen Herbst hatten Max und Moritz dieses Versteck angelegt. Eine ganze Woche Arbeit hatte es sie gekostet, bis die Höhle tief genug ausgehoben und die Decke sicher mit Brettern abgestützt war.

Der Kistendeckel war, um als solcher nicht aufzufallen, auf der Oberseite mit trockenen Ginstersträuchern benagelt. Siegfried Blank hob ihn nun empor, lehnte ihn gegen eine dicke Distelstaude und stieg die acht Stufen abwärts, die in die Burg hineinführten. Nachdem auch Max Röder sich hineingezwängt hatte, wurde der Deckel wieder über den Eingang gebreitet. Gleich darauf brannte auf einem kleinen Tischchen in der Ecke eine Petroleumlampe, die nach mannigfachen Irrfahrten in bedenklich verwahrlostem Zustande hier ein neues Heim gefunden hatte.

Selbst ein Erwachsener hätte sicherlich gestaunt über den erfinderischen und auch praktischen Geist der Knaben, der sich sowohl in der Anlage als auch der Einrichtung dieses Versteckes kundtat. Gewiß: was man hier in der niedrigen Höhle an Gegenständen sah, stammte zumeist von den Müllbergen. – Doch selbst aus ältestem, scheinbar wertlosem Plunder läßt sich manches herstellen. Das hatten Max und Moritz bei der Ausstattung ihrer geheimen Behausung genügend bewiesen.

Auch heute waren sie nicht etwa hergekommen, um in ihrer Burg zu feiern. Nein: im Augenblick verwandelte sich der Tisch in die Arbeitsstätte eines Schlossers oder besser eines Büchsenmachers, und Max Röder ging sofort daran, zwei halbfertige, kurze Stutzen zu vollenden.

Stutzen –?! Also Gewehre?! – Ja, dem war so! Freilich, das Material, das den Jungen zur Anfertigung ihrer Büchsen zur Verfügung stand, war recht bescheiden. Die Läufe bestanden aus dünnen Gasrohren, deren Kaliber gerade hinreichte, um einem sogenannten Rehposten laden zu können. Am unteren Ende waren die Röhren durch gewöhnliche Gasrohrschrauben verschlossen. Außerdem befand sich an dieser Stelle auch das eingeschraubte Piston, auf das das Zündhütchen zur Entzündung des Pulvers aufgesteckt wird. Die Kolben hatten die Knaben selbst geschnitzt. Den Hahn mit dem dazu nötigen Abzug und der Feder vertrat bei diesen Stutzen, „Patent Max Röder“ der Schlagbolzen eines harmlosen Kinderspielzeug-Gewehres, dessen Schloßteile sehr sauber in das Holz eingelassen waren. Max Röder war denn auch nicht wenig stolz auf seine Erfindung. Geradezu mit liebevoller Sorgfalt begann er jetzt Kolben und Schaft mit brauner Beize zu färben und nachher mit heißgemachtem Wachs zu polieren. Moritz brachte indessen die Schrauben für die Gewehrriemen an. Richtige Lederriemen hatten die Knaben nun freilich nicht beschaffen können, dafür aber schmale Leinengurte, die sich ganz gut zu diesem Zweck eigneten.

Während der Arbeit kamen die Freunde wieder auf den Sommeraufenthalt in Schlaraffenland zu sprechen. Sie fürchteten, womöglich getrennt zu werden. Zwar hatten sie schon bei der zuständigen Verteilungsstelle gebeten, sie zusammen irgendwo in einem Dorfe an der See unterzubringen. Ob ihre Wünsche aber Berücksichtigung finden würden, war doch sehr fraglich.

Die Stutzen wollten sie auf jeden Fall mitnehmen. Natürlich heimlich. Auch manches andere von ihren selbstgefertigten Werkzeugen, Waffen und … Anzügen.

Ja – auch Anzüge hatten sie sich genäht aus allerlei Stoffresten, wobei ihnen der Flickschneider in ihrem Hause behilflich gewesen war, für den sie stets die Einkäufe besorgten.

Die Liebe für das wilde Indianerspiel war es zunächst gewesen, die die Phantasie der kleinen Großstädter zu all diesen Dingen angeregt hatte. Nebenbei aber trat bei ihnen auch bald ein gewisser Geschäftssinn zu Tage, da es galt, sich etwas Geld zu verdienen, um dieses oder jenes käuflich erwerben zu können. Als Moritz vor drei Wochen in der Zeitung zufällig eine Anzeige gelesen hatte, daß gebrauchte Wein- und Champagnerkorke gut bezahlt würden, hatten die Knaben tagelang die Müllberge durchwühlt und zu ihrer Freude so gute Beute gemacht, daß der gemeinsamen Kasse dann ganze zwölf Mark zugeführt werden konnten. Nebenbei sammelten sie auch Lederabfälle, Konservenbüchsen und manches andere, so daß sie jetzt über einen Notgroschen von zehn Mark für jeden verfügten.

Bis gegen sechs Uhr nachmittags blieben sie heute in ihrem Schlupfwinkel. Dann ging’s eilig heim, um zur Zeit zum Abendessen zurück zu sein.

Die Freunde hatten Glück. Sogar sehr großes. Nicht nur, daß sie wirklich zusammenblieben, nein, sie wurden sogar bei einem wohlhabenden Fischer untergebracht, dessen Anwesen etwas außerhalb des Dorfes Plidden auf der Kurischen Nehrung nördlich des Seebades Schwarzort lag.

Am 12. Mai trafen sie dort ein. Ihre Stutzen und all das andere, woran ihr Herz hing, hatten sie miteinschmuggeln können. Eine neue Welt tat sich ihnen auf. Zum erstenmal sahen sie das Meer, erlebten einen Sturm an der Küste mit tosender Brandung, sahen sie die Sonne als glühende Scheibe in der Ostsee versinken.

Mit ihren Gastgebern, der Familie Tuluweit, hatten sie sich schnell angefreundet. Zwei Söhne des alten Fischers standen im Felde. Der dritte war aus dem Heeresdienst entlassen worden, um dem Vater beim Fischfang im Interesse der Volksernährung zur Hand zu gehen. Die Knaben griffen mit zu, wo sie nur konnten. Bald hatte Vater Tuluweit herausgefunden, daß er mit der Aufnahme der hellen Berliner Bürschchen einen guten Griff gemacht hatte. Keine Arbeit war ihnen zu schwer. Und wie anstellig sie waren, wie leicht sie sich in all das Neue hineinfanden! – Ja, das war doch ein anderer Schlag, als die etwas schwerfälligen ostpreußischen Jungen! Da steckte Leben drin! Und – wie rasch sie sich erholten, wie bald sie braun wie die Mulatten waren und – was sie futtern konnten!! Einfach unglaublich!!

Ja – Max und Moritz fühlten sich aber auch bei Tuluweits wirklich wohl, schrieben begeistert nach Hause: „wir haben das große Los gezogen!“ und dankten ihren Pflegeeltern, an deren rauhe, wortkarge Art sie sich schnell gewöhnten, all das Gute durch rastlose Hilfe im Haushalt und bei der Ausübung der Fischerei.

Gewiß: die weiten Dünenwaldungen, alles Kiefern, lockten zu allerlei Spielen. Aber dazu kamen nur die jüngsten der fünfzig in Plidden untergebrachten „Berliner Rangen“. Die älteren, ob Knaben oder Mädchen, wollten gar nicht spielen. Alles hier bereitete ihnen Zerstreuung und Vergnügen: der Fang der Köderfische für die Dorschangeln, das Bestecken der Angelhaken, das Reinigen und Trocknen der Netze, das Räuchern der Flundern, Viehhüten und der sonstige Betätigungskreis eines Nehrungsbewohners.

