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Ming Tschuan

 

 

Walther Kabel

 

Ming Tschuan

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1923 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

Erster Teil.

1. Kapitel.

Ellinor meint, ich solle die Geschichte des Wunderautomaten Ming Tschuan genau so niederschreiben, wie sie mir durch eine Verkettung merkwürdiger Umstände bekannt geworden ist.

Ich werde es tun und jede dichterische Ausschmückung vermeiden, die mir ja auch nur schwer gelingen würde. Einem, der handwerksmäßig billige Bücher illustriert und für schlecht zahlende Firmen Reklameplakate zeichnet, der infolge des Valuta-Elends das Hungern kennengelernt und gemerkt hat, wie ein stets leerer Magen das Gewissen weitet, fehlt es an jedem Schwung der Phantasie. Im übrigen genügt es auch vollauf, lediglich die Tatsachen einigermaßen logisch zu ordnen, damit der Leser leichter die Überfülle von Geschehnissen überschauen kann. –

Um das Unwichtigste voraus zu nehmen: ich heiße Alfred Blenk und bin jetzt dreiunddreißig Jahre alt. Meine Eltern starben früh. Ich hatte studieren sollen. Doch mein Vormund, der nun auch längst dieser Jammerwelt den Rücken gekehrt hat, erklärte, daß mein kleines Vermögen meinen leichtfertigen Hang zum Schuldenmachen nicht lange vertragen würde. So mußte ich denn nach zwei Semestern, in denen ich mich ohne jede Berechtigung Student der Jurisprudenz genannt hatte, dem Bummelleben wieder lebewohl sagen. –

Wichtiger ist schon, daß Ellinor nun seit einem Monat nicht ohne Berechtigung – im Gegensatz zu oben – sich Frau Ellinor Blenk, geborene Blau, auf amtlichen Schriftstücken nennt. Wie sie mich nennt, geht niemand etwas an. –

Dies mag als Einleitung genügen.

– – – – – – – –

Die Hafenstadt Viktoria auf der Insel Hongkong, stets nur Hongkong genannt, erwachte zu neuer Tagesarbeit.

Herr Lin Ting, der fette Raritätenhändler aus der breitesten der Basarstraßen des Chinesenviertels, trat aus der Ladentür und prüfte die Wirkung der schreiend bunten Reklamewimpel, die er gestern abend keuchend und schwitzend an der Fassade seines Hauses angebracht hatte.

Er putzte seine Brille, setzte sie wieder auf, nickte zufrieden und begann rechts und links neben der Tür auf niederen Tischen die Lockwaren für die Käufer aufzubauen.

Zuletzt schleppte er einen schrankähnlichen Kasten, der auf vier reich geschnitzten, ziemlich hohen Füßen stand, mühsam ins Freie und öffnete die Flügeltür des Oberteiles, in dessen Mitte aus dem schwarz lackierten Boden der Oberkörper einer Puppe mit häßlich bemaltem Kopf, einen Chinesen darstellend, herausragte. Die Arme der Puppe lagen auf dem lackierten Brett. Die Hände hielten zwei hochgewölbte Messingdeckel umspannt.

Der sonderbare Schrank war in allen Teilen durch eingelegtes Elfenbein verziert und mit goldenen Malereien bedeckt. Seine Höhe betrug mit den geschnitzten Füßen etwa zwei Meter; die Breite etwa 1½ und die Tiefe ¾ Meter. –

Zwei Stunden später schlenderte ein Europäer in weißem Leinenanzug durch die Basarstraße und blieb vor Lin Tings Laden stehen. Der Schrank hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Der Europäer war schlank, mittelgroß, bartlos und trug ein Monokel. Unter dem breitrandigen Strohhut kam blondes Haar zum Vorschein. Das Gesicht, tief gebräunt, hatte nichts irgendwie Auffallendes an sich. Lin Ting erspähte den Herrn vom Innern des Ladens aus, kam sofort angewatschelt und begann in leidlichem Englisch den Schrank als eine Arbeit des vor vierhundert Jahren verstorbenen Automatenherstellers Tsaitien anzupreisen.

„Dieser Automat, berühmt unter dem Namen „Der Zauberkünstler Ming Tschuan“, konnte früher die wunderbarsten Kunststücke ausführen Er ließ unter den Messingglocken Gegenstände erscheinen und verschwinden, bewegte den Mund, den Kopf, die Augen und die Arme, verneigte sich, – kurz, es war ein reines Wunder. Jetzt ist der Mechanismus leider in Unordnung geraten. Niemand ist imstande, diesen wieder zu reparieren.“

Er riß die Türen des Unterteiles des Schrankes auf und enthüllte so ein Gewirr von Rädern, Hebeln, Drähten und Walzen.

Der Europäer hatte scheinbar wenig Interesse für den Automat, rauchte seine Zigarette und sagte kühl:

„Das Ding ist ja wertlos, weil es nicht mehr funktioniert!“

Lin Ting machte einen förmlichen Luftsprung vor Entsetzen.

„Oh Master – wertlos?! Diese wundervolle Schnitzerei, diese Elfenbeinverzierungen, diese –“

Da war der Europäer schon weitergegangen.

Lin Ting starrte ihm wütend nach. –

Der Herr mit dem Monokel kehrte gegen elf Uhr vormittags in das Hotel Imperial zurück, wo er vorgestern unter dem Namen Allan Britton abgestiegen war.

Im Vorraum sprach ihn der Hoteldirektor an.

„Vorhin traf eine Depesche für Sie ein, Mr. Britton. Bitte –“

Er reichte ihm das Telegramm. Britton ging in das Schreibzimmer und setzte sich in einen Korbstuhl, ließ seine grauen Augen über die fünf anderen Hotelgäste hingleiten, die hier außer ihm noch anwesend waren, und öffnete die Depesche

Sie kam aus Berlin, war zunächst nach Singapore, Hotel Trafalgar, gegangen und Britton dann nachgeschickt worden.

Sie lautete:

Besseres Geschäft in Aussicht. Sofort zurückkehren.
Schmidt.

Britton zerriß das Telegramm und behielt die Schnitzel in der Hand, ließ sich mit dem Lift in die dritte Etage fahren und verbrannte auf seinem Zimmer die Papierstückchen mit Hilfe von Zündhölzern. Die Asche streute er zum Fenster hinaus.

Dann begann er seinen Koffer zu packen, machte jedoch plötzlich eine längere Arbeitspause und schritt nachdenklich auf und ab, wobei er vor sich hin murmelte:

„Ein Gedanke – goldeswert! Man müßte das Ding doch kaufen!“

Er lächelte halb belustigt. „Der Trick wäre ja nicht gerade neu. Ein halber Kollege von mir hat schon einmal vor nahezu hundertfünfzig Jahren damit Geschäfte gemacht. Wie gut es doch ist, wenn man für derartige Scherze ein Gedächtnis hat!“

Seine Promenade durch das Zimmer wurde lebhafter. Sein Hirn arbeitete schneller.

„Hm – weshalb diese Sache aufgeben?!“ dachte er. „Ich will doch nicht umsonst den Leuten bis hierher nachgereist sein! Auf ein paar Tage kommt es nicht an. Vielleicht bietet sich hier eine günstigere Gelegenheit. Jedenfalls – den Wunderautomat werde ich kaufen! Aber nicht als Allan Britton. Das wäre unvorsichtig in Hinblick auf den Zweck dieser Erwerbung.“ –

Gleich darauf verließ er mit einem länglichen Paket das Hotel, mietete am Hafen ein kleines Segelboot, hinterlegte eine Summe bei dem Bootsverleiher und war eine halbe Stunde später mit der flinken Jolle ohne jede Begleitung in einer einsamen Bucht der Insel Hongkong gelandet, wo er in dem dichten Gebüsch verschwand und dem Paket alles das entnahm, was er zur völligen Veränderung seines Gesichts gebrauchte. –

Der dicke Lin Ting hatte zwei Stunden später abermals einem Europäer den Wunderschrank Ming Tschuan erklärt, hatte seine ganze Beredsamkeit aufgeboten und auch wirklich erreicht, daß der ältere, graubärtige Herr mit der goldenen Brille nach dem Preise des Automaten fragte.

Sie wurden nach längerem Feilschen handelseinig. Der Herr, der sich Mr. Morton nannte, zahlte die Hälfte an und sagte, er würde den Schrank nach ein paar Tagen abholen lassen und dann den Rest des Geldes mitschicken.

Lin Ting katzbuckelte vergnügt. Mr. Morton war ebenfalls zufrieden, kehrte mit der Jolle nach jener Bucht zurück und verwandelte sich wieder in Allan Britton.

 

2. Kapitel.

Auf der Parkterrasse des Hotels Imperial in Hongkong saßen am Abend desselben Tages an einem Tische dicht an der Brüstung der sehr ehrenwerte Schweinegroßhändler Mr. Howard Knoox nebst Gattin und Tochter, beheimatet in Chikago, jetzt seit drei Monaten auf einer Reise um die Welt begriffen.

Knoox konnte sich dies leisten. Er war schon vor dem Kriege Millionär gewesen. Jetzt war er fast Milliardär, im übrigen aber ein schlichter Mann von einfachen Umgangsformen, die er hauptsächlich dadurch bekundete, daß er beständig mit seinem goldenen Zahnstocher operierte, sehr zum Entsetzen seiner Damen, die bereits etwas mehr von allerfeinster Kultur beleckt waren und daher in den Ohren, am Halse, an Handgelenken und Fingern ein Vermögen in Brillanten mit sich herumschleppten.

Am zweiten Tische links neben Familie Knoox nahm jetzt Mr. Allan Britton Platz, putzte sein Monokel, würdigte die Umgebung keines Blickes, bestellte bei dem eingeborenen Kellner eine halbe Flasche Sekt, Kaviar und Röstschnittchen und vertiefte sich in seine Zeitung, Riesenformat.

„Da ist er wieder,“ flüsterte Maud Knoox der Mama zu, die bei dieser Hitze sich in Wasser aufzulösen drohte und unter der Puderschicht blaurot war. „Er sieht wirklich sehr vornehm aus. In Kolombo auf Ceylon sagte das Stubenmädchen unseres Hotels, es sei ein englischer Lord, der inkognito reist.“

„Das erzählst Du schon zum dritten Mal,“ murrte der lange dürre Schweinegroßhändler. „Mir ist der Mensch widerwärtig. So aufgeblasen –!“

„Das verstehst Du nicht, Howard,“ japste die kurzatmige Mutter. „Ein Lord ist immer so!“

Knoox hatte nur Interesse für sein Beefsteak. Es war ihm zu sehr durchgebraten. Er schimpfte auf den Koch.

Seine Damen beäugten den Inkognito-Lord unausgesetzt. Leider schien Seine Lordschaft auch hier die Familie Knoox als Luft behandeln zu wollen.

Eine Stunde verging. Knoox handhabte den Zahnstocher und gähnte. Er hatte für seine Person eine Flasche Sekt und eine Flasche Burgunder vertilgt und empfand Sehnsucht nach dem Bett.

Familie Knoox brach auf und begab sich auf ihre Zimmer. Frau Knoox jedoch wollte Maud den Weg zur Lady ebnen und ließ, als sie als letzte an Brittons Tisch vorüberkam, ihre Krokodilledertasche sacht zu Boden gleiten.

Die Terrasse war jetzt fast leer. Britton angelte mit dem Fuß nach der Handtasche, nahm sie unter dem Tischtuch auf den Schoß, befühlte den Inhalt, fühlte, daß ein Zimmerschlüssel mit Kunstbart darin war und drückte den Bart rasch in ein Stück Wachs, das er für alle Fälle stets bei sich trug.

Dann rief er einen Kellner herbei.

„Dort – die Handtasche hat eine Dame soeben verloren,“ sagte er gelangweilt.

Die Tasche lag wieder auf dem Bastläufer. Der Kellner hob sie auf, und der Hoteldirektor stellte fest, daß sie Frau Knoox gehörte, brachte sie nach Zimmer Nr. 14 und händigte sie Herrn Knoox aus, der auf Nr. 14 wohnte, während seine Gattin nebst Tochter, durch einen Salon getrennt, in Nr. 16 schliefen. Knoox, bereits halb entkleidet, fluchte über die Nachlässigkeit der Weiber im allgemeinen und seiner Frau im besonderen, durchschritt den gemeinsamen Salon und warf die Tasche durch die Türspalte in das Schlafgemach der Damen.

Frau Knoox war bitter enttäuscht. Sie hatte sich einen anderen Erfolg von ihrer Kriegslist versprochen. –

Britton war nicht enttäuscht. Er vermutete, daß der Schlüssel zum Schloß von Nr. 16 gehörte. Auf seinem Zimmer arbeitete er bis nach Mitternacht mit Feile und Stahlsäge ganz geräuschlos. Er konnte mit seiner Leistung zufrieden sein. Der Nachschlüssel paßte genau in den Wachsabdruck.

Gegen ein Uhr schlich er durch die leeren, matt erhellten Hotelflure. –

Howard Knoox träumte gerade, daß abermals ein Weltkrieg entbrannt sei und daß man ihm die Lieferung von fünf Millionen Büchsen Eisbein mit Sauerkohl übertragen habe. Aus diesem schönen Millionenverdienst-Traum und den benebelnden Folgen von Sekt und Burgunder rüttelte ihn seine Gattin in die triste Wirklichkeit zurück.

Er hörte immer nur dieselben Kreischtöne:

„Bestohlen – alle Brillanten weg – bestohlen!“

Endlich hatte er seine fünf Sinne wieder leidlich beieinander, sprang in seinem seidenen karierten Schlafanzug aus dem Bett und sagte:

„Lizzie, tu’ mir einen Gefallen und vervollständige erst Dein Kostüm. Ohne Korsett wirkst Du zu imposant. Ich werde den Hoteldirektor herbeirufen.“

Als Frau Lizzie sich empört zurückgezogen hatte, stellte Howard erst einmal fest, ob auch ihm Diebe einen Besuch abgestattet hätten.

Es war so. Seine Brieftasche, seine Uhr nebst Platinkette, die Krawattennadel und anderes fehlten. Außerdem war die Zimmertür weder von innen abgeschlossen noch verriegelt.

Knoox sank vernichtet auf einen Stuhl. Richtig – gestern abend war ja noch der Hoteldirektor mit der Tasche erschienen. Natürlich hatte er, Howard Knoox, da vergessen, die Tür abzuschließen. Er allein war an allem schuld – er allein! Trotzdem – der Gauner sollte schon entdeckt werden! –

Der Hoteldirektor erschien, war untröstlich, weil gerade im Imperial diese scheußliche Geschichte passiert war, rief telephonisch den besten Privatdetektiv Hongkongs, Mr. Hannibal Wilson, herbei und überließ diesem nun die Familie Knoox zum weiteren.

Mr. Hannibal Wilson war etwas unter Mittelgröße, sehr mager, sehr haarlos und sehr witzig. Sein Witz wurde wirksam durch die Mundpartie, die dicken Lippen und vier weit vorstehende Oberzähne unterstützt.

Wilson schaute sich in den Zimmern um, besichtigte die Türschlösser, ließ sich alles genau erzählen und begann zu fragen.

Knoox gestand kleinlaut ein, daß er sehr wahrscheinlich seine Zimmertür die Nacht über unverschlossen gelassen habe.

Jedenfalls: die Sache schien sonnenklar. Der Dieb hatte es gar nicht bequemer haben können. –

Hannibal Wilson fletschte die Zähne und meinte:

„Eigentlich ist die Handtasche die Schuldige. Kann ich sie mal sehen?“

Frau Knoox brachte sie ihm. Wilson kramte darin umher; Wilson war kein Dummkopf. Im Gegenteil.

„Borgen Sie mir die Tasche,“ bat er. „Sie gefällt mir. Ich möchte für meine Mutter eine gleiche anfertigen lassen.“

Er wickelte sie in eine Zeitung und ging in das Büro des Hoteldirektors hinab, wo er den Patentschlüssel mit einem Vergrößerungsglas besichtigte. Dann schickte er die Tasche wieder nach oben, ließ Frau Knoox danken und studierte die Liste der 92 Hotelgäste.

„Mr. Cleveland,“ erklärte er dabei dem Hoteldirektor, „ich hoffte, daß an dem Schlüssel sich Spuren von Wachs befinden würden. Dann hätte man annehmen können, daß dieser Mr. Britton, der den Kellner auf die Tasche aufmerksam machte, der Dieb sei und daß Mr. Knoox das Zimmer doch verschlossen hatte. Sie verstehen: Britton könnte mit Hilfe eines Nachschlüssels in das Schlafzimmer der Damen eingedrungen sein, die den Sicherheitsriegel bestimmt nicht vorgeschoben hatten, könnte hinter sich wieder abgeschlossen haben und durch Mr. Knoox Zimmer hinausgegangen sein. Ich werde trotzdem diesen Britton nicht aus den Augen verlieren. Ich bleibe hier. Sobald er ausgegangen ist, werde ich sein Zimmer durchsuchen.“

Hannibal Wilson steckte sich eine pechschwarze Sumatra an, legte die Beine auf Clevelands Schreibtisch und wartete, nachdem er noch seinem Angestellten Edward Trablay telephonisch einen Auftrag erteilt hatte.

Britton frühstückte um zehn Uhr im kleinen Speisesaal, wo er schon gestern für sich einen Tisch hatte reservieren lassen. Er frühstückte bedächtig, las Zeitung und fühlte sich auf seinem kleinen Ledersofa so wohl, daß er erst um halb zwölf aufstand. Inzwischen hatte er ein in ein Taschentuch eingebundenes Päckchen ganz unauffällig zwischen den Sitz und die Rücklehne des Ledersofas geschoben.

Er schlenderte jetzt durch die Vorhalle, sprach ein paar Worte über die Hitze mit Mr. Cleveland und schritt die Straße hinunter.

