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Das Atlantikgespenst

 

 

W. Belka[1]

 

Das Atlantikgespenst

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Das Atlantik-Hotel an der Strandpromenade des großen Ostseebades Heilmünde erwachte regelmäßig am ersten Juni aus dem Winterschlaf. An diesem Tage begannen die mannigfachen Vorbereitungen für die Saison, an diesem Tage traf auch ein Teil des Personals ein, das Herr Wurzler, ein alter Hotelpraktikus und früherer Oberkellner, in den letzten zwei Jahren mit besonderer Vorsicht ausgewählt hatte. Herr Emil Wurzler, seit acht Jahren Besitzer des Atlantik und seit fünfzehn Jahren Ehemann der energischen, geschäftskundigen, rundlichen und überaus eifersüchtigen Frau Mathilde, hatte soeben den neuen „Ober“ vom Bahnhof abgeholt. Die beiden schritten die Strandpromenade entlang und machten nun vor dem Atlantik halt.

Der imposante, dreistöckige Bau, von Gartenanlagen umgeben, mit breiter Freitreppe, Terrasse, Balkons, Loggien und Barräumen und zwei Läden im Keller, hätte jedem Badeorte als Kurhaus dienen können.

Der patente Ober sagte jetzt anerkennend: „Noch tipp topp von außen, Herr Wurzler. Nur die Balkongitter würde ich streichen lassen, die sehen etwas ruppig aus.“

„Stimmt, Herr Breul, stimmt! Der Maler ist schon bestellt. Kostet zwar ein Sündengeld, aber – das holen wir wieder heraus –“ – Er schmunzelte. „Die Ausländer müssen’s berappen. Habe viel Reklame gemacht. Hat sich gelohnt. Schon eine Menge Bestellungen auf Zimmer aus Schweden und Dänemark da. Aber – wir werden auch gut die Augen offen halten müssen!“ Er seufzte und sein breites leicht gebräuntes Vollmondgesicht mit dem englischen Bürstenschnurrbärtchen umwölkte sich. „Die Hoteldiebe sind jetzt rühriger als früher. Sie kommen ja aus Berlin, Herr Breul. Sie wissen also: drei Riesendiebstähle dort in der letzten Woche! Da kriegt man eine Gänsehaut! – Aha, meine Frau. Sie erwartet uns. Kommen Sie, Breul, Thilde winkt schon. Sie wartet nicht gern –“

Frau Mathilde reichte dem Ober die Hand und begann sofort ein Verhör mit ihm. Das Verhör mußte abgebrochen werden, da jetzt kurz nacheinander drei mit demselben Zuge angelangte Stubenmädchen eintrafen.

Dies war nachmittags gegen fünf Uhr. Und eine halbe Stunde später hielt vor dem Atlantik eine Droschke, in der zwei Damen saßen. In einer zweiten, die etwas langsamer folgte, befanden sich vier Riesenkoffer, Hutschachteln und Handtaschen.

Die eine der Damen stieg aus und kam ins Bureau des Hotels, wo Emil Wurzler gerade die Nachmittagspost durchsah.

Wurzler dienerte und fragte nach den Wünschen der Gnädigen.

In einem Deutsch, das sofort die Ausländerin verriet, verlangte die Dame die drei besten Zimmer zu sehen.

Das Deutsch war so miserabel, daß Wurzler die Hälfte erraten mußte. Er rief daher den sprachkundigen Ober herbei. Doch auch Breul versagte hier zunächst, bis die Dame englisch zu sprechen begann. Nun stellte sich heraus, daß es sich um die Zofe der im Wagen draußen verbliebenen Sennora Parazza, einer Brasilianerin, handelte, die acht Wochen in Heilmünde billig leben wollte, sehr billig, wie alle Ausländer. Das sagte aber die Zofe nicht. Nein, sie betonte nur, daß ihre Herrin seit heute mittag die Hotels und Pensionate besichtigt, aber noch nichts Passendes gefunden habe.

Wurzler und Breul zeigten nun die drei besten Räume im ersten Stock, die wirklich selbst den verwöhntesten Ansprüchen genügen mußten.

Die Zofe, übrigens ein reizender schwarzhaariger und glutäugiger Käfer, wie der Junggeselle Breul mit gespitzten Lippen und der Ehemann Wurzler mit leisem Wärmegefühl im Herzen feststellten, schien denn auch befriedigt und bat Breul, die Sennora heraufzubitten.

Breul jagte davon. Er witterte hier erstklassige Gäste.

Inzwischen war die Sennora Parazza ausgestiegen und ging vor dem Atlantik auf und ab.

Ihr hellgraues Reisekostüm, der Hut mit der Seidenbandgarnitur, die schwarzseidenen Florstrümpfe, der kleine Fuß im Halblackschuh, die Wildlederhandschuhe, das goldene Handtäschchen – all das hatte Breul mit einem Blick umfangen und hatte gedacht: ganz Dame!

Nun sah er auch das diskret geschminkte und gepuderte Gesicht, die nachgezogenen Augenbrauen, das kastanienbraune Haar, die müden, großen, dunklen Augen, den leicht gelangweilten Ausdruck dieses schmalen, rassigen Antlitzes, den Blick, der über ihn hinwegglitt, als ob er Luft wäre. Und wieder dachte er: ganz Dame!

Als er sie dann in seinem leidlichen Englisch überhöflich bat, sich in den ersten Stock hinaufzubemühen, da der „Miß“ die Zimmer zusagten, fragte die Sennora, ohne Breul weiter zu beachten:

„Lift?“

Breul erschrak. – Fahrstuhl?! Nein, den gab es im Atlantik leider nicht. Und so erwiederte er denn diplomatisch, daß die Treppen außerordentlich bequem seien.

„Juanita soll kommen,“ erklärte die Brasilianerin darauf. „Ich miete nur mit Fahrstuhl.“

Otto Breul verbeugte sich sehr tief und schob ab. Schade, schade! Wie gern hätte er diese Sennora für das Atlantik fest gemach! Na – vielleicht ließ sich bei der schwarzen Juanita etwas erreichen. Man war doch ein verflucht forscher und hübscher Kerl, so recht blond, wie dies die Südamerikanerinnen nun mal lieben.

Und Breul verhandelte mit Juanita in so geschickter Weise, daß Emil Wurzler sich im Hintergrunde feixend die Hände rieb. – Donner noch mal – dieser Ober war was wert! Der verstand seine Sache! Freilich – er war ja auch bis Ende April in einem ersten Winterkurort in der Schweiz engagiert gewesen und hatte ein Gehalt gefordert – ein Gehalt!

Juanita trippelte davon. Und nach zehn Minuten kehrte sie mit der Sennora zurück. –

Wurzler tat im Bureau einen Luftsprung. Die Brasilianerin hatte sofort für vierzehn Tage vorausbezahlt – ein kleines Vermögen, denn die drei Zimmer kosteten mit Verpflegung pro Tag „nur“ 1500 Mark.

Und wieder nach einer halben Stunde kam die kleine schwarze Zofe mit ihrer Herrin Juwelen ins Bureau, mit fünf Etuis, verschließbaren Etuis. Wurzler stellte eine Quittung aus und schloß die Kästchen in den Stahlschrank ein. – Und abermals nach zehn Minuten beugten Emil Wurzler und der Ober ihre wohlfrisierten Schädel über das Fremdenbuch, in das die Sennora mit steiler, schmuckloser Handschrift eingetragen hatte:

Rosarita Parazza, verfietwehte Haziendabesitzersgattin,
Los Braguzos, Brasilien,
nebst Zofe Juanita Rigedo, Brasilien.

Das „verfietwehte“ entlockte den beiden ein Lächeln, regte anderseits aber auch die Phantasie an.

So wurde Frau Parazza der erste Gast der diesjährigen Saison in Heilmündes feinstem Hotel.

– – – – – – – –

Am fünfzehnten Juni gingen auf einem der Bahnsteige des Stettiner Bahnhofs in Berlin vor dem 6,30-Abend-D-Zug nach Heilmünde zwei Herren auf und ab.

„Lieber Harry,“ sagte der kleinere soeben, „gewiß, Du kannst es Dir leisten, in so einer Nepp-Bude von Luxushotel sechs Wochen zu wohnen. Trotzdem: für mich wäre das keine Erholung!“

„Geschmacksache, Dicker!“ lächelte Doktor Harry Stelter. „Ich brauche etwas Trubel. Ich fühle mich in so einem gottverlassenen Strandnest, wie Du es Dir ausgesucht hast, nicht wohl –“ –

Der Zugführer mahnte zum Einsteigen. Doktor Stelter betrat sein Abteil 2. Klasse, musterte flüchtig den einzigen Mitreisenden, einen noch recht jungen Menschen, ließ das Fenster herab und sagte zu dem Redakteur Erwin Palkow:

„Noch eins, lieber Dicker: Du vergißt nicht, die Sache Freund Ritzelt zu erzählen! Ich wünsche nicht, daß davon viel Aufhebens gemacht wird. Ich bin ja nicht ganz sicher, ob mein Verdacht zutrifft. Immerhin soll Ritzelt die Geschichte nachprüfen und irgend jemand noch heute in meine Wohnung einquartieren. Die Schlüssel hast Du ja –“

Der Zug ruckte an. Noch ein Händedruck, und Stelter zog das Fenster hoch, winkte Palkow zu und setzte sich in seine Fensterecke, nahm seine Zigarrentasche vor und suchte sich eine helle Zigarre aus, da er es gewohnt war, abends nur ein leichtes Kraut zu rauchen. Wie er jetzt die Spitze mit dem Federmesser abschnitt und das Zündholz anrieb, kamen seine schmalen gepflegten Hände und ihre ruhigen, abgerundeten Bewegungen voll zur Geltung. Für jeden Menschenkenner hätte schon diese an sich so alltägliche kleine Beschäftigung des Anzündens einer Zigarre genügt, sich von Harry Stelter ein ungefähres Charakterbild zu entwerfen: reich (das verriet die äußere Aufmachung), verwöhnt, etwas anspruchsvoll, etwas eitel, etwas kleinlich, etwas empfänglich für Äußerlichkeiten, dabei aber energisch, zielbewußt und von der abgeklärten Ruhe des Gesellschaftsmenschen und des Welt- und Menschenkundigen.

Diese Charakteristik wäre alles in allem richtig gewesen. Sie ließ sich ergänzen, doch nur nach längerer Bekanntschaft mit Stelter, der wie jeder moderne Mensch vieles hinter der Maske dieser abgeklärten Ruhe verbarg, was selbst für seine Freunde nicht leicht zu durchschauen war. –

Stelters Gegenüber in der anderen Fensterecke las eine Abendzeitung und rauchte eine Zigarette. Stelter musterte den jungen Menschen nochmals. Er riet auf Student, Bankbeamten oder dergleichen.

 

2. Kapitel.

Erwin Palkow, Lokalredakteur am „Berliner Osten“, fuhr vom Bahnhof nach dem Polizeipräsidium.

„Ich komme soeben vom Stettiner Bahnhof,“ sagte er, indem er dem Kommissar Ritzelt die Hand schüttelte. „Stelter ist abgedampft gen Heilmünde. Na – viel Vergnügen! – Er schickt mich zu Dir, Justus. Ihm ist da heute nachmittag noch etwas passiert, das ich Dir warm ans Herz legen sollte. Die Geschichte verhält sich folgendermaßen. Harry hat gestern schon seine brave Haushälterin für sechs Wochen zu ihren Eltern auf Urlaub geschickt. Die Wohnung Harrys war also heute mittag, als wir im Rheingold das Abschiedsdiner einnahmen, zu dem Du Dich ja auch einfinden solltest –“

„– Ich bin leider nicht Rentner, Erwin –“

„Na ja. Also die Wohnung war drei Stunden lang, bis vier Uhr, ohne Aufsicht. Harry fuhr um dreiviertel vier heim; ich nach der Redaktionsbude. Um sechs trafen wir uns wieder auf dem Stettiner Bahnhof. Stelter glaubt nun, daß jemand zwischen ein und vier Uhr in seiner Wohnung trotz doppeltem Sicherheitsschloß gewesen ist und seinen Schreibtisch durchsucht hat.“

„Nur den Schreibtisch?“

„Ja. Wenigstens entdeckte er nur an diesem Möbel allerlei Zeichen, die auf das unerlaubte Interesse einer fremden Person für dessen Inhalt hindeuteten. Du kennst ja Harrys Ordnungsliebe. Er behauptet, die Schreibunterlage hätte anders gelegen, und die Papierschere wäre –“

„– Wenn Harry so etwas behauptet, wird es schon stimmen,“ fiel Ritzelt ihm ins Wort.

„Na – beschwören kann er’s nicht. Immerhin hat er’s ein wenig mit der Angst bekommen. Du sollst nun einen zuverlässigen Menschen für die sechs Wochen dort unterbringen –“ – Der wohlbeleibte Redakteur teilte Ritzelt Stelters Wünsche im einzelnen mit.

„Hm – verdenken kann man’s Harry nicht,“ meinte der Kommissar darauf. „Seine Orientteppiche allein sind ein Vermögen wert. – Gut – ich werde sofort mal telephonieren.“

Er nahm den Hörer vom Tischtelephon, und bereits nach fünf Minuten lernte Palkow den aus Bromberg durch die Polen vertriebenen jungen Assessor Doktor Bertram kennen, der auf Grund von Empfehlungen jetzt aushilfsweise bei der Kriminalpolizei beschäftigt wurde.

Die drei Herren begaben sich sofort nach Stelters in der Lüneburger Straße gelegener Wohnung, nachdem Doktor Bertram seinen Koffer von seiner Wirtin abgeholt und sein kleines Zimmer dort gekündigt hatte. Ritzelt untersuchte die Schlösser der Flurtür und dann den eichenen, reich geschnitzten Schreibtisch, weiter das ganz elegante Herrenzimmer und schließlich auch die beiden anderen Zimmer.

Palkow und Doktor Bertram saßen derweilen in weichen Klubsesseln und warteten geduldig, bis Ritzelt fertig war, wieder zu ihnen trat und erklärte:

„Stelter hat recht. Es war jemand hier. Es ist jedoch nicht allein dieses Zimmer, sondern auch das Speise- und Schlafzimmer von dem Eindringling sehr gründlich, aber auch sehr vorsichtig durchstöbert worden. Ich habe die Fingerabdrücke einer sehr zierlichen Hand an fünf verschiedenen Stellen gefunden, außer anderen Beweisen, daß Behältnisse mit Nachschlüsseln geöffnet worden sind. Den ganzen Umständen nach seid Ihr, Stelter und Du, beobachtet worden, als ihr das Rheingold betratet, auch muß der Fremde gewußt haben, daß Harrys Wirtschafterin bereits verreist war. – Herr Doktor,“ wandte er sich an Bertram, „Sie können hier vielleicht einen guten Fang machen –“

– – – – – – – –

Zu derselben Zeit, als die drei Herren in Stelters Wohnung weilten, war dieser mit seinem Reisegefährten in ein Gespräch gekommen.