Die beiden Freunde waren in Plidden und Umgegend bald bekannt wie der oft zitierte „bunte Hund“. Und dies hauptsächlich infolge ihrer bunten, mit Federn, Fellstreifen und blinkendem Tand benähten selbstgefertigten Trapperanzüge, die sie hier zur Schonung ihrer „Zivilkleider“ voller Stolz zum Neide ihrer Altersgenossen trugen. Die Pliddener nannten sie schon nach einer Woche nur noch „Tuluweits Indianersch“. Nun – die Trapperanzüge sahen ja auch wirklich sehr nach Indianerkostümen aus.

Vater Tuluweit und sein Sohn Franz hatten sogar vor ihren Indianersch oder besser vor deren erfinderischem Sinn einen gewissen Respekt. Als eines Tages – es regnete gerade in Strömen – die Familie sich zum Nachmittagskaffee versammelte, erschienen nämlich die Freunde mit ihren Stutzen, um diese Feuerwaffen eigenen Fabrikates ihren Gastgebern zu zeigen. Bisher hatten sie die kurzen Vorderladerflinten ängstlich auf dem Boden ihres Holzkoffers verborgen gehabt. Jetzt waren sie hier vertraut genug, um durch ihre Wohltäter auch diese Waffen begutachten zu lassen, denn ihre merkwürdigen „Skalpiermesser“ und „Tomahawks“ hatten Tuluweits schon genügend bewundert.

Vater Tuluweit schüttelte sich vor Staunen beinahe den Kopf von den Schultern. Er meinte, es sei geradezu unglaublich, auf was für Einfälle diese Berliner Bengels kämen. – Hm – die Kinderstutzen wären aber gar nicht so übel, sähen ganz gefällig aus.

Prüfend wog er die merkwürdigen Waffen in der Hand, legte auch an und zielte.

Ob die Indianersch denn damit auch schon mal geschossen hätten, fragte er dann.

Etwas kleinlaut verneinten Max und Moritz und erklärten, sie hätten vergeblich versucht, sich Pulver zu besorgen.

„Na, Pulver habe ich schon, und Rehposten auch, die in den Lauf passen“, meinte Vater Tuluweit bedächtig. „Aber zuerst werden wir Eure Stutzen mal an einen Baum binden, ihnen eine gehörige Ladung Pulver eintrichtern und sie dann mit einer langen Schnur abfeuern, damit wir ausprobieren, ob die Läufe auch halten.“

Max und Moritz waren selig. Im Stillen hatten sie ja wohl gehofft, daß der alte Fischer als ehemaliger Soldat ihren selbstgearbeiteten Flinten einiges Interesse entgegenbringen würde. Doch so hatten sie sich die Erfüllung ihrer heißesten Wünsche nicht gedacht.

Die Läufe hielten die Probe wirklich aus. Vater Tuluweit lud dann selbst zum erstenmal die Stutzen mit einem Rehposten, um den ein Leinenläppchen gewickelt war, feuerte auch nach einer am Scheunentor befestigten Scheibe so viele Probeschüsse ab, daß er danach Visier und Korn richtig einstellen konnte.

Auf achtzig Schritt konnte man jetzt ein Quartblatt bequem treffen, wenn man nur eine einigermaßen sichere Hand hatte.

Die Krähenkolonie eine halbe Stunde nördlich von Tuluweits Anwesen erlebte nun böse Tage. Aber Max und Moritz wurden auf diese Weise auch sehr bald geradezu unheimlich gute Schützen. Und wenn sie jetzt, die Stutzen über der Schulter, Tomahawk und Messer im Gürtel, dem Förster oder dem Gendarmen in den Dünen begegneten, dann fragten diese ernsten Männer lachend:

„Na, Indianersch, wie viel Krähen habt Ihr denn wieder erlegt?“ – Und es lag stets eine gewisse freundliche Anerkennung in diesen Worten.

Mitte Juni mußte Franz Tuluweit, der Königsberger Grenadier, wieder zu seinem Truppenteil zurück. Eine weitere Zurückstellung vom Waffendienst war abgelehnt worden.

Vater Tuluweit schimpfte nicht etwa über diese Entziehung seines einzigen Gehilfen bei dem schweren Fischerhandwerk. Dazu war er viel zu einsichtsvoll. Das Vaterland brauchte eben seine gesunden Söhne in diesem Kampfe gegen die halbe Welt. – Aber allein konnte der Alte nicht hinaus aufs Meer, um die Netze und die Dorschschnüre auszulegen. Da fragte er denn Max und Moritz, ob sie freiwillig ihm helfen wollten. Gefahr sei kaum dabei. Stürmte es, so konnte man ja daheim bleiben.

Und ob die Jungen wollten …! Hin und wieder waren sie ja schon draußen gewesen in der Ostsee mit dem alten Kutter, der so breit war wie eine Bratenschüssel und stets so scharf nach Fischen und Teer roch.

Eine neue Zeit hub an. Sie lernten jetzt das Gewerbe eines Nehrungsfischers ganz genau kennen. Und in der frischen Salzluft des Meeres, bei der Arbeit mit den schweren Netzen und bei dem Bedienen von Ruder (Steuer) und Takelage verloren sie auch noch den letzten Rest jenes kränklichen Aussehens, das so vielen schnell hochgeschossenen Großstadtkindern anhaftet. Sie waren kaum mehr wiederzuerkennen, dunkelbraun verbrannt, kräftig und widerstandsfähig, dabei stets fix in der Arbeit und immer vergnügt. Sehr bald wußten sie mit dem schwerfälligen Fischerboote ebenso gut umzugehen wie ihr alter Lehrmeister und nahmen diesem gern den Fang der Köderfische ab, denen unweit des Strandes mit Grundschleppnetzen nachgestellt wurde.

So kam der erste Juli heran, ein Sonntag. Vater Tuluweit war schon morgens mit seiner Frau nach Schwarzort gewandert, um mal wieder im dortigen Gotteshause für das Leben seiner im Felde stehenden Söhne beten zu können. Nachher wollten sie noch Verwandte besuchen und abends wieder zurück sein. Sie wußten ja Haus und Hof bei den „Indianersch“ in guter Hut.

Nachmittags gegen vier Uhr machten Max und Moritz das kleinere Segelboot Tuluweits, das nur für den Köderfischfang benutzt wurde, segelfertig, nahmen ihre Stutzen mit, ließen den großen Hofhund Packan als Wächter zurück und fuhren ein Stück in die See hinaus, wo sie eine Schar Gänse bemerkt hatten, die sich von den leichten Wogen schaukeln ließen.

Doch die Knaben kamen nicht so leicht zum Schuß. Die Gänse stiegen immer wieder vor dem sich nähernden Boote hoch und lockten die Freunde auf diese Weise recht weit vom Lande weg. – In ihrem Jagdeifer gaben Max und Moritz gar nicht auf das Aussehen des Himmels acht. Erst als die Sonne plötzlich hinter einer dunklen Wolkenwand verschwand und dumpfes Grollen in der Ferne das Nahen eines Gewitters ankündigte, ließen sie von der Verfolgung der scheuen Tiere ab.

Von der Nehrungsküste war nicht mehr viel zu erspähen. Nur einige hohe, kahle Sanddünen zeichneten sich noch wie helle Wolkengebilde am Horizonte ab.

Der Wind war jetzt völlig eingeschlafen. Träge schlappte das Großsegel hin und her. Es war die Stille vor dem Sturm. Das wußten die Knaben nur zu gut.

Schleunigst wurden die Segel gerefft. Da kam auch schon zugleich mit den ersten Regentropfen ein starker Windstoß über die See gefegt, vor dem das Boot artig einen tiefen Bückling machte, um dann, sich etwas wiederaufrichtend, vor dem Sturme dahinzurasen, der jetzt mit voller Stärke einsetzte.

Siegfried Blank, der größere der beiden Unzertrennlichen, zugleich auch der, der Max Röder gern ein wenig bevormundete, sah bald ein, daß es ausgeschlossen war, bei dieser Windrichtung die Küste anzulaufen. Die größte Sicherheit bot das offene Meer. Und lange würde das Gewitter wohl kaum anhalten.