Cleveland stürzte ins Büro. „Mr. Wilson, er ist weg! Hier ist der Schlüssel von Nr. 36 –“

 

3. Kapitel.

Britton begab sich in das nahe Postamt und schickte folgende Depesche ab:

Georg Schmidt, Berlin-Wilmersdorf

Margaretenstraße 15 (Deutschland).

Nachricht erhalten. Ich reise ab. Habe von Ostasien genügend gesehen. Gruß Britton.

Kaum hatte er das Postamt verlassen, als Edward Trablay, Wilsons rechte Hand, sich Kenntnis vom Inhalt dieser Depesche verschaffte. Er hatte vor dem Hotel Britton aufgelauert. –

Hannibal Wilson versuchte gerade, Brittons Koffer zu öffnen, als der Direktor die Tür aufriß.

„Er kommt!“ rief er. „Verschwinden Sie!“

Es war zu spät. Britton war dicht hinter Cleveland geblieben.

Wilson jedoch bewies seine Geistesgegenwart und machte sich an dem Lichtschalter neben der Tür zu schaffen, schraubte den Deckel ab und sagte zu Cleveland, ohne den eintretenden Britton zu beachten:

„Der Schalter ist in Ordnung. Lassen Sie mir eine Trittleiter bringen.“

Cleveland atmete auf.

„Mr. Britton, die elektrische Etagensicherung ist durchgebrannt,“ meinte er. „Der Techniker hat hier nur kurze Zeit zu tun.“

„Er stört mich nicht,“ erwiderte Britton, der sowohl Edward Trablay als Verfolger bemerkt als auch geahnt hatte, daß man sein Zimmer durchsuchen würde.

„Ich reise morgen nachmittag ab, Mr. Cleveland, – mit dem Dampfer Satrapia. Halten Sie also meine Rechnung bereit. Mein Berliner Geschäftsfreund ruft mich nach Europa zurück. Er scheint da eine große Sache landen zu wollen. Die Konjunktur ist günstig. Der Dollar steht auf 303 und wird noch höher klettern.“

Dann schloß er seinen Koffer auf, nahm einen photographischen Apparat heraus und erklärte, er wolle jetzt die gestrigen Aufnahmen in der Dunkelkammer des Hotels entwickeln.

Als er verschwunden, machte Wilson sich sofort über den Koffer her. Britton hatte den Schlüssel stecken lassen.

Cleveland paßte im Flur vor der Tür auf. – Der Detektiv fand nichts Verdächtiges. Nochmals durchwühlte er das Bett, durchstöberte jeden Winkel des Zimmers.

„Ein ganz gerissener!“ murmelte er. „Aber ich kriege ihn! Man muß nur Geduld haben!“ –

Britton kehrte nach einer halben Stunde mit den entwickelten Films in sein Zimmer zurück. Der Techniker war verschwunden. Britton schloß die Tür ab und holte unter der Weste ein flaches Paket hervor, legte es in seinen Koffer und lächelte dabei. Das Paket enthielt zwei Perücken, falsche Bärte, Hautfärbemittel und ähnliches. Es hatte seit der verflossenen Nacht in der Dunkelkammer auf einem Regal hinter Flaschen gelegen. –

Nachmittags gegen sechs Uhr schritt Britton gemächlich dem Hafen zu, besichtigte die Kais, die Frachtdampfer und freute sich, daß er sehr bald zwei Chinesen herausgefunden hatte, die dauernd hinter ihm blieben. Er betrat nun das Warenhaus unweit des Viktoria-Docks und verließ es sofort wieder durch einen Seitenausgang, nachdem er in demselben Fahrstuhl erst bis zur fünften Etage und dann wieder abwärts ins Erdgeschoß gelangt war. – Wilson und Trablay war die Lifttür vor der Nase zugeschlagen worden. Sie merkten, daß Britton ihnen durch den alten Trick hatte entschlüpfen wollen und auch wirklich entschlüpft war.

Gegen sieben Uhr abends erschien dann bei dem fetten Lin Ting Mr. Morton, zahlte den Rest des Kaufpreises für den Wunderautomat, ließ ihn durch zwei Kulis nach einer Dampferexpedition schaffen und hier in eine große Kiste verpacken, die als Frachtgut nach Stettin an Mr. Mac Morton, Hotel Pommern, geschickt werden sollte.

Mr. Morton warf nachher, als er das Versteck der Jolle wieder erreicht hatte, seine Verkleidungsrequisiten in die Büsche und landete als Britton im Hafen, ging ins Hotel und aß auf der Terrasse zu Abend. Vier Tische weiter saß die ausgeplünderte Familie Knoox, die hier insgesamt Werte in Höhe von 450 000 Dollar eingebüßt hatte.

An ihrem Tische hatte heute jedoch noch ein anderer Herr Platz genommen, offenbar ein sehr guter Bekannter des Schweinegroßschlächters, da er mit diesem sehr vertraulich umging und auch die beiden Damen nicht minder zwanglos behandelte.

Britton dachte im ersten Augenblick: „Aha – das ist Hannibal Wilson mit Perücke und rötlichem Bart und ebenso künstlicher Fettschicht!“ – Dann aber sah er, daß dem Neuen die vorstehenden Oberzähne fehlten; dafür hatte dieser lauter Goldkronen im Munde. – „Es kann nicht mein Freund Hannibal sein!“ sagte sich Allan Britton daher und verlor jegliches Interesse für den Knoox-Tisch, zumal er sehr bald Mr. Trablay in einer lächerlichen Aufmachung als Schiffskapitän auf der Terrasse erscheinen und am Nebentische sich niederlassen sah. Mithin konnte der „Neue“ auch nicht von Trablay gemimt werden.

Am Knoox-Tisch erklärte der Schweinegroßschlächter jetzt, indem er die Stimme etwas sinken ließ:

„Gut, lieber Preendercroft, wir fahren also mit nach Berlin. Ich will dabei sein, wenn dieser Halunke, den Lizzie und Maud für einen Lord hielten, festgenommen wird.“

„Lieber Knoox,“ erwiderte Preendercroft, „vielleicht erübrigt sich die Reise auch. Britton und sein Gepäck werden morgen am Hafen von den Zollbeamten sehr scharf durchsucht werden. Irgendwo muß er doch die Juwelen verborgen haben, falls er sie nicht gerade heute nachmittag als Wertpaket per Post vorausgeschickt hat, was sich schwer feststellen läßt.“

Am nächsten Vormittag wußte Britton, daß Mr. Tobias Preendercroft ein[1] alter Freund der Familie Knoox war. Wenigstens hatte der Hoteldirektor dies beiläufig erwähnt. Er hätte dies lieber nicht tun sollen, besonders nicht einem Herrn von den vielseitigen Fähigkeiten Brittons gegenüber, denn Allan Britton dachte sofort: „Es ist doch Hannibal Wilson! Der Kerl trägt eben über den Goldzähnen noch ein künstliches Gebiß! Ein feiner Trick!“

Britton blies den Zigarettenrauch in die Luft und sagte zu Cleveland: „Ich möchte mir gern einen chinesischen Hund kaufen und mitnehmen. Könnten Sie mir einen Hundehändler empfehlen?“

Der Direktor, wie alle Leute seines Fachs allwissend, nannte Britton einen früheren Steuermann, der jetzt Hunde züchtete. – Britton dankte, verließ das Hotel und stellte fest, daß heute niemand ihm nachschlich.

„Aha – sie haben die Taktik geändert!“ lachte er still in sich hinein. „Sie wollen mich in Sicherheit wiegen und hoffen, ich werde so dämlich sein, die Juwelen an der Zollschranke der Gefahr einer Beschlagnahme auszusetzen!“

Er begab sich nicht zu dem Steuermann, sondern kaufte im Chinesenviertel einen nackten Hund von abschreckender Magerkeit, ging mit dem wandelnden Hundeskelett zu einem chinesischen Schneider und stellte diesem Bekleidungskünstler eine Aufgabe, die eben nur ein Chinese – sie sind ja durch Geschicklichkeit und saubere Arbeit berühmt – lösen kann.

Um 12 Uhr war der nackte Hund kein nackter Hund mehr, sondern eine Mischung von Pintscher, Pudel und Kolli. Das langhaarige Fell war so glänzend angepaßt und angenäht, daß der Betrug nur durch längeres Betasten entdeckt werden konnte. Am Bauche war unter das neue Fell eine Watteeinlage geschoben worden, die sich durch einen handbreiten Schlitz in der Bauchnaht entfernen ließ.

Als Britton mit diesem Hunde im Hotel erschien, fand Cleveland das Tier sehr hübsch. Britton ging an seinen reservierten Tisch in den Speisesaal, ließ sich ein warmes Gericht servieren und holte das Päckchen aus dem Sofa wieder hervor, das er nachher auf seinem Zimmer anstatt der Watte dem Hunde in den Bauch schob. Die Naht schloß er durch eine Sicherheitsnadel. Der Hund keuchte in seinem Überzug vor Hitze. Da er aber eine reichliche Mahlzeit erhielt, ergab er sich in sein Schicksal, als Schmugglertrick benutzt zu werden. Brittons Juwelen-Hund war eben durchaus nicht seine eigene Erfindung. Europäischen Zollbeamten sind derartige doppelhäutige Köter seit langem nichts Besonderes mehr. –

Britton beglich seine Rechnung, gab sehr anständige Trinkgelder und bat den Hoteldiener, den Hund auf den Dampfer zu führen, wobei er den Chinesen vor der Bissigkeit des Tieres warnte.

Bei der Zollrevision hatte er den Hund also gar nicht bei sich. Alles ging völlig glatt. Und Mr. Preendercroft und Familie Knoox mußten notgedrungen nun ebenfalls denselben Dampfer zur Reise wählen.

Abends 7 Uhr sah Britton die vier lieben Freunde im Speisesaal der Satrapia wieder. Er beachtete sie nicht.

„Dieser verdammte Lump!“ knurrte Preendercroft. „Er ist der Dieb! Ganz bestimmt! Ich habe heute vormittag im Gewebe des Teppichs seines Zimmers Feilspäne entdeckt. Er hat also doch einen Wachsabdruck von dem Schlüssel genommen.“ –

Britton hatte den Steward bestochen und konnte den Hund, den er Fox getauft hatte, in seiner Kabine behalten. Fox bekam wenig zu fressen. Er durfte ja nicht fett werden, sonst hätte ihm die zweite Haut den Erstickungstod bringen können. –

Am 2. Mai traf die Satrapia in London ein. Hier bestieg Britton nebst Hund und Gepäck nach glücklich überstandener Zollrevision ein Auto und ließ sich nach dem Hotel Excelsior fahren. Wenigstens rief er dem Chauffeur dieses Fahrtziel zu, was Mr. Preendercrofts Diener, in dem Britton längst Trablay wiedererkannt hatte, mit anhörte.

Als Trablay nachher im Excelsior nach Mr. Britton Ausschau hielt, war dieser bereits eine halbe Stunde nach Rotterdam unterwegs.

Preendercroft-Wilson sagte hierauf zu Familie Knoox: „Keine Sorge! Abends weiß ich, wo Freund Britton sich hingewandt hat.“ – Er renommierte nie, der tüchtige Hannibal Wilson. Er wußte abends wirklich, daß Allan Britton und Fox nach Holland abgedampft waren.

 

Zweiter Teil.

1. Kapitel.

Der Leser wird mir nicht den Vorwurf machen können, das Vorspiel in China irgendwie in sensationeller Weise durch die Art der Schilderung aufgeputzt zu haben. Ich werde mich auch weiter bemühen, die Ereignisse möglichst nüchtern darzustellen, was mir um so leichter wird, als ich seit meiner Hochzeit den Alkohol, weil zu teuer, abgeschworen habe. –

Am 2. Mai 1922 war die Satrapia in London eingetroffen. Genau vier Wochen früher, am 2. April, traf ich, Alfred Blenk, zum ersten Mal mit Perkeo zusammen. Und das kam so.

Die Mieten für ein möbliertes Zimmer waren für mich armen Teufel allmählich unerschwinglich geworden. Ich hatte also meine bescheidene Bude am 15. März gekündigt und gleichzeitig in einer Zeitung mit einer Riesenmenge von kleinen Anzeigen folgende Annonce eingerückt:

Solider Künstler sucht Mitbewohner für möbl. Zim. oder Erlaubnis zur Zimmermitbenutzung gegen kl. Dienstleistungen. Off. unter A. B. L. an die Exp. d. Bl.

Ich erhielt nur eine einzige Offerte, einen Brief, in dem mir ein Herr Siegfried Riese nahelegte, ihn zu besuchen. Er hätte eine kleine Mansardenwohnung, fühle sich einsam und wünsche Gesellschaft.

Ich machte mich also auf den Weg nach der Brandenburger Straße Nr. 211 in Wilmersdorf, dem westlichen Berliner Vorort. Vom Halleschen Tor war das zu Fuß eine kleine Tagereise. – Das Haus Nr. 211 präsentierte sich mir als eine neuere Mietskaserne inmitten kleinerer Villengrundstücke. Ich kletterte fünf Treppen empor, fand an der linken Mansardentür ein Messingschild „Siegfried Riese“ und läutete.

Dann kam die Überraschung.

Eine piepsende Stimme fragte von drinnen, wer ich sei und was ich wünsche.

„Mein Name ist Alfred Blenk. Ich bin der solide Künstler, der unter A. B. L. Zimmerbenutzung suchte.“

Ich hörte nun, wie zwei Sicherheitsketten entfernt wurden. Die Tür ging auf. Vor mir in dem halbdunklen kleinen Flur stand ein noch kleinerer Junge, der nun mit höflicher Verbeugung sagte:

„Bitte – treten Sie näher, Herr Blenk. Ich bin Siegfried Riese.“

Meine Überraschung war ebenso groß, wie dieser Riese klein war.

Ich merkte immerhin: Herr Siegfried Riese war ein Liliputaner, war ein Zwerg!

Er stieß die Tür gegenüber dem Eingang auf und machte eine einladende Handbewegung.

Ich trat ein. Ich befand mich zum ersten Male in einer Zwergenbehausung. Nachdem ich einen flüchtigen Blick über die Miniaturmöbel geworfen hatte, beeilte ich mich, Herrn Rieses mir zum Gruß entgegengestreckte Hand zu ergreifen.

„Sie gefallen mir,“ piepste er und schlenkerte mit dem etwas zu groß geratenen Kopf, wodurch er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte. „Für mich ist der erste Eindruck entscheidend, Herr Blenk. Sie haben ein offenes, sympathisches Gesicht. Ihre braunen Augen verraten eine heitere Lebensauffassung. – Setzen Sie sich bitte!“

Es gab in dem Zimmer zwei Stühle für Erwachsene. Wir nahmen am Tische Platz. Siegfried Riese bot mir eine Zigarre an. Dann erklärte er:

„Ich wohne hier seit acht Jahren. Ich selbst bin 35 Jahre alt. Früher reiste ich lange Zeit mit einer Truppe als Liliputaner in der ganzen Welt umher. Ich habe ein Vermögen erspart. Die Zinsen reichen jetzt nicht mehr so recht. Ich muß wieder arbeiten und wirke bei Filmaufführungen als kleiner Junge, kleines Mädchen oder sonstwie mit. Doch auch dieser Verdienst ist gegenüber der Teuerung gering. Ich will daher dort das Nebenzimmer an jemand vermieten, der auch gleichzeitig meine Mahlzeiten teilt. Ich koche tadellos.“

Mittlerweile hatte ich mich an diesen winzigen Siegfried mit dem faltigen Greisengesicht schon gewöhnt. Unsere Unterredung verlief zu beiderseitiger Zufriedenheit. Wir wurden einig, und nachmittags zog ich als neuer Mieter in das Haus Nr. 211 ein.

Bett, Tisch, Schrank und Waschtisch lieh Siegfried von dem Portier unseres Hauses. Mein Zimmer hatte nur ein Fenster, das nach der Seite hinausging. Ich sah in ein grünes Blättermeer hinab, aus dem eine zweistöckige Villa mit Schieferdach hinausragte.

Mit meinem Einzug war mein Schicksal besiegelt, denn am 1. April war jener Villa, die einem Rentier August Frommke gehörte, eine neue Wirtschafterin beschert worden. – Doch – eins nach dem andern. –

Siegfried Riese hatte zu Ehren meines Einzuges ein festliches Abendbrot hergerichtet: Bratkartoffeln, Sülze, Käse, Bolle-Margarine und Schrippen alias Brötchen. Wir taten den Magengenüssen alle Ehre an. Siegfried erzählte Schwänke aus seinem Leben. Er offenbarte mir bald seine Seele – die eines phantastisch veranlagten, halb verbitterten, halb mit überlegener, ironischer Daseinsphilosophie ausgestatteten Menschen von recht vielseitiger Bildung.

„Ich habe nur eine Sehnsucht, Herr Blenk,“ sagte er unter anderem. „Ich möchte reich sein, ungeheuer reich, etwa so wie unser Nachbar, der Rentier Frommke. Denn der besitzt, heißt es, gegen 300 Millionen. Besäße ich nur einen Teil davon, dann würde ich in der Lüneburger Heide ein großes Terrain ankaufen und eine richtige Liliputanerstadt gründen, wo wir dann nicht, wir Zwerge, von den taktlosen Mitmenschen ständig angeglotzt werden würden, wo wir –“ – Er spann diesen Traum mit allen Einzelheiten aus.

Jedenfalls: Siegfried Riese war ein Phantast, war aber auch ehrgeizig! Er wollte gern eine Rolle spielen, Bürgermeister von Liliputania werden und Einfluß gewinnen – wenn auch nur über seinesgleichen. Nach dem Festabendbrot spendierte Siegfried eine Flasche Rotwein. Wir hatten die Fenster seines Zimmers geöffnet. Unten im Frommkeschen Garten begann plötzlich – es war bereits dunkel – ein Käuzchen zu schreien.