Doktor Stelter war es gewesen, der den bartlosen Jüngling mit dem blassen Pausbackengesicht aus Langerweile einer Anrede gewürdigt hatte. Der junge Mensch, noch recht ungewandt und leicht verlegen werdend, besaß eine heisere, wenig angenehme Stimme, stotterte zuweilen und kniff, sobald er zu stottern begann, die mit einer modernen Hornbrille bewaffneten kurzsichtigen Augen noch mehr zusammen. – Stelter wurde aus ihm nicht recht klug. Seine erste Vermutung, Student, Bankbeamter oder dergleichen, verwarf er wieder. Er riet jetzt auf Künstler: Maler, Bildhauer, Dichter.

Schließlich stellte er sich vor, und der junge Mensch stotterte auch seinerseits einen nicht recht verständlichen Namen.

„Verzeihung,“ meinte Stelter, „ich habe wohl recht gehört: Pöhling – nicht wahr?“

„Nein – Teling – Teling, Fritz Teling. Schriftsteller –“

„So, Schriftsteller. Dann sind wir ja Kollegen, Herr Teling. Allerdings bin ich mehr Wissenschaftler. Ich bin, aus Liebhaberei, Altertumsforscher und habe eine ganze Menge von Aufsätzen über altägyptische Kultur veröffentlicht.“

„Oh – ich schreibe nur Romane und Novellen. Das heißt, Berufsschriftsteller bin ich erst seit kurzem. Ich studierte bis dahin Chemie. Das Studium sagte mir jedoch nicht zu. Durch eine Erbschaft – ich bin im übrigen Waise – wurde es mir endlich ermöglicht, nur meinen Neigungen zu leben. Ich will jetzt in Heilmünde meinen ersten großen Roman beenden –“

Die Unterhaltung ging weiter. Stelters hageres Gesicht, dessen gesunde Gesichtsfarbe eifrige sportliche Betätigung verriet, überflog zuweilen bei den zum Teil recht naiven Äußerungen Fritz Telings ein ironisches Lächeln. Ohne Zweifel hatte dieser blonde Jüngling mit dem straff gescheitelten Haar einen ganzen Batzen Geld geerbt, sagte Doktor Stelter sich. Ohne den Rückhalt eines großen Vermögens hätte Teling in der heutigen Zeit es kaum wagen dürfen, sich gerade die brotlose Kunst der Schriftstellerei als Beruf zu erwählen.

Teling war dann auch offen genug, zuzugeben, daß er selbst für heutige Begriffe reich sei. Alles in allem machte er bei seinen einundzwanzig Jahren einen noch ziemlich unreifen Eindruck. Stelter amüsierte sich innerlich geradezu köstlich darüber, daß dieser unausgebackene Mensch seinen großen sozialen Roman später auch bei einem Verlag anzubringen hoffte – ausgerechnet noch einen sozialen Roman! –

Als der Zug in Pasewalk hielt, wollte Harry Stelter sich vom Bahnsteig ein paar belegte Brötchen holen. „Sie geben wohl auf mein Gepäck acht, Herr Teling,“ meinte er und eilte hinaus.

Fritz Teling war allein. Sein Gesicht veränderte sich für Sekunden auf eine sehr merkwürdige Weise. Der harmlos-gutmütige Ausdruck verschwand; die Augen wurden groß und zeigten zum ersten Male so recht ihr wundervolles Braun; die schön gezeichneten Lippen preßten sich zu einer schmalen Linie zusammen, zogen sich etwas abwärts und gaben dem weichen, runden Kinn ein ganz anderes Gepräge.

Doch – ebenso schnell ward Telings Antlitz abermals zur fein einstudierten Maske halber Kindlichkeit. Er ließ das Fenster herab und blickte Stelter flüchtig nach. Dann schloß er es wieder, warf rasch einen Blicke in den Gang des D-Wagens und machte sich an den Schlössern der beiden Coupeekoffer Stelters zu schaffen, öffnete dann auch dessen Handtasche und durchsuchte sie sehr geschickt mit seiner schmalen, tadellos gepflegten Hand, an der die rosig lackierten Fingernägel im Schein der Abendsonne noch rosiger blinkten.

„Nichts,“ murmelte Teling. „Nun – im Atlantik wird sich schon noch eine bessere Gelegenheit bieten!“ –

In Heilmünde nahmen Stelter und Teling gemeinsam eine Droschke. Sie wollten ja beide im Atlantik absteigen.

Fritz Teling hatte seinen Koffer ausgepackt und seine sechs Anzüge in den Schrank gehängt. Jetzt trat er auf seinen Balkon hinaus. Sein Zimmer lag im zweiten Stock neben dem Doktor Stelters. Der Balkon war lang und gehörte mit zu Stelters Zimmer, hatte jedoch in der Mitte eine hohe Scheidewand.

Teling hatte das Balkongitter umklammert und stierte mit seltsam abwesendem Gesichtsausdruck auf die endlose Wasserfläche hinaus. Ein schwarzer Wolkenfetzen gab jetzt die Mondsichel frei. Silberglanz breitete sich mit mildem Funkeln über das Meer in schillernder Bahn aus.

„Schön, nicht wahr?“ sagte Doktor Stelter, der auf weichen Morgenschuhen seinen Balkon betreten und sich vorgebeugt hatte.

„Ich werde hier sehr gut arbeiten können,“ meinte Fritz Teling mit seinem belegten Organ. „Man kommt hier in Stimmung! – Gute Nacht, Herr Doktor, ich bin hundemüde –“

Er verschloß die Balkontür hinter sich und zog die Vorhänge sehr sorgfältig zu.

Es war jetzt halb zwölf. Unten in der Bar des Atlantik waren noch ein paar Herren eifrig damit beschäftigt, den beiden Bardamen den Hof zu machen und Liköre, Preis nicht unter dreißig Mark, zu probieren. Der Herr Ober Otto Breul hatte im Hotel nichts mehr zu tun und kam jetzt in die Bar, um auch hier nach dem Rechten zu sehen. Die zechenden Gäste, neue Reiche jener protzigen Sorte, die anderen am meisten auf die Nerven fällt, luden den patenten Ober zu ein paar Schnäpsen ein. Bald wurde auch Sekt bestellt. Breul hatte sich am Nachmittag wieder über die schwarze Juanita geärgert, die ihn jetzt einfach mit „Ober“ anredete. Überhaupt: sie war eine recht anmaßende Person und schien ihre Sennora vollständig zu beherrschen.

Otto Breul wollte diesen Ärger durch Alkohol dämpfen. Er trank mehr, als er vertragen konnte. Als die vier Gentlemen, gleichfalls leicht bezecht, gegen ein Uhr die Bar verließen, hatte Breul alle Mühe, sich im Hotel zurechtzufinden und unauffällig sein Stübchen in der Mansarde zu erreichen.

Er benutzte die linke Seitentreppe, die aus dem Souterrain nur bis in den ersten Stock hinauflief. Hier mußte er die Flure bis zur Haupttreppe entlanggehen. In den Fluren brannten nachts nur vereinzelt matte Birnen.

Otto Breul bog jetzt um die Ecke und hatte nun den breiten Hauptkorridor vor sich. Die dicken Läufer dämpften sogar das Geräusch seiner etwas unsicheren Schritte.

Plötzlich blieb er stehen. Seine Haltung drückte Staunen und Schreck aus.

Nur einen Moment hatte er flüchtig an die Möglichkeit einer Sinnestäuschung gedacht. – Nein – davon konnte gar keine Rede sein.

Dort schlich, kaum fünfzehn Schritt entfernt, eine Gestalt lautlos dahin, eine Gestalt in einem dunkeln Schlafanzug.

Jetzt schwenkte sie nach links ab. Dort standen die Palmenkübel am Fuße der Treppe in den zweiten Stock; dort verschwand die unheimliche Person. –

Otto Breul war mit einem Schlage wieder völlig nüchtern. Daß die Gestalt dort auf faulen Pfaden wandelte, bezweifelte er nicht einen Augenblick.

Rasch eilte er hinterdrein. Als er nun an die Haupttreppe gelangt war, nahm er einen halben Anlauf und sprang mit fünf Riesensätzen die Stufen empor.

Leider hatten zwei der Stufen geknarrt. Und so war denn, was Breul schon befürchtet hatte, der Hauptflur im zweiten Stock leer. – Breul lauschte. Volle fünf Minuten regte er sich nicht. Er hörte nichts Verdächtiges. Dann setzte er sich auf die oberste Treppenstufe. Er wollte beweisen, daß er alle Zeit auf dem Posten war. Herr Emil Wurzler sollte mit ihm zufrieden sein.

Er lehnte sich an die Wand und saß sprungbereit. Sobald die Gestalt sich zeigte, würde er ihr an die Kehle fahren.

Doch – der Sekt und die Liköre rächten sich jetzt. Breul fühlte, wie ihm die Augenlider schwerer und schwerer wurden. Der Kopf sank ihm auf die Brust. Zweimal raffte er sich noch auf, nickte jedoch sofort wieder ein, schlief – schlief so fest, daß er schnarchte. –

Er schlief noch immer, als sich im zweiten Stock die Tür eines unbewohnten Zimmers leise öffnete und eine graue Gestalt in den Hauptflur hinaushorchte. Breuls rasselnde Gurgeltöne drangen recht deutlich bis hierher. Die Gestalt huschte dann bis zur Haupttreppe, beugte sich über den zusammengesunken Dasitzenden und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter.

Breul erwachte nicht. Die Gestalt machte kehrt, verschwand die Treppe hinab und erschien sehr bald wieder, näherte sich Breul abermals und hielt ihm ein Fläschchen unter die Nase.

Otto Breul sank langsam vornüber. Sein Körper hatte jetzt jeden Halt verloren.

Der Graue steckte das mit einem Glasstöpsel verschlossene Fläschchen in die Tasche seines seidenen Schlafanzugs, nahm den Bewußtlosen in die Arme und trug ihn den Korridor entlang in das Badezimmer, legte ihn hier vor die Wanne auf den Bastteppich und schlich die Haupttreppe wieder hinab. –

Breul erwachte um fünf Uhr morgens im Badezimmer, stierte wild um sich, rieb sich die Augen, suchte sich darüber klar zu werden, wie er wohl hierher gelangt sein könne, und war schließlich fest davon überzeugt, daß er die Begegnung mit der unheimlichen Gestalt nur geträumt hätte.

Die Traumgestalt des Hoteldiebes aber taufte er – nur für sich selbst – mit einem nachsichtigen Lächeln, das seinem gestrigen Bezechtheitstadium galt, das – Atlantikgespenst. – Ihm erschien diese Bezeichnung für eine Traumfigur den ganzen Umständen nach ebenso zutreffend wie poetisch. – Atlantik – das war ja zugleich der Name des Atlantischen Ozeans; und Seegespenster gab es ebenfalls in reicher Auswahl, den fliegenden Holländer, den Klabautermann und andere.

 

3. Kapitel.

Fritz Teling frühstückte am Morgen nach dieser Nacht, in der er nur wenig geschlafen hatte, auf seinem Balkon, obwohl ein recht frischer Wind von der nahen See ihn frösteln machte.

Doktor Stelter begrüßte ihn dann, indem er sich um die Scheidewand vorbog und fragte, wie der Zimmernachbar geschlafen hätte.

Teling blinzelte ihn an und erwiderte: „Danke, Herr Doktor, vorzüglich – wie ein Toter!“

„Ich desgleichen,“ lächelte Stelter. „Ja, ja – die Seeluft! Die ist besser als ein Schlafmittel! – Was tun Sie vormittags, Herr Teling?“

„Ich werde arbeiten. Ich bin in Stimmung –“

„Na, dann muß ich allein im Sande faulenzen. Auf Wiedersehen.“ –

Fritz Teling saß bereits um neun Uhr an seinem Schreibtisch, den ihm Herr Emil Wurzler aus seinen Privaträumen gegen eine Monatsmiete von nur fünfhundert Mark zur Verfügung gestellt hatte und den drei Kellner soeben erst in das Zimmer Nr. 25 geschleppt hatten, während Otto Breul den Transport überwachte. Bei dieser Gelegenheit hatte Breul ein paar höfliche Redensarten mit dem jungen Schriftsteller ausgetauscht. Zu diesen üblichen Redensarten gehörte natürlich auch die Frage, ob der Gast mit dem Bett zufrieden sei.

„Oh – ich schlief tadellos,“ hatte Teling erwidert und hinzugefügt: „Sie hoffentlich auch, Herr Oberkellner.“

Breul ärgerte sich. – Zum Kuckuck – er war wirklich rot und verlegen geworden, beeilte sich dann zu erklären, er schlafe stets sehr fest, und dachte dabei: „Merkwürdig – dieser Teling scheint zu wissen, daß ich im Badezimmer gelegen habe!“ – Er vergaß Telings scheinbar ironische Frage sehr bald, da er nachher auf der Terrasse zu seiner Wut feststellte, daß Doktor Stelter von Nr. 26 mit der Sennora Parazza beim Frühstück über sechs Tische hinweg ein leichtes Augengeplänkel eingeleitet hatte.

Ah – also war die Parazza doch nicht jedermann gegenüber ein Eisblock! Freilich, Doktor Stelter konnte sich sehen lassen! Das schien so ein ganz routinierter Herzenknicker zu sein! –

Fritz Teling schrieb bis zehn Uhr ununterbrochen. Seine Handschrift war zierlich und doch energisch. Dann verließ er das Atlantik und begab sich auf Umwegen zum Bahnhof, wo er gestern abend nur zwei seiner Koffer mit nach dem Hotel genommen hatte. Zwei weitere hatte er auf der Gepäckaufbewahrungsstelle abgegeben, als Doktor Stelter sich draußen nach einer Droschke umtat.

Von diesen beiden Koffern nahm er jetzt den kleineren mit. Der Bahnhof lag ein Stück außerhalb der Stadt in der Nähe des Waldes. Teling schlug nicht den Weg nach der Stadt ein, sondern bog von der Chaussee in eine Schonung ab, nachdem er sich überzeugt hatte, daß er nicht beobachtet wurde.