So ging’s denn in wildem Jagen immer nach Norden zu. Das Abenteuer schien auch ganz harmlos ablaufen zu wollen. Schon nach einer halben Stunde war die dunkle Wolke verschwunden. Die Sonne strahlte wieder klar und warm auf die aufgeregte Wasserfläche herab, auf der Vater Tuluweits kleines Boot fast lustig über die Wogen dahintanzte.

Der Sturm ließ nach, zusehends. Jetzt wagte es Siegfried auch, der das Steuer bediente, zu wenden, um nach der nicht mehr sichtbaren Nehrungsküste in langen Schlägen aufzukreuzen. (Kreuzen, in einer Zickzacklinie auf ein Ziel zusteuern, das infolge ungünstigen Windes anders nicht zu erreichen ist. – „Lange Schläge“, wenn die einzelnen Linien des Zickzacks sehr lang sind.)

Es war jetzt sechs Uhr nachmittags. Die Freunde berechneten, daß sie vor neun Uhr abends kaum zu Hause sein könnten. – „Vater Tuluweit wird schön in Sorge sein um uns!“ meinte Max kleinlaut. „Ich fürchte, heute gibt’s zum erstenmal ein paar Ohrtachteln.

Die Knaben saßen nebeneinander auf der Bank am Steuer. Das Großsegel verdeckte ihnen jetzt gerade die Aussicht nach Osten hin. Und eben wollte Moritz den Freund hinsichtlich der Ohrtachteln beruhigen, als urplötzlich sich hinter der hellen Fläche des Segels ein seltsames Fahrzeug hervorschob, – ein U-Boot, wie unschwer zu erkennen war, das erst zur Hälfte aus dem Wasser herausragte, so daß nur der Turm und ringsum ein Teil des gewölbten Decks sichtbar waren.

Oben auf dem Turme standen drei Männer, von denen der eine jetzt herüberrief:

„Stopp, das Boot da! Zieht die Segel ein!“

Der Mann hatte sich der deutschen Sprache bedient. Und freudig überrascht stießen die Freunde nun erst ein lautes Hurra aus, bevor sie dem Befehle nachkamen.

„Famos!“ meinte Moritz, indem er das Steuer noch mehr herumdrückte. „Wir werden den Kommandanten bitten, daß er uns an Land schleppt.“

Doch – es kam anders, ganz anders. Es war kein deutsches, sondern ein englisches U-Boot, das hier wahrscheinlich Frachtdampfern auflauerte, die nach Libau unterwegs waren oder von dort nach Danzig oder Stettin gingen.

Der Kommandant, der fertig deutsch sprach, verhörte die Knaben erst sehr eingehend und erklärte ihnen dann, daß er sie mitnehmen müsse, da sie sonst die Anwesenheit seines Fahrzeuges verraten würden. Er war nicht gerade unfreundlich zu den beiden, konnte sich aber doch ein paar höhnische Bemerkungen über den langsamen Hungertod der verd… Deutschen nicht sparen, als er hörte, daß Max und Moritz Berliner seien und nur zur Erholung nach Ostpreußen geschickt wären.

Die Freunde wurden dann im Innern des Bootes in einem Verschlage neben der Offiziersmesse untergebracht. Ihre Sachen, selbst die Stutzen, beließ man ihnen, nur das Pulverhorn nahm man ihnen ab und ihre Zündholzschachteln. Die Stutzen wanderten sogar bei den Offizieren von Hand zu Hand, wurden belächelt und den Knaben dann mit den Worten von dem Kommandanten zurückgegeben: „Der Metallmangel scheint ja bei Euch schon recht groß zu sein, da man solche Schießprügel anfertigt! Bald werdet Ihr nur mit Knütteln bewaffnet sein, Ihr dummen Deutschen, die Ihr gegen unser großes England ankämpfen wolltet!“

Die winzige Kammer hatte eine niedrige, eiserne Tür nach der Offiziersmesse hin. Größtenteils war sie mit Proviantkisten angefüllt, so daß Max und Moritz gerade nur noch Platz genug fanden, um sich nachts dicht nebeneinander auf der ihnen bewilligten Matratze ausstrecken zu können. Ein Zudeck brauchten sie nicht. In dem U-Boot war es drückend heiß und roch nach allen möglichen Dingen: Öl, Benzin, Schweiß und Küchendünsten.

Vier Tage brachten die Knaben in diesem Raume zu, dessen Tür stets offenstand. Sonst wären sie in dieser Enge erstickt. Die Behandlung war nicht schlecht, auch das Essen ging an. Nur eins erregte immer wieder den Zorn der beiden Freunde: die abfällige Art, in der die Offiziere über Deutschland sprachen, wenn sie sich gelegentlich mit ihnen unterhielten.

Die Engländer nahmen fraglos an, zwei recht harmlose Bürschchen vor sich zu haben. Daß Moritz dem Freunde gleich nach ihrer Gefangennahme zugeflüstert hatte, möglichst „die Dummen zu markieren“, wußten die Herren Briten freilich nicht und glaubten daher ganz fest, es mit unselbständigen, ängstlichen Berliner Jungen zu tun zu haben.

Dabei hatte besonders Moritz als der tatkräftigere und schlauere eigentlich von Anfang an nur den einen Gedanken immer aufs neue erwogen, wie man bei guter Gelegenheit entwischen könne. Die Gespräche der Freunde drehten sich denn auch lediglich um diesen Gegenstand, nachdem die erste Angst vor dem, was ihnen bevorstehen könnte, sehr schnell überwunden war.

Nein – zu Max und Moritz’ Ehre sei es gesagt: Furcht hatten sie nicht mehr! Im Gegenteil, dieses seltene Abenteuer machte ihnen bald geradezu Spaß, besonders da der Kommandant ihnen versprochen hatte, daß sie zur Beruhigung Vater Tuluweits diesem vom nächsten russischen Hafen aus schreiben dürften.

Am fünften Tage wurden die Knaben dann morgens an Deck geführt, sehr zum Vergnügen der Offiziere und der Mannschaft des U-Bootes, die über die „Indianersch“ ihre Witze rissen.

Das Boot lag in einer engen Bucht vor Anker. Steile, mit Erlengebüsch bewachsene Ufer stiegen zu beiden Seiten an, während die Krümmungen der Bucht es in gleicher Weise unmöglich machten, von der weiteren Umgebung etwas zu erspähen.

Der Kommandant wies den Freunden das Vorderdeck zum Aufenthalt an. Daß sie auch nur irgendwie an Flucht denken könnten, hielt er wohl für ganz ausgeschlossen.

Im U-Boot wurden die Maschinen nachgesehen, überhaupt großes Reinemachen vorgenommen. Um die Knaben kümmerte sich niemand. Sie hatten sich lang auf die Eisenplatten des Decks hingestreckt und ließen sich von der Sonne bescheinen, atmeten mit Wohlbehagen die frische Luft ein und sahen dem Treiben der Matrosen zu, die häufig über die nach dem Lande gelegte Laufplanke ans Ufer gingen, um hier ihre Schlafmatratzen, Wäschestücke und anderes zum Trocknen auszubreiten.

Da erschien der Steuermann, ein rotnasiger, stets nach Alkohol riechender Bursche, auf dem Turm und rief den Freunden zu, sie hätten genug gefaulenzt und sollten nun hier mit Hand anlegen. – Er sprach ein fürchterliches Deutsch und fluchte in der rohesten Weise.

Die Knaben sprangen auf, ließen ihre Stutzen liegen und mußten dann zunächst am Ufer die dort zum Trocknen ausgelegten Sachen umwenden.

Moritz lachte leise auf, als er jetzt mit Hilfe des Freundes eine Matratze umdrehte.