Wer diese Käuzchenrufe kennt, liebt sie nicht. Sie haben etwas Unheimliches an sich. Der Volksmund sagt, wo ein Käuzchen dreimal schreit, gibt es eine Leiche.

Siegfried nahm denn auch wütend ein Stück Preßkohle und schleuderte es in den Wipfel einer Linde hinein. –

Am nächsten Morgen sah ich dann Ellinor zum ersten Mal drüben im zweiten Stock am Fenster ihres Zimmers.

Ich hatte meinen Rasierspiegel an den Knopf des einen Fensterflügels gehängt und mich gerade eingeseift, als sie dort auftauchte, sich hinauslehnte und ihr blondes Haupt von der Morgensonne bescheinen ließ.

Hinter der Gardine hervor beobachtete ich sie.

Wozu leugnen?! Ich fing sofort Feuer, mein Herz brannte lichterloh.

Ich ließ den Seifenschaum antrocknen; ich hatte nur Gedanken für die holde Maid da drüben. – Dann verschwand sie vom Fenster. Ich schabte die Bartstoppeln ab und schnitt mich verschiedentlich weil ich nicht achtgab. Mit Bluttupfern im Gesicht stürzte ich zu Siegfried in die Küche. Er mahlte gerade den Kornkaffee.

„Wer ist das blonde junge Mädchen, Herr Riese?“

Er drehte ruhig weiter. „Frommkes neues Wirtschaftsfräulein, Ellinor Blau mit Namen. Ich weiß es von unserer Portierfrau. Die weiß zwanzig Häuser in die Runde alles!“

Ellinor – Ellinor Blau! – Ich strahlte! Ellinor – ein köstlicher Vorname. „Blau“ ging an. Es erinnerte nur zu sehr an meine zwei sogenannten Studiensemester von einst.

Siegfried drehte und grinste. „Verlieben Sie sich nicht, Blenkchen!“

Ich hatte den Spiegel in der Linken und suchte die Rasierkratzer mit dem Schwamm weniger auffällig zu machen. Ich wurde rot, drehte mich um und meinte: „Will’s versuchen!“ –

Nach drei Tagen hatten Siegfried und ich Brüderschaft getrunken. Ich nannte ihn nur Perkeo, – nach dem berühmten Hofnarren Klemens Perkeo, der in Heidelberg lebte, trank und starb und den Viktor von Scheffel in dem bekannten Liede „Das war der Zwerg Perkeo“ besungen hat.

Und wieder nach acht Tagen sah ich, wie meine stille Liebe drüben am Fenster eines Abends ganz fassungslos weinte.

Auch Perkeo sah’s, denn er stand auf einem Stuhl.

„Frommke ist ein Ekel!“ sagte er. „Frau Bitter hat mir erzählt (das war die Portierfrau), daß Fräulein Blau Waise ist und früher bessere Tage kennengelernt hat. Sie wird nur der guten Bezahlung wegen die Stelle bei dem Scheusal von Schürzenjäger angenommen haben.“

Schürzenjäger! Das gab mir einen Stich ins Herz! – Ich hatte August Frommke erst zweimal zu Gesicht bekommen: ein Kerl mit einer fuchsigen Perücke, einem schwarz gefärbten, hochgebürsteten Schnurrbart, hellen Fischaugen, – die Gestalt noch straff, die Haltung stramm, kein Lot Fett zu viel, dazu geckenhaft eitel, gekleidet wie ein Jüngling von vierundzwanzig trotz der nahen sechzig: Herr August Frommke, Rentier, ehemaliger Besitzer der berühmten Latinia-Fleischkonservenfabriken in Argentinien! –

Und abermals nach drei Tagen morgens der erste schüchterne Gruß von meiner Seite, den Ellinor schüchtern erwiderte.

Nun an jedem Tage ein paarmal ein freundliches Neigen des Kopfes – für mich, nur für mich! Ich war selig!

Und der Mai kam, der Wonnemonat, der Frühling – endlich! Ja, endlich hatte der Wettergott sich auf seine Pflicht besonnen und spendete Wärme; endlich brauchte Perkeo nicht mehr die Öfen zu heizen.

Und da wurde ich eines Morgens durch das Dröhnen von Axthieben geweckt, eilte ans Fenster, lugte hinter der Gardine hervor in Frommkes Garten, hörte das Schnarren einer Blattsäge.

Dann krachte die erste Kastanie sterbend um!

Frau Bitter erzählte[2] mittags, Herr Frommke hätte deshalb den Garten lichten lassen, weil die Bäume das Haus zu sehr beschatteten. Er brauche Helle in seinen Museumsräumen im ersten Stock.

„Ja, lieber Fred,“ piepste Perkeo ergänzend, „er hat ein richtiges Museum: Gemälde, südamerikanische Altertümer, goldene Geräte aus der Inka-Zeit und ähnliche Dinge, die ein Schweinegeld gekostet haben und heute das fünfzigfache wert sind. Aber – an die Schätze kommt kein moderner Raubritter heran. Ne, Fred, schau’ Dir mal die Fenstergitter an! Und innen alles Eisentüren mit Patentschlössern und nachts die drei scharfen Doggen im Hause, außerdem die beiden Wächter der Wach- und Schließgesellschaft, die alle Viertelstunde die Kontrolluhren auf dem Grundstück stechen müssen!“

Wir standen am Fenster. Die Sonne schien in die breiten, vorhanglosen Museumsfenster hinein. Vier Fenster waren es. Ich konnte hohe Glasschränke sehen, in Reihen angeordnet; zwischen ihnen liefen Gassen hindurch.

Das war meine erste Bekanntschaft mit Frommkes Museum.

 

2. Kapitel.

So kam der 16. Mai heran. An diesem Tage ereignete sich eine ganze Menge.

Erstens – der Tag fing herrlich an – begegnete ich um 10 Uhr vormittags Ellinor, die mit einem Körbchen über dem Arm die Villa zu Einkäufen verließ.

Ich folgte. Mit Zittern und Zagen wagte ich es dann, sie anzusprechen. Sie hatte meinen Gruß ja so freundlich erwidert. Und sie sagte nicht Nein; ich durfte sie begleiten; ich hörte ihre Stimme, schaute ihr in die dunkeln Augen, trug ihr nachher das volle Körbchen. Fünf Pfund Spargel hatte sie geholt, die Frommke ganz allein vertilgte, wie Ellinor betonte.

Oh – was war Ellinor für ein süßes, liebes Geschöpf. Gewiß – ich war ja bisher kein Duckmäuser gewesen, war kein Neuling in der ars amandi, aber – so ein ganz „Ausgekochter“ war ich doch nicht. Im Gegenteil: meine vorletzte möblierte Zimmerwirtin, die fünfundvierzigjährige Witwe Hekuba Zwiebel, hätte mich beinahe vor den Standesbeamten geschleppt – beinahe! –

Aus dem Rückweg entdeckten wir beide gleichzeitig, daß in Nr. 215 ein bisher leer stehender kleiner Laden einen Mieter gefunden hatte. Über der Tür war ein Holzschild befestigt:

Edward Morton,

Antiquitäten.
An- und Verkauf.

„Wieder so ein verdammter Ausländer!“ brummte ich, und Ellinor nickte.

Dann blieb sie stehen. „Welch eigenartiges Schränkchen!“ sagte sie. „Sehen Sie nur, Herr Blenk, die wundervollen Elfenbeineinlagen, die geschnitzten Füße, die goldenen Drachen und Vögel!“

Der merkwürdige Schrank war mir höchst gleichgültig, denn ich dachte jetzt nur daran, daß in dem Nachbarladen im selben Hause der Schuhmacher Buchsbaum wohnte und daß meine Alltagsstiefel schon seit einer Woche mit klaffenden, bis auf die Brandsohle reichenden Mäulern nach neuen Sohlen schrien und daß das Plakat dort in Buchsbaums Schaufenster verkündete, Kernsohlen kosteten hier „nur“ 110 Mark – ohne Absätze!

110 Mark! Dafür konnte man früher ein Schuhgeschäft eröffnen!

Notgedrungen verabschiedete ich mich von Ellinor. Ich fragte, wann sie wieder fünf Pfund Spargel für Frommke hole.

„Jeden Tag gegen zehn Uhr,“ flüsterte sie und wurde rot. Sie reichte mir die Hand. Ich faßte mir ein Herz:

„Haben Sie es sehr schlecht bei Frommke, Fräulein Blau? Er soll so – so grob und zudringlich sein –“

„Oh – ich verstehe mir schon Respekt zu verschaffen!“ – Wie energisch das klang! Allerhand Achtung!

„Auf Wiedersehen!“ – „Auf Wiedersehen!“ und ich blickte der geschmeidigen Gestalt verliebt nach.

Dann warf ich noch einen Blick auf Mortons Schaufenster, in dem der sonderbare Schrank stand. Das war ohne Zweifel chinesische Arbeit. Das Ding würde einen netten Batzen Geld kosten!

Hierauf betrat ich Buchsbaums Laden. Der kleine, etwas bucklige Meister arbeitete allein – ohne Gesellen und Lehrlinge. Seine Frau half ihm. Sie war mit Frau Bitter eng befreundet.

Buchsbaums Arbeitstisch stand am Schaufenster. Er lud mich zum Platznehmen auf dem freien Schusterschemel ein. Wir verhandelten über den ziemlich teuren und daher hoffnungslosen Fall meiner Stiefel.

Buchsbaum war kein Nepper.

„Gummihacken, Gummisohlen, zusammen 40 Mark,“ meinte er wohlwollend. „Die schlage ich Ihnen sofort unter.“

Ich entblößte meine selbstgestopften Socken. Und er schlug unter und plauderte.

Schuster sind Philosophen. – „Es gibt verrückte Menschen,“ sagte er „Sehr verrückte. Zum Beispiel mein neuer Nachbar, der Morton, der Engländer. Er spricht aber auch tadellos deutsch. Hat der Mann da vorgestern, als er einzog, einen schwarzen Hund mitgebracht, so ’ne Promenadenmischung, langhaarig. Und – gestern hat er den ganzen Köter rasiert! Stellen Sie sich vor, Herr Blenk, – rasiert! Nun läuft das arme Vieh nackt herum und zittert beständig. Fox heißt er, der Hund, Fox! Sieht ulkig aus! Ja – es gibt wirklich verrückte Menschen.“

Morton und Fox interessierten mich gar nicht. Denn draußen vor Mortons Schaufenster hatte jetzt Herr Frommke im neuen Frühjahrsanzug, braunen Schuhen, Krempelhosen und Seidenstrümpfen halt gemacht und beschaute den chinesischen Schrank.

Buchsbaum schnitt ein finsteres Gesicht.

„Das ist einer!“ brummte er. „Ein ganz Schlimmer! Aber das Blondchen hat’s ihm gezeigt!“

Er lächelte mich vertraulich an. Er hatte Ellinor und mich sicher beobachtet. „Eine Ohrfeige soll sie ihm gegeben haben!“ fügte er hinzu. „Das Stubenmädchen vom Frommke hat’s meiner Frau erzählt, – eine Ohrfeige! Das hat ihm imponiert. Da hat er ihr das Gehalt erhöht. Ja, man muß Menschen zu behandeln wissen!“

Frommke stelzte weiter. Aber er drehte sich nochmals nach dem Schranke um; der schien ihm zu gefallen. Er wollte nur nicht sofort, dachte ich, Morton nach dem Preise fragen, wollte erst Tage vergehen lassen, denn ein rascher Käufer zahlt doppelt.

Frommke stelzte. Er war schon etwas steif in den Knien. Und Buchsbaum murmelte was von „Neue Beene einziehen!“ –

Ich berappte meine vierzig Mark und ging heim. Ich ging auf Gummi, federnd, geräuschlos und billig. Ich war mit der Versohlung durchaus zufrieden.

Ich schloß unsere Flurtür auf. Gestern hatte ich Schloß und Angeln geölt. Die Tür war nicht zu hören. Aber ich hörte in Perkeos Zimmer sprechen.

Er hatte Besuch?! – Wahrscheinlich einer vom Film. Ich betrat mein Zimmer, dessen Tür nur angelehnt gewesen. Und blieb stehen, weil Perkeo drüben gerade piepste:

„Herr Gott – so viel Geld!“

„Ja – wenn etwas daraus wird, Herr Riese!“ sagte ein Baß.

„Und wohin?“ sagte Perkeo.

„Nach Amerika, Filmgesellschaft Smart. Sie sind eben zur Zeit der kleinste Zwerg, Herr Riese. Morgen komme ich wieder, oder übermorgen. Dann gebe ich Ihnen endgültig Bescheid.“

Der Besucher empfahl sich. –

Perkeo wunderte sich sehr, daß ich daheim war. Ich zeigte ihm die Gummisohlen.

„Du,“ sagte er und schlenkerte mit dem Kopf. „vielleicht werde ich für ein halbes Jahr nach Amerika als Flimmerzwerg engagiert – monatlich 1000 Dollar, freie Reise, freie Verpflegung! Du – tausend Dollar sind heute 299 000 Mark – Lappenmark! Du, dann kaufe ich Dir einen Anzug, Fred. Mit Krempelhosen – wie Frommke; dann wird Ellinor Dir von selbst in die Arme sinken.“

„War der Herr ein Amerikaner?“

„Deutschamerikaner namens Schmidt – Georg Schmidt, Agent für alles, was Geld abwirft.“

Perkeo rannte im Zimmer auf und ab. „Stell’ Dir vor: 299 000 Mark monatlich! Das sind für ein halbes Jahr über anderthalb Millionen! Du – da kriegt man schon ein Stück Lüneburger Heide für, und Bauholz und Ziegelsteine!“ Er schwärmte abermals von seiner Gründung.

Harmloses Gemüt! Anderthalb Millionen! Wo der Ziegelstein etwa zwo Mark pro Stück kostet und jeder Maurer ungefähr so viel verdient, wie früher ein halbes Dutzend Minister! –

Das war am Vormittag gegen ¾12. Perkeo ging dann aus. Er wollte etwas für uns zum Mittagessen einkaufen. Ich setzte mich an die Arbeit und entwarf ein Plakat für die neue Suppenwürze Appetita. Sehr bald schrillte jedoch die Flurglocke.

Das war fraglos Frau Bitter. Die klingelte immer so energisch. Es war aber nicht Frau Bitter, sondern (ich knickte beinahe in die Knie vor Schreck!) sondern Herr August Frommke, der natürlich mich zur Rede stellen wollte, weil ich mit Ellinor angebandelt hatte. Ich irrte mich. Frommke war außerordentlich liebenswürdig, nahm in meinem Zimmer Platz und erklärte dann:

„Herr Blenk, ich habe durch meinen alten Diener erfahren, daß Sie jetzt hier bei Herrn Siegfried Riese wohnen. Ihre Geburtsstadt ist doch Danzig, nicht wahr?“ – Als ich bejahte, reichte er mir die Hand und markierte eine gewisse Rührung in Miene und Stimme. „Herr Blenk, Ihr seliger Vater und ich waren Jugendfreunde –“

Er kramte eine Menge Erinnerungen an seine Schulzeit aus, die mir zum Teil nicht fremd waren, da mein Vater sie mir häufig erzählt hatte. Es mußte also wohl stimmen, daß Frommke ebenfalls das Franziskaner-Gymnasium in Danzig besucht und meinen Vater gekannt hatte.

Dann sagte er, daß er sehr gern etwas für mich tun würde, falls es mir an Empfehlungen mangele.

Ich erklärte, ich hätte mein bescheidenes Auskommen, und das genüge mir. – Frommke als mein Mäcen – noch besser! Lieber hungern!

Und nun rückte er so allgemach mit dem von mir rasch durchschauten wahren Zweck seines Besuches heraus.

Er hätte da heute früh im Schaufenster des neu eröffneten Antiquitätenladens einen Schrank bemerkt, der vielleicht für sein Museum passe. Wenn er nun selbst hinginge und nach dem Preise frage, würde der doch fraglos sehr geriebene Händler unverschämt viel fordern.

Kurz und gut: ich sollte für ihn den Schrank kaufen, falls er nicht zu teuer wäre, und er wollte mir dann gern tausend Mark Vermittlerlohn zahlen.

Tausend Mark! Das lockte. Frommkes Schürzenjägerei erschien mir in milderem Lichte, zumal ich jetzt sehr wenig Aufträge als Zeichner hatte und, wenn diese stille Zeit anhielt, sehr bald gänzlich pleite sein mußte. Der Kampf in meinem Innern war kurz. Ich sagte zu. Frommke gab mir noch allerlei Winke, wie ich mich bei Edward Morton verhalten solle. Diese Winke bewiesen mir, daß Frommke ein kolossal gerissener Geschäftsmann gewesen sein müsse. Unter anderem bat er mich auch, Perkeo gegenüber von dieser Sache besser zu schweigen. Dann verabschiedete er sich. –

Nachmittags um fünf stand ich vor Mortons Schaufenster. Die Ladentür war offen. Auf der Schwelle saß der nach Buchsbaums Ansicht rasierte Fox. Ich bin Hundekenner. Ich sah sofort, daß dies keine Promenadenmischung, sondern ein nackter Hund war, wie sie in Ostasien, besonders in Japan und China, als besondere Rasse vorkommen.

Ich wunderte mich. Der Hund sollte langhaarig gewesen sein?! So ein Blödsinn!

Ich rief freundlich: „Fox – komm’ mal her!“ und klopfte leicht auf meinen Schenkel. Fox kam auch, wedelte freundlich mit dem nackten Schlangenzagel und ließ sich streicheln.

Nun wußte ich es genau: Fox war ein Ostasiate! – Ich wollte doch mal später mit Meister Buchsbaum diese Rasierfrage nochmals erörtern, denn da stimmte irgend etwas nicht.