Eine halbe Stunde später verließ eine grauhaarige Dame, die einen goldenen Kneifer trug und sehr bescheiden gekleidet war, dieselbe Schonung und wanderte mit einem Coupeekoffer Heilmünde zu. – Zu gleicher Zeit war der Berliner Morgenzug in den Bahnhof eingelaufen und hatte eine ganze Menge von Badegästen mitgebracht, die nun teils zu Fuß, teils zu Wagen, der Stadt ebenfalls zuströmten.

Die Grauhaarige mietete, nachdem sie sich mehrere Zimmer in Privathäusern angesehen hatte, ein Stübchen in einem alten Hause am Hafen bei einer schwerhörigen, alleinstehenden Kapitänswitwe. Das Stübchen lag zu ebener Erde nach vorn heraus. Die Witwe Anna Senkpiel aber schlief nach dem Hofe zu in einem noch kleineren Raum. Ihre Mieterin nannte sich Helene Münz, Musiklehrerin aus Berlin.

Fräulein Münz schickte dann einen Jungen mit dem Gepäckschein nach dem Bahnhof und ließ Fritz Telings dort noch befindlichen Koffer abholen. – Fritz Teling hatte nun zwei Wohnungen in Heilmünde. Bisher war alles nach Wunsch geglückt. Die Witwe Senkpiel würde nicht merken, daß das solide Fräulein Münz spät abends immer wieder durch das Fenster ihre Stube verließ und dann morgens nur so tat, als käme sie bereits von einem Spaziergang.

– – – – – – – –

Kommissar Ritzelt war sehr gespannt, ob Doktor Bertram in dieser ersten Nacht in Stelters Wohnung etwas erlebt hätte. Gegen neun Uhr vormittags fuhr er nach der im Vorort Wilmersdorf gelegenen Lüneburger Straße hinaus und traf Doktor Erich Bertram gerade bei der Zubereitung des Morgenkaffees an.

„Ich bin, bis es hell wurde, wach geblieben,“ erklärte Bertram. „Es hat sich nichts ereignet. Nur –“ – er zögerte etwas. „Nur – eine besondere Entdeckung habe ich gemacht –“

„Und das wäre?“ fragte Ritzelt neugierig.

Bertram stellte zwei Tassen auf das Teebrett.

„Sie trinken doch einen Schluck Kaffee mit, Herr Kommissar?“ meinte er. „Beim Frühstück erzähle ich Ihnen alles –“ –

Und Doktor Erich Bertram erzählte …

Daß er nach Tagesanbruch drei Stunden geschlafen habe; um acht Uhr sei er wieder aufgestanden. „Ich wollte einmal prüfen, ob ich ebenfalls die Fingerabdrücke fände, von denen Sie gesprochen hatten, Herr Ritzelt. Mein Wunsch ist ja, bei der Kriminalpolizei für immer zu bleiben. Ich will lernen – von Ihnen lernen. Nun – ich fand die Fingerspuren. Ich habe sie mit Hilfe eines Vergrößerungsglases nachgezeichnet. Hier ist die Zeichnung. Der Mittelfinger der rechten Hand hat eine hakenförmige Narbe. Diese Narbe markiert sich in den Abdrücken als leere Stelle – wie stets. Auf diese Narbe kommt es an. – Ich möchte Ihnen nun einen Brief zeigen, einen mit Bleistift geschriebenen Brief –“

Er entnahm ihn seiner Brieftasche. Die letzte Seite des Briefes war leer. Aber gerade hier hatte der Briefschreiber mit den durch den lila Tintenstift leicht beschmutzten Fingerspitzen drei Abdrücke, die des Zeige-, Mittel- und vierten Fingers der rechten Hand, zurückgelassen.

Während Bertram weitersprach, verglich Ritzelt die Zeichnung mit den Abdrücken auf dem Briefe.

Doktor Bertram hatte eine ganze Menge zu berichten, Dinge, die weit in die Vergangenheit zurückgingen. „Nach alledem, was Sie soeben gehört haben,“ sagte er nun, „werden Sie es begreiflich finden, daß ich sofort an diesen Brief und die Fingerabdrücke dachte, als ich die Zeichnung herstellte und dabei auch die Narbe, diese so charakteristische Narbe, berücksichtigen mußte. Noch verständlicher ist es, daß ich erschrak, als mir so zur Gewißheit wurde, wer die Person gewesen, die hier in Stelters Abwesenheit eingedrungen war.“

Ritzelt[2] nickte zerstreut.

„Der Name dieser Person ist mir nicht fremd,“ meinte er dann sinnend. „Er muß zu irgend einem Kriminalfall der letzten Monate in Beziehung stehen. Ich werde schon noch darauf kommen. – Zunächst etwas anderes. Der Eindringling hier hat nichts mitgehen heißen, hat nichts gestohlen. Was also wollte er hier? Weshalb wagte er sich in die fremde Wohnung und setzte sich der Gefahr aus, sich Unannehmlichkeiten zuzuziehen, falls er überrascht würde?! Mehr noch: er muß Stelter und Palkow, wie ich schon gestern betonte, beobachtet haben, als sie in das Rheingold gingen, um dort Mittag zu essen. Weshalb verfolgte er Stelter, weshalb heftet er sich an seine Fersen?! Denn – daß er nicht nur gestern Stelter belauert hat, sondern schon längere Zeit, steht für mich fest. Kurz: es wäre vielleicht angebracht, Stelter von uns aus beobachten zu lassen, damit man so herausbekäme, ob der Eindringling auch weiterhin sich mit Stelter beschäftigt. Leider liegt hierzu für uns jedoch so lange kein Grund vor, bis wir nicht bestimmt wissen, daß es sich hier etwa um ein geplantes Verbre…“

Ritzelt beendete nicht einmal das eine Wort, beugte sich weit über den Tisch und rief:

„Doktor – jetzt ist mir der Zusammenhang zwischen dem Namen unseres Eindringlings und einem die Öffentlichkeit noch heute stark beschäftigenden Ereignis eingefallen: Theodor Busse!“

Erich Bertrams frisches, kluges Gesicht zeigte einen Ausdruck grüblerischer Unruhe. Und überstürzt fragte er:

„Sie glauben doch nicht etwa, daß der noch immer unaufgeklärte Tod des Rentners Busse –“

Ritzelt ließ ihn den Satz nicht aussprechen. „Nicht so eilig mit Mutmaßungen, bester Doktor!“ warnte er. „Ich mache Sie lediglich darauf aufmerksam, daß der Rentner Theodor Busse, wie Sie ja wissen, sich scheinbar durch Gift selbst den Tod gegeben und daß er außer einem Testament einen Brief hinterlassen hat, dessen Inhalt etwas seltsam ist. Sie wissen auch, daß entfernte Verwandte Busses gegen dessen Erben allerlei Verdächtigungen in die Welt setzten, woraus ein Beleidigungsprozeß entstand, der mit der Verurteilung der verleumderischen Verwandten endete.“

„Dies ist mir neu,“ warf Bertram ein. „Ich war damals gerade nach Warschau geschickt worden, um zusammen mit Kröger die dorthin weisende Spur der beiden Defraudanten weiter zu verfolgen.“

„Nun ja – hauptsächlich durch diesen Beleidigungsprozeß wurden, was Busses Tod betrifft, geringfügige Einzelheiten aufgedeckt, die bei uns den Verdacht bestärkten, daß der Rentner sich vielleicht doch nicht selbst vergiftet haben könnte. Kollege Werming hat den Fall in Arbeit. Er sagte mir jedoch erst vorgestern, daß die Sache ganz aussichtslos sei. Es ließe sich keinerlei Hinweis auf eine bestimmte Person finden, die irgend ein Interesse an Busses Tod gehabt hätte. Der Erbe selbst, der seit Jahren gelähmte Postdirektor Schmidt, kommt als eventueller Täter schon gar nicht in Betracht, und seine Kinder ebensowenig. Immerhin ist es merkwürdig, daß Sie nun festgestellt haben, daß ein Mitglied der Familie Schmidt doch nicht so recht einwandfrei zu sein scheint. Unter diesen Umständen werde ich veranlassen, daß Sie Doktor Stelter nachreisen und in Heilmünde unerkannt einige Zeit bleiben. Ihr bartloses Gesicht eignet sich für eine Verkleidung vortrefflich. Sie sprechen ja auch perfekt polnisch und können in Heilmünde getrost als Pole auftreten. Wenn Sie Glück haben, finden Sie in kurzem heraus, ob Freund Stelter wirklich auch dort unter Beobachtung steht. An Ihrer Stelle wird dann hier jemand anders einquartiert werden. Sie sind doch mit diesem Auftrag einverstanden?“

Erich Bertram blickte zur Seite. „Das schon, Herr Kommissar. Ich gebe allerdings zu, daß meine früheren Beziehungen zu der Familie Schmidt –“

„Oh – das darf Sie nicht stören, lieber Doktor,“ fiel Ritzelt ihm eifrig ins Wort. „Im Vertrauen: Oberregierungsrat Schropp möchte Sie gern bei uns fest unterbringen. Er ist mit Ihnen sehr zufrieden. Lassen Sie sich also keine Gelegenheit entgehen, Ihre Fähigkeiten für unseren oft recht interessanten, wenn auch zuweilen etwas gefährlichen Beruf zu beweisen.“

„Wo werde ich! – Ich bin zu allem bereit. Meinetwegen reise ich schon morgen.“

„Das wird wohl auch angeordnet werden. Ich will sofort ins Präsidium zurück und dem Oberregierungsrat die Sache vortragen. Während Sie dann in Heilmünde tätig sind, werden wir den Schmidts, die sich ja in der nahen Obststadt Werder niedergelassen haben, noch kräftiger auf den Zahn fühlen. Irgend etwas stimmt da nicht. Davon bin ich überzeugt. Sie müssen schon allein das eine bedenken: der Eindringling hier muß doch fraglos tadellos gearbeitete Nachschlüssel zu den beiden Sicherheitsschlössern der Flurtür sich verschafft haben! Wie brachte er das fertig?! Harry Stelter ist ja so überaus vorsichtig und mißtrauisch, sucht seine Schätze hier auf jede nur mögliche Weise zu schützen.“ –

Mit dem 6,30-D-Zug reiste Doktor Erich Bertram am übernächsten Tage wirklich nach Heilmünde. Freilich war es äußerlich nicht mehr der bartlose, junge Assessor. Nein – es war ein Herr mit schwarzem Spitzbart, Kneifer und einer tadellos sitzenden schwarzen Scheitelperücke, der für alle Fälle auch einige polnische Ausweispapiere mit hatte.

 

4. Kapitel.

Das Atlantik-Hotel bekam an diesem Abend wieder drei neue Gäste, ein junges Ehepaar und den polnischen Arzt Doktor Kasimir Krinski. Letzterer verlangte den Hotelbesitzer zu sprechen, bevor er ein Zimmer belegte. Emil Wurzler wurde durch den Ober herbeigerufen. Im Bureau zeigte der Pole dann Wurzler seine Legitimation als Angestellter der Berliner Kriminalpolizei vor und bat, ihm ein recht billiges Zimmer zuzuweisen. Was er hier vorhatte, verriet er nicht. Ebenso verlangte er von Wurzler allerstrengste Verschwiegenheit. Niemand dürfe ahnen, daß er nicht Kasimir Krinski, sondern Doktor Erich Bertram sei.

So bezog Krinski denn das bescheidene Zimmer Nr. 53, das gerade über dem Fritz Telings lag. An demselben Abend ließ er sich noch das Fremdenbuch vorlegen. Wurzler brachte es ihm persönlich. Bertram fragte dies und jenes über die Gäste, insbesondere über die kurz nach dem fünfzehnten Juni eingetroffenen. Wurzler hätte aus diesen Fragen zu gern festgestellt, auf wen die Polizei es eigentlich abgesehen hatte. Doch Bertrams Interesse für die Fremden war so vielseitig, daß Emil Wurzler dadurch um nichts klüger wurde. –

Otto Breul hätte heute allen Grund gehabt, abermals einen großen Ärger hinunterzuspülen, denn Doktor Stelter hatte nachmittags auf sehr geschickte Weise die Bekanntschaft der Sennora Parazza gemacht und war dann mit der glutäugigen Brasilianerin zusammen nach deren Strandkorb gegangen, wo Breul die beiden von seiner Mansardenstube aus mit dem Operngucker eine ganze Weile beobachtet hatte.

Breul war verliebt – verliebt in diese Parazza! Darüber konnte er sich selbst nicht mehr täuschen. Ausgerechnet in die Parazza, die ihn nach wie vor als Luft behandelte!

Breul stand oben auf der Treppe in seinem wie angegossen sitzenden Frack und seufzte den beiden nach. Zum ersten Male war er mit seinem Beruf nicht zufrieden. Dieser Doktor Stelter, der sich Privatgelehrter nannte, hatte es besser, war Doktor, hatte auf der linken Wange zwei sehr wirkungsvolle Schmisse und fraglos auch viel Geld! Und er, Otto Breul, war nur Oberkellner – nur!

Anderthalb Stunden später traf dann Kasimir Krinski ein. – Breul war keineswegs auf den Kopf gefallen. Im Gegenteil. Daß der Pole Wurzler sofort allein zu sprechen verlangte, gab ihm zu denken, und daß Wurzler nachher das Fremdenbuch persönlich dem Polen brachte, gab ihm noch mehr zu denken.

Als Emil Wurzler aus dem dritten Stock wieder ins Bureau kam, fragte Otto Breul so nebenbei: „Scheint ein etwas schwieriger Herr zu sein, der Doktor Krinski?“

Wurzler erinnerte sich an seine Schweigepflicht.