„Die halten uns für schöne Schafsköpfe!“ meinte er. Daß wir durchbrennen könnten, daran denkt die eingebildete englische Brut gar nicht …!! – Was hältst Du davon, Maxe, – ob wir’s riskieren? Ich wäre schon dafür, wenn wir nur Pulver für die Stutzen hätten …!“

Zwei Matrosen brachten frischgewaschene Leinenanzüge an Land. Deshalb konnten die beiden Jungen diese Unterhaltung nicht fortsetzen. Nachher gab der Steuermann ihnen neue Arbeit. Sie mußten im Kommandoturme die Metallteile putzen, dann dasselbe auch in der Offiziersmesse tun.

Wieder waren sie sich selbst überlassen. Moritz liebäugelte schon eine Weile mit einem Schränkchen, in das, wie er wußte, das Pulverhorn eingeschlossen war. Der Schlüssel hing daneben an einem Haken.

Dann – im Handumdrehen hatte Moritz das Horn unter seiner buntbenähten Trapperjacke verborgen.

„Maxe – jetzt oder nie!“ flüsterte er dem Freunde zu. „Fliehen wir!! Greifen sie uns wieder, – was kann es uns schaden?! Ein paar Hiebe vielleicht!! Die nehmen wir doch gern auf uns …“

Ganz harmlos stiegen sie in den Turm. Dort hantierte der Steuermann mit der Ölkanne an dem Sehrohr herum.

„Wir wollen die Sachen am Ufer wieder umdrehen“, sagte Moritz, scheinbar sehr arbeitseifrig.

„Gut, geht nur!“ knurrte der Engländer.

Doch oben auf Deck hatte sich jetzt einer der Maschinisten zum Schlaf ausgestreckt, zum Glück auf dem Hinterdeck.

Ob der Engländer schon schlief, war nicht festzustellen, da er sich die Mütze über das halbe Gesicht gezogen hatte.

„Wir wagen’s!“ raunte Moritz dem Freunde zu. „Am Ufer ist jetzt niemand.“

Schnell holten sie ihre Stutzen und eilten über die Laufplanke an Land. – Der Maschinist rührte sich nicht.

Nun hinein in das Erlengebüsch und den Uferabhang hinauf. Oben gab es vereinzelte Bäume, durch die man die im Sonnenschein flimmernde See in der Ferne erblickte.

Da die Offiziere nach Süden zu die Bucht entlanggerudert waren (über die Himmelsrichtung hatte sich Moritz im Turm nach dem dort aufgestellten Kompaß orientiert), schlugen die Freunde die entgegengesetzte Richtung ein, in der Annahme, sich auf dem Festlande zu befinden und sich leicht irgendwo verbergen zu können.

So schnell ihre Füße sie nur vorwärtstrugen durchquerten sie jetzt ein flaches Tal und gelangten dann wieder auf eine bewaldete Anhöhe. Plötzlich aber hörten sie vor sich kurz hintereinander zwei Schüsse. Und gleich darauf deutete Max Röder zwischen den Bäumen hindurch auf eine kleine Wiese, auf der man deutlich die Gestalten der vier Offiziere erkennen konnte. Sie waren also offenbar mit dem Beiboot sehr bald umgekehrt und nach Norden zu zurückgerudert, vielleicht, weil sie im Süden kein jagdbares Wild gefunden hatten.

Moritz beobachtete eine Weile die gut fünfhundert Meter entfernten Engländer packte dann des Freundes Arm und zog ihn mit den Worten: „Ein feiner Gedanke – komm schnell!“ mit sich fort nach der Seite hin, wo die Bucht liegen mußte. Diese erreichten sie denn auch sehr bald. Eine Biegung entzog das U-Boot ihren Blicken. Dafür sahen sie aber etwas anderes am Ufer liegen, halb auf das Land gezogen: das kleine Beiboot!

„Dacht’ ich’s doch!“ rief Moritz triumphierend. „Vorwärts – es muß unser werden!“

Das Beiboot, aus Zinkblech gefertigt, war sehr leicht. Vier Ruder lagen darin.

Die Freunde hatten es im Nu ganz ins Wasser geschoben, sprangen hinein und arbeiteten sich, bald keuchend vor Anstrengung, nach dem anderen Ufer hinüber. Die Bucht war hier etwa siebzig Meter breit. Und jetzt ging’s immer weiter nach Norden zu dicht am Strande entlang. Ängstlich schauten die Jungen nach den Offizieren aus. – Wieder vernahmen sie zu ihrer Beruhigung zwei Schüsse von links herüberschallen. Die Engländer befanden sich also noch immer mehr landeinwärts.

Dann öffnete sich zur Rechten eine schmale Wasserstraße. Ob es ein Flüßchen oder eine Abzweigung der Bucht war, ließ sich sofort nicht sagen. Trotzdem bog das Beiboot in die Wasserrinne ein. Buchenbestände reichten hier bis dicht ans Ufer hinab. Auch hier steile Abhänge zunächst, dann flacheres Land … Und mit einem Male sahen die Flüchtlinge vor sich die weite Wasserfläche des Meeres, und darüber hinwegragend die verschwommenen Konturen einiger Inseln.

Es war weder ein Flüßchen noch ein Seitenarm der Bucht gewesen, den sie soeben passiert hatten, sondern die Wasserstraße zwischen zwei Inseln, – das bemerkten die Knaben sehr bald, als sie erst ein Stück in das Meer hinausgerudert waren.

Noch weiteres sahen sie aber auch: daß nach Süden zu sich zahlreiche, bewaldete Eilande aneinander reihten, sämtlich kleine Inseln mit steilen Uferwänden, – ein ganzer Archipel!

Sofort schwenkte das Beiboot herum. Dort zwischen den Inseln winkte die Rettung! Dort mochten die Engländer nur suchen …! – Und wieder legten die Freunde sich in die Riemen, trieben das Boot vorwärts. Nach einer Viertelstunde lag die Insel, auf der der Feind drohte, hinter ihnen. Eine enge Rinne nahm sie auf, deren erste Biegung sie selbst dem besten Fernrohr entzog, mit dem man nach ihnen vielleicht suchte.

Matt sanken ihnen von der ungewohnten, langen Anstrengung die Arme herab. Ihre Gesichter glänzten vor Schweiß, ihre Lungen keuchten. Aber was machte das gegenüber dem Bewußtsein aus, vorläufig geborgen zu sein …?!

„Maxe, das Ding haben wir fein gedreht!“ meinte Siegfried Blank lachend. „Nun heißt es, nur noch ein gutes Versteck finden, – dann sollen die Engländer hier wohl tagelang herumstöbern – umsonst, ganz umsonst!“

Zwei Stunden später.

Die beiden Knaben hatten inzwischen festgestellt, daß die Gruppe aus sieben Inselchen bestand, von denen das östlichste am weitesten von den anderen, die etwa einen Kreis bildeten und ein seeartiges Becken einschlossen, ablag.

Dieses Eiland hatten sie vorsichtig unter Vermeidung jeglicher Fußspuren im Ufersande betreten, nachdem sie, bis zur Brust im Wasser stehend ihr Boot vollgeschöpft und versenkt hatten. Was darin an ihnen nützlichen Gegenständen enthalten gewesen war, wurde natürlich vorher an Land gebracht, so besonders der Frühstückskorb, den die vier Offiziere vorsorglich mitgenommen hatten.

Ziemlich schwer bepackt waren die Freunde dann immer auf Steinen bis zur Uferhöhe entlangbalancierend, damit keine Fährte entstand, in einen Hain alter, verwitterter Eichen eingedrungen.

Die Bäume hatten ihren vollen Blätterschmuck, und einige Kronen waren so dicht, daß Max nun vorschlug, man solle sich fürs erste einmal oben auf einer Eiche verbergen.