Ich betrat Mortons Laden. Fox ließ mich ein. Wir hatten ja bereits Freundschaft geschlossen. Der Laden war klein und enthielt recht wenig Antiquitäten. Was ich sah, war wertloser Plunder.

Herr Morton befand sich wohl im Nebenzimmer. Er hatte infolge meiner Gummibesohlung mich nicht gehört. Dafür hörte ich hinter der Tür Stimmen.

„Du weißt also Bescheid, Willi,“ sagte jemand. „Ich habe für so was ’n feinen Riecher. Der Kerl will uns neppen.“

Der Sprecher mußte ein Berliner sein.

Ich wollte nicht länger den Horcher spielen und hüstelte sehr kräftig. Die Tür wurde aufgerissen, und ein buckliger Mensch mit rötlichem Haar und Bart streckte den Kopf durch die Spalte, zwängte sich ganz hindurch und fragte nach meinen Wünschen in ziemlich gutem Deutsch. Als er mir dann den Schrank zeigte, war ich recht enttäuscht. Es war kein Schrank, sondern ein kaputter chinesischer Automat. Morton nannte ihn den Wunderautomat Ming Tschuan.

Immerhin: das Ding war hübsch von außen und eine Rarität! – Es sollte 10 000 Mark kosten.

Ich fragte, ab der Mechanismus sich nicht reparieren ließe.

„Nein, das ist ganz unmöglich Es ist schon in China von einem Künstler versucht worden. Es fehlen bereits Teile des Mechanismus. Hier in Europa gibt es auch niemand, der sich auf derartiges versteht. Ich hätte den Automat sonst schon selbst in Ordnung bringen lassen, weil ich dann dafür eine halbe Million fordern könnte.“

Ich erklärte Morton, daß ich ihm morgen vormittag Bescheid sagen würde, ob ich den Ming Tschuan erwerben wolle. Morton entgegnete, bis morgen würde der Automat wohl kaum einen anderen Liebhaber finden. –

Ich ging heim. Ich dachte erstens an den rätselhaften Hund und dann an Mortons Bekannten, von dem ich nur die Stimme gehört hatte.

Hm – diese Stimme kannte ich doch! fiel mir jetzt ein. Wo hatte ich sie nur schon vernommen – wo nur?! – Ich kam nicht darauf.

Um halb sieben, als Perkeo wieder Einkäufe erledigte, ging ich in die Nachbarvilla zu Frommke. Mir klopfte ordentlich das Herz. Vielleicht sah ich Ellinor. Aber – ich sah sie nicht.

Frommke war fürstlich eingerichtet, bot mir eine tadellose Zigarre[3] an und gab mir zehn Tausendmarkscheine.

„Was Sie von dem Preise abhandeln, lieber Blenk, gehört Ihnen,“ meinte er.

Von Vermittlergebühr kein Wort mehr! So ein geiziger Filz!

Freund Perkeo, dem ich nun mitteilte, wie ich Frommkes Bekanntschaft gemacht und daß ich den Jugendgespielen meines Vaters bereits besucht hatte, gratulierte mir.

„Mensch, hast Du Glück!“ zwitscherte er. „Pumpe ihn doch an!“

Ich spielte den Gekränkten. „Von einem Menschen, den Ellinor geohrfeigt haben soll, nehme ich nicht einen Pfennig!“

„Dann nimm ihm Ellinor wenigstens weg!“ kicherte der Zwerg Riese.

„Oh – das ist eine andere Melodie!“ meinte ich lächelnd. „Vielleicht geschieht es wirklich mal, wenn ich Frau und Kind ernähren kann.“

So schloß dieser denkwürdige Tag.

 

3. Kapitel.

Am nächsten Vormittag faßte ich Ellinor glücklich ab, als sie wieder Spargel einkaufen ging. Wir waren heute schon vertrauter miteinander. Sie erzählte mir, daß Frommke am 23. Mai für eine Woche auf sein Gut nach Pommern reise. Ich war selig. Eine Woche! Oh – diese Zeit sollte wonnevoll werden; da konnte ich Ellinor vor- und nachmittags sehen.

Als ich Ellinor um halb elf Lebewohl sagte, war ich noch verliebter als bisher. Ellinor erwiderte meinen Händedruck ganz zart, und mit hochrotem Kopf betrat ich Meister Buchsbaums Laden.

Der Schuster fragte gleich: „Spickt Sie ein Nagel der Gummisohle, Herr Blenk?“

Ich verneinte, nahm auf dem Schemel Platz und sagte, ich würde ihm demnächst auch meine Sonntagsstiefel bringen. – Das war jedoch Schwindel. Ich wollte ganz was anderes: unauffällig über den rasierten Fox reden!

Ich begann: „Gestern habe ich nun auch den rasierten Hund gesehen. Herr Buchsbaum. Hm – hat der Fox wirklich vorgestern noch einen Pelz gehabt? Vielleicht war es ein anderer Hund.“

„Ne, es war der selbichte, Herr Blenk. Ich habe ja den Morton ihn „Fox“ rufen hören, und außerdem hat der Fox genau dasselbe Bellen an sich wie der unrasierte Fox. Auch die Größe stimmt.“

In diesem Augenblick erschien Frau Buchsbaum im Laden – krebsrot, wütend – Buchsbaum war hier gleichzeitig Portier, muß ich noch bemerken.

„Du, Mann,“ schimpfte sie, „beim Morton war doch das Rohr verstopft im Kämmerchen! Na, als ich nu soeben mit ’n Haken nach die Ursache rumstocherte, wat ziehe ich da vor: Stücke von ’n altes Fell! Du, das mußt Du dem Morton verbieten! Das Abflußrohr ist kein Müllkasten! Ich selbst will ihm das nicht sagen. Die Sache ist zu schenierlich!“

Meister Buchsbaum war gleichfalls wütend.

Ich aber war plötzlich der reine Detektiv geworden.

„Wohl ein Kaninchenfell,“ warf ich gleichgültig hin.

„Ne – ’s war ’n schwarzes Fell, Schaf oder so was!“

„So – so –“ – Ich sagte dem Ehepaar noch, daß ich Mortons Benehmen gleichfalls empörend fände, und ging – zu Morton.

Ich hatte von Frommke manches gelernt. Ich zeigte mich smart und – handelte 1250 Mark von dem Preise für Ming Tschuan ab, zahlte also 8750 Mark und ließ mir eine Quittung geben.

Morton war sehr erstaunt, als ich ihm dann erklärte, er solle den Wunderautomaten zu Herrn Frommke nach Nr. 211 schaffen lassen.

„Sie scheinen bei dem Geschäft ebenfalls verdient zu haben,“ meinte er bissig. „Nun – meinetwegen! Ich werde die Elfenbeineinlagen noch säubern und den Automat dann morgen früh um neun Herrn Frommke zusenden.“ –

Von Morton begab ich mich zu Frommke. Ich teilte ihm ehrlich mit, daß ich 1250 abgehandelt hatte. – „Sehr tüchtig!“ nickte er. „Lieber Blenk, wir können beide zufrieden sein!“ – Leider bekam ich Ellinor nicht zu Gesicht

Gegen halb eins mittags betrat ich wieder unsere Wohnung. Perkeo hatte Besuch, der jedoch sehr bald sich verabschiedete. Im Flur sagte der Mann recht laut: „Also um sechs Uhr auf dem Lehrter Bahnhof, Herr Riese, – pünktlich! Ein D-Zug wartet nicht. Sonst können Sie hinterher laufen!“

Ich stutzte: diese – diese Stimme! Ja – das war die des Agenten Georg Schmidt! Aber auch die des Menschen, der im Hinterzimmer von Mortons Laden gestern irgend jemand mit Willi angesprochen und von Neppen geredet hatte! Mithin war Georg Schmidt bei Morton gewesen; sie kannten sich; und Morton wieder hatte einen Hund durch ein Fell künstlich in eine langhaarige, schwarze Promenadenmischung verwandelt gehabt, das Fell dann zerschnitten und dorthinein geworfen, von wo Frau Buchsbaum es hinausgeangelt hatte! Dieser Morton war deshalb für mich eine etwas rätselvolle Persönlichkeit. Und – wer mit Morton verkehrte, war auch so etwas rätselvoll. Mithin erschien es mir zweckmäßig, Perkeo nichts von dem Fell, von Fox und von Georg Schmidt mitzuteilen. –

Perkeo kam jetzt ganz blaß vor Aufregung in mein Zimmer getrippelt.

„Du – der Kontrakt für Amerika ist unterschrieben,“ kreischte er förmlich. „Heute nach reise ich mit Schmidt ab, der soeben bei mir war –“

Nein – war Perkeo nur erregt! Er zitterte, konnte kaum sprechen.

Dann griff er in die Tasche, zog fünf Tausendmarkscheine hervor.

„Fred – die erste Rate des ersten Monatsgehalts! Da – ich schenke Dir tausend Mark! – Mach’ keine Geschichten, nimm’s! Es wird gern gegeben!“ –

Mittags schlemmten wir in Spargeln, Kalbsschnitzel und Rotwein. Es war das Abschiedsouper. Dann half ich Perkeo packen. Zwei Koffer nahm er mit. – Um fünf Uhr fuhren wir zur Bahn, wo ich nun auch Herrn Georg Schmidt kennenlernte, einen glatt rasierten Herrn mit verwaschenen Augen ohne besondere Kennzeichen.

Schmidt hatte bereits die Fahrkarten besorgt. Ich wartete, bis der D-Zug nach Hamburg abdampfte, winkte noch mit dem Taschentuch; Perkeo desgleichen aus dem Kupeefenster. –

Nun war ich also bis auf weiteres Alleininhaber der Mansardenwohnung, richtete mir nach meiner Heimkehr vom Lehrter Bahnhof Perkeos Stube als Arbeitszimmer ein und wurde hierbei durch das Läuten der Flurglocke gestört.

Ich öffnete. Vor mir stand ein ärmlich gekleideter älterer Mann, der nur einen Arm hatte, den rechten. Der linke Ärmel war leer.

Der Mann bot mir Hosenträger, Schnürsenkel, Kragenknöpfe und anderes an. Seine Waren trug er in einem Pappkarton bei sich.

Der Alte sprach recht gebrochen Deutsch, stotterte stark und sah kränklich aus. Sein rechtes Auge war mit einem schwarzen Pflaster verdeckt. Er trug eine Stahlbrille, hatte einen ungepflegten, langen, grauen Vollbart und sehr dünnes Kopfhaar.

Er suchte mein Mitleid dadurch zu erregen, daß er mir seine traurigen Schicksale erzählte. Er war Kurländer, hatte wegen politischer Intrigen fliehen müssen und war jetzt ein Geächteter, den seine politischen Gegner zu ermorden suchten.

Mitten in dieser Schilderung seines jetzigen kläglichen Hausiererdaseins schwankte er plötzlich wie ein Trunkener und sank mir bewußtlos in die Arme, kam jedoch sofort wieder zu sich. Ich nahm ihn in die Wohnung hinein, reichte ihm ein Glas Rotwein und erfuhr dann weiter, daß er jede Nacht im Asyl für Obdachlose schlafe. Er zeigte mir auch Papiere, die bestätigten, daß er Raoul Kerkhoven hieß und neunundfünfzig Jahre alt war.

Ich merkte, ich hatte einen gebildeten Mann vor mir. Er tat mir leid. Ich gab ihm zu essen, und da ich stets ein mitfühlendes Herz gehabt habe, bot ich ihm mein Zimmer als Nachtquartier an.

Er weinte fast vor Rührung. „Sie sollen’s nicht bereuen, Herr Blenk,“ sagte er stotternd. „Ich werde Ihnen alles sauber halten. Ich, bin ein ehrlicher Mensch, wenn auch ein Unglücklicher –“ –

So wurde Raoul Kerkhoven, ehemals Gutsbesitzer in der Nähe von Riga, mein heimlicher Gast. Denn anmelden durfte ich ihn nicht – seiner Feinde wegen! – Er blieb gleich bei mir. Wir saßen gegen halb zehn in Perkeos Zimmer und rauchten, unterhielten uns und sprangen zwanglos von einem Gesprächsthema aus das andere über. Kerkhoven erzählte, wie ihm vor einem Jahr hier in Berlin seine letzten Wertsachen durch zwei Gauner gestohlen worden waren, von denen der eine sich als Gutsbesitzer ausgegeben und, um dies wahrscheinlicher zu machen, einen Hund bei sich gehabt hatte, einen –

„– chinesischen nackten Hund, Herr Blenk,“ sagte er. „Seit dem Tage mußte ich hausieren gehen. Aber – ich hoffe noch immer, einmal diesem Spitzbuben zu begegnen, den ich dann vielleicht durch den Hund – Fox hieß er – wiedererkennen würde. Der Gauner muß mir dann den Wert der damaligen Beute zurückerstatten, sonst übergebe ich ihn der Polizei!“

Ich stierte den Alten geradezu wie hypnotisiert an.

„Herr Kerkhoven – Fox sagten Sie, Fox?!“ meinte ich flüsternd.

„Nun ja, Herr Blenk, Fox ist ein sehr beliebter Hundename –“ –

Ah – nun hatte ich ja einen Menschen gefunden, der für den nackten Fox ebenfalls Interesse hatte! Nun konnte ich Kerkhoven getrost das anvertrauen, was ich über Fox, Morton und die Rohrverstopfung wußte. Kerkhoven hörte gespannt zu. Hin und wieder streute er eine Frage ein. Er war ein Mann von logisch geschultem Verstand. Das bewiesen mir diese Fragen. Auch Georg Schmidt wurde von mir erwähnt, ebenso der Wunderautomat.

Kerkhoven erklärte dann: „Herr Blenk, dieser Morton ist ohne Zweifel mit „meinem“ Diebe identisch. Wir wollen ihn im Auge behalten. Wer weiß, was der Gauner mit Hilfe des Hundes berissen hat, der doch fraglos in ein Fell eingenäht gewesen ist. Und wer weiß, was Morton nun hier in der Brandenburger Straße wieder plant!“

„Gut – machen wir!“ nickte ich. „Dieses Beobachten Mortons ist ganz nach meinem Geschmack.“ –

Am nächsten Tage gegen halb zehn Uhr vormittags brachte dann Morton mit Buchsbaums Hilfe den Automat Ming Tschuan zu August Frommke. Ich wohnte dem Transport bei und bekam so Frommkes Museum zu sehen, wo der Schrank in das eine Museumzimmer neben einem aus Ton gebrannten, reich vergoldeten Inka-Thronsessel aufgestellt wurde.

Lieber wäre mir gewesen, ich hätte Ellinor zu sehen bekommen. Wäre sie im Museum gewesen, hätte ich den goldenen altertümlichen Geräten und den Goldmünzen aus Mexiko und Peru keinen Blick geschenkt. – Frommke war ganz entzückt über den kaputten Automat, befühlte die Räder, die Drähte und Walzen, betastete die Figur des Zauberkünstlers und freute sich kindisch über die unanfechtbare Echtheit dieser seltenen chinesischen Mechanikerarbeit.

Heute konnte ich Ellinor nicht auflauern, denn Frommke ließ mich erst gegen elf Uhr wieder los. Zu Hause fand ich im Briefkasten eine Postkarte von Perkeo aus Hamburg vor. Der Postbote, dem ich auf der Treppe begegnet war, hatte mich darauf aufmerksam gemacht, daß „etwas für mich da sei“.

Perkeo schrieb: „Mein lieber Fred! Glücklich hier angelangt. Dampfer Holsatia geht morgen ab. Habe in Waschtischschublade noch meine Krawattennadel vergessen (Perle mit zwei Smaragden). Da Andenken, hebe sie mir gut auf. Schmidt läßt grüßen. Herzlichst Dein Siegfried Perkeo Riese.“

Ich las die Karte schon im Flur. Als ich mein Zimmer betrat, mein jetziges, das zweifenstrige, saß Raoul Kerkhoven am Tisch und – schälte Spargel, wobei er – ein Grund zum Wundern! – zwei Hände als „Einarmiger“ benutzte.

„Sie sehen, Herr Blenk,“ sagte er lächelnd, „der fehlende Arm war nur eine Vorsichtsmaßregel, damit meine Feinde mich nicht so leicht wiedererkennen sollten.“ Er lächelte traurig.

„Dann ist wohl auch Ihr rechtes Auge ganz gesund, Herr Kerkhoven?“ fragte ich.

„Vollkommen, Herr Blenk. – Sie könnten mir einen Gefallen tun. Haben Sie noch die Quittung, die Morton Ihnen gestern über die 8750 Mark gegeben hat? Zeigen Sie mir die Quittung doch einmal. Ich besitze nämlich eine Löschblattunterlage, die den Abdruck eines Telegramms enthält, das jener Gauner mal geschrieben hat, der sich als Gutsbesitzer ausgab. Ich möchte die Schrift vergleichen.“

Ich nahm die Quittung aus meiner Brieftasche heraus und Kerkhoven holte seinerseits ebenfalls eine Brieftasche hervor, ein sehr elegantes Ding.

Dann klappte er sie auf und lächelte mich wieder an, hielt mir einen Ausweis aus grauem Leinenpapier hin – mit abgestempelter Photographie eines bartlosen Herrn mit weit vorstehenden Oberzähnen, – einen englischen Ausweis für den Privatdetektiv Hannibal Wilson, ausgefertigt von der Polizei in Viktoria-Hongkong.

Ich staunte noch mehr. Kerkhoven schälte einen, dicken Spargel.

„Sie sind dieser Hannibal Wilson?“ fragte ich zögernd.

„Ja, Herr Blenk, der bin ich. Sie werden ein glänzendes Geschäft machen, wenn Sie mich weiter bei sich verbergen. Die Sache ist die: Morton hat in Hongkong dem amerikanischen Multimillionär Knoox Juwelen im Werte von –“

Und nun erfuhr ich einen Teil dessen, was ich hier als „Ein Vorspiel in China“ niedergeschrieben habe.