„Das geht Sie gar nichts an, Breul. – Ist die Speisenkarte für morgen zusammengestellt?“ – Dabei lächelte er aber so eigentümlich, so wie jemand, der andeuten will: „Ich weiß etwas. Ich darf jedoch nichts wissen.“ Das Lächeln genügte Breul. Mit Kasimir Krinski hatte es also fraglos eine besondere Bewandtnis. –

Erich Bertram lag oben in seinem Zimmer im offenen Fenster und freute sich, einmal wieder seit vielen Jahren Seeluft genießen zu können. Weit weniger freute er sich über seinen Auftrag. Die Herzenswunde von früher schmerzte noch. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er an die Familie Schmidt nie mehr erinnert worden wäre. Daß Lotte Schmidt damals aus törichter Schwärmerei für die Kunst seinen Antrag abgelehnt hatte, konnte er noch heute nicht vergessen. Er war eine jener schwerblütigen Naturen, die einen Fehlschlag, eine zerstörte Hoffnung schwer verwinden. Anderseits sagte er sich aber auch, daß es so, wie die politischen Verhältnisse sich entwickelt hatten, für sie beide ein Glück war, daß aus dieser Verlobung nichts geworden. Er hätte ja vorläufig an Heiraten gar nicht denken können. Und doch – heute während der Eisenbahnfahrt nach Heilmünde hatte er sich eingestehen müssen, daß Lotte Schmidt noch immer seinem Herzen mehr galt als jedes andere Weib. Nun sollte er[3] hier vielleicht zum Nachteil ihrer Familie den Spion spielen. Das ging ihm wirklich recht sehr gegen sein ganzes Empfinden. Eins nur söhnte ihn mit diesem Auftrag aus: er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß seine hiesige Mission ergebnislos verlaufen oder aber einen Erfolg haben würde, der die Familie Schmidt auch von diesem schwachen Verdacht völlig reinwusch.

Seine Gedanken nahmen jetzt eine andere Richtung an. Unter ihm hatte dieser Herr Fritz Teling, der mit Stelter hier im Atlantik gleichzeitig abgestiegen war, den Balkon betreten. Der Hotelbesitzer hatte ihm erzählt, die beiden Herren hätten sich erst in der Eisenbahn kennengelernt und wohnten jetzt dort im zweiten Stock nebeneinander. –

Er belauerte nun jede Bewegung des jungen Schriftstellers, von dem er nur den Rücken und den Hinterkopf sehen konnte. – Teling hatte sich auf das Balkongitter gestützt. Er stand regungslos, wie in tiefem Sinnen. Dann wandte er sich langsam um. Die Lichtbahn aus dem Zimmer traf sein Gesicht.

Bertram hielt den Atem an. Sein Herzschlag stockte. Wenn er auch aus dieser Höhe recht wenig von dem Gesicht Telings erkennen konnte, wenn auch die Hornbrille und die Wangenrundung ihm[4] völlig fremd erschienen: trotzdem – das war ein Schmidtsches Gesicht. In heißer Welle flutete Bertram nun das Blut zu Kopfe.

Das, was er gehofft, zerrann in ein Nichts. Seine Mission würde Erfolg haben, und er würde jetzt derjenige sein, der den Verdacht gegen die Schmidts bestätigte. –

Teling war in sein Zimmer zurückgetreten. Kaum drei Minuten später sah Bertram ihn das Hotel sehr eilig verlassen. Er zauderte nicht, griff nach Stock und Hut und lief die Treppen hinab. –

Es war jetzt dreiviertel elf. Breul stand wieder auf der Freitreppe und paßte auf, wann die Parazza und Stelter heimkehren würden. Als der Pole jetzt mit solcher Hast an ihm vorbeistürmte, dachte er kopfschüttelnd: „Hm – das macht ja ganz so den Eindruck, als ob dieser Kasimir hinter dem Pausbackenjüngling, dem Schriftsteller, dreinrenne!“

Breul pfiff zufrieden ein paar Takte. Es stimmte: Dieser Kasimir war fraglos kein harmloser Kasimir. –

Im Hafen von Heilmünde war’s nach dem Kriege recht still geworden. Erst in letzter Zeit kamen wieder mehr Schiffe ein und setzten die Fahrt flußaufwärts fort, um ihre Ladung dann in der nahen Industriestadt zu löschen und neue Fracht einzunehmen.

Die alten Häuschen am Hafenbollwerk, beschattet durch zwei Reihen mächtiger Kastanien, lagen gegen elf Uhr abends dunkel und friedlich da. Die Menschen, die sie bewohnten, gingen früh zu Bett und standen früh auf. Die nächste Kneipe war von dem Häuschen der Kapitänswitwe Anna Senkpiel gut achtzig Meter entfernt. Der Lärm der Kneipe, das Kratzen und Gedudel des Grammophons drangen als einziger Lärm in die stille Nacht hinaus. –

Fritz Teling blickte sich wiederholt um, bevor er den Baumschatten der Kastanienallee verließ. Er lief die wenigen Schritte über die Straße, stieß den einen, nur festgedrückten Fensterflügel auf und schwang sich in die Stube hinein. Die Fenster lagen kaum ein Meter über dem Bürgersteig.

Doktor Bertram hatte sich, von Baum zu Baum schlüpfend, stets in Telings Nähe gehalten. Das, was er nun beobachtete, krampfte ihm förmlich das Herz zusammen.

Brauchte er weitere Beweise, daß dieser angebliche Teling hier recht dunkle Dinge trieb?! Was tat jener dort in dem Häuschen?

Der Fensterflügel wurde geschlossen. Ein heller Schimmer lief über das Fenster hin: der Vorhang war zugezogen worden. Dann wurden die beiden Fenster, die offenbar zu einem Raume gehörten, erleuchtet, – nur für einen Moment.

Bertram suchte nach einem besseren Versteck. Dort etwas links stand auf den Schienen der Hafenbahn, die an der Seite der Straße entlangliefen, ein leerer gedeckter Güterwagen, dessen Schiebetüren halb offen standen. Bertram kletterte in den Wagen hinein und schob die dem Flusse zugekehrte Tür langsam zu. Nun befand er sich im Dunkeln. Da drüben lag das Häuschen, blitzsauber, frisch gestrichen; die gelbe Ölfarbe leuchtete ordentlich. Wem mochte es gehören? Morgen würde er es wissen; morgen würde er noch mehr über diesen Fritz Teling erfahren, der hier doch offenbar zwei Wohnungen hatte.

Und abermals fühlte Erich Bertram einen brennenden Schmerz im Herzen; abermals quoll der Widerwille gegen diese Tätigkeit in ihm auf. Doch – beides ging vorüber. Die Familie Schmidt war ihm fremd geworden, mußte ihm fremd sein. Hier galt es ein feines Fädchen aufzuheben, das vielleicht zu Rentner Busses ungeklärtem Tode hinleitete – vielleicht. Und – wenn es so war, wenn sich herausstellte, daß die Schmidts, diese ehrbare Familie, in der nur die Töchter einen so merkwürdigen Hang für etwas extravagante Berufsarten gezeigt hatten, wirklich nur äußerlich so ganz fleckenlos erschienen, dann – dann hatte auch er, Erich Bertram, nur der Sache der Gerechtigkeit gedient. –

Dies waren seine Gedanken, als er regungslos an der Wand des Waggons lehnte und nach den beiden Fenstern hinüberlugte, hinter deren Vorhängen jetzt ein unregelmäßiger Lichtschein, wahrscheinlich eine brennende Kerze, zu bemerken war.

Die Zeit verging und allmählich wurde er müde. Die beiden Fenster dort drüben waren jetzt dunkel. Er hörte eine Turmuhr schlagen – Mitternacht.

Erich Bertram rieb ein Zündholz an. Vielleicht fand er hier im Waggon eine leere Kiste, die er als Sitz benutzen könnte.

Nichts dergleichen. Er mußte stehen bleiben. Als die Turmuhr halb eins schlug, begann er zu überlegen, ob es überhaupt einen Zweck hätte, hier weiter auszuharren. Es unterlag ja keinem Zweifel, daß der angebliche Teling in dem Häuschen ein Zimmer gemietet hatte. – Und doch: Bertram wollte feststellen, wie lange Teling dort blieb. Nur nicht der körperlichen Abspannung wegen irgendwie nachlässig sein! Das konnte sich schwer rächen.

Die lichte, klare Juninacht schritt weiter vor. Schwärme von Wildgänsen zogen mit ihrem charakteristischen Schreien über den Hafen hinweg nach Norden. Erich Bertram hatte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden des Waggons gesetzt. Er kämpfte gegen die Müdigkeit an. Er merkte, daß die scharfe Seeluft wie ein Schlafmittel wirkte. Da nahm er seine Zuflucht zu einer Zigarre. Das half – wenn auch nur für kurze Zeit.

Dann ein dumpfes Rollen, das anhaltende Gebimmel einer Glocke.

Ein paar Güterwagen wurden vom Bahnhof her auf dem Hafengleis entlanggeschoben.

Bertram verließ eiligst sein Versteck, fand näher dem Bollwerk zu eine Bank und setzte sich hier nieder.

Die Turmuhr schlug zwei. Bald mußte es hell werden.

Erich Bertram rauchte die zweite Zigarre.

 

5. Kapitel.

Zu derselben Zeit verließ Herr Willi Kleberg mit Hilfe Emil Wurzlers und des allzeit dienstbereiten Breul die Bar des Atlantik und wurde mühsam über die Seitentreppe in sein Schlafzimmer bugsiert, wo er dann allen Versuchen, ihn auch zu entkleiden, einen so starken Widerstand entgegensetzte, daß Wurzler und Breul sich schließlich, selbst nicht mehr ganz fest auf den Beinen, achselzuckend und grinsend entfernten.

Wurzler verschloß Klebergs Salon und nahm den Schlüssel mit, sagte Breul gute Nacht und verfügte sich in sein Schlafgemach, wo er beim Auskleiden Frau Mathilde vorrechnete, was die Bar heute eingebracht hatte.

„Kleberg fährt vormittags nach Berlin nur für einen Tag,“ sagte er noch, als er bereits im Bett lag. „Er hat sich heute abend das versiegelte Päckchen aus dem Geldschrank zurückgeben lassen. Es ist sicher Geld drin – natürlich viel Geld.“

Dann sank Emil Wurzler Gott Morpheus in die Arme und träumte sehr angenehme Dinge. –

Breul hatte heute gegen halb zwölf die Parazza und Doktor Stelter zurückkehren sehen. Er hatte sich in das dunkle Bureau gestellt und die Tür etwas offen gelassen. Das Paar mußte dicht an ihm vorüber. Doch – Breul hörte nur, wie Harry Stelter auf englisch zu der pikanten Brasilianerin sagte:

„Sonnabend findet die erste Reunion im Kurhause statt. Sie müssen mir die Freude machen und –“

Mehr verstand Breul nicht. Aber auch das ärgerte ihn. Dieser Stelter schmiß sich wirklich ordentlich an die schöne Rosarita heran!

Nachher hatte Breul dann ja wieder Gelegenheit, auf Direktor Klebergs Kosten diesen Ärger hinwegzuschwemmen. Als er nun seinen Chef nach unten zu verschwinden sah, blieb er noch eine Weile am Fuße der Haupttreppe stehen und himmelte die Tür Nr. 6 an, hinter der die Parazza schlief.

Breul spürte den Sekt in allen Nervensträngen. Ihm wurde so weich und sehnsuchtsvoll zu Mute. Schlafen würde er doch kaum, überlegte er. Vielleicht war es besser, noch ein wenig draußen die Nachtluft zu genießen. Das würde ihn abkühlen, würde ihm auch für morgen einen klaren Kopf einbringen.

So ging er denn in seine Mansardenstube hinauf und warf den Frack ab, zog einen leichten Ulster über und drückte einen weichen Filzhut auf den pomadeduftenden dünnen Scheitel.

Wie er nun langsam die Haupttreppe wieder hinabschritt, fiel ihm sein damaliger Traum von dem Atlantikgespenst wieder ein, nur deshalb, weil er sich heute etwa in gleicher Verfassung wie damals befand. Und – merkwürdig! – heute wollte sein alkoholüberhitztes Hirn ihm durchaus weismachen, es sei ja damals gar kein Traum gewesen; das sei ja Unsinn! – Nein – wirkliches Erleben war das alles, raunte ihm eine nicht zum Schweigen zu bringende innere Stimme immer wieder zu.

Unwillkürlich blieb er stehen.

„Was ist denn das plötzlich mit Dir?“ fragte er sich mißtrauisch. „Mit einem Male zweifelst Du daran, von dem Atlantikgespenst nur geträumt zu haben?!“

Und in der Stille der Nacht erinnerte er sich jetzt in dem matt erhellten Treppenflur so unheimlich deutlich, daß er doch damals auf der Treppe gesessen hatte und dort eingeschlafen sein mußte.

Wie also war er nur ins Badezimmer gelangt?! Wie nur?!

Er stand und grübelte und grübelte.

Da – unter ihm das Knarren einer Stufe.

Im Moment war er Herr seiner Sinne, lauschte, spähte über das Geländer.

Unter ihm abermals das verdächtige Knarren, nur ganz schwach.

Dort lag der Treppenabsatz des zweiten Stocks. Er beugte sich noch weiter vor, wäre dann vor Schreck beinahe über das Geländer gefallen.

Die Gestalt – die Gestalt im dunkelgrauen Schlafanzug!

Und – jetzt hatte er’s nur zu deutlich bemerkt! – die Person trug sogar eine Kappe vom selben Stoff über dem Kopf!

Otto Breul wurden die Hände vor Aufregung schweißfeucht.

Die Gestalt war in den ersten Stock hinabgehuscht.

Was sollte er tun – was nur?!

Die verdammten Stufen würden ihn wieder verraten, wenn er hinunterging.

Halt – auf dem Geländer hinabrutschen! – Er tat’s!

Er gelangte so völlig lautlos nach unten bis in den ersten Stock.

Was nun?! – Der Hauptflur war leer. Friedlich standen all die Stiefelpaare vor den Türen.

Was nun?! Etwa sich wieder niedersetzen und – einschlafen?!

Oh – das sollte ihm nicht mehr passieren! Dort hinter den Palmenkübeln stand vor der Muschelgrotte mit dem winzigen, nie sprudelnden Springbrunnen ein Korbsessel – mehr zur Zier als zum Gebrauch.

Und Otto Breul nahm langsam, jedes Geräusch vermeidend, in dem Korbsessel Platz.

Eine halbe Stunde verging. Der Ober begann zu gähnen, verwünschte sein Pech. Nichts rührte sich – nichts.

Es wurde hell. Er sah nach der Uhr. Gleich drei.

Und doch hielt er aus. Das Atlantikgespenst existierte, und er, Otto Breul, würde es entlarven.

Er gähnte abermals, setzte sich bequemer. Er hoffte auf nichts mehr – wenigstens nicht in dieser Nacht.

Seine Wachsamkeit ließ nach.

Und – er schlief ein. –

Der Nachtportier hatte in seiner Loge in der Sofaecke ein kurzes Schläfchen gemacht. Die Glocke schlug an. Er fuhr hoch, verließ die Loge, schloß auf.