Moritz war einverstanden. Nach einigem Suchen entschieden sich die Jungen für ein wahres Riesenexemplar, das mit seiner Krone hoch über die kleineren Nachbarn hinausragte. Erst kletterte Max mit des Freundes Hilfe bis zum ersten Aste empor, zog dann das Bündel – den Frühstückskorb, die Ruder, die Stutzen und zwei Schlafdecken – an einem ebenfalls aus dem Beiboote stammenden Taue hoch und unterstützte dann auch den Gefährten bei dem schwierigen Aufstieg. Nachher war es eine Kleinigkeit, immer höher zu gelangen. An einer Stelle, wo zwei starke Äste etwa zehn Meter über dem Erdboden nahe beieinander aus dem Stamm herauswuchsen, wurden die Ruder über die Äste gelegt und festgebunden. Dieser luftige Sitz erhielt sehr bald durch abgerissene Zweige eine solche Schutzwand, daß es von unten ganz unmöglich war, einen hier verborgenen Menschen zu erkennen.

Wie gut sie gewählt hatten, als sie gerade diese Eiche aussuchten, sah Siegfried Blank erst jetzt. Von dieser Höhe aus konnte er Inseln und Meer weithin überblicken.

Im Nordwesten hatte er die beiden Inseln vor sich, deren ausgedehnteste in ihrer gewundenen Bucht dem U-Boote Zuflucht gewährt hatte. – Ja – hatte …! Denn das englische Kriegsschiff, das hier in der Ostsee den verbündeten Russen helfen sollte, tauchte soeben hinter dem kleineren Eiland auf, hatte also die Jagd nach den Flüchtlingen bereits aufgenommen.

Schadenfroh beobachtete der Knabe weiter, wie das U-Boot unschlüssig bald hier, bald dort suchte. Schließlich näherte es sich auch dem Inselchen, auf dem die Freunde gelandet waren. Dieses, kaum tausend Meter lang und halb so breit, umfuhr das U-Boot mit mäßiger Geschwindigkeit und nahm dann wieder Kurs auf die nahe Gruppe der sechs Eilande zu. Deutlich hatte Siegfried Blank auf dem Turme den Kommandanten und den ersten Offizier, auf dem Vorderdeck aber den Steuermann erkannt. Die Eiche erhob sich ja keine fünfzig Meter vom Oststrande des Inselchens entfernt, und Moritz hatte Augen wie ein Raubvogel. Bald war der Engländer, wie eine riesige Schildkröte das Wasser durchfurchend, hinter den grünen Kulissen des kleinen Archipels verschwunden. Noch einmal erspähte Moritz ihn – auf der Rückfahrt nach der großen Insel.

Max war recht ungehalten, weil der Freund ihn so lange allein gelassen hatte. Um ihn zu versöhnen, berichtete Moritz seine Beobachtungen ganz eingehend und schnitt dann die Frage an, wo man sich wohl befinden möge. Aber eine Antwort fanden sie beide nicht. Hatten sie doch keine Ahnung, welchen Kurs das U-Boot gehalten hatte, als sie die ersten vier Tage stets unter Deck bleiben mußten.

Inzwischen hatte sich bei ihnen ein recht guter Appetit eingestellt. Sie begannen nun auf ihrem hohen Sitze behaglich zu frühstücken. Der Korb der englischen Offiziere enthielt allerlei Leckerbissen, unter denen die Knaben, ohne sich um den nächsten Tag zu sorgen, gehörig aufräumten.

Dann sah Moritz nach seiner Nickeluhr. Es war jetzt zehn. Zu längerem Verweilen auf der Eiche hatten sie keine Lust.

„Ich denke, wir dürfen uns ganz ruhig die Insel mal genauer ansehen“, meinte Moritz. „Die dummen Engländer suchen natürlich nach dem Beiboot. Wo dieses ist, müssen auch wir sein, glauben sie. Stimmt ja auch! Nur daß ihr Boot dort drüben im flachen Wasser liegt, ahnen sie nicht! Sie werden kaum hierher zurückkehren.“

Moritz hatte schon von seinem Ausguckposten so einiges über die Beschaffenheit des Innern dieses Eilandes feststellen können. Außer dem Eichenhain gab es hier im Norden noch einen größeren Buchenbestand, sonst nur Buschwerk, kahles, grauschwarzes Gestein und einige grüne Wiesenflecke.

Die Büsche waren größtenteils Haselnußsträucher. Außerdem wucherten überall Brombeeren, wilde Himbeeren und das dunkelgrüne Kraut der Blaubeere.

„Schade, daß all diese Herrlichkeiten noch nicht reif sind“, meinte Max, mit der Zunge schnalzend.

„Der da oben ist mir lieber als diese vegetarische Kost“, flüsterte Moritz leise und zog den Freund hinter eine dicke Buche, indem er gleichzeitig mit der Rechten in das Astgewirr des Nachbarbaumes hinaufdeutete.

Max entdeckte dort nach einigem Suchen eine Wildtaube, die argwöhnisch den Kopf hin und her drehte.

Siegfried Blank hob vorsichtig den schon vorher geladenen Stutzen. Doch die Taube strich plötzlich mit einem lauten Gurru, Gurru davon.

Unweit dieser Stelle trafen die Jungen dann auf einen Windbruch. Ein Sturm hatte hier drei Buchen entwurzelt und mit den Kronen durcheinander geworfen. Die mächtigen Bäume erhielten jedoch aus den noch im Erdreich verbliebenen Wurzeln genügend Nahrung, um weiter gedeihen zu können. Daher bildeten ihre Wipfel auch einen mächtigen, grünen Hügel von Ästen und Zweigen.

Der allzeit findige Moritz betrachtete dieses riesige, hohe Dickicht jetzt mit besonderen Blicken.

„Da drinnen müßte es eigentlich ein großartiges Versteck geben!“ meinte er. „Wir wollen doch mal auf dem Stamm der mittelsten Buche entlanggehen und zusehen, ob wir nicht in dieser grünen Wildnis eine Stelle finden, wo wir uns häuslich einrichten können!“

Der Gedanke erwies sich als gut. Tatsächlich konnten die Jungen von dem parallel zur Erde liegenden Wipfelstammende dieser Buche auf eine kleine, freie Stelle hinabklettern, die, rings umgeben von einem wahren Verhau von Ästen, nur durch Beseitigen einiger Zweige ein wenig vergrößert zu werden brauchte, um dort Platz für einen einzigartigen Unterschlupf zu schaffen, der hauptsächlich den Vorteil bot, daß er sehr schwer aufzufinden war.

Aber erst nachdem die Freunde das Inselchen umrundet und auch das Innere nach Möglichkeit in Augenschein genommen hatten, gingen sie ans Werk, um die Laube inmitten der drei Buchenkronen für einen längeren Aufenthalt herzurichten, wobei ihnen ihre Tomahawks gute Dienste leisteten. Als Dach spannten sie die beiden Schlafdecken der Engländer aus, die diesen wahrscheinlich als weicher Teppich bei dem beabsichtigten Picknick hatten dienen sollen. Die Seitenwände wieder flochten sie aus Haselnußschößlingen in Form von großen Platten, so daß etwas wie ein Zelt zustande kam.

Als Max Röder morgens erwachte, hörte er sofort über sich das Gurru, Gurru eines zärtlichen Wildtaubenpaares und das Trillern und Jubilieren zahlreicher kleinerer Vögel, die in dem Buchenwalde ungestört nisteten.

Moritz war kaum munter zu bekommen, so fest schlief er noch. – Der sonnenklare Morgen, die unberührte Natur ringsum und das Bewußtsein der Freiheit versetzte die beiden Knaben in die froheste Stimmung. Nachdem sie den Rest der guten Sachen des Frühstückskorbes verzehrt hatten, nahmen sie ihre Waffen und schlichen erst einmal nach der hohen Eiche hin, um von deren Krone aus die Umgegend mit den Augen abzusuchen. Hielten sie es doch nicht für ausgeschlossen, daß das U-Boot noch in der Nähe sei und den entflohenen, harmlosen Indianersch nachspüre.

Doch nirgends war etwas Verdächtiges zu bemerken. Einsam lag das Meer da, einsam waren die Gestade der anderen Inseln. Nur im Südosten glaubte Moritz die Rauchsäule eines Dampfers zu erkennen – in weiter Ferne, wo sich auch ein dunkler Streifen am Horizont hinzog, der ebenso gut ein Wolkenrand wie eine langgestreckte Küste sein konnte.