„Britton-Morton hat also die Juwelen mit Hilfe des doppelhäutigen Fox durch die Zollkontrolle geschmuggelt,“ fügte Hannibal hinzu. „Ich aber will sie ihm wieder abjagen. Er hat sie irgendwo jetzt versteckt. Dies Versteck herauszufinden, wird nicht ganz leicht sein. Helfen Sie mir dabei. Sie bekommen 1000 Dollar, falls wir Erfolg haben.“

Ich war bisher mit Detektiven und Verbrechern nur in Romanen mit packenden Umschlagbildern zusammengekommen. Nun saß da ein leibhaftiger, verkleideter Privatdetektiv vor mir und schälte die Spargel, die ich morgens um halb neun von einer Frau an der Flurtür recht billig und gut gekauft hatte.

„Gern, sehr gern!“ rief ich. „Herr Wilson, ich habe ein fabelhaftes Interesse für Ihren Beruf. Verfügen Sie ganz nach Belieben über mich! Ich glaube sogar, daß ich mich zum Detektiv eigne. Die Geschichte von dem rasierten Fox und der Rohrverstopfung habe ich doch auch durchschaut.“

„Das haben Sie. Nur heute früh haben Sie nicht gemerkt, daß die Spargelfrau mein Gehilfe Trablay war und daß in den billigen Spargeln sich ein Briefchen für mich befand. Trablay ist nämlich gestern im selben Zuge Herrn Georg Schmidt nach Hamburg gefolgt, weil Schmidt eben der Mann ist, an den Britton-Morton aus Hongkong die Depesche sandte, deren Abdruck ich hier auf dem Löschblatt habe,“ – er entnahm das zusammengelegte Löschblatt der Brieftasche – „und der vorher von Schmidt ein Telegramm folgenden Inhalts empfangen hatte: „Besseres Geschäft in Aussicht. Sofort zurückkehren. Schmidt.“ – Diese Depesche nun, in der von einem „besseren“ Geschäft die Rede ist, hat Britton nicht davon abgehalten, noch schnell das „weniger gute“ Juwelengeschäft bei Familie Knoox zu erledigen. Das „bessere“ aber dürfte sich in Vorbereitung befinden, und das Opfer soll fraglos Herr August Frommke werden.“

Hannibal Wilson schälte bereits seinen nächsten Spargel, sprach ununterbrochen weiter:

„Diese großzügigen Gauner haben es auf Frommkes Museum abgesehen. Der Automat sollte einem von ihnen, eben dem nun hier als Kaufmann auftretenden Britton Gelegenheit geben, sich in Frommkes Villa umschauen zu können. Dies ist ja auch gelungen. Vielleicht hat Britton-Morton es sogar fertig gebracht, von den Schlössern der eisernen Türen Wachsabdrücke zu nehmen.“

„Oh – diese Halunken!“

„Herr Blenk, es sind Halunken, aber auch meine Brotgeber. Was sollten wir Detektive anfangen, wenn die Verbrecher mal in einen Dauerstreik treten würden?! – Scherz beiseite: wir haben eine doppelte Aufgabe, die Knooxschen Juwelen zu finden und den neuen Streich Brittons zu verhindern. – Beschäftigen wir uns jetzt mal mit Georg Schmidts Person. Er ist tatsächlich Agent. Die hiesige Polizei ahnt, daß er dunkle Dinge nebenbei treibt. Er ist jedoch nicht zu fassen. Gestern nun fuhr er also mit Siegfried Riese nach Hamburg. Weshalb hat er den Zwerg, dem er doch offenbar dies gute Engagement wirklich verschafft hat, bis Hamburg begleitet, und weshalb ist er dann sofort mit dem Nachtzuge nach Berlin zurückgekehrt? – Hier ist der Brief der „Spargelfrau“ Trablay. Er lautet:

„Die beiden stiegen in Hamburg im Hotel Hansa ab, nahmen ein gemeinsames Zimmer und ließen sich dort Abendbrot servieren. Um Mitternacht fuhr Schmidt allein zum Bahnhof und dann nach Berlin zurück. Hier verstand er es, mir morgens ½7 Uhr zu entwischen obwohl nichts mir verriet, daß er mich als Verfolger bemerkt hätte.“

Wollte denn Schmidt mit dem Zwerge ursprünglich nach Neuyork reisen, Herr Blenk?“

„Nein,“ erwiderte ich nachdenklich „Schmidt sagte zu mir auf dem Lehrter Bahnhof, daß er in Hamburg etwas zu erledigen hätte. – Vielleicht hat Schmidt die Knooxschen Juwelen dorthin gebracht, Herr Wilson.“

„Ausgeschlossen! Dagegen spricht so vieles, daß ich hiermit nicht rechne.“

„Mir fällt da soeben ein,“ erklärte ich lebhafter, „daß Schmidt im Hinterzimmer des Brittonschen Ladens jemand mit Willi anredete.“ Ich schilderte dies genauer.

Hannibal Wilson blickte mich an. „Herr Blenk, dann war es eben Britton-Morton, den Schmidt „Willi“ nannte. Über Brittons Persönlichkeit weiß ich bisher so gut wie nichts. Britton wird eben gleichfalls Deutscher sein. Sie könnten mal zu Buchsbaum gehen, und den Meister und seine Frau ausfragen, wer bei Morton verkehrt. Portierleute sind neugierig und spionieren stets gern.“

„Gut, machen wir, Herr Wilson! – Was gedenken Sie nun zum Schutze des Frommkeschen Museums zu tun?“

Ich griff nach dem Hut, und Hannibal erwiderte:

„Trablay bewacht Britton und Schmidt. Nachts werde ich Frommkes Villa beobachten. Wir werden die Gauner so hoffentlich bei der Arbeit überraschen können. Im übrigen habe ich in erster Linie das Versteck der Juwelen zu erkunden. Howard Knoox hat mir 50 000 Dollar versprochen, falls ich Britton die Beute wieder abjage.“ –

Ich traf Buchsbaum wie immer bei der Arbeit an, packte meine Sonntagsstiefel aus und begann von dem Automaten zu sprechen, den der Meister ja zu Frommke tragen geholfen hatte. Auf diesem Umwege kam ich auf Edward Mortons Person und fragte, ob er denn wohl hier in Berlin nähere Bekannte habe.

„Keine Ahnung,“ erklärte Buchsbaum. „Nur ein und denselben Herrn habe ich nun schon dreimal den Laden betreten sehen – son Schlanker mit blondem Spitzbart und goldenem Kneifer. Heute früh hat Morton anscheinend wieder neue Antiquitäten bekommen. Ein Dienstmann kam gegen halb acht mit ’n Auto vorgefahren und brachte ’n mächtigen Koffer.“

Mir gab es einen gelinden Ruck – Um halb acht! Ob der Dienstmann etwa Georg Schmidt gewesen war?

„Nach fünf Minuten fuhr der Dienstmann ohne den Koffer wieder davon,“ sagte Buchsbaum noch.

Meine Gedanken leisteten jetzt recht ungewohnte Arbeit. Ich überlegte mir sehr – sehr vieles! Ich beschloß hiervon Hannibal Wilson vorläufig nichts mitzuteilen. Ich war ehrgeizig geworden. Ich war ja schließlich auch nicht so ganz auf den Kopf gefallen! Weshalb sollte ich nicht ebenfalls Detektiv spielen können?!

Als ich Buchsbaums Laden verließ, sah ich hundert Meter weiter im Sonnenschein ein helles Kleid leuchten, das rechts in einem Hause verschwand: Ellinor – meine Ellinor!

Ich faßte vor dem Bäckerladen, in dem Ellinor stand, Posto. Als sie herauskam und mich bemerkte, errötete sie lieblich. Wir gingen bis zum Fleischer zusammen – noch zweihundert Meter. Ellinor sagte unter anderem, daß Frommke bereits morgen nachmittag auf sein Gut reise. Ich bat sie – weiß Gott, wo ich den Mut hernahm – nachmittags nach Frommkes Abreise um sechs mit mir einen Spaziergang nach dem Restaurant Paulsborn im Grunewald zu machen.

Und sie – sie nickte. „Ja, Herr Blenk, mit Ihnen ja! Zu Ihnen habe ich Vertrauen!“

War ich nur selig! Sie hatte Vertrauen zu mir! –

Als ich nachher Hannibal Wilson gegenüber erwähnte, daß Frommke morgen für eine Woche verreise, meinte er:

„Aha! Dann werden die Brüder diese gute Gelegenheit ausnutzen Also von morgen nacht müssen wir die Augen gut offen halten, Herr Blenk!“

 

4. Kapitel.

Von „morgen nacht“ hatte Hannibal gesagt!

Alles kam anders – ganz anders.

Zunächst kam nachmittags Trablay in der Verkleidung eines Postboten zu uns und überbrachte Wilson einen Brief von Howard Knoox, der mit den Seinen im Hotel Esplanade wohnte.

Herr Knoox schrieb, daß Hannibal sich gefälligst etwas beeilen möge, die Juwelen wieder herbeizuschaffen,

„– sonst wende ich mich an die hiesige Kriminalpolizei, die vielleicht mehr ausrichtet als Sie, der nun bereits 5000 Dollar Vorschuß erhalten hat. Ich werfe mein sauer verdientes Geld nicht zum Fenster hinaus, Mr. Wilson!“

Hannibal Wilson murmelte etwas von „Schweine-Manieren“ und zerriß[4] den Brief.

Trablay berichtete weiter, daß er jetzt festgestellt habe, wo Schmidt seine zweite Wohnung hätte, – hier ganz in der Nähe unter dem Namen Georg Schneider, – ein möbliertes Zimmer im Erdgeschoß mit Flureingang. Hannibal verabredete mit Trablay für die Nächte während Frommkes Abwesenheit noch allerlei. Dann verschwand Trablay. – Abends um elf Uhr gingen Hannibal und ich zu Bett. Um zehn hatte es zu regnen begonnen. Die Tropfen klatschten gegen die Fensterscheiben, und die Bäume des Frommkeschen Gartens rauschten. Diese eintönigen Geräusche beförderten das schnelle Einschlummern Meine letzten Gedanken gehörten wie immer Ellinor. Morgen nachmittag würde ich mit Ellinor über den mit Kiefernnadeln und Stullenpapier bestreuten Waldboden nach Paulsborn wandern! Würde das schön werden! Morgen – morgen! –

Mich rüttelte jemand.

„Herr Blenk – aufwachen!“

Ich glotzte in Hannibal Wilsons verstörtes, künstliches Altmännergesicht.

„Was ist los, Herr Wilson?“

Er zerrte mich aus dem Bett ans Fenster, deutete hinab auf das mittlere Fenster der Museumsräume.

„Da – sehen Sie!“

Unter dem Fenster im Garten stand ein Herr und besichtigte den Kiesboden.

„Den kenne ich nicht, Herr Wilson“ erklärte ich.

„Verdammt – die Gitterstäbe des Fensters und die eine Fensterscheibe!“ brüllte er.

Und – nun sah ich die Bescherung: aus zwei Eisenstäben waren offenbar zwei Stücke herausgesägt! Die Stücke fehlten. Die Scheibe dahinter fehlte. Nur Splitter steckten noch in der Umrahmung.

„Donnerwetter – eingebrochen!“ entfuhr es mir.

„Ja – und der Mann da ist ein Kriminalbeamter! Die ganze Villa ist in Aufruhr!“

Draußen konnte die Sonne soeben erst aufgegangen sein.

„Ein Wächter der Wach- und Schließgesellschaft scheint den Einbruch entdeckt zu haben,“ erklärte Hannibal etwas ruhiger. „Ich hatte mein Fenster offen gelassen und erwachte durch Frommkes Toben. Er rannte wie ein Irrsinniger im Garten umher, dann wieder in die Villa.“

Hannibal lächelte plötzlich stolz. „Herr Blenk, jetzt sind wir die Herren der Situation! Erst fuhr auch mir der Schreck etwas in die Glieder. Nun aber: nur wir wissen, wer diesen Diebstahl verübt hat!“

Der Diebstahl war mir herzlich gleichgültig. Frommke würde jetzt natürlich nicht verreisen und Ellinor und ich würden heute nicht nach Paulsborn wandern.

„Selbstredend haben Britton und Schmidt dieses Ding gedreht,“ fügte Hannibal hinzu. „Warten wir ab, was geschieht. Trablay wird sich schon melden. Sollten die Gauner entflohen sein, ist er ihnen fraglos auf den Fersen. Es wird was abwerfen für uns, Herr Blenk! Vielleicht ebensoviel wie die Knooxschen Juwelen!“

Ich kleidete mich an. Es war ¼6 Uhr morgens. Ich rasierte mich auch, und Hannibal meldete vom Fenster, was er drüben beobachten konnte.

Ich hatte gerade die Kinnpartie vor, als Hannibal rief: „Im zweiten Stock steht ein junges Mädchen mit blondem, aufgelöstem Haar weinend am Fenster!“

Ellinor –! – Ich warf den Rasierapparat hin, trocknete den Seifenschaum ab, fuhr in die Jacke, stürzte an unser Fenster, riß es auf.

„Ellinor!“

Sie sah mich, schlug die Hände vor’s Gesicht.

Sie weinte – schluchzte. Ihr ganzer Körper bebte.

Dann ließ sie die Hände sinken.

„Ich – ich soll – mitschuldig sein!“ klang ihr Jammerschrei herüber.

Ich war für Sekunden wie erstarrt. Ellinor – Ellinor sollte –

Ich winkte ihr zu, wandte mich um.

„Herr Wilson ich muß zu Ellinor! Und Sie müssen mit! – Man hat sie verdächtigt. Wir kennen die Diebe. Ich werde die Kriminalpolizei –“

Draußen schrillte die Flurglocke – so anhaltend, daß ich hinausstürmte.

Es war Trablay in der Verkleidung eines Straßenkehrers, einen Besen in der Hand.

Er drängte mich beiseite, rannte ins Zimmer.

„Ah, Trablay! Wo stecken die Schufte? – Sie wissen doch, daß drüben –“

Hannibal Wilson schwieg, denn Trablays klägliches Gesicht und geknickte Haltung ließen ihn Böses vermuten.

„Britton und Schmidt haben mit dem Einbruch leider nichts zu schaffen,“ sagte Trablay leise. „Sie waren beide bis ein Uhr morgens in einer Kneipe am Kurfürstendamm und gingen dann in den Wartesaal des Charlottenburger Fernbahnhofs, wo sie Kaffee tranken. Hierauf bummelten sie gemächlich die Kantstraße hinunter und fuhren mit dem Nachtomnibus bis zur Ecke Linden- und Friedrichstraße, wo sie von einem fliegenden Würstchenhändler –“

„Weiter! Und dann?“

„Kehrten sie zu Fuß nach Brittons Laden zurück. Da war es drei Uhr morgens geworden und bereits etwas hell. Sie unterhielten sich vor dem Hause noch eine halbe Stunde, rauchten Zigaretten und trennten sich. Schmidt ging in seine Wohnung Nr. 1, Margaretenstraße 15. – Ich bin ihnen beständig gefolgt. Den Diebstahl bei Frommke haben sie nicht ausgeführt.“

Hannibal Wilson schaute mich an.

„Es wäre zwecklos, wenn Sie sich drüben einmischten, Herr Blenk,“ sagte er kopfschüttelnd. „Sie sehen ja: wir wissen nichts und glaubten nur, alles zu wissen!“

„Trotzdem werde ich wenigstens fragen, wessen man Ellinor beschuldigt, Herr Wilson!“ beharrte ich bei meinem Entschluß.

„Meinetwegen. Aber schweigen Sie über Britton und Schmidt! Verderben Sie uns nicht noch das andere Geschäft! Denken Sie daran, daß jeder Dollar hier 300 Mark wert ist und daß Sie für 1000 Dollar 300 000 Mark erhalten. Dann können Sie heiraten.“

Ich sah das ein, nickte und eilte davon.

Ein Kriminalbeamter verwehrte mir den Eintritt in die Villa, fragte, ob ich mit Frommke verheiratet, verwandt oder verschwägert sei, und ließ mich erst ein, als ich erklärte, Fräulein Ellinor Blau sei[5] meine Braut, eine Behauptung, die doch sowohl eine Frechheit als auch eine Vorwegnahme späterer Ereignisse bedeutete, mit deren Eintreffen ich in diesem Augenblick unmöglich rechnen konnte.

Er ließ mich ein und schaute mich durchbohrend an.

Vielleicht dachte er, ich hätte in der verflossenen Nacht für die Einbrecher Schmiere gestanden – als Verlobter Ellinors, der Beschuldigten, durchaus wahrscheinlich, von seinem Standpunkt.

Nun hielt mich erst auf der Treppe zum zweiten Stock ein anderer Beamter auf, der mir von oben entgegenkam; nun stutzte ich; es gibt eben zuweilen Begegnungen, die einem nicht gerade angenehm sind.

Auch Hasso Rhodel stutzte; mein Schulfreund Hasso Rhodel, dem ich als junger Student vor etwa fünfzehn Jahren eine regelrechte Ohrfeige gegeben hatte, worauf wir uns, da er gleichfalls Student war, auf dem Mensurboden gegenseitig ein paarmal über den Schädel gehauen und uns nachher ausnahmsweise nicht versöhnt hatten. Ich wußte, daß Hasso Rhodel zur Kriminalpolizei übergetreten war.

Ich grüßte. – „Bist Du’s wirklich, Blenk?“ meinte er und streckte mir die Hand hin – Mir fiel der bekannte Stein vom Herzen.

Ich klagte ihm meine Herzensnöte. – „Hm – schlimme Sache!“ meinte er. Wir gingen in den ersten Stock hinab und stellten uns an das Flurfenster. „Frommke verlangte, daß auch die Zimmer der Dienstboten durchsucht würden,“ erzählte Rhodel leise. „In Fräulein Blaus Koffer fand ich – das Ding hat einen doppelten Deckel – Papiere, die auf den Namen Isabella Ulrike Ellinor Schmidt lauteten Tochter des Agenten Georg Schmidt –“

Ich wurde blaß.