Aha – wieder der Teling! Das war ja ein feiner Bummler!

„’n Morgen, Herr Teling. – Vielen Dank!“ – Er schob den Zehnmarkschein in die Tasche.

Fritz Teling ging die Haupttreppe hinauf, stutzte plötzlich. Da saß ja der Ober hinter den Palmen und schnarchte.

Er trat näher, rüttelte ihn.

Breuls Kopf fuhr hoch. Er stierte Teling an, erhob sich, stammelte irgend eine Erklärung für dieses merkwürdige Nachtlager, bedankte sich und eilte nach oben.

Fritz Teling begab sich auf sein Zimmer, entkleidete sich und dachte darüber nach, weshalb der Ober wohl dort im Sessel eingeschlafen sein mochte. –

Eine halbe Stunde später betrat Erich Bertram durch den Hintereingang, zu dem er von Wurzler den Schlüssel erhalten hatte, das Atlantik und schlich unbemerkt nach Nr. 53. –

Otto Breul ging nicht zu Bett. Er hatte die sämtlichen Gäste des Atlantik, während er am offenen Fenster stand und Zigaretten rauchte, im Geiste auf Herz und Nieren geprüft.

Wer konnte das Atlantikgespenst sein – wer wohl?!

Nach reiflichem Abwägen blieben als etwas abenteuerliche Gäste nur die Sennora Parazza und deren Zofe Juanita übrig. Alle anderen waren unbedingt harmlos.

Also die Parazza! – Breul lächelte rachsüchtig. Die Parazza mit den fünf Juwelenetuis! Natürlich leer, diese Etuis! Man kannte diesen Trick. Die Etuis sollten von vornherein Eindruck machen!

Also die Parazza – oder Juanita! Das blieb sich gleich. Herrin und Dienerin „arbeiteten“ natürlich gemeinsam! Und – der Pole Kasimir, Doktor Kasimir Krinski, – das war selbstredend ein Kriminalbeamter, der es vielleicht schon auf die Sennora abgesehen hatte! –

Breuls Gedanken eilten weiter und fanden einen neuen Ruhepunkt: er wußte, daß dieser Oberschieber, der Direktor Kleberg, sich abends das versiegelte Päckchen hatte zurückgeben lassen – fraglos Geld – viel Geld. Wenn nun die Parazza oder Juanita etwa beobachtet hatten, daß Kleberg in dieser unglaublichen Verfassung in seine Zimmer geschleift worden war, dann – dann –

Und Otto Breul überlief es ganz heiß.

Er faßte einen Entschluß: er mußte sich dem Polen anvertrauen, denn daß dies kein Doktor Krinski, sondern jemand von der Polizei war, stand für ihn unumstößlich fest.

Da – ein neuer Gedanke: Krinski war ja dem Teling nachgeschlichen! – Sollte dieser Schriftsteller doch nicht so ganz harmlos sein?!

Breul zögerte. Am liebsten hätte er Krinski sofort geweckt. Doch – er wollte damit lieber warten, bis er seinen Chef gesprochen hätte. Er würde Wurzler auf den Kopf zusagen: „Der Pole ist ein Kriminalbeamter!“ Dann würde Wurzler vielleicht nur wieder lächeln. –

Es war jetzt halb fünf morgens. Breul legte sich schlafen, stellte aber den Wecker auf acht Uhr.

So konnte er denn um halb neun seinen Chef in dessen Privaträumen ungestört ausforschen. Frau Mathilde war bereits in der Hotelküche und überwachte die Fleischausgabe.

Emil Wurzler hatte Kater und war schlecht gelaunt. „Wie kommen Sie auf den verrückten Gedanken, daß der Pole ein Polizist sein soll?!“ fauchte er seinen Ober an.

Breul war ein ganz Teil schlauer als Wurzler.

„Weil ich allerlei beobachtet habe,“ meinte er geheimnisvoll. „Unter anderem, daß der Krinski dem Teling nachschlich –“

„Ah – wirklich?! Dem Teling?! Na, an den hätte ich zuletzt als räudiges Schäfchen gedacht!“

Da hatte er sich verraten. Und Breul lächelte:

„Der Wolf ist hinter dem Schäfchen her. Ich weiß genug!“

Und Breul ging zu Doktor Krinski nach oben, klopfte an, wurde eingelassen, erklärte flüsternd, weshalb er so früh schon störe, und hatte die Genugtuung, daß der „Pole“ die Maske sofort lüftete, denn das Atlantikgespenst interessierte Erich Bertram außerordentlich.

Er fragte Breul nun aus. Als der Ober dann aber wissen wollte, ob Teling etwa mit dem „Gespenst“ unter einer Decke steckte, sagte Bertram kühl:

„Das wird sich herausstellen. – Sie glauben also bestimmt, daß die Parazza oder Juanita die Gestalt war? – Ließ sich nicht erkennen, ob es etwa doch ein Mann war? Stimmt die Größe?“

„Die Größe stimmte. – Aber im Schlafanzug sieht männlich und weiblich ganz gleich aus, wenigstens bei so schwacher Beleuchtung.“

„Das mag sein. – Sie werden niemandem etwas von alledem mitteilen, Herr Breul. Jetzt suchen Sie zunächst herauszubringen, ob Herrn Kleberg etwas gestohlen ist.“

Breul verschwand. Eine Viertelstunde später wußte er, daß Direktor Kleberg nichts vermißte, mit Ausnahme eines klaren Schädels.

Als er Doktor Bertram dies meldete, meinte der:

„Vorläufig danke ich Ihnen, Herr Breul. Handelt es sich hier wirklich um Hoteldiebe, so werde ich Ihre Hilfe noch in Anspruch nehmen. Machen wir einen wertvollen Fang, erhalten Sie natürlich auch einen Teil der Belohnung.“

Was für Breul die Hauptsache und ihm keineswegs zu verdenken war. –

Erich Bertram ging in sehr zwiespältiger Stimmung in seinem kleinen Zimmer auf und ab.

Fritz Teling womöglich noch ein Genosse von Hoteldieben?! – Nein – das konnte ja nicht sein! Hier mußte es eine andere Lösung all dieser Unklarheiten geben! Und er – er würde diese Lösung suchen, würde Fritz Teling schonen, so lang es irgend anging!

Deshalb verwarf er auch wieder den zuerst gefaßten Entschluß, sich mit Harry Stelter in Verbindung zu setzen. Es war ihm schon unangenehm genug, daß der Ober so viel wußte. –

Nach dem Frühstück schrieb er an Justus Ritzelt einen Brief, in dem er sich sehr vorsichtig ausdrückte und Fritz Teling nur nebenbei erwähnte. Das Hauptgewicht legte er auf die Erlebnisse Breuls mit der Gestalt im Schlafanzug und betonte zum Schluß, daß er zusammen mit Breul die Situation hier völlig beherrsche und keine weitere Hilfe brauche. –

Er wollte eben um jeden Preis verhindern, daß man ihm etwa diese Ermittlungen abnähme und einen erprobten anderen Beamten damit betraute oder ihm einen solchen zur Unterstützung schickte.

 

6. Kapitel.

Der Tag, an dem dieser Brief abging, war ein Donnerstag. – Der Wind hatte morgens nach Westen gedreht und brachte dunkles Regengewölk herauf. Gegen halb zehn ging ein Platzregen nieder und flaute dann zu einem Landregen ab, der seit Wochen sehr nottat.

Bertram verließ gegen elf vormittags das Atlantik und begab sich durch die Stadt zum Hafen hinab.

Frau Anna Senkpiel, eine würdige Matrone mit freundlichem Gesicht, hatte noch das zweite Vorderzimmer ihres Häuschens frei und war daher recht froh, als jetzt ein Herr erschien und dieses Zimmer bis zum ersten Juli mietete, gleich vorausbezahlte und betonte, daß er eigentlich in Barsdorf wohne, aber häufiger hier in Heilmünde geschäftlich zu tun habe. Er würde das Zimmer deshalb nur selten benutzen, bitte aber für alle Fälle um den Hausschlüssel. Da er sofort die ganze Miete vorausbezahlte und einen recht soliden Eindruck machte, außerdem auf Mutter Senkpiels Gehörleiden die größte Rücksicht nahm und schön laut und deutlich sprach, bekam er den Hausschlüssel auch.

Es regnete jetzt wieder stärker, und so blieb er denn noch eine Weile und plauderte mit der zugänglichen Witwe über dies und jenes, fragte, ob sie außer ihm noch einen Mieter habe und erfuhr so, daß eine Musiklehrerin Helene Münz das andere Vorderzimmer jenseits des Flurs bewohne, eine Berlinerin, die hier und in den Nachbarbadeorten ihren Berliner Schülerinnen, die ins Bad gereist seien, weiter Unterricht erteile und deshalb den Tag über beschäftigt sei, zuweilen auch nachts nicht heimkehre, sondern bei den Eltern ihrer Schülerinnen übernachte. – Frau Senkpiel lobte Fräulein Münz’ Bescheidenheit und nettes Wesen über alle Maßen. „Wenn sie hier ist, hilft sie mir in der Wirtschaft und besorgt mir Einkäufe. Es ist ein schon älteres Fräulein. Sie steht immer sehr früh auf und macht einen Morgenspaziergang, um sich gesund zu erhalten. Den Morgenkaffee stelle ich ihr abends ins Zimmer. Wie gesagt – es ist eine sehr angenehme Mieterin –“

Erich Bertram verabschiedete sich und begab sich ins Atlantik zurück. Unterwegs beschäftigte er sich in Gedanken nur mit Helene Münz.

Wie klug diese Musiklehrerin es angefangen hatte, ihre ständige Abwesenheit zu bemänteln! Es gehörte wirklich ebenso viel Mut wie Schlauheit dazu, eine solche Doppelrolle unauffällig durchzuführen!

Er setzte sich dann in die große Glasveranda des Hotels, wo heute bei diesem unfreundlichen Wetter die meisten Gäste sich zusammengefunden hatten. Es fiel ihm nicht schwer, Harry Stelter nach Ritzelts Beschreibung am Tische der Parazza zu entdecken.

Scheinbar in eine Zeitung vertieft, beobachtete er die beiden und dann auch die übrigen Gäste. Die Sennora Parazza machte auf ihn einen sehr günstigen Eindruck. An dieser Frau war nichts zu entdecken, was an eine Hochstaplerin erinnert hätte. Sie war ganz Dame, so weit sich dies aus ihrem Benehmen schließen ließ. Bertram bezweifelte stark, daß Breuls Verdacht gegen die Brasilianerin zuträfe, zumal er ja aus Breuls Bemerkungen herausgehört hatte, welcher Art das Interesse des Ober für die Parazza war.

Fritz Teling ließ sich nicht blicken. Nachher teilte Breul Doktor Bertram mit, daß Teling wie stets in seinem Zimmer mit Schreiben beschäftigt sei.

„Sonst was Neues?“ fragte Bertram darauf. – Sie standen im Lesezimmer des Hotels. Dieses und die Veranda waren jetzt leer, da im Musikzimmer die berühmte Berliner Operettendiva Mizzi Magenta die neuesten Schlager sang.

„Ja – ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll,“ meinte Breul zögernd. „Die Sache ist die, Herr Doktor – Links neben Nummer 8 – das ist das Zimmer, das die schwarze Juanita bewohnt – hat ein englischer Kaufmann Nr. 9 inne, ein Master Stuart Atcinson. Vorhin mußte ich einen Monteur durch die Zimmer begleiten, der die Lichtleitungen nachsehen sollte. Es fiel mir nun auf, daß Atcinson die Möbel etwas umgestellt hatte. Der Kleiderschrank stand früher vor dem Friesvorhang, der die Verbindungstür nach Nummer 8 verdeckt. Jetzt steht der Kofferbock vor jener Tür, und der Schrank ist in die Ecke geklemmt. Das Stubenmädchen erklärte mir, sie habe Herrn Atcinson helfen müssen, den Schrank weiter zu rücken, weil er es nicht liebe, sich im Spiegel des Schrankes zu sehen, wenn er im Bett liege. Und nun die Hauptsache: der Friesvorhang war mit kleinen Nägeln beiderseits am Türrahmen befestigt gewesen. An der einen Seite sind die Nägel entfernt und durch andere mit kleinen Köpfen so ersetzt worden, daß man den Vorhang dort über die Nägel streifen kann. Als der Monteur das Zimmer verlassen hatte, schlug ich den Vorhang zurück. Im Schlüsselloch der Tür steckte dieses Papierkügelchen, das ich mit der Klinge meines Federmessers herausholte.“

Er hielt Bertram einen kleinen, zerknitterten Zettel hin, auf dem mit Tinte geschrieben war:

„Fünf Leuchtturm“,

weiter nichts. Der Zettel war nicht beschnitten, sondern vom Rande einer Zeitung abgerissen worden. Ein paar gedruckte Buchstaben an der Seite und auch die Papiersorte verrieten dies.

„Bringen Sie den Zettel wieder zurück,“ sagte Bertram nach kurzem Überlegen. „Revidieren Sie jetzt aber häufiger das Schlüsselloch, Herr Breul. Wie sieht der Atcinson aus?“

„Klein, hager, faltiges Gesicht, Glatze, braunrotes Gesicht – wie ein Jockey –“

„Ah – dann ist es der, der in der Veranda vorhin am zweiten Tische neben der Parazza saß! – Auf Wiedersehen, Herr Breul! Und nochmals: nichts ausplaudern – keine Silbe, zu niemandem! Wir wollen auch beide insofern recht vorsichtig sein, als Sie mich nicht zu häufig ansprechen dürfen! Haben Sie mir etwas mitzuteilen, so kommen Sie am besten auf mein Zimmer.“

„Und nachts, Herr Doktor?“

„Nachts werden wir abwechselnd wachen. In dieser Nacht bin ich an der Reihe. Vor Mitternacht wird es im Hotel ja doch kaum still. Es genügt, wenn man von ein halb eins auf der Lauer liegt. Ich habe mich im Hauptflur des zweiten Stocks schon umgesehen. Rechter Hand liegt dort eine einzelne Tür ohne Nummer. Dieser Raum ist wohl kein Fremdenzimmer?“

„Nein – ein dunkler Abstellraum. Ich werde Ihnen den Schlüssel für die Nacht besorgen, Herr Doktor.“

Dann trennten sie sich.