Auf dem Rückwege nach ihrer Hütte machten die Knaben dann eine sehr wertvolle Entdeckung: es gab auch Säugetiere auf ihrer Insel, und zwar wilde Kaninchen. Die scheuen, flinken „Karnickels“ lebten sogar in einem Tale, das die Freunde gestern nicht betreten hatten, in einer Art Kolonie zusammen, wie zahlreiche Schlupflöcher in der Erde bewiesen. Und hier fanden die beiden Robinsons auch hinter einer dichten Kulisse von Erlengebüsch eine kleine Quelle und einen Weiher, um dessen feuchtes Ufer sich eine förmliche Blumenpracht angesiedelt hatte.

Zwei Kaninchen bildeten dann die Beute des Vormittags. Erst als Moritz sie zur Zubereitung am Spieße fertiggemacht hatte, dachte er daran, daß man keine Streichhölzer besaß. Doch dem sollte bald abgeholfen werden. Wozu hatte man denn die Stutzen?! Wozu die Leinwandstückchen für die Rehposten?! Diese Leinwandstückchen gerieten sehr leicht ins Glimmen, und ein blinder Schuß lieferte den Freunden schnell eine kleine Lunte, durch die dann auch trockenes Moos Feuer fing, so daß die Kaninchen bald verlockend über den Flammen brozelten. Max spielte den Koch. Und er machte seine Sache recht gut. Die erste selbsthergerichtete Mahlzeit schmeckte den Freunden vorzüglich.

In den nächsten Tagen ereignete sich nichts, was erwähnenswert gewesen wäre. Das Wetter blieb anhaltend schön. Am vierten Tage nach ihrer Landung auf dem Eilande wagten die Knaben es dann auch, das Beiboot zu heben. Sie fanden es jedoch erst nach einigem Suchen, da eine Strömung es weiter nach Süden entführt hatte.

Nun galt es, für das kleine Zinkblechfahrzeug ein sicheres Versteck zu finden. Schließlich entdeckten die Jungen einen geeigneten Platz in einer kleinen Bucht, wo von der Uferhöhe eine Menge Erdreich und Sträucher abgerutscht waren. Unter diesen Sträuchern lag das Boot recht gut verborgen.

Nach Anbruch der Abenddämmerung unternahmen unsere Robinsons dann die erste Rekognoszierungsfahrt nach der im Westen gelegenen Inselgruppe. Moritz konnte es sich nämlich nicht recht denken, daß all diese doch leidlich fruchtbaren Eilande ganz unbewohnt sein sollten. Und hierüber wollte er Gewißheit haben.

Das nächstgelegene Inselchen war etwa tausend Meter entfernt. Nachdem es zu Fuß durchstreift war, – die Nächte waren ja jetzt sehr hell –, kam das zweite heran. Aber erst auf dem südlichsten und größten des bescheidenen Archipels fanden die Freunde am Ufer Anzeichen für das Vorhandensein einer Ansiedlung: einen halbverfaulten Nachen und Stangen zum Trocknen von Netzen! – Das deutete mit Sicherheit auf die Nähe einer menschlichen Behausung hin. Tatsächlich bemerkten die Knaben denn auch ein Stück landeinwärts hinter uralten, hohen Haselnußsträuchern zwei niedrige Häuschen. Mit erhöhter Vorsicht pirschten sie sich nun an. Vielleicht war ein Hund da, der sie durch sein Gekläff verraten konnte. Doch nirgends regte sich etwas. Verlassen lag das kleine Gehöft da. Und wie verwahrlost hier alles war! Der Lattenzaun umgebrochen, die Fenster größtenteils zerschlagen, und die eine Haustür hing schief nach außen nur noch in einer Angel.

Moritz schlich dann allein ganz nahe heran, lauschte angestrengt, ob sich in den Hütten etwas rege. Kein Laut – nichts – nichts! Trotzdem wagte er sich nicht ins Innere hinein, machte vielmehr Max den Vorschlag, bis zum Morgen hier zu bleiben, um so am sichersten festzustellen, ob das Anwesen bewohnt sei.

Dies war nicht der Fall. Die Hütten waren leer. Nur unbrauchbarer Hausrat lag noch in den muffigen, schmutzigen Stuben umher.

Unbrauchbar?! – Ja, für den, der Gelegenheit hat, sich das zu beschaffen, was er sich wünscht. Für unsere beiden Robinsons gab es hier doch so mancherlei, was ihnen des Mitnehmens durchaus wert erschien. So vor allem ein verbeulter Emaillekochtopf, ein paar alte Leinensäcke und noch anderes, alles Dinge, die die Knaben lebhaft an die Müllberge in der Nähe des „wilden Westens“ bei Berlin erinnerten.

Hinter den Hütten wieder gab es noch Spuren eines bebauten Feldes. Von Unkraut zum Teil überwuchert standen da Kartoffeln, Rüben und auch kümmerliche Gerste.

Die Kartoffeln, eine frühe Sorte offenbar, hatten schon sehr gut angesetzt.

„Die kommen uns wie gerufen“, meinte Moritz. „Hurtig, Maxe, da ist ein Knüttel! Buddeln wir uns die Erdäpfel aus!“

Die Knaben legten ihre Stutzen bei Seite und fingen eifrig an zu ernten, wo sie nicht gesät hatten. Daß ihnen hier irgend eine Gefahr drohen könnte, daran dachten sie nicht.

Und doch regte es sich jetzt ganz leise in einem der nächsten Büsche. Ein Kopf erschien, ein blasses Gesicht mit einem verwilderten blonden Barte und ein Paar hellen Augen unter einer schirmlosen, schmutzigen Soldatenmütze.

Dann schob sich eine menschliche Gestalt langsam nach der Stelle hin, wo die Stutzen, an einen Holzklotz gelehnt, standen.

Moritz ging jetzt ins Haus, um einen der alten Säcke zu holen. Da gewahrte er den Fremden, der eben den einen Stutzen ergriffen hatte.

Der Junge war wie versteinert. So sehr fuhr ihm der Schreck in die Knochen. Dann aber trat er unversehens einen Satz nach vorwärts auf den Fremden zu, indem er den Tomahawk mit der gebogenen Eisenschneide aus dem Gürtel riß. Er hatte sehr wohl bemerkt, daß der Mann da mit dem Schloß des Stutzens nicht fertig wurde. Ein gellender Ruf: „Maxe!“ machte auch den Freund auf den blassen Menschen mit der russischen Soldatenmütze aufmerksam.

Moritz hatte keineswegs die Absicht, von dem Wurfbeile ernsthaft Gebrauch zu machen. Nur erschrecken wollte er den Fremden und ihm den Stutzen wieder entwinden.

Nun stand er dicht vor dem Blondbärtigen, nun kam auch Maxe herbei. Aber der Mann blieb ruhig stehen, verzog das Gesicht erst zu einem ironischen Lächeln und … lachte dann aus vollem Halse …

Die Knaben erstarrten förmlich. Alles andere hatten sie erwartet. Nur dies nicht, – daß der Bärtige sie auslachte, so herzlich, so recht übermütig.

„Ihr seid mir ein Paar nette Indianer!!“ sagte der Fremde nun endlich in tadellosem Deutsch. „Welcher Leichtsinn, hier in Feindesland die Waffen aus der Hand zu legen …!!“

Moritz fand zuerst die Fassung wieder.

„Sind Sie – sind Sie etwa ein Landsmann von uns?“ fragte er stotternd.

„Allerdings. – Und daß Ihr beide deutsche Jungen seid, hörte ich an Eurer Unterhaltung. Ich wollte nur mal zusehen, wie Ihr Euch benehmen würdet, wenn Ihr mich plötzlich im Besitze Eurer merkwürdigen Flinten saht.“

In schneller Folge wechselten jetzt Frage und Antwort.