„Dieser Schmidt ist uns als höchst fragwürdiges Individuum seit langem bekannt, lieber Blenk. Da Fräulein Blau nun jede Erklärung, wie sie in den Besitz der Papiere gelangt sei, verweigerte, da ferner bereits festgestellt wurde, daß jener Georg Schmidt in der verflossenen Nacht sich nicht in seiner Wohnung Margaretenstraße Nr. 15 aufgehalten hat und zur Zeit unauffindbar ist, da schließlich die angebliche Ellinor Blau fraglos Schmidts Tochter Isabella, stets Isa genannt, jetzt 24 Jahre alt und seit drei Jahren angeblich von ihrem Vater getrennt lebend und unbekannten Aufenthalts, sein muß, habe ich sie vorläufig verhaftet, besonders da Frommke goldene antike Geräte im Werte von rund vier Millionen Mark in dieser Nacht durch Einbruch aus seinem Museum gestohlen wurden.“

Jetzt war ich nicht mehr blaß, sondern sehr rot – vor Eifer, Ellinor zu entlasten, an deren Reinheit ich nicht einen Moment zweifelte.

„Georg Schmidt kommt als Dieb nicht in Frage,“ sagte ich sehr bestimmt. „Ein mir bekannter englischer Privatdetektiv ist ihm die ganze Nacht über auf den Fersen geblieben, wie dieser Master Trablay mir soeben erzählt hat. Trablay war vorhin bei mir. Ich wohne dort oben in der Mansarde. Wenn Du wünschst, werde ich Trablay zu Dir schicken.“

„So – so! – Weshalb beobachtet Trablay den Schmidt?“

„Nicht ihn beobachtet er, sondern einen Freund Schmidts, einen Engländer, der wohl irgend was aus dem Kerbholz hat,“ erwiderte ich diplomatisch. „Jedenfalls kann ich Dir auf Ehrenwort versichern, daß Trablay mir erklärt hat, Schmidt sei bestimmt nicht der Dieb oder einer der Diebe, die hier gearbeitet haben“

„Das ändert die Sache allerdings. – Hm, möchtest Du nicht mal zu Fräulein Ellinor nach oben gehen? Sie wird in ihrem Zimmer von einem meiner Beamten bewacht. Vielleicht sagt sie Dir, weshalb sie so hartnäckig leugnet, Schmidt und nicht Blau zu heißen.“

Ich war hierzu sofort bereit. Rhodel rief den Beamten heraus, und ich trat ein.

Ellinor fuhr mit einem Schrei vom Stuhle hoch, streckte wie abwehrend die Hände aus und schluchzte ein paar Silben hervor, die nicht zu deuten waren. –

Ich habe in den einleitenden Sätzen betont, daß ich jede dichterische Ausschmückung vermeiden will.

Also: ich kürzte das Verfahren ab, nahm Ellinor in die Arme, sagte ihr, daß ich sie über alles liebe und daß ich niemals glauben würde, sie könnte je irgend etwas getan haben, was irgendwie strafwürdig sei.

Sie weinte an meiner Brust noch mehr und hörte erst damit auf, als ich sie verschiedentlich geküßt hatte, wobei ich sie in den Pausen „meine süße kleine Braut“ und ähnlich nannte.

Dann saß sie auf meinem Schoß; dann hatte sie mir die Arme um den Hals gelegt und beichtete.

Ihre Mutter, vor acht Jahren verstorben, hatte in zweiter Ehe den Agent Schmidt geheiratet, der Ellinor dann an Kindesstatt annahm. Als Ellinor später nach dem Tode ihrer Mutter merkte, daß Georg Schmidt sich immer mehr zum dunklen Ehrenmann herabentwickelte, sagte sie sich, mündig geworden, völlig von ihm los und nahm ihren ursprünglichen Namen Blau wieder an. Heute nun hatte sie unter dem verwirrenden Eindruck dieser Geschehnisse völlig den Kopf verloren gehabt und sich eingebildet, ich würde sie als Tochter eines Mannes von der Fragwürdigkeit Georg Schmidts nicht mehr kennen wollen, würde den zarten, zwischen uns sich anspinnenden Liebesroman schnell vergessen und ihr so eine Enttäuschung bereiten, über die sie nie hinweggekommen wäre. –

Arm in Arm gingen wir dann in den ersten Stock hinab, trafen in Frommkes Bibliothek diesen, Rhodel und noch einen Kriminalkommissar an, stellten uns als Brautpaar vor und klärten die Sache gründlich auf. –

Frommke zeigte sich jetzt als Kavalier, gratulierte uns, und Rhodel hob die Verhaftung auf.

So wurde aus uns durch den Einbruch ein Brautpaar. Nicht jeder verlobt sich unter so merkwürdigen Umständen.

Dann nahm Rhodel mich mit ins Museum, zeigte mir die zerschnittenen Gitterstäbe und sagte: „Die Kerle sind von draußen eingedrungen, wie Du siehst. Wie sie es aber möglich gemacht haben, trotz der scharfen Bewachung der Villa hier sich Zugang zu verschaffen, ist mir unklar. Die Hunde Frommkes, die nachts in den Fluren der Villa frei umherlaufen, haben nicht angeschlagen und die Wächter merkten erst etwas, als die Diebe mit der Beute über alle Berge waren. – Übrigens – den Master Trablay möchte ich mal sprechen. Weißt Du, wo er wohnt?“

„Leider nein. Ich lernte ihn durch meinen Zimmernachbar kennen. Er kam heute morgen zufällig zu mir. Ich werde mich aber nach seiner Adresse erkundigen.“ – Das war wieder sehr diplomatisch. Ich hatte ja den Entschluß gefaßt, in meinem und zugleich also auch in Ellinors Interesse jetzt diesen Riesendiebstahl allein aufzuklären und die Belohnung, die Frommke für die Wiederherbeischaffung der Beute aussetzen wollte, allein einzuheimsen – ganz allein! Als Bräutigam wird man selbstsüchtig, was entschuldbar und verständlich sein dürfte. – Weshalb ich diesen Entschluß gefaßt hatte und in welchem Augenblick, will ich später angeben.

 

5. Kapitel.

Der Rest meines Verlobungstages, den ich hauptsächlich in der Villa Frommke verlebte, brachte nicht viel Erwähnenswertes.

Nachmittags um fünf kam Trablay als Volksroman-Kolporteur mit der Anfangsnummer des Romans „Das Fluchbuch der Verfluchten“ und mit der Nachricht in unsere Mansarde, daß Herr Georg Schmidt ihm soeben wieder entwischt sei. Wohin Schmidt sich aus der Großen Passage zwischen Linden- und Friedrichstraße gewandt habe, entziehe sich daher leider seiner Kenntnis. Anderseits sitze Morton-Britton in seinem Laden und rauche friedlich Zigaretten.

Hannibal Wilson dem ich längst alles mitgeteilt hatte, was in der Villa Frommke passiert war, sagte nun zu Trablay:

„Edward, Sie sind ein Stümper! Kehren Sie gefälligst mit eisernem Besen die schäbigen Reste Ihrer Intelligenz wenigstens für die Unterredung zusammen, die Sie nun bald mit Kommissar Rhodel haben werden, denn Sie müssen ihn unbedingt aufsuchen, damit er sich nicht weiter um uns kümmert. Ich werde Ihnen genaue Verhaltungsmaßregeln geben, Sie Tapergreis! Hören Sie zu!“

Trablay zeigte sich dieser Aufgabe dann gewachsen. Rhodel blieb so im unklaren darüber, daß Trablay es auf Britton-Morton abgesehen hatte. –

Abends war ich wieder in der Villa Frommke und saß mit Ellinor im Garten in einer Laube.

Wenn man eine Ellinor als Bräutchen hat, wenn ein süßes Lippenpaar holde Zärtlichkeiten spendet, dann nimmt man sich noch fester vor, schleunigst an die Gründung eines eigenen Heims heranzugehen, dann schärft sich der Verstand ganz von selbst für Dinge, die einträglicher Natur sind und mithelfen können, das eigene Heim zu verwirklichen. –

Mit diesem geschärften Verstand ging ich an diesem Tage schlafen. Morgen wollte ich dann mit meiner Detektivarbeit beginnen. –

Ich hätte gewünscht, die Geschichte des Wunderautomaten Ming Tschuan wäre bis zum letzten Wort sozusagen unblutig geblieben.

Leider ist dies nicht der Fall. – Der Leser besinnt sich, daß ich zu Anfang des zweiten Teiles das Käuzchen erwähnt habe, welches Perkeo mit einem Stück Preßkohle zu verscheuchen suchte. Der „Totenvogel“, wie man das Käuzchen auch nennt, hatte damals wirklich ein düsteres Ereignis angekündet. –

Als ich gegen neun Uhr vormittags zu Ellinor hinüberging, um ihr guten Morgen zu sagen, traf ich in der Villa Hasso Rhodel an, der mich sofort bei Seite nahm.

„Blenk, Du wohnst doch mit dem Zwerg Siegfried Riese da oben zusammen,“ meinte er sehr ernst. „Vor drei Stunden wurde uns aus Hamburg telephonisch gemeldet, daß dort im Alsterbassin die Leiche dieses Riese ohne Anzeichen für ein gewaltsames Ende geborgen sei. Er scheint ertrunken zu sein.“

Ich verfärbte mich vor Schreck.

„Siegfried Riese war in Hamburg, wie uns gleichzeitig gemeldet wurde, im Hotel Hansa abgestiegen, verschwand aber aus dem Hotel und ward lebend nicht mehr gesehen. Man hat in seiner Brieftasche 9000 Mark bares Geld und einen Vertrag vorgefunden, den er mit der amerikanischen Filmgesellschaft „Smart“ für sechs Monate durch Vermittlung des Agenten Georg Schmidt abgeschlossen hatte. – Ich bin daher sofort zu Schmidt nach der Margaretenstraße gefahren, traf ihn auch gegen ½8 Uhr zu Hause an und fragte ihn über seine Beziehungen zu Riese aus. Schmidt erklärte, er sei mit Riese zusammen nach Hamburg gefahren, weil er dort einen Bekannten sprechen wollte, den er aber nicht mehr antraf, weil dieser schon wieder nach Amerika abgereist war. Deshalb kehrte er in derselben Nacht nach Berlin zurück. Riese blieb im Hotel Hansa, wo die beiden ein gemeinsames Zimmer genommen hatten. – Um Schmidts Angaben für alle Fälle nachzuprüfen, ließ ich mich mit dem Hotel Hansa telephonisch verbinden. Der Nachtportier bestätigte mir, daß Herr Schmidt damals abgereist sei. Der Portier war um halb zwölf in dem Zimmer der beiden gewesen, als Schmidt schon reisefertig dastand. Riese war bereits zu Bett gegangen, wie der Portier sah. Ich habe also keinen Grund, Schmidt irgendwie zu beargwöhnen. Der Tod des Zwerges ist jedoch insofern rätselhaft, als der Kleine eben nachher aus dem Hotel spurlos unter Zurücklassung seines Gepäcks verschwunden und erst als Leiche wiedergefunden ist. Die Leiche hat nach dem Urteil des dortigen Polizeiarztes nur kurze Zeit im Wasser gelegen.“

Armer, armer Perkeo! Tot, – dazu noch auf recht geheimnisvolle Weise gestorben! Vielleicht verunglückt – durch einen Zufall! –

Perkeos Tod hatte jedoch für mich noch eine andere Bedeutung.

Ich hatte mir ja bereits in Gedanken einen ganzen kleinen Roman aufgebaut, hatte Kombinationen angestellt, die nun wie ein Kartenhaus zusammenfielen! Und doch: ich wollte nicht zugeben, daß diese Kombinationen sämtlich falsch gewesen sein sollten! Nein – sie konnten nur in Kleinigkeiten nicht stimmen. Sie mußten ergänzt, verbessert werden – auf Grund weiterer Tatsachen! –

Rhodel verabschiedete sich. Ich hatte dann eine nur kurze Besprechung mit Ellinor, sagte ihr zum Schluß: „Mein Liebling – also Geduld! Bange Dich nicht zu sehr! Und – schweige über das, was ich vorhabe.“

Sie küßte mich. „Viel Glück!“ küßte mich nochmals und bat ängstlich: „Sei vorsichtig!“

Um halb zehn vormittags begann nun der …

 

Dritte Teil.

1. Kapitel.

Ich ging zu Buchsbaum, angeblich meiner Sonntagsstiefel wegen. Buchsbaum hatte Telephon. Das war mir jetzt wichtiger als alles andere. –

„Morgen, Meister. Wie ist das Befinden?“ begrüßte ich ihn.

„Danke, Herr Blenk. – Was sagen Sie nur zu dem Diebstahl bei Frommke! Unglaublich!“

„Allerdings. Meine Stiefel sind wohl noch nicht fertig? Na – hat Zeit. – Darf ich mal das Telephon benutzen?“

Ich bestellte dann ein Ferngespräch mit Hamburg. Ich hatte Glück. Nach fünf Minuten konnte ich das Hotel Hansa anrufen.

„Hier Blenk, im Auftrage des Herrn Kommissar Rhodel.“ (Das war eine Unverfrorenheit von mir, mußte aber sein). „Unter Diskretion: hatte Herr Georg Schmidt, der mit dem Zwerg Riese, Siegfried Riese damals bei Ihnen abstieg, einen größeren Rohrplattenkoffer mit?“

Die Antwort lautete bejahend.

„Wer schaffte den Koffer nach unten, als Schmidt noch in derselben Nacht abreiste?“

„Der Nachtportier.“

„Ist er sofort erreichbar?“

„Ja. Er wird sogleich gerufen werden.“

Dann nach einer Weile:

„Hier Portier Bromke –“

„Herr Bromke, Sie besinnen sich doch noch auf den Zwerg und den anderen Gast, die damals nachts ein gemeinsames Zimmer belegt hatten. Der andere Gast, Schmidt, reiste sehr bald wieder ab. Sie haben damals den Zwerg im Bett liegen sehen, holten dann auch Schmidts Koffer aus dem Zimmer.“

„Ne – nicht aus dem Zimmer! Der Koffer stand schon vor der Tür im Flur. Als ich den Zwerg im Bett sah, befahl mir Herr Schmidt nur, ein Auto zur Fahrt nach dem Bahnhof zu besorgen.“

„War der Koffer schwer?“

„Es ging an.“

„Und Schmidt nahm ihn mit nach Berlin?“

„Das tat er. Der Koffer wurde aufgegeben.“

„Hatte er besondere Kennzeichen?“

„Hm – Kennzeichen?! Braungelb war er und noch recht neu. – Halt – doch ein Kennzeichen: an den Seiten je einen grünen und blauen Doppelstrich, Ölfarbe, wie üblich.“

„Danke, Herr Bromke. Schluß.“

Und hinter mir rief Buchsbaum, der meine Fragen mit angehört hatte:

„Na nu, Herr Blenk, sind Sie mit ’n mal Polizeionkel geworden?!“

„So etwas!“ lächelte ich harmlos. „Sagen Sie mal, Meister: hatte der Koffer, den der Dienstmann im Auto hier zu Morton brachte, an den Seiten einen grünen und blauen Doppelstrich?“

„Allerdings. – Aber was ist denn –“ Er schwieg plötzlich, meinte nun, mich anzwinkernd: „Herr Blenk, noch was von dem Koffer, nämlich: derselbe Dienstmann hat ihn gestern so gegen acht Uhr früh wieder abgeholt. Ich stand gerade mit dem Portier von Nummer 208 dort auf der Straße. Wir besprachen den Einbruch bei Frommke, der doch erst vor ein paar Stunden entdeckt worden war.“

Ich mußte mir alle Mühe geben, meine freudige Überraschung nicht zu verraten.

„Der Koffer ist nicht so wichtig, Meister,“ heuchelte ich. „Trotzdem müssen Sie mir in die Hand geloben, niemandem zu erzählen, daß wir heute über den Koffer sprachen und daß ich mit dem Hotel in Hamburg mich verbinden ließ. Sie bekommen vielleicht einen Tausender, Meister, wenn –, also: reinen Mund gehalten!“

„Gern, Herr Blenk. Keine Angst! Ich bin ja nicht meine Olle! Die kann mit Nichts dicht halten!“ –

Abermals telephonierte ich, jetzt mit Hasso Rhodel.

„Hier Alfred Blenk. – Wo kann ich Dich recht bald sprechen? – So, danke, – ich komme dann also in Deine Wohnung.“

Rhodel hatte in der Charlottenstraße sein kleines Junggesellenheim. Gegen ¾11 war ich bei ihm.

„Na – was bringst Du, lieber Blenk? Neue Sorgen?“ empfing er mich etwas abgespannt. Er war die letzte Nacht gar nicht ins Bett gekommen, wie er nachher andeutete.

„Sorgen – nein! Ich möchte Dich nur auf etwas aufmerksam machen. Jener Georg Schmidt war doch mit Perkeo in Hamburg und hat Dir erzählt, er wollte dort einen Freund sprechen. Ich habe nun zufällig erfahren, daß Schmidt damals einen ziemlich großen Rohrplattenkoffer mit hatte, den er auch wieder nach Berlin zurücknahm. Wer schleppt sich mit einem Rohrplattenkoffer umher, wenn er lediglich für kurze Zeit nach Hamburg fährt?!“

Rhodel blickte mich scharf an.

„Du weißt noch mehr über den Koffer, Blenk! Raus damit!“

„Ich vermute lediglich etwas, nämlich folgendes: Schmidt muß den Koffer zu einem ganz bestimmten Zweck mitgenommen haben, vielleicht dazu, um in dem Koffer einen Menschen heimlich wieder nach Berlin zu transportieren.“

Rhodel sprang auf.