Erich Bertram blieb im Lesezimmer, setzte sich in einen Schaukelstuhl und überdachte die Situation. Er sagte sich jetzt selbst, daß es für ihn allein eine doch reichlich vielseitige Aufgabe war, all diese Personen zu überwachen, die nun bereits mit in diese Angelegenheit hineingezogen worden waren: erstens Doktor Stelter, der freilich aus anderen Gründen beobachtet werden sollte, eben weil Fritz Teling es auf ihn irgendwie abgesehen zu haben schien; dann dieser Teling selbst, der hier zwei Personen vorstellte; weiter die Parazza und Juanita, und nun noch der Engländer Atcinson, der doch offenbar mit Juanita durch das Schlüsselloch Nachrichten austauschte.

Trotzdem: Bertram wollte die Sache nicht aus der Hand geben! Ihm mußte Breul eben als Helfer genügen; es würde schon gehen, wenn man nur stets auf dem Posten war. Die Überwachung am Tage wurde ja auch dadurch wesentlich erleichtert, daß Harry Stelter der Brasilianerin jetzt kaum von der Seite wich.

Und nun das Papierkügelchen mit „Fünf Leuchtturm“? – Das konnte eine Verabredung sein – drüben jenseits der Heile auf dem Leuchtturm um fünf Uhr nachmittags.

„Vielleicht,“ überlegte Doktor Bertram weiter. „vielleicht bin ich hier gar der Bande von Hoteldieben auf der Spur, von deren Existenz Kommissar Ritzelt so fest überzeugt ist. Nur daß Fritz Teling mit dazu gehört, kann ich nicht glauben! Ich kann es nicht! Es geht mir wider das Gefühl –“ – Er seufzte und lauschte zerstreut den Walzerklängen, die aus dem Musikzimmer herüberschallten.

Ja – wie gern hätte er diese Bande unschädlich gemacht, wie gern! Nur Teling durfte nicht –

Seine Gedanken nahmen plötzlich eine andere Richtung. Die Glaspendeltüren des Lesezimmers führten in die Vorhalle des Hotels. Dort jenseits lag das Bureau, das ebenfalls eine Glastür hatte, freilich mit matten Scheiben.

Die schwarze Juanita war soeben, fesch wie immer mit weißem Häubchen und weißem Tändelschürzchen, in das Bureau gehuscht, nachdem sie sich in der Vorhalle argwöhnisch umgeschaut hatte.

Nun erschienen auf den Milchglasscheiben zwei Schatten. Ah – das war fraglos Herr Wurzler, der Juanita an sich zu ziehen suchte.

Bertram sah weiter, daß Juanita, dicht an der Tür stehend, den Hotelbesitzer von sich drängte.

Wenn die beiden geahnt hätten, wie verräterisch die matten Türfenster waren!

Und – wenn Erich Bertram dort jetzt hätte lauschen können, wenn er gehört hätte, wie Juanita in fürchterlichem Deutsch lachend rief:

„Oh – der Doktor Krinski sein viel schöneres Mann als Ihnen, Herr Wurzler!“

Und wie Emil Wurzler plötzlich stark ernüchtert fragte: „Wie kommen Sie gerade auf den, liebe Juanita?!“ Sie lachte girrend und machte Augen, die selbst eine kühlere Männerbrust als die Emil Wurzlers in einen Vulkan verwandelt hätten.

„Er mir gefallen, der Doktor Krinski! Nicht wahr, er doch sein alte Bekannte von Sie, Herr Wurzler. Er haben Schlüssel von Hintertür. Ja, Juanita alles wissen!“ Sie tänzelte auf ihn zu.

„Der Sennor Krinski mir wirklich gefallen. Das sein eine Mann nach meine Geschmack. Ich mit ihm werde machen eine kleine Flirt!“

„Na, Juanitachen, – den Zahn lassen Sie sich man beizeiten ziehen!“ schmunzelte Emil, bereits wieder völlig über diesen Nebenbuhler beruhigt. „Der Krinski dürfte für einen Flirt sich kaum eignen! Dem gehen Sie lieber aus dem Wege, Juanitachen! Der beißt, das ist so ein ganz gefährlicher!“ – Er belachte seine eigenen Worte, die er für eine glänzend-witzige Anspielung auf Krinskis wahren Beruf hielt.

Juanita zog ein Schmollmäulchen. „Sie mir wollen nur abschrecken! Das sein schlecht von Sie! Ich doch machen Flirt! Wie soll Sennor Krinski mir beißen?!“

„Sie wird er ja nicht beißen, Kleines. Aber andere, wie zum Beispiel Leute, die angeblich nur Romane schreiben und an nichts anderes zu denken scheinen, – he, he, – ja, da beißt er zu, der Doktor Kasimir!“

„Sie mir nur spotten wollen – Sie!“ Und Juanita reckte, den Kopf vor, so daß Emil Wurzler schleunigst zupackte und sie an sich reißen wollte.

Doch geschmeidig wie[5] eine Katze entwand sie sich ihm. „Pfui – Sie sein frech!“ Und wie ein Kreisel drehte sie sich auf dem linken Absatz herum, daß ihre kurzen Röcke beinahe wie Ballettröckchen hochflogen. Dann huschte sie hinaus.

„Kröte – süße Kröte!“ brummte Emil hinter ihr drein. –

Doktor Erich Bertram aber dachte sich sein Teil über Wurzlers eheliche Treue und bedauerte im stillen die rosige, rundliche Frau Mathilde, die den Tag über so fleißig in der Hotelküche mithalf.

 

7. Kapitel.

Mr. Stuart Atcinson hatte für Operettenwalzer keinerlei Interesse und war daher nicht mit ins Musikzimmer übergesiedelt. Eine Weile blieb er noch an seinem Tische sitzen, drehte sich eine Zigarette mit fabelhafter Geschwindigkeit, wozu sich seine langen dünnen Spinnenfinger allerdings auch vorzüglich eigneten, rauchte die Zigarette an und ging in sein Zimmer nach oben, wo er sich einriegelte und dann den Friesvorhang beiseite schob. Ein Blick in das Schlüsselloch überzeugte ihn, daß dieses leer war. Er befestigte den Vorhang wieder und mußte gleich darauf vor dem Stubenmädchen das Feld räumen, da das Zimmer gesäubert werden sollte. Er setzte sich unten also wieder in die Veranda und las Zeitung.

Inzwischen hatte Otto Breul von Bertram die Anweisung erhalten, den Zettel wieder in das Schlüsselloch zurückzutun. Breul schickte das Stubenmädchen unter einem Vorwand aus dem Zimmer und erledigte die Sache in wenigen Sekunden.

Stuart Atcinson wollte sich zehn Minuten später aus seinem Koffer einen Roman holen. Das Zimmer war bereits aufgeräumt. Als er den Koffer aufschloß, hüstelte jemand drüben bei Juanita dreimal sehr laut. Atcinson riegelte abermals die Tür ab und schlug den Friesvorhang zurück, hustete nun seinerseits dreimal und sah, wie aus dem Schlüsselloch ein Papierkügelchen auf die Dielen fiel, sah aber noch ein zweites, das nur etwas herausragte und das erste herausgedrückt hatte.

Das erste enthielt nur die Worte „Fünf Leuchtturm“.

Das zweite aber folgendes:

Von Wu, daß Nr. 53 Greifer. Fünf Leuchtturm bleibt als Rendezvous. Danach richten. Vorsicht. Erste Kugel von Eule gefunden.

Mr. Atcinson machte hierzu ein sehr nachdenkliches Gesicht, brachte den Vorhang in Ordnung, zerpflückte die beiden Zettel und verbrannte die Stückchen auf dem Leuchter, zerrieb die Asche und streute sie zum Fenster hinaus. –

Nachmittags gegen drei ging der Wind nach Nordost herum, verjagte das Regengewölk und zauberte die Sonne hervor. – Erich Bertram verließ um halb vier das Atlantik und fuhr vom Hafen mit dem Motorboot, das den Verkehr nach dem jenseits der Heile gelegenen Fischerdorf und Badeort Brackreede vermittelte, über den Fluß, setzte sich an dem kleinen Fischerhafen von Brackreede auf eine Bank und beobachtete, scheinbar in ein Buch vertieft, die Anlegebrücke. Mit dem nächsten Motorboot trafen denn auch Mr. Atcinson und die schwarze Juanita ein.

Juanita war jetzt ganz Dame. Häubchen und Schürzchen fehlten. Sie schlenderte den Sandweg entlang dem Leuchtturm zu. Atcinson folgte ihr noch gemächlicher.

Doktor Bertram triumphierte. Doch – es wurde eine böse Enttäuschung. Oben auf der Plattform des Leuchtturmes wurde er Zeuge, wie Atcinson Juanita verliebt die Hand drückte, beobachtete dann weiter, wie beide nachher in den Dünen verschwanden, sich hinter einen Strauch setzten und wie der kleine Engländer Juanita gehörig abküßte.

Ein Liebespärchen – nichts anderes! Breuls große Schlüsselloch-Entdeckung war also wertlos! Der Zettel war nichts als die Verabredung für dieses Stelldichein. Bertram verzichtete darauf, die beiden weiter zu belauern, und fuhr nach Heilmünde zurück. –

„Laß jetzt den Unsinn, Franz!“ sagte Juanita leise zu Mr. Atcinson. „Der Krinski ist ja verschwunden. Er wird eingesehen haben, daß hier nichts zu holen ist.“ Ihr Deutsch war plötzlich fehlerfrei.

„Sicher ist sicher!“ meinte Atcinson und behielt den Arm um Juanitas Taille. „Erzähle nun mal. Wie bist Du auf Krinski aufmerksam geworden?“

„Durch das Ekel, den Wu, den verliebten Wurzler. Ich war gerade in der Hotelküche, wo ich mich mit der Köchin etwas angefreundet habe, als Wurzler von seiner Frau den Reserveschlüssel zur Hintertür verlangte. Er tat dabei so geheimnisvoll, der Narr, daß ich mich veranlaßt sah, ihm nachher zu folgen. Er brachte den Schlüssel nach Nr. 53 – zu Krinski, der doch soeben erst angekommen war. Dies fiel mir auf. Ich habe mir dann Krinski am Tage sehr genau angesehen. Sein Bart ist falsch. – Und jetzt das Wichtigste, Franz: in der verflossenen Nacht hat die Eule, der Brrr–eul, wieder spioniert –“

„Ach nee?! Der Kerl wird unbequem!“

Juanita lachte. „Na – mit dem werden wir doch noch fertig! Und ebenso mit Krinski! Uns hat noch keiner erwischt. – Also die Eule hat wieder spioniert. Die Treppenstufen knarren ja leider. Und die Eule ist dann morgens bei Krinski gewesen, gegen halb neun, – eine halbe Stunde. Merkst Du was, Franz?! Der Breul hat jetzt bestimmt Verdacht geschöpft, hat sich Krinski anvertraut –“

„Hm – der Boden hier wird uns zu heiß, Hanna –“

„Weshalb?! Breuls wegen?! Oder dieses Krinski wegen?! Nun gerade! – Sollen wir die Unkosten umsonst geopfert haben?!“

„Was sagt „sie“ dazu?“

„Sie ist allerdings anderer Meinung. Sie wartet aber noch „seine“ Befehle ab.“

„Wann hat „er“ zum letzten Mal geschrieben?“

„Gestern.“

„Wir werden wahrscheinlich von hier verduften sollen, Hanna. „Er“ läßt sich nie auf unsichere Geschichten ein. Und das Atlantik ist unsicher. Wenn „sie“ ihm mitteilt, daß bereits ein Greifer im Atlantik wohnt, winkt er ab, – ich werde recht behalten!“

„Vielleicht doch nicht. Es ist hier zu viel zu holen für uns, Franz. Wir werden doch auch nicht nutzlos die sechs Schlösser vorbereitet haben. „Er“ weiß, daß diese Arbeit erledigt ist –“

Atcinson hatte den Arm von Juanitas Taille zurückgezogen und drehte sich eine Zigarette.

„Wir sind wie die Puppen!“ meinte er dann nach längerer Pause ingrimmig. „Immer nur „er“ – „er“! Nichts darf man ohne „ihn“ unternehmen. Ich – hasse ihn! Ich will meine Bewegungsfreiheit wiederhaben! Verflucht sei die Nacht damals im Excelsior in Frankfurt am Main! Dort begann das Unheil!“ Er redete sich immer mehr in Wut hinein. „Nichts als Puppen sind wir, zum Teufel! „Er“ zieht an der Strippe, und wir tanzen! Das halte der Satan länger aus!“

„Wir müssen ja!“ sagte Juanita mit einem Seufzer. „Gegen „ihn“ ist nicht aufzukommen! Das weißt Du!“

Atcinson warf die Zigarette fluchend in den Sand.

„Glaub’ mir, Hanna, „er“ betrügt uns auch noch! Wer kann ihm die Höhe der Beute nachweisen?! Letztens in Berlin hat die Amerikanerin der Polizei gegenüber noch eine Perlenkette als mit gestohlen angegeben. Und von dieser Kette hat „er“ –“

„Reg’ Dich nicht auf, Franz! Es ist – zwecklos – Wir haben auch noch mehr zu besprechen – Breul hat heute den ersten Zettel gefunden. Ich hörte, wie jemand in Deinem Zimmer mit dem Messer im Schlüsselloch kratzte. Fraglos hat er dann Krinski den Zettel gezeigt. Nachher schob er ihn wieder ins Schlüsselloch. Deshalb auch mein Wink, daß wir hier das Liebespaar spielen sollten.“

Atcinson, der das Deutsche hier ohne jeden fremden Akzent sprach, zuckte ärgerlich die Achseln.

„Mir ist das alles sehr gleichgültig,“ brummte er. „Ich will fliehen, Hanna! Wir müssen „ihm“ hier entwischen. Nirgends bietet sich eine bessere Gelegenheit als hier –“ – Er entwickelte ihr seinen Plan. Sie unterbrach ihn jedoch sehr bald.