Wie staunten die Knaben, als sie erfuhren, daß der zerlumpte Mann ein deutscher Pionieroffizier sei, der aus russischer Gefangenschaft entflohen war. Er hieß Karl von Hestenberg, war sogar ein Freiherr …!!

„Tüchtige Kerle seid Ihr, wahrhaftig!“ sagte er dann anerkennend und drückte jedem kräftig die Hand. „Wer mir das vorausgesagt hätte, daß ich hier auf diesen Eilanden zwei kleine Landsleute als Robinsons antreffen würde, den hätte ich für nicht ganz gesund erklärt!“ – –

Eine Stunde später schoß das kleine Zinkblechboot hochbeladen wieder der östlichsten der Inseln zu. Der Oberleutnant und Moritz ruderten, und Maxe saß vergnügt am Steuer. Im Vorderteile des leichten Fahrzeugs aber lagen zwei Säcke Kartoffeln, drei Fensterrahmen mit noch ganzen Scheiben, allerhand Eisenbeschläge von den verlassenen Hütten, eine Rolle Dachpappe, Bretter, Stangen und auch drei allerdings schon schadhafte Netze, außerdem noch verschiedene andere Gegenstände.

Der Freiherr von Hestenberg war nicht minder guter Laune als die beiden Indianersch. Vor fünf Tagen hatten die Russen ihn an der Dünafront bei einem Patrouillengange abgefangen und zunächst nach Riga gebracht. Es glückte ihm hier nachts zu entwischen und sich an Bord eines Dampfers zu schleichen, der morgens die Anker lichtete und die Reise nach Petersburg antrat. Im Rigaschen Meerbusen war dann plötzlich ein deutsches U-Boot aufgetaucht und hatte auf den Dampfer Jagd gemacht. Hestenberg hörte in seinem Versteck auf dem Vorschiff – er war zwischen dort aufgestapelte Kisten gekrochen – jeden Kanonenschuß, den der bewaffnete Frachtdampfer mit dem U-Boot wechselte. Plötzlich erhielt der Russe nach zweistündiger Verfolgung einen Treffer in den Maschinenraum, gleich darauf einen zweiten gerade in der Wasserlinie am Heck. Er begann zu sinken. Die Besatzung bestieg eiligst die Boote. Der Oberleutnant ließ sie ruhig davonrudern. Rechnete er doch bestimmt damit, daß das deutsche U-Boot ihn aufnehmen würde. Doch zu seinem nicht geringen Schrecken sah er dann, wie das Tauchboot von einem anderen angriffen wurde und beide Fahrzeuge mit einem Male unter Wasser verschwanden. Da hatte er sich schnell aus Brettern eine Art Floß zusammengebunden, dieses in die See geworfen und war nachgesprungen. Eine Strömung führte ihn langsam auf seinem primitiven Fahrzeuge nach Westen zu, bis er gegen Abend auf einer der kleinen Inseln dieses Archipels landete. Hier hatte er kümmerlich sein Leben von halbreifen Früchten, Muscheln und Beeren gefristet. Besaß er doch nichts, gar nichts außer der zerrissenen, beschmutzten Uniform, die er auf dem Leibe trug. Mit seinem Floße war er von Eiland zu Eiland gefahren, immer auf der Suche nach etwas Genießbarem. Erst heute hatte er die Insel betreten, auf der er vorhin mit den Knaben zusammengetroffen war.

Die Anwesenheit des Oberleutnants brachte einen völligen Umschwung in der bisherigen Lebensführung der Robinsons mit sich.

Jetzt sahen die Knaben erst ein, daß es doch noch praktischere und erfinderischere Köpfe gab als sie es waren. Zunächst entstanden inmitten der Kronen der entwurzelten Buchen anstelle des Zeltes eine feste Hütte mit einem Dache aus Teerpappe, mit Fenstern, einer Tür, einem Herde und einer richtigen Leiter, auf der man bequem den Stamm der einen Buche erreichen konnte.

In einem nahen Dornendickicht wieder richtete Hestenberg eine Schmiede- und Tischlerwerkstatt ein. Hier wurden die nötigen Werkzeuge, dann allerhand Einrichtungsgegenstände für die Hütte hergestellt. Arbeit gab es täglich die Hülle und die Fülle. Vierzehn Tage lang kamen die Freunde kaum zu Atem. Nur Sonntags wurde gefeiert.

Der Oberleutnant betonte immer wieder: „Jungens, denkt daran, daß wir vielleicht einen Winter hier zubringen müssen! Mit dem kleinen Boote dürfen wir uns nicht dem Meere außerhalb der Inselgruppe anvertrauen. Jeder stärkere Wind würde uns zu den Fischen schicken …! – Nein – es heißt hierbleiben und hoffen, warten, bis sich eine Gelegenheit bietet, unter sicheren Aussichten auf eine glückliche Landung an der Küste Kurlands unsere Insel zu verlassen.“

Zwischen ihm und Max und Moritz hatte sich rasch eine herzliche Freundschaft entwickelt. Die Knaben verehrten Hestenberg geradezu schwärmerisch. Freilich – für ihn schien es auch wirklich keine Schwierigkeiten zu geben. Alles schuf er sozusagen aus dem Nichts.

In den ersten Augusttagen war nicht nur die Hütte nebst Innenausstattung, sondern auch ein zweites kleineres Bauwerk daneben fertig, ein Vorratsspeicher, wie der Oberleutnant es nannte.

Nun widmeten unsere drei Robinsons sich voller Eifer der Kaninchenjagd und dem Fischfang. Eine Räucherei wurde gebaut, und die Beute nachts durch den Rauch haltbar gemacht. Hierbei widerfuhr den Bewohnern der Hindenburg-Insel – so war das Eiland feierlich getauft worden! – jedoch das erste Mißgeschick, wie sich schon nach kurzer Zeit zeigte: weder die Räucherfische noch das Fleisch hielten sich, wurden vielmehr recht übelriechend und mußten fortgeworfen werden. Es fehlte eben an dem nötigen Salz, um die Sachen vorher zu pökeln.

Hestenberg befahl daher, daß kein einziges Kaninchen mehr geschossen werden dürfe. – „Wir müssen sie uns zum Winter aufsparen!“ sagte er.

Nach diesem Fehlschlag stattete man dann der Insel, auf der die verlassenen Anwesen lagen, häufiger Besuche ab, sammelte sorgfältig alle Kartoffeln und die anderen Feldfrüchte ein und erntete auch den Gerstenacker ab.

Der Oberleutnant, von den Knaben einmal gefragt, weshalb wohl die Leute ihre Wohnungen hier im Stiche gelassen haben mochten, erklärte, dies sei sicher aus Furcht vor den deutschen U-Booten geschehen. Ebenso wollten Max und Moritz auch gern wissen, wie weit es von dem Archipel wohl bis zur Nordküste Kurlands wäre, die doch die Deutschen besetzt hätten.

„Etwa sechzig Kilometer“, meinte Hestenberg. „Jedenfalls viel zu weit, um in unserer Nußschale von Boot die Fahrt wagen zu dürfen.“

Die Erörterung der Möglichkeit, nach Kurland zu gelangen, spielte in den Gesprächen der drei überhaupt eine große Rolle.

Hin und wieder sahen die Gefährten ja Dampfer, Segelschiffe und auch russische Kriegsfahrzeuge näher oder ferner an den Inseln vorüberkommen. Moritz hatte es besonders auf die Segler abgesehen.

„Wenn so ein großer Kahn hier doch nur mal vor Anker gehen wollte, Herr Oberleutnant“, sagte er eines Tages, als am Horizont wieder ein paar weiße Segel sichtbar wurden. „Dann müßten wir das Schiff entern und die Besatzung zwingen, uns nach Kurland zu bringen.“

Hestenberg lachte. „Moritz, Moritz, Du willst durchaus noch Seeräuber werden!! Genügt es Dir nicht, daß Du hier Robinson spielen kannst?! – Die Geschichte stellst Du Dir doch wohl einfacher vor, als es ist, – ich meine das Entern! Jetzt ist jedes Schiff hier bewaffnet, und wenn’s der erbärmlichste Kutter ist.“

„Es könnte doch nur ein deutsches U-Boot sein, das uns sichere Rettung brächte“, sagte da der ruhigere Max.