„Mensch, bist Du etwa ebenfalls Detektiv wie jener Trablay?! Scheint so! – Ich verstehe: Du vermutest, Schmidt hat Deinen Freund Perkeo –“

„Ja!“ fiel ich ihm ins Wort „Das dürfte auch richtig sein, denn so erklärt sich Perkeos Verschwinden aus dem Hotel ganz zwanglos.“

„Aber der Nachtportier hat ihn doch im Bett –“

„Das war eine Weile vorher. – Ich habe den Portier nämlich soeben telephonisch gesprochen. Als er den Koffer holte, stand dieser schon vor der Zimmertür, wo Schmidt ihn also hingestellt hatte, damit – der Portier nicht sah, daß Perkeo nicht mehr im Bett und im Zimmer war!“

„Donnerwetter – sehr gut! Das leuchtet mir ein. Aber: weshalb sollte Schmidt den Zwerg auf diese Weise wieder nach Berlin zurückbefördert haben?!“

„Das weiß ich nicht“ – Ich log sehr kaltblütig.

„Und – wie hast Du Kenntnis von dem Koffer erhalten?“

„Weil ich Perkeo doch auf die Bahn begleitete. Ich sah, daß Schmidt den Koffer als Passagiergut aufgab.“ Ich log abermals, noch kaltblütiger. Ich hatte ja von dem Koffer erst durch Buchsbaum etwas gehört.

Rhodel schaute mich mißtrauisch an.

„Blenk,“ sagte er dann, „Du verheimlichst mir etwas. Du bist nicht Illustrator und Zeichner. Du verkehrst mit einem englischen Detektiv; Du bist selbst Detektiv.“

„Nun denn: ja! Seit heute! Liebhaberdetektiv! Ich will Dir weiter verraten, daß Buchsbaum – pardon, ich versprach mich! – daß ich gestern vormittag Schmidt in einem Auto mit demselben Koffer die Brandenburger Straße hinabfahren sah. Der Koffer hat grünblaue Striche. Ich nehme wenigstens an, daß es Schmidt war. Ich glaube ihn in der Verkleidung als Dienstmann wiedererkannt zu haben. Vielleicht klärst Du auf, wo er mit dem Koffer blieb. Dir ist das ein Leichtes, Dir steht ja der ganze Polizeiapparat zur Verfügung. – Es ist doch immerhin möglich, daß Perkeo abermals in dem Koffer verborgen war.“

Rhodel ging auf und ab, machte vor mir halt.

„Du spielst mit verdeckten Karten. Blenk!“ meinte er. „Ich merke das sehr wohl. Trotzdem will ich Dir helfen. Nur eine ehrliche Antwort auf eine Frage: Schmidt ist bei dem Einbruch bei Frommke doch beteiligt, obwohl er ein Alibi für jene Nacht hat?“

„Sehr wahrscheinlich ja! Bestimmt weiß ich es noch nicht.“

„Das genügt mir. Blenk. – Ich werde dafür sorgen, daß Schmidt nicht ahnt, was gegen ihn unternommen wird.“

Eine kurze Pause.

„Blenk, Frommke hat eine Belohnung von 300 000 Mark ausgesetzt. Verdiene sie Dir – für Ellinor und Dich!“ – Er reichte mir die Hand zum Abschied. Ich wurde rot. Er hatte die Beweggründe für meine Heimlichkeiten durchschaut; er war wirklich ein hochanständiger Kerl.

 

2. Kapitel.

Alfred Blenk hatte kaum die Tür hinter sich ins Schloß gedrückt, als Hasso Rhodel bereits in das Tischtelephon hineinsprach:

„Sofort Krüger und Bratz zu mir. Auto benutzen“

Die beiden Kriminalbeamten waren eine Viertelstunde später in Rhodels Wohnung, verließen sie nach zehn Minuten und begaben sich nach der Brandenburger Straße in Wilmersdorf, wo vor dem Geschäft Mortons seit gestern das Pflaster durch zwei Arbeiter ausgeflickt wurde.

Einer der Arbeiter wurde von Krüger um ein Zündholz gebeten.

„Was Neues?“ flüsterte Krüger.

„Schmidt ist bei ihm,“ erwiderte der Arbeiter.

Dann gingen Krüger und Bratz weiter bis zu einer Weißbierstube, von deren Fensterplatz aus sie den Eingang von Nr. 211 beobachten konnten. Sie ließen sich Karten geben und spielten Sechsundsechzig. Der Wirt las hinter dem Büfett Zeitung.

„Der Blenk scheint also in die Sache mit hineinverwickelt zu sein,“ sagte Krüger leise und mischte die Karten.

„Scheint allerdings so. Dann ist auch seine Braut anrüchig trotz der Kinderaugen. Jedenfalls weiß Blenk nichts davon, daß wir durch Schmidt bereits auf den „Grafen Willi“ aufmerksam geworden sind und daß Rhodel wahrscheinlich noch mehr Trümpfe im Spiel hat.“

„Ja, ja,“ nickte Krüger, „man steht wieder, wozu der Fingerabdruck-Erkennungsdienst gut ist. Hätte Rhodel nicht auf einem Türbeschlag des Automaten den Fingerabdruck mit der gezackten Narbe bemerkt, und hätte er nicht ein so vorzügliches Gedächtnis für seine „Patienten“ und ihre Eigentümlichkeiten, dann würden wir diesen Morton wahrscheinlich für echt genommen haben. – Da – Coeur ist Trumpf. Spiel aus!“

– – – – – – – –

Inzwischen packte ich in der Mansardenwohnung meine Handtasche. Hannibal Wilson ging im Zimmer auf und ab und sagte:

„Herr Blenk, ich erkenne Ihren Eifer ja ohne weiteres an. Aber Ihre Vermutung, daß die Knooxschen Juwelen sich in Hamburg befinden, ist ganz sicher unzutreffend und Ihre Reise dorthin überflüssig. Wie wollen Sie außerdem –“

„Lassen Sie mich nur machen!“ unterbrach ich ihn. „Ich habe da eine Idee, die nicht schlecht ist. Morgen früh bin ich wieder zurück.“ –

Der Eilzug nach Hamburg war sehr besetzt. Als ich abends gegen sieben Uhr dort angelangt war, begann ich geduldig die Hotels in der Nähe des Bahnhofs abzuklappern. Ich fragte überall dasselbe: ob ein Gast einen braungelben Rohrplattenkoffer vielleicht zurückgelassen hätte. – Ich erreichte nichts. Um zehn Uhr abends war ich bereits halb tot vor Abspannung.

Dann ging ich zum Bahnhof zurück und versuchte mein Heil bei den Autochauffeuren und den Droschkenkutschern. Hier fragte ich, ob einer von ihnen vorgestern einen einzelnen Herrn mit gelbbraunem Rohrplattenkoffer mit grünen und blauen Erkennungsstrichen irgendwohin gefahren hätte.

Wieder nichts! – Aber ich war hartnäckig. Ich nahm mir jetzt die Gepäckträger vor. Und – das war die richtige Adresse! – Einer der Leute besann sich sehr gut auf den Herrn und den Koffer. Er sagte, der Herr habe wie ein Schiffskapitän ausgesehen und sei mit einem Taxameterauto davongefahren. Er konnte mir auch die Nummer des Autos angeben, denn er kannte alle Chauffeure.

Nochmals suchte ich die Reihe der Autos ab. Der letzte soeben zurückgekehrte Wagen war Nr. 1918.

Der Chauffeur steckte die zwanzig Mark nachlässig ein. Der Herr sei mit dem Koffer in ein kleines Gasthaus am Hafen gefahren, erklärte er.

Gegen halb zwölf war ich in dem Gasthaus „Zum Dreimaster“. – Der Wirt nickte „Ja, der Herr hat den Koffer hier untergestellt. Er nannte sich Schulz und wollte den Koffer nach einer Woche abholen. Der Koffer steht in der Plättstube oben.“

Ich durfte mir den Koffer ansehen. Es war fraglos der gesuchte. Ich hob ihn etwas an. Er war recht leicht.

Ich war zufrieden, aß im Dreimaster Abendbrot und erreichte noch den Nachtzug nach Berlin.

– – – – – – – –

Während Alfred Blenk (der Leser wird sich damit abfinden müssen, daß ich von mir jetzt abschnittweise in der dritten Person spreche) vorn im Gastzimmer seinen Rinderbraten aß, hatten Krüger und Bratz in der Privatwohnung des Wirtes sich diesem gegenüber legitimiert und verlangten gleichfalls den Koffer zu sehen.

Bratz zog dann einen Patentdietrich aus der Tasche und öffnete den Koffer. Darin lagen ein paar Pakete gebündelte Zeitungen, eine wollene Decke, ein Pappkarton, der mit Bindfaden zugebunden war, und eine lange Wäscheleine.

Krüger leuchtete die Innenwände des Koffers sorgfältig ab und deutete auf eine Menge frisch gebohrter kleiner Löcher, die in die Farbenstriche mündeten, wo sie nicht so sehr von außen auffielen.

„Wir nehmen den Koffer mit,“ sagte Krüger zu dem Wirt. „Sollte der angebliche Schulz den Koffer abholen wollen, so rufen Sie die Polizei schnell an und lassen ihn verhaften. Wir werden der hiesigen Polizei Bescheid geben.“

Sehr bald fuhren sie zum Bahnhof und wieder in demselben Zuge mit Blenk nach Berlin zurück. Der Koffer stand im Gepäckwagen.

Krüger, Bratz und der Koffer waren um sieben Uhr morgens in Hasso Rhodels Dienstzimmer im Polizeipräsidium. Der Kriminalkommissar erschien zehn Minuten später.

Krüger erstattete Bericht.

„Der angebliche Schulz hat dem Wirt sofort erklärt, er wolle sich nur umziehen. Er würde das Zimmer aber für die eine Nacht bezahlen und dann den Koffer dalassen. Der Wirt wies ihm ein Zimmer im ersten Stock des Hinterflügels an, weil Schulz hierauf Gewicht legte. Wir haben uns das Zimmer angesehen. Die Fenster gehen nach einem schmalen Kanal hinaus, an dessen Seiten Plankenstege entlanglaufen. Es ist also ein Leichtes, einen Menschen aus dem Fenster an einer Wäscheleine hinabklettern zu lassen, Herr Kommissar. Die Leine liegt dort im Koffer.“

Bratz hatte den Koffer inzwischen geöffnet.

„So,“ meinte Rhodel, „Sie können nun die versäumte Nachtruhe nachholen. Auf Wiedersehen.“

Krüger und Bratz verschwanden. Rhodel begann den Koffer zu untersuchen.

„Dieser Blenk!“ dachte er dabei. „Dieser Blenk! Wer hätte ihm das zugetraut! Wenn die Sache erledigt ist, werde ich ihm vorschlagen, zu uns zu kommen. Solche Leute können wir brauchen!“

Er hob den Pappkarton heraus, der etwa Würfelform bei fünfzig Zentimeter Seitenlänge hatte und schüttelte ihn.

„Hm – ziemlich schwer. Es scheinen Metallstücke darin zu sein –“ – Er schnürte den Bindfaden auf und nahm den Deckel ab.

Da lagen kleinere und größere Brettchen von verschiedener Stärke, alle mit Lack überzogen und mit frischen Sägeschnittflächen. Ferner Messingräder mit Zähnen in allen Größen, seltsame Metallhebel und andere Gegenstände aus Messing.

Hasso Rhodel starrte auf diesen Krimskrams, als ob der ihm etwas äußerst Wichtiges verraten sollte.

Dann pfiff er plötzlich sehr laut durch die Zähne.

„Donnerwetter – Donnerwetter!“ murmelte er. „Das wäre ja in der Tat –“ Den Rest verschluckte er.

Er packte den Karton wieder in den Koffer und griff nach seinem weichen Filzhut, öffnete die Tür und stand dem Kriminalbeamten Mühlreich gegenüber, der jetzt ebenfalls die Sache Frommke mit bearbeitete.

„Morgen, Herr Kommissar. Bringe viel Neues“

„Begleiten Sie mich. Ich will zu Blenk. Unterwegs können Sie erzählen.“

Sie bestiegen draußen ein Auto.

„Eine merkwürdige Geschichte, Herr Kommissar,“ begann Mühlreich. „Ich wollte mich also gestern in Siegfried Rieses bisheriger Wohnung so etwas umtun, wie Sie gewünscht hatten. Gegen fünf Uhr nachmittags kletterte ich die Treppen in Nr. 211 empor. Als ich dann oben gerade meinen Dietrich hervorholen wollte, hörte ich in dem Flur der kleinen Wohnung Schritte. Da Herr Blenk doch nach Hamburg gereist war, hätte die Wohnung leer sein müssen. Ich schlich schnell nach links, wo die Waschküche des Hauses liegt. Die Tür war nur angelehnt. Ich trat ein. Gleich darauf verließ ein älterer Mann mit nur einem Arm und einem Pflaster vor dem rechten Auge die Wohnung, schloß hinter sich ab und ging leise die Treppen hinunter, dann die Brandenburger entlang, bis er die erste Haltestelle der Straßenbahn erreichte. Er fuhr nun –“

„Das wird der englische Detektiv Trablay gewesen sein,“ warf Rhodel etwas ungeduldig ein.

„Nein, Herr Kommissar. Das war nicht Trablay. Aber – der Einarmige ging dann zu Trablay, der sich in der Linkstraße dicht an der Potsdamer ein Zimmer mit Flureingang gemietet hat.“

„So – so! Die Sache wird wirklich interessant.“

„Eine halbe Stunde später verließen Trablay und ein bartloser Herr mit gesunden Armen und Augen dieses Zimmer und begaben sich ins Hotel Esplanade zu dem amerikanischen Multimillionär Knoox, der dort mit Frau und Tochter wohnt und dem doch –“

„Famos!“ rief Rhodel da. „Ja – dem vor etwa sechs Wochen in Hongkong Juwelen gestohlen wurden! – Weiter!“

„Ich habe dann Familie Knoox und Trablay und den andern als Kellner im Speisesaal bedient. Man kam mir im Esplanade sehr entgegen. Alles klappte –“

„Sehr gut, lieber Mühlreich!“

„Master Knoox war sehr erregt. Er nannte den „Anderen“ Wilson. Sein Ärger galt der Tatsache, daß dieser Wilson den Dieben die Juwelenbeute noch nicht abgejagt hat. Ich schnappte ja nur Bruchstücke der Unterhaltung auf, aber – es genügte. Jedenfalls steht fest, daß dieser Wilson sich bei Herrn Blenk heimlich nur zu dem Zweck aufhält, um den angeblichen Morton, also unseren alten Freund „Graf Willi“ alias Willi Prutzke, zu beobachten, der sich in Hongkong Britton nannte und wieder mal den Engländer spielte, was ihm bei seinen Sprachkenntnissen stets gelingt. – Mehr noch, Herr Kommissar: Knoox drohte Wilson wiederholt, die Hilfe der deutschen Kriminalpolizei in Anspruch zu nehmen, falls Wilson nicht innerhalb drei Tagen etwas erreicht hätte. – Das wäre alles.“

„Ist Wilson nach Nr. 211, Mansarde, zurückgekehrt?“

„Nein. Ich war soeben dort und fand auf dem Tisch einen Zettel für Blenk, mit „Raoul Kerkhoven“ unterzeichnet, auf dem Wilson Blenk für die freundliche Aufnahme dankt und verspricht, Blenk ständig über „die Sache“ auf dem Laufenden zu halten und auch sonst die Vereinbarungen nicht vergessen zu wollen. Im übrigen entdeckte ich in der Wohnung nichts von Bedeutung.“

„Dieser Blenk!“ lachte Hasso Rhodel. „Auch dieses „Geschäft“ suchte er auszuschlachten! Tüchtiger Mann! Was doch die Liebe alles tut!“

 

3. Kapitel.

Auch ich hatte natürlich bei meiner Heimkehr Hannibal Wilsons mit „Kerkhoven“ unterzeichneten Zettel sofort bemerkt und dachte mir: „Der Schweinegroßschlächter wird ungeduldig geworden sein, und Wilson gedenkt nun irgend etwas gegen Morton-Britton zu unternehmen! Hm – wer weiß, was er plant?! Ihm muß doch irgend ein aussichtsvoller Gedanke zugeflogen sein!“

Damit war Hannibal und alles andere zunächst für mich erledigt. Ich hatte Sehnsucht nach Ellinor und nur noch Gedanken für sie. Wilsons Absichten waren mir fürs erste gänzlich gleichgültig. Ich wollte Ellinor wiedersehen.

Doch – es war erst sieben Uhr morgens, und da konnte ich drüben bei Frommke noch nicht eindringen. Aber hinüberschauen konnte ich. Und ich hatte Glück: Ellinor erschien am Fenster, winkte, warf Kußhändchen und zeigte in den Garten hinab. – Ich verstand: ich sollte in den Garten kommen und mir etliche Lippenspenden verabreichen lassen. –

Ich konnte zufrieden sein: in der Fliederlaube bewies mir Ellinor fast „erdrückend“, wie lieb sie mich hatte. Nachdem wir etwas zu Vernunft gekommen, fragte sie, ob ich in Hamburg Erfolg gehabt hätte. Sie wußte nicht, weshalb ich dorthin gereist war, wußte nur eins: daß es in unser beider Interesse geschehen!

Ich hielt nun mit meinem großen Geheimnis nicht länger zurück, beschränkte mich allerdings auf die Teilerklärung, daß ich festgestellt hätte, zu welchem Zweck Mortons Freund Schmidt, also Ellinors Stiefvater den Koffer benutzt hatte.