„Und vierundzwanzig Stunden später sitzen wir im Kittchen!“ sagte sie bitter. „Nein, Franz! Ich mache nicht mit. Und „sie“ tut’s auch nicht. „Sie“ weiß etwas Besseres, Franz –“

Sie begann zu flüstern. –

Rosarita Parazza hatte sich, nachdem Juanita gegen dreiviertelvier sie verlassen hatte, in den Salon eingeschlossen und ihrem Koffer eine kleine Schreibmaschine entnommen. Sie spannte einen Bogen ein, überlegte kurz und schrieb folgendes:

„Sehr geehrter Herr! Hier ist jetzt recht schlechtes Wetter, das sich wenig zu Ausflügen eignet. Gewitterneigung mahnt zur Vorsicht. Ich möchte daher abraten, etwas zu unternehmen. Franz ist zwar anderer Meinung. Doch die Eule schrie in dieser Nacht abermals und hat ein Mäuschen aus dem Loch herausgeholt, das Franz jedoch rettete. Außerdem hat die Eule mit dem Gewitter gemeinsame Sache gemacht. – Falls der Ausflug wirklich Sonnabend stattfinden soll, bitte umgehend um Mitteilung.“

Diesen Brief ohne Ortsangabe, Datum und Unterschrift tat die Parazza nun in einen blaugrauen Geschäftsumschlag, dem sie folgende Anschrift gab:

Herrn Gottlieb Niemand,

Heilmünde
postlagernd.

Sie klebte noch die nötigen Marken auf und machte sich zum Ausgehen fertig. –

Unten auf der Terrasse des Atlantik saß Harry Stelter beim Kaffee. Als er die Sennora erblickte, die gerade die Freitreppe hinabstieg, eilte er ihr nach. Die übrigen Hotelgäste lächelten verständnisinnig. Es war bereits öffentliches Geheimnis im Atlantik, daß der interessante Doktor Stelter der noch interessanteren Brasilianerin auf Tod und Leben den Hof machte.

„Gnädige Frau, darf ich Sie begleiten?“ fragte Stelter in bittendem Ton ganz atemlos. Er benutzte in der Unterhaltung mit ihr nur die englische Sprache, die auch er fließend beherrschte.

Er stand jetzt eine Stufe tiefer halb rechts vor ihr.

Ihre großen dunklen Augen ruhten wie geistesabwesend auf seinem hageren Gesicht.

„Ich habe einige Besorgungen zu erledigen, Herr Doktor,“ sagte sie zerstreut. „Nachher bin ich in meinem Strandkorb. Wenn Sie mich dort erwarten wollen –“

„Ob ich will?! Welche Frage! – Auf Wiedersehen, Rosarita,“ fügte er leiser, aber nicht weniger feurig hinzu.

Sie nickte nur und schritt weiter. Mit ihrem leichten, schwebenden Gang, der doch nichts Geziertes an sich hatte, ging sie die Strandpromenade hinunter, am Kurhause vorüber, bog in die Viktoriastraße ein und verschwand dann im Hauptpostamt, wo sie den Brief in den Kasten warf und am Schalter 7 nach Postsachen für Sennora Rosarita Parazza fragte. Der Beamte kannte sie bereits, griff in das Fach mit dem Buchstaben P und reichte ihr einen Brief, mit dem sie an eins der Schreibpulte trat.

Die Anschrift des Briefes war ebenfalls mit Maschine geschrieben. Die Marke zeigte den Stempel „Balkin“. Das war der nächste westlich gelegene Badeort, der mit Heilmünde Eisenbahnverbindung hatte und in einer Viertelstunde zu erreichen war.

Am nächsten Schreibpult hatte soeben die grauhaarige Musiklehrerin Helene Münz mit Bleistift eine Postkarte zu schreiben begonnen. Sie war der Parazza von der Strandpromenade aus gefolgt. – Die Brasilianerin schaute sich jetzt flüchtig um. Sie glaubte sich unbeobachtet. Die unscheinbare Münz erregte in keiner Weise ihr Mißtrauen.

Sie riß den Brief mit nervöser Hast auf. Ein einzelner Bogen befand sich in dem Umschlag. Auch er zeigte lila Maschinenschrift. Der englische Text lautete in deutscher Übersetzung:

Geehrte Frau! Sie brauchen mir nicht mitzuteilen, daß ein Gewitter über dem Atlantischen Ozean steht. Ich bin auch über alles andere bereits orientiert. Die Eule und das Gewitter ändern nichts an meinen Entschlüssen. Der Ausflug findet Sonnabend statt. Ich grüße Sie als Ihr ergebener – G. Niemand.

Die Parazza starrte lange auf diese Zeilen, die ihr abermals bewiesen, daß „er“ stets alles wußte – alles. Sie prüfte dann nochmals die Marke des Umschlags. Der Brief war heute um 11 Uhr vormittags in Balkin abgestempelt worden.

Um elf Uhr bereits! Und „das Gewitter“, eben Kasimir Krinski, und die Eule, also Breul, der Oberkellner, hatten erst gegen ½9 morgens die lange Unterredung auf Krinskis Zimmer gehabt!

Ein unheimliches Gefühl beschlich die Parazza. Es war ihr plötzlich, als stände dieser allgegenwärtige Gottlieb Niemand neben ihr.

Sie blickte auf. Und begegnete einem durch blinkende Kneifergläser geschützten Augenpaar – dem der Musiklehrerin, die sofort höflich fragte, ob sie das Tintenfaß einmal benutzen dürfe. – Es war dies eine Verlegenheitsfrage, durch nichts begründet. Doch die Gedanken der Parazza waren weit fort. Sie merkte nichts. Sie nickte, knüllte Brief und Umschlag zusammen und verließ das Postamt. Auf der Straße – sie war in eine stille Seitengasse eingebogen – begann sie erst den Umschlag zu zerreißen – in ganz kleine Stücke, die sie im Gehen fallen ließ; dann auch den Briefbogen. – Sie schaute sich nicht um. Das Angstgefühl wich nicht. Sie spürte die Ketten deutlicher denn je, diese unsichtbaren Ketten, die sie an Gottlieb Niemand schmiedeten.

„Wir sind seine Puppen!“ hatte Franz letztens in Berlin gesagt. „Seine Marionetten sind wir!“ – Ja Marionetten – nichts weiter, dachte Rosarita Parazza, und preßte die Lippen fester zusammen.

Sie schüttelte den lähmenden Bann ab. Ihr Gang wurde selbstbewußter.

Sonnabend – übermorgen! Da sollte die Entscheidung fallen! Da wollte sie für sich und die anderen die Freiheit erzwingen.

Denn dieses Sklavendasein – nein – das war nicht mehr zu ertragen! –

Hinter der Parazza kam die bescheidene grauhaarige Musiklehrerin drein, ganz langsam, bückte sich immer wieder – immer wieder, wartete, wenn jemand sie beobachtete, wie sie die Papierschnitzel aufhob, – wartete, bis sie abermals sich hastig bücken konnte. –

Die Parazza setzte sich in den Strandkorb. Harry Stelter hatte sich zu ihren Füßen in den Sand gelagert.

Der Himmel war klar und durchsichtig blau. Heiß brannte die Junisonne hernieder, hatte den weißen Dünensand längst getrocknet.

„Frau Rosarita, Sie sind heute so anders,“ sagte Harry Stelter mit zärtlicher Sorge. „Haben Sie irgend einen Kummer? Ich möchte Ihnen so gern helfen –“

Die Brasilianerin blickte geradeaus über das Meer hin.

„Wir Frauen sind trüben Stimmungen leichter zugänglich als die Männer,“ erwiderte sie nach einer Weile mit müder Gleichgültigkeit. „Nennen Sie mich aber nicht Rosarita, Herr Doktor,“ fuhr sie etwas lebhafter fort. „So sehr mich Ihre zarten Aufmerksamkeiten auch erfreuen, – knüpfen Sie an diese unsere Badebekanntschaft keine weitergehenden Hoffnungen! Ich muß Ihnen das in allem Ernst vorhalten, Herr Doktor. Ich – ich werde mein Leben als Witwe beschließen“ – Ihre Augen blieben in die endlose Ferne gerichtet.

Um Harry Stelters etwas brutalen Mund flog für einen Moment ein sonderbares Lächeln.

„Frauen ändern ihre Entschlüsse von heute auf morgen,“ meinte er leise. „Das ist ein Vorrecht der Frauen. – Weshalb wollen gerade Sie Witwe bleiben?! Sie sind jung, schön, reich. Sie sind ein Weib, das selbst dem anspruchsvollsten Manne genügen würde –“

„Wenn Sie dieses Thema nicht fallen lassen, muß ich Sie bitten, mich fernerhin nicht mehr anzusprechen, Herr Doktor,“ sagte die Parazza da mit ungewohnter Schärfe.

Von rückwärts hatte sich dem Strandkorb Fräulein Münz unbemerkt genähert, hatte diese Sätze verstanden, machte kehrt und schritt ebenso unbemerkt davon. –

Doktor Stelter seufzte kläglich. „Wie Sie befehlen, Frau Parazza. Aber eins können Sie mir nicht verbieten: zu hoffen!“

Dann sprachen sie von anderen Dingen.

 

8. Kapitel.

Am nächsten Morgen gegen acht Uhr fand sich Otto Breul bei Doktor Krinski auf Nr. 53 ein.

„Nichts, lieber Breul, – nichts!“ erklärte Bertram-Krinski leise. „Diese Nachtwache hätte ich mir sparen können. Das Atlantikgespenst blieb unsichtbar. – Haben Sie etwas Neues zu berichten?“

„Leider auch nicht. Vielleicht finde ich aber nachher ein Papierkügelchen im Schlüsselloch –“

Bertram, der Breul bisher den Erfolg der gestrigen Fahrt nach Brackreede noch nicht hatte mitteilen können, lächelte trübe.

„Lieber Breul, die Mühe, das Schlüsselloch zu visitieren, schenken Sie sich nur! Der Atcinson und die Juanita sind ein harmloses Liebespärchen –“ – Er erzählte Einzelheiten.

„Diese schwarze Krabbe!“ meinte Otto Breul. „Und – so eine Geschmacksverirrung – dieser verhungerte Engländer! – Aber, daß die Parazza und die Juanita nicht sauber sind, dabei bleibe ich! Eine von ihnen ist das Atlantikgespenst!“

„Nur Geduld, Breul! Wir fassen den Geist im Schlafanzug schon noch ab. Wir wachen jede Nacht. Diesmal sind Sie dran. – Noch eins. Besorgen Sie mir eine neue, lange Waschleine, mindestens zwölf Meter, – aber ganz unauffällig –“

Otto Breul machte große Augen. Dann grinste er.

„Aha – Herr Fritz Teling wohnt ja unter Ihnen. Herr Doktor. Verstehe!“

Erich Bertram runzelte die Stirn.

„Der Teling geht Sie gar nichts an, Breul! Der hat mit Ihrem Atlantikgespenst nichts zu schaffen. – So, nun verschwinden Sie!“

Auch dieser Tag und die Nacht gingen ohne wichtigere Ereignisse hin.

Am Sonnabend vormittag erschien die Parazza bei Emil Wurzler im Bureau und bat um ihre Juwelenkästchen, wobei Otto Breul wieder den Dolmetscher spielen mußte.

Breul verschlang die Parazza förmlich[6] mit den Blicken. Sie sah heute, ganz in Weiß, noch pikanter aus.

Breul fragte, ob die Sennora die heutige Reunion im Kurhause besuchen würde, und wünschte ihr, als sie bejahte, heuchlerisch ganz ergebenst viel Vergnügen, was sie mit huldvollem Kopfnicken hinnahm. –

Der Parazza folgten noch vier andere Damen, zwei Berlinerinnen und zwei Schwedinnen, die ihre Schmucksachen für die Reunion gleichfalls anlegen wollten.

Emil Wurzlers Tresor enthielt nun nichts mehr an Kostbarkeiten.

„Breul,“ sagte Emil zu seinem Ober, „heute würde sich die Geschichte hier für Geldschrankknacker nicht lohnen!“ Und er zeigte schmunzelnd auf den Stahlschrank.

„Ahnungsloser Engel!“ dachte Breul, und erklärte laut:

„Ne – für die Sorte nicht!“

Wurzler wurde aufmerksam. „Was heißt das: für die Sorte nicht?!“

„Oh – gar nichts, Herr Wurzler. – Entschuldigen Sie, ich muß Herrn Doktor Krinski einen soeben eingetroffenen Brief nach oben bringen –“ – Und weg war er.

Wurzler grübelte und grübelte. „Der Breul hat doch was damit gemeint!“ brummte er. „Aber was – was wohl?!“ –

Otto Breul stand neben Bertram auf Nr. 53 am offenen Fenster.

„Herr Doktor, Sie werden mit Ihrer Vermutung schon recht haben!“ flüsterte er. „Der Tresor ist jetzt leer. Und wenn die Damen nachts von der Reunion gegen ein Uhr zurückkehren, können sie ihre Schmucksachen nicht mehr im Bureau abgeben, behalten sie also auf den Zimmern! Und das wird sich die Bande zunutze machen. – Die Parazza hat ja schon gestern dafür gesorgt, daß im Hotel bekannt wurde, sie wolle ihre Juwelen auf der Reunion tragen. Natürlich tun’s die andern nun auch! Man kennt doch die Weiber!“

Erich Bertram blickte Breul nachdenklich an.

„Aber die Türschlösser mit den Nachtriegeln?!“ meinte er zweifelnd. „Die sind doch nicht so ohne weiteres zu öffnen, Breul! Gewiß – der Gedanke, daß in der kommenden Nacht etwas passieren wird, drängte sich mir sofort auf, als Sie die Reunion erwähnten. Nur – nur die Schlösser, Breul! Wie sollen denn Hoteldiebe so schnell mit den Schlössern fertig werden?!“

Otto Breul schwieg. Er wußte hierauf keine Antwort.

Bertram verabredete dann mit Breul noch allerlei für die heutige Nachtwache, die sie beide übernehmen wollten, der eine in der ersten, der andere in der zweiten Etage.

„Bevor im Hotel nicht alles ruhig geworden, brauchen wir unsere Posten nicht zu beziehen,“ erklärte Breul zum Schluß. Dann verabschiedete er sich. –

Um neun Uhr abends fuhr die Parazza mit Harry Stelter im Wagen nach dem Kurhause. Das Atlantik war heute wie ausgestorben. Selbst in der Bar saßen nur drei Stammgäste.

Wurzler nebst Gattin waren zu Bekannten gegangen. Juanita plauderte in der Küche mit ihrer Freundin, der Köchin. Breul spielte mit einem der anderen Kellner Billard. Und Fritz Teling saß in seinem Zimmer und schrieb an seinem Roman, der kein Roman war, sondern eine Folge von Berichten, die täglich an Herrn Kriminalinspektor a. D. Erwin Tabert nach Berlin als Brief abgingen.