„Da müßte schon ein großer Zufall mitspielen“, erklärte der Oberleutnant achselzuckend. „Hier heißt es eben abwarten und auf Gott vertrauen!“

In den letzten Augusttagen fiel es unseren Robinsons schon auf, daß nicht mehr ein einziges Schiff in Sicht kam. Dann – es war am Sedantage – brachte der Nordwestwind vom Festlande das dumpfe Dröhnen einer heftigen Kanonade herüber. Mittags hatte es begonnen, und noch am anderen Morgen vernahm man deutlich das Donnern eines lebhaften Geschützkampfes.

„Eine große Schlacht ist im Gange“, erklärte der Oberleutnant ernst. „Die Russen werden wohl gegen unsere Front in Nordkurland anrennen.“

Am 3. September mittags kam dann Max Röder in heller Aufregung nach der Hütte gelaufen. Er hatte am Weststrande der Insel nach den dort ausgelegten Netzen sehen wollen, aber plötzlich drüben in der Nähe des nächsten Eilandes einen großen Dampfer wahrgenommen, der mit starker Schlagseite vor Anker zu liegen schien.

Sofort brachen nun die drei Gefährten nach dem Weststrande auf, um das Schiff zu beobachten. Dieses war vielleicht vierhundert Meter entfernt und trieb sehr langsam nach Süden zu. Die Vorwärtsbewegung war so gering, daß man bei flüchtigem Hinsehen leicht annehmen konnte, es liege still.

Hestenberg und die Knaben standen nebeneinander auf der Höhe des Steilufers im Gebüsch und wandten kein Auge von dem Dampfer, der offenbar durch Torpedoschuß oder eine Mine ein böses Leck erhalten, aber mit Hilfe seiner wasserdichten Schotten sich noch schwimmend erhielt.

„Ich wette, kein Mensch ist da drüben an Bord“, sagte Moritz jetzt eifrig, der weitaus die besten Augen hatte. „Herr Oberleutnant, ich denke, wir wagen es und fahren mit unserem Boote hinüber.“

Hestenberg wartete noch eine Weile. Dann erwiderte er, auch ihm schiene es so, als ob das Schiff verlassen wäre. Und zum Jubel der unternehmungslustigen Knaben fügte er hinzu: „Gut – rein in unser Boot! Aber alles an Waffen wird mitgenommen, was wir haben.“

Zehn Minuten später näherten sich unsere Robinsons in ihrer Nußschale vorsichtig dem steuerlos treibenden Dampfer. An Deck ließ sich keine Seele blicken. Die Steuerbordseite lag gut anderthalb Meter tiefer im Wasser als die Backbordseite, so daß man das Deck ganz bequem überblicken konnte. Und mittschiffs auf Steuerbord befand sich auch in der Wasserlinie das Leck, – ein mächtiges Loch mit verbogenen Eisenplatten als Rändern. – „Eine Mine!“ sagte der Oberleutnant kurz. „Ein Torpedo hätte tiefer gesessen.“

Es war nicht schwer, an Bord der „Kasan“ (so hieß der Dampfer) zu gelangen. Alle Boote bis auf die Jolle waren verschwunden. Diese Beobachtung ließ es als sicher erscheinen, daß die Besatzung wohl in der Annahme, das Schiff würde sinken, eiligst davongerudert war.

Der „Kasan“ hatte in der Mitte des Decks einen Kajütaufbau, über dem die Kommandobrücke lag. Als Moritz als erster jetzt durch eine der weit offenen Türen eintrat, prallte er sofort erschreckt zurück. Auf dem Teppich vor dem runden Tische der Kapitänskajüte lagen zwei Männer, – zwei russische Offiziere. Auf dem Tische aber stand eine ganze Batterie geleerter Weinflaschen.

Hestenberg schob Moritz jetzt bei Seite und beugte sich gleich darauf über einen der feindlichen Offiziere. Ein geringschätziges Lächeln zuckte in seinem Gesichte auf.

„Betrunken, – sinnlos betrunken!“ sagte er leise zu den Knaben. „Nehmt ihre Revolver an Euch! – Man hat diese edlen Herren hier wohl zurückgelassen, weil sie sich mit dem Kapitän und den Leuten schlecht standen, so denke ich mir.“

Max blieb als Wache bei den Schläfern zurück, während der Oberleutnant und Moritz die „Kasan“ weiter durchsuchten. Aber außer einer grauen Katze war kein lebendes Wesen mehr an Bord.

Eine Viertelstunde darauf hatten unsere drei Helden den einen Anker glücklich ausgeworfen, so daß der Dampfer zwischen den Inseln leise schaukelnd stillag. Und abends wieder war das Leck leidlich abgedichtet und die „Kasan“ mit Hilfe der Notsegel in ein Segelschiff verwandelt worden. Der Oberleutnant hatte beschlossen, bei diesem gerade sehr günstigen Winde und dem klaren Himmel, der eine Wetteränderung kaum befürchten ließ, die Fahrt nach der Kurländischen Küste zu wagen. Inzwischen waren die beiden Russen munter geworden und hatten Hestenberg ohne Zaudern ihr Ehrenwort gegeben, sich als Kriegsgefangene betrachten und nichts Feindseliges unternehmen zu wollen. Es waren beides Finnländer, die Rußland haßten als den Bedrücker ihrer engeren Heimat. Sie halfen dann sogar eifrig mit, den Anker zu lichten, und griffen bereitwilligst mit zu, wo es nötig war.

Langsam setzte die „Kasan“ unter dem Druck der Notsegel sich in Bewegung. Die Nacht war so sternenklar, daß man ziemlich weit die See überblicken konnte. Gegen elf Uhr meldete Max Röder dann in größter Bestürzung dem auf der Kommandobrücke das Steuer bedienenden Oberleutnant, daß sich von Norden her ein kleiner Dampfer in schneller Fahrt nähere.

Hestenberg bemerkte jetzt auch das verdächtige Schiff. Es konnte nur ein Russe sein …! Und voller Ingrimm und Enttäuschung sah er der weiteren Entwicklung der Dinge entgegen.

Es war ein Torpedoboot, – schlank, schwarz, mit zwei Schornsteinen. Im Bogen fuhr es um die „Kasan“ herum. Ein Scheinwerfer blitzte auf. Hestenberg gab alles verloren …

Das Torpedoboot kam jetzt in sausender Eile näher. Und dann der Anruf – – deutsch – deutsch …!!

„Dampfer ahoi! – Welches Schiff?“

Der Oberleutnant riß die Feldmütze ab, schwenkte sie …

„Hier Deutsche – Deutsche …! Hurra …!!“

Hestenberg schüttelte dem Kameraden von der Marine, der S 102 befehligte, immer wieder die Hand. Er glaubte zu träumen … Riga sollte gefallen sein – Riga – Riga?! – Also deshalb die schwere Kanonade – deshalb!!

Acht Tage später hatte Vater Tuluweit seine „Indianersch“ wieder …

Und abends versammelte sich ganz Plidden auf dem Hofe bei Tuluweits, und Moritz erzählte seine und Max Röders seltsame Erlebnisse.

„… In Riga waren wir auch, gerade als der Kaiser einritt. – das gab einen Jubel …!! Und Oberleutnant Hestenberg hat uns gesagt, daß wir für die Einbringung der mit Getreide beladenen „Kasan“ auch einen Teil des Beutegeldes abbekommen werden …! Und dafür kaufe ich Muttern daheim als Trost für die um mich ausgestandene Angst ein paar Ferkel zum Aufziehen … Das wird fein werden …!!“

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.