Ellinors heiße Wangen wurden farblos. „Er hat Perkeo also erst nach Berlin wieder im Koffer mitgenommen und ihn dann am nächsten Nachmittag wieder nach Hamburg geschafft!“ sagte sie leise, und ein Zittern lief über ihren Körper hin. „Perkeo aber ist ertrunken,“ fügte sie noch leiser hinzu. „Vielleicht – ertränkt worden, Fred, – vielleicht von Ihm!“

Ich preßte ihre Hände und schwieg. – Sie hatte ja nur das ausgesprochen, was ich selbst argwöhnte.

„Weshalb – weshalb nur diese entsetzliche Tat?!“ stammelte sie dann und blickte mich scheu an. „Du – Du kennst den Grund, Fred! Sage mir die Wahrheit!“ –

Hasso Rhodel war inzwischen oben bei Fred Blenk gewesen, hatte umsonst geläutet und sich dann sehr richtig gesagt, daß Blenk wahrscheinlich bei Ellinor in der Frommkeschen Villa sein würde. – Er erhielt dort von dem alten Diener den Bescheid, das Fräulein und Herr Blenk säßen in der Fliederlaube.

Rhodel schritt den Gartenweg hinab. Er gab sich keine Mühe, etwa leise aufzutreten. Er beabsichtigte durchaus nicht, den Lauscher zu spielen. Und doch – als nun ein bestimmtes Wort an sein Ohr drang, blieb er stehen und horchte.

Blenk hatte nämlich auf Ellinors dringende Bitte erwidert:

„Mein Liebling, all das hängt mit dem Wunderautomaten Ming Tschuan zusammen. – Frage jetzt nichts mehr. Noch heute, denke ich, wirst Du alles erfahren können.“

Ellinor schüttelte den Kopf. „Hast Du so – so wenig Vertrauen zu mir? Fürchtest Du, ich könnte plaudern?“

„Nein, nein – das ist es nicht, Liebling! Aber ich möchte keine Hoffnungen in Dir erwecken, die vielleicht nachher in Nichts zerrinnen. Was ich mir da über den Einbruch in die Villa zurechtgelegt habe, stützt sich lediglich auf winzige Tatsachen. Meine Kombinationen können irrig sein, obwohl –“

Länger mochte Rhodel nicht den Lauscher spielen. Er hüstelte kräftig, umging die Fliederbüsche und betrat die offene Laube, begrüßte das Brautpaar zwanglos und sagte dann zu mir, Alfred Blenk:

„Lieber Blenk, ich hätte so einiges mit Dir zu besprechen.“

Ellinor verstand den zarten Wink und zog sich ins Haus zurück. Ich begleitete sie ein paar Schritte und bekam noch einen langen Kuß, dessen geflüsterte Einleitung lautete: „Du, ich bewundere Dich! Nein, was bist Du klug, mein Fredi!“

Der kluge Fredi setzte sich dann Rhodel gegenüber auf die Gartenbank. Der Holztisch mit der bemoosten Platte trennte uns. Auf den Tisch hatte Hasso Rhodel den langen, schmalen Karton gelegt, den er in der Hand gehabt hatte, als er uns hier überraschte.

Er blickte mich jetzt mit besonderem Lächeln an.

„Blenk, ich bin Dir auf der Spur!“ sagte er. „Wir beide sind, glaube ich, auf verschiedene Weise zu demselben Resultat gelangt, was den Diebstahl bei Frommke angeht.“

Ich war sehr rot geworden. Aber ich wollte nicht sofort die Waffen strecken. – „Ich verstehe Dich nicht ganz,“ meinte ich ausweichend, denn Rhodel konnte ja nur auf den Busch schlagen wollen.

Hasso tippte mit dem Zeigefinger auf den Karton, der gut neunzig Zentimeter lang war. „Schnüre ihn mal auf, Blenk!“

Ich tat es hastig. Mir war plötzlich eine Ahnung aufgegangen, was in dem Karton enthalten sein könnte.

Und – ich war daher auch keineswegs überrascht, als ich in dem Karton eine Puppe fand – einen nackten Puppenleib mit Lockenkopf von etwa neunzig Zentimeter Länge.

„Diese Puppe,“ sagte Rhodel, „habe ich mir von Wertheim geliehen. – Weißt Du, wozu?“

Ich nickte. „Ich kann es mir denken. Ich sehe ein, lieber Rhodel, daß wir beide tatsächlich zu demselben Resultat gelangt sind.“

„Auch hinsichtlich des Verstecks der Beute – des vorläufigen Verstecks?“

„Ja – auch in dem Punkte!“

„Dann können wir alles weitere in Frommkes und Ellinors Gegenwart im Museum besprechen. Komm’, gehen wir!“ –

Der Leser gestattet mir an dieser Stelle wohl eine Bemerkung, die hier durchaus am Platze sein dürfte. Wer diese meine Schilderung bisher aufmerksam genossen hat, womit ich nicht sagen will, daß sie wirklich einen Genuß bedeutet, müßte meines Erachtens genau so wie ich das Weitere bereits ahnen und im Folgenden nur das bestätigt finden, was er selbst sich schon über die „inneren“ Zusammenhänge zwischen dem Wunderautomaten und dem Einbruch herausgeklügelt hat. – Gewiß, ich hätte diesen meinen seltsamen Erlebnissen fraglos eine geschicktere Form insofern geben können, als ich den Kern des Geheimnisses hätte mehr verschleiern können. Ich habe darauf verzichtet. Ich überlasse das Herausarbeiten von Spannungsmomenten den gewerbsmäßigen Romanfabrikanten. –

So, und nun die Szene im Museum Frommkes vor dem Wunderautomaten Ming Tschuan.

Anwesend sind: Ellinor, Frommke, Rhodel und ich.

Rhodel hat den Karton mit der Puppe unterm Arm und beginnt:

„Herr Frommke, es ist nicht ausgeschlossen, daß Sie sehr bald eine freudige Überraschung erleben. – Ich erteile das Wort zunächst Herrn Blenk. – Lieber Blenk – bitte!“

Und ich sprach: „Kleinigkeiten sind es, die oft in wunderbarer Weise unser Hirn zu einer ganzen Kette von Gedanken und Überlegungen anreizen. Als ich diesen Automatenschrank in Ihrem Auftrage, Herr Frommke, im Geschäft des Engländers Morton damals besichtigte, gewahrte ich hier im unteren Teile zwischen den Rädern und Walzen feines Sägemehl. Ich beachtete dies nicht – damals nicht! Dann aber begann Schmidts Koffer eine besondere Rolle zu spielen – als Versteck für meinen armen, verführten Freund Perkeo. Und – da begann in meinem Hirn plötzlich die Gedankenkette von selbst zu laufen. Ich sagte mir folgendes: Morton kann den Automatenschrank so umgebaut haben, daß ein Zwerg, gedeckt durch das Räderwerk, darin Platz haben könnte! Morton kann den Wunderautomaten mit Perkeo als Inhalt hier im Museum damals niedergestellt haben. Wenn Perkeo dann Einbrecherwerkzeuge mithatte, konnte er nachts in aller Ruhe den Diebstahl insofern ausführen, als er die wertvollsten Gegenstände, die für ihn ihres Goldgewichts wegen nicht so leicht fortzuschaffen waren, in demselben Versteck, eben im „Ming Tschuan“ vorläufig verbarg, bis sich den Gaunern eine Gelegenheit bot, sie in aller Sicherheit an sich zu nehmen, etwa dadurch, daß Morton erklärt hätte, er habe nun einen Mechaniker gefunden, der den Automaten reparieren wolle. Diesen Mechaniker hätte vielleicht Schmidt gespielt, und die „Reparatur“ wäre dann in Mortons Laden vorgenommen worden.“

Frommke wollte sich auf den Automatenschrank stürzen. Rhodel hielt ihn zurück.

„Einen Moment, Herr Frommke. – Es stimmt, was Blenk vermutet hat: Morton hat den Schrank umgebaut, hat daraus Räder und anderes entfernt, um Platz für den Zwerg zu schaffen. Die herausgenommenen Teile fand ich in dem Schmidtschen Koffer, den meine Beamten heute aus Hamburg mitgebracht haben.“

Ich machte ein äußerst verdutztes Gesicht. Rhodel lachte.

„Ja, lieber Blenk, es ist so! Aber trotzdem bleibt Dir allein der Ruhm, zunächst die Koffer-Frage und damit alles Übrige aufgerollt zu haben. – Untersuchen wir den Automat nun!“

Wir taten es. – Rhodel bewies hier die größere Findigkeit.

„Da!“ rief er plötzlich und zog vorn[6] den ganzen, auf einem besonderen Brett montierten vorderen Mechanismus heraus, hinter dem ein anderes Brett sich befand, das durch aufgenagelte Räder und so weiter den Eindruck eines Bestandteiles der Maschinerie machte.

Nun konnten wir in den Unterteil hineinschauen.

Frommke brüllte:

„Tatsächlich – da liegen meine Goldsachen!“ Die Stimme schnappte ihm vor Erregung über.

Stück für Stück holte er die Schätze heraus, zählte sie, rief:

„Nichts fehlt – nichts! Und hier – zwei Stahlsägen, zwei Brecheisen!“

Ellinor hatte sich an mich gelehnt. Ihre Augen leuchteten.

„So,“ meinte Hasso Rhodel sehr trocken und geschäftsmäßig, „nun werden wir mal meine Puppe probehalber in dem Versteck da unterbringen. Die Puppe hat ungefähr Perkeos Größe.“

Die Probe war überflüssig, denn man konnte schon mit den Augen ausmessen, daß Perkeo dort sitzend Platz gehabt hatte, wenn er Kopf und Schultern in den hohlen Rumpf des Zauberkünstlers im Oberteil hineingeschoben hatte.

Rhodel zog seine Puppe wieder heraus.

„Der Fall ist mithin geklärt,“ sagte er nun. „Perkeo hat sich von den Gaunern verführen lassen. Nachdem er die Beute in dem Versteck verborgen hatte, sägte er die Gitterstäbe des Fensters durch und kletterte in den Garten hinab, wahrscheinlich an einer Wäscheleine, die er nachher mitnahm. Er begab sich unbemerkt zu Morton, von wo Schmidt ihn nach Hamburg in dem Koffer zurücktransportierte. In Hamburg hat Schmidt den Zwerg dann ermordet, ertränkt, um den Mitwisser stumm zu machen. – Dieser Diebstahl stellt in der Geschichte der Kriminalistik das seit Jahrzehnten merkwürdigste und raffinierteste Verbrechen dar. Lieber Blenk, Dir gebührt der Ruhm, Schmidt und Morton überführt zu haben. Morton heißt übrigens in Wahrheit Willi Prutzke, hat den Spitznamen „Graf Willi“ und ist seit Jahren eins der größten Schmerzenskinder unserer Kriminalpolizei.“

August Frommke reichte mir die Hand. Er war ganz gerührt.

„Lieber Herr Blenk. Sie haben die 300 000 Mark redlich verdient! Außerdem werde ich mir gestatten, Ihnen hier in meiner Villa eine nette Dreizimmerwohnung herrichten zu lassen – mit Möbeln, damit sie bald heiraten können. Ich habe Verständnis für Liebesleute. Mein Herz ist noch jung –“

Allerdings, zu jung! dachte ich. Aber ich sagte es nicht, sondern sagte ganz was anderes.

 

4. Kapitel.

Schmidt hatte an diesem Morgen seinen Intimus Morton gegen neun Uhr besucht. Sie saßen im Hinterzimmer, rauchten und besprachen die endgültige Sicherung der Beute, wobei Graf Willi nochmals betonte, daß ihn bei dieser ganzen Geschichte nur eins störe: daß man gezwungen gewesen, den plötzlich von Gewissensbissen befallenen Zwerg „verunglücken“ zu lassen.

Georg Schmidt zuckte die Achseln. „Was liegt an so ’nem Knirps, Willi! Der wäre uns außerdem stets lästig gewesen! Wir beide werden nichts verraten. Wir wissen, was wir voneinander zu halten haben –“

Da – die Glocke der Ladentür hatte angeschlagen.

Graf Willi alias Morton-Britton ging hinaus. Vor ihm stand Hannibal Wilson – ohne Verkleidung, mit den vorstehenden Oberzähnen. – „Morgen, Britton,“ sagte Hannibal gemütlich. „Sie scheinen auf mich nicht recht vorbereitet zu sein. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen. Glaubten Sie, ich hätte Ihre Fährte verloren!? Nein, Britton, durchaus nicht! Ich war immer in Ihrer Nähe.“

„Mr. Wilson,“ erwiderte Graf Willi frech, „ich begreife nicht, was Sie eigentlich von mir wollen!“

Hannibal lächelte milde. „Sie haben Ihren Freund Schmidt gerade bei sich. Das ist mir lieb. Ich möchte in seiner Gegenwart Ihnen etwas vorschlagen. Im übrigen: draußen steht mein Gehilfe Trablay und außerdem noch jemand! – So – kommen Sie!“

Graf Willi blieb durchaus hundeschnäuzig. „Meinetwegen! – Bitte – nach Ihnen!“

Als Hannibal das Hinterzimmer betrat, erhob Fox ein wütendes Gekläff.

„Herr Schmidt, ich bin der englische Privatdetektiv Hannibal Wilson aus Hongkong,“ stellte Hannibal sich vor. „Aha – da ist ja auch das liebe Hündchen, der rasierte Fox! – Sie sind etwas blaß geworden, Herr Schmidt. Nun, mit Ihnen habe ich nur indirekt etwas zu tun. Sie gestatten eine Frage: hat Ihr Freund, Britton-Morton mit Ihnen die Knooxschen Juwelen redlich geteilt?“

Graf Willi grinste. „Schmidt, Mr. Wilson ist übergeschnappt, wie Du hoffentlich schon gemerkt hast!“ –

Noch fühlte er sich ganz sicher, obwohl die Redensart über den rasierten Fox ihm recht peinlich gewesen.

„Herr Schmidt,“ lächelte Hannibal noch gemütlicher, „Ihr Freund hat Ihnen also offenbar nicht die Wahrheit gesagt. Er wird Ihnen erzählt haben, ein anderer Gauner sei ihm in Hongkong zuvorgekommen und habe die Juwelen gestohlen.“

Georg Schmidt maß seinen Genossen bereits mit mißtrauischen Blicken. „Allerdings hat er mir das erzählt,“ meinte er.

„Nun, das ist gelogen, Herr Schmidt. Britton hat die Juwelen mit Hilfe jenes Hundes da aus Hongkong auf den Dampfer und weiter nach London beziehungsweise bis hier durchgeschmuggelt. Der Hund hatte eben ein zweites Fell erhalten, wurde dann erst hier zum nackten Hund –“

„Davon weiß ich ja gar nichts!“ rief Schmidt jetzt.

Gras Willi meckerte verlegen. „So ’n Blödsinn! Alles Schwindel, Georg!“

„Schwindel?!“ kopfschüttelte Hannibal. „Aber Britton! Soll ich mal den Meister Buchsbaum holen? Der hat den Hund ja noch langhaarig gesehen, und Frau Buchsbaum hat das Fell aus dem Abflußrohr herausgefischt!“

Schmidt trat schnell auf seinen Intimus zu. „Du,“ rief er drohend, „Du hast mich betrogen! Du hast die Juwelen gestohlen! Deshalb also suchtest Du mich erst auf, nachdem Du den Laden hier gemietet und eröffnet hattest! Ein Lump bist Du!“

Er gab ihm einen Stoß vor die Brust; er kochte vor Wut.

„Schuft – und ich war’s, der das Geld hergab, damit Du der Familie Knoox nachreisen könntest – ich! Also das nennst Du Kameradschaft! Pfui Teufel!“

„Erregen Sie sich nicht zwecklos, Herr Schmidt,“ sagte Hannibal da. „Sie bestrafen Ihren falschen Freund am besten dadurch, daß Sie ihn zwingen, mir die Juwelen auszuhändigen. Ich meinerseits verspreche Ihnen, mich um Ihre Angelegenheiten nicht mehr zu kümmern, obwohl ich vermute, daß Sie beide dem Einbruch bei Herrn Frommke nicht ganz fern stehen! Also bitte – her mit den Juwelen, oder –!“

Georg Schmidt warf Hannibal Wilson einen scheuen Blick zu, zog den Freund dann in eine Ecke und flüsterte eifrig mit ihm. – Hannibal hatte jetzt eine Repetierpistole in der Hand und eine Trillerpfeife im Munde, was auf die beiden Genossen fraglos Eindruck machte. Dann ging Graf Willi auf eine Gipsbüste zu, die auf einem Wandbrett stand und die scheinbar ohne jeden Riß war, schlug der Büste, nachdem er sie auf das Sofa gelegt hatte, mit der Faust den Kopf ab und nahm aus dem hohlen Kopf einen Beutel heraus, reichte ihn Hannibal Wilson und –

Da ertönte abermals die Ladenglocke.

Dann flog auch schon die Zimmertür auf. Vier Männer drangen ein, und Rhodel rief: „Im Namen des Gesetzes verhafte ich –“

Ein scharfer Knall schnitt ihm das Wort ab: Schmidt hatte sich eine Kugel in die Schläfe gejagt.

Worauf Hannibal Wilson zu Rhodel sagte: „Ich habe die beiden Gauner gegeneinander ausgespielt und so die Partie gewonnen! Hier sind die Knooxschen Juwelen. Tausend Dollar von der Belohnung erhält jedoch Herr Blenk. Was ich verspreche, halte ich.“

– – – – – – – –

Ellinor, ich und Fox, den wir als eigen angenommen haben, fühlen uns in der Villa Frommke sehr wohl. Ob Britton-Morton-Graf Willi sich im Zuchthaus ebenso wohlfühlt, bezweifle ich.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „eine“.
  2. In der Vorlage steht: „erzähle“.
  3. In der Vorlage steht: „Zigarer“.
  4. In der Vorlage steht: „zerrieß“.
  5. In der Vorlage steht: „seine“.
  6. In der Vorlage steht: „von“.