Der heutige Bericht schloß mit den Sätzen:

„– Ich werde also diese erste so überaus günstige Gelegenheit benutzen. Über den Erfolg schreibe ich morgen näheres. Hoffentlich habe ich endlich Erfolg! – Sie können mir glauben, daß mein Leben hier an Geist und Nerven hohe Anforderungen stellt. Wenn die Witwe Senkpiel nicht so überaus harmlos wäre, würde die Durchführung meiner Doppelrolle auf unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen sein. – Doch – all das Nervenaufreibende ertrage ich gern. Hoffe ich doch hier zu einem zweifachen Ziel zu gelangen. Der Brief, dessen Stücke ich sauber zusammengeklebt Ihnen gestern sandte, wird auch Sie davon überzeugt haben, daß die P. recht fragwürdig ist und daß die nächtliche Gestalt im grauseidenen Schlafanzug, die ich dreimal beobachtete, entweder die P. oder die J. sein muß. Im übrigen weiß ich mir den Inhalt jenes Briefes noch heute nicht zu deuten. – Über St. ist nichts zu berichten. Seine Beziehungen zu der P. sind nach allem, was ich beobachtete und erlauschte, einwandfrei. Er bewirbt sich um sie, ohne daß sie ihm die geringsten Hoffnungen macht, wie ich schon betonte. – Der rätselhafte „Niemand“ scheint im Nachbarbade Balkin zu wohnen. Der Brief, den die Parazza heute abholte, war wieder in Balkin abgestempelt, wie ich, als Teling hinter ihr am Schalter stehend, noch gerade feststellen konnte. Leider zerriß sie ihn nicht, wie ich schon erwähnte. – Ich bleibe mit bestem Gruß – Ihr Fritz Teling.“

Den ganzen, mehrere Bogen starken Bericht von heute siegelte Teling dann in einen starken Umschlag ein. Diesen Umschlag tat er in einen flachen kleinen Pappkarton, auf dem „Muster ohne Wert“ vorgedruckt war. Der Pappkarton hatte einen Klammerverschluß. Teling schrieb als Adresse darauf: „Herrn Kaufmann Albert Schrenk, Berlin SW, Belle-Alliance-Platz 112, 2, bei Tabert.“ – So erhielt dieser Bericht äußerlich ein völlig harmloses Gewand und gelangte doch in die Hände dessen, für den er bestimmt war – für den Inhaber der weltbekannten Berliner Detektei „Helios“, Herrn Erwin Tabert.

Als Teling den Briefkarton gegen halb elf in den Briefkasten des Postamts trug, damit er bestimmt mit dem Frühzuge mitginge, lag Erich Bertram oben in seinem dunkeln Zimmer im Fenster und schaute Teling nach, bis dieser um die Ecke der nahen Badstraße verschwunden war.

Von einer Bank der Strandpromenade hatte sich zu gleicher Zeit ein großer, stattlicher Mann, blondbärtig und sonnengebräunt, erhoben, und war scheinbar absichtslos hinter Teling dreingeschlendert. Kaum hatte Teling, nachdem der Brief in dem Briefeinwurf verschwunden war, kehrt gemacht, als der blonde Hüne das Postamt betrat und an dem Schalter für Telegrammbestellung mit dem Beamten vom Nachtdienst leise verhandelte.

Teling schritt am Kurhause vorüber. Aus dem Saal im Seitenflügel, dessen Fenster strahlend erleuchtet waren, drang die Tanzmusik deutlich bis auf die Straße hinaus.

Fritz Telings rundes, kindliches Gesicht überflog ein bitteres Lächeln. Dort nur Freude und Sinn für heiteren Lebensgenuß! Und in seiner jungen Brust nichts als die nervöse Unruhe vor der Entscheidung!

Er ging schnell weiter. Die Walzermusik stimmte so sehnsüchtig, verdrängte die ernsten Gedanken an das, was er vorhatte, rief andere Gedanken wach, Erinnerungen und allerlei Bilder aus einer rosigeren Vergangenheit.

Die Laufplanken die hinab zum Strande über den weichen Sand führten, dröhnten leise unter seinen federnden Schritten. Als er die Dünen hinter sich hatte, packte ihn der frische Wind, daß er sich etwas vorbeugen mußte. Die See brandete kräftig. Die ewig gleiche Musik der heranrollenden, sich überstürzenden Wogen paßte besser in seine ganze Stimmung hinein als das Seufzen und Locken der Geigentöne vorhin.

Er blieb stehen. Leichtes Gewölk bedeckte den Himmel. Die Wogenkämme leuchteten wie weiße, bewegliche Striche.

Und doch: die träumerische Versunkenheit, dieses stille Sehnen, ward auch durch des Meeres tosendes Lied nicht übertönt.

Fritz Teling dachte: Vielleicht tritt heute der Wendepunkt in meinem Leben ein. Und dann?! Was dann?! Was dann, wenn von dem Namen Schmidt jeder Makel genommen?! Werde ich dann auch das andere finden, was in meinem Herzen als heimliches Wünschen nie erstorben?!

Er seufzte. Und als dieser Seufzer sein Ohr erreichte und ihm zum Bewußtsein brachte, daß er sich hier in zwecklosen Grübeleien verlor, richtete er sich straffer auf und wandte sich der Kurpromenade wieder zu, betrat das Atlantik, ging auf sein Zimmer und setzte sich im Dunkeln in die Sofaecke.

Das, was er vorhatte, wollte genau überlegt sein. Er durfte auf keinen Fall erkannt werden, falls er überrascht wurde. Er mußte jede Möglichkeit berechnen, mußte für einen zweiten Fluchtweg sorgen. Genügend vorbereitet war ja alles. Die Kofferschlüssel waren nach den Wachsabdrücken hergestellt, ebenso die Türschlüssel! Sie würden passen. Berlin lieferte für solche Fälle tadellose Arbeit. –

Teling rieb ein Zündholz an und sah nach der Uhr.

Dreiviertel zwölf. Es wurde Zeit.

Er zog die Fenstervorhänge zu, auch die der Balkontür, prüfte, ob nirgends eine Spalte vorhanden, durch die jemand von außen hätte hineinspähen können. Dann bedeckte er das Schlüsselloch der Tür mit einem Taschentuch.

Beim Licht der elektrischen Nachttischlampe begann er die Oberkleider abzulegen, wechselte die Schuhe, zog braune Segeltuchschuhe mit Gummisohlen an. Seine fast winzigen Füße, für einen Mann viel zu klein, sollten geräuschlos über die Dielen schreiten – Aus dem einen Koffer nahm er einen grüngrauen seidenen Schlafanzug mit schwarz eingefaßten Kanten heraus, ebenso eine ähnliche Kappe, die er letztens selbst genäht hatte in Frau Senkpiels friedlichem Häuschen. In demselben Koffer lag ganz unten ein langer, daumendicker Strick mit vielen Knoten. Der Strick hatte an dem einen Ende einen eisernen Haken.

Dann noch die elektrische Taschenlampe.

Teling ließ sie zur Probe aufleuchten. Die Batterie war ganz neu.

Er schaltete die Nachttischlampe aus, nachdem er die seidene Kapuze übergezogen hatte.

Der Wind rüttelte an der Balkontür. Teling zog den Vorhang zurück, öffnete die Tür ganz weit. Der Himmel war schwarz von drohendem Gewölk.

Er nahm den Strick, kletterte auf den Nebenbalkon hakte ihn hier am Gitter fest.

Es war der Balkon, der nur durch die Scheidewand abgeteilt war, der Balkon von Harry Stelters Zimmer. Stelter hatte seine Balkontür offen gelassen. Das erleichterte Telings Vorhaben. Tief gebückt huschte er nun in das fremde Zimmer, schloß die Tür, verriegelte sie, zog die Vorhänge zu, ging zur Flurtür und schob den Nachschlüssel in das Schloß, probierte, ob er paßte.

Und – er paßte.

In der Linken die eingeschaltete Taschenlampe wandte er sich dem Kofferbock zu.

Auch diese Schlüssel paßten. Er durchsuchte den einen Koffer, dann den zweiten.

Er suchte mit Überlegung. Der zweite enthielt nur schmutzige Wäsche und einige Bücher. Teling wußte, daß das, was er suchte, sehr gut verborgen sein würde. Er griff nach einem dicken Buch, das in einem Pappkarton steckte. Auf dem Karten leuchtete ein weißes Schildchen mit dem Buchtitel:

Die altägyptische Götterlehre
von Professor Adolf Bernster.

Das Buch war schwer. Teling zog es aus dem Karton, schlug es auf.

Ein leiser Laut der Genugtuung: es war eine Buchattrappe; es war ein flacher Kasten! Und darin lag, in Watte gehüllt, eine altertümliche Halskette mit blitzenden Steinen, deren einzelne Fassungen die Gestalt eines Hasen mit aufrecht stehenden Ohren hatten, eines Hasen, des den alten Ägyptern heiligen Tieres.

Die Kette verschwand in Telings Tasche.

Da – man rüttelte an der Balkontür:

Eine befehlende Stimme vom Balkon her.

„Öffnen Sie – im Namen des Gesetzes.“

 

9. Kapitel.

Erich Bertram saß um Mitternacht in seinem Zimmer und las. Dann klopfte es leise. Es war Breul.

„Herr Doktor,“ flüsterte er, „es geht etwas vor. Der Teling hat sein Schlüsselloch verhängt. Das ist verdächtig. Was treibt er so Heimliches?“

„Was kümmert Sie der Teling!“ meinte Bertram unwirsch. „Sie sollen dem jungen Menschen nicht nachspionieren!“

Otto Breul schaute Bertram prüfend an. Ihm kam es recht sonderbar vor, daß der Doktor sich Telings wegen immer so ereiferte.

„Es ist meine Pflicht, mich um verdächtige Gäste zu kümmern!“ erklärte er etwas gereizt. „Wenn Sie auch glauben, daß der Teling mit unserem Atlantikgespenst nichts zu schaffen hat: ich bin anderer Meinung!“

Erich Bertram wurde ein wenig verlegen. Er merkte, daß Breul irgendwie argwöhnisch geworden.

„Sie haben ja die Leine, Herr Doktor,“ fügte Breul hartnäckig hinzu. „Man könnte sich mal auf Telings Balkon hinablassen. Vielleicht kann man sehen, was er in seinem Zimmer tut –“

Breul ging leise an das offene Fenster und lehnte sich hinaus, zog den Kopf aber sofort wieder zurück, fuhr herum und winkte Bertram zu.

„Das Gespenst!“ hauchte er. „Es kletterte soeben über die Holzwand!“

Breul und Bertram blickten hinab. Erich Bertrams Herz jagte noch schneller als das des Obers.

Und sie sahen gerade noch, wie die Gestalt mit der Kapuze in Stelters Zimmer huschte.

„Na – was sagen Sie nun?!“ triumphierte Breul.

Bertram durfte jetzt keinerlei Rücksicht mehr nehmen.

„Breul, Sie postieren sich unten vor Doktor Stelters Tür,“ ordnete er hastig an. „Ich lasse mich auf den Balkon hinab. Holen Sie vorher noch den Schlüssel zu Stelters Zimmer vom Schlüsselbrett. Aber leise!“

Breul schlich davon.

Bertram schlang das Seil um das Fensterkreuz, knotete es fest, turnte zum Fenster hinaus, wartete unten auf Stelters Balkon noch ein paar Minuten, damit Breul inzwischen mit dem Schlüssel zurückkehren könnte.

Dann rüttelte er an der Balkontür. Durch den Vorhang hatte er drinnen im Zimmer einen schwachen Lichtschein wahrgenommen. Der Lichtschein erlosch.

Und er meldete sich, rief: „Öffnen Sie – im Namen des Gesetzes!“ –

Fritz Teling überlief ein Zittern.

Alles war verloren, wenn jetzt schon die Entdeckung erfolgte.

Das durfte nicht sein! – Vielleicht konnte er noch durch die Flurtür entschlüpfen.

Aber – da wurde schon von draußen versucht, einen Schlüssel in das Schlüsselloch einzuführen, in dem doch der Nachschlüssel steckte.

Telings Gedanken drohten sich zu verwirren.

Nur jetzt einen klaren Kopf behalten! Nur jetzt nicht versagen –!

Eine Möglichkeit gab’s noch – eine kecke List.

Und – wieder von draußen die Stimme:

„Öffnen Sie! Jeder Fluchtweg ist versperrt!“

Eine Stimme – diese, diese Stimme! – Und Fritz Teling biß die Zähne in die Unterlippe.

Das mußte eine Täuschung sein! Wie sollte Erich Bertram gerade hier –

Eine Faust donnerte gegen die Scheibe der Balkontür.

Teling drehte den Schlüssel um, zog die Balkontür auf, stellte sich dahinter.

Vielleicht – vielleicht gelang’s – vielleicht! –

Erich Bertram starrte in das Dunkel des Zimmers hinein. Er zögerte nur einen Moment. Von Teling drohte keine Gefahr; der würde nie Gewalttätigkeiten versuchen.

Er trat rasch ein. Das lange Viereck der weißlackierten Flurtür wies ihm den Weg. Daneben mußte sich der Lichtschalter befinden. Seine Hand fuhr an der Tapete entlang; seine Finger umkrallten den kleinen Hebel.

Das Licht flammte auf.

Geblendet durch die grelle Lichtfülle blinzelte er nun spähend umher. Wieder jagte sein Herz. Jetzt – jetzt würde er Teling sofort dicht gegenüberstehen. Und was würde er dann sagen, was tun – gerade diesem Fritz Teling gegenüber?!

Das schoß ihm so durch den Kopf, während seine Augen noch hierhin und dorthin sich wandten und sich immer mehr an die Helle gewöhnten.

Aber – wo war Teling denn – wo nur?!

Erich Bertram tat plötzlich einen Sprung nach vorwärts.

Das auf den Balkon fallende Licht hatte ihm gerade nach eine Hand gezeigt, die jenseits des Gitters nach unten zu verschwand.

Er beugte sich über das Gitter; er sah, wie Teling von dem Knotenstrick auf den Balkon der Sennora Parazza glitt, wie er den Strick fahren ließ und in das Zimmer schlüpfte.

Bertram zauderte sekundenlang. Pflicht und heimlicher Wunsch, Teling möge entkommen, stritten miteinander. Die Pflicht siegte. Er rannte zur Flurtür. Ein Schlüssel steckte von innen. Er drehte ihn um, riß die Tür auf.

Otto Breul flog ihm übereifrig an den Hals, glaubte das Atlantikgespenst erwischt zu haben.

„Zum Teufel, lassen Sie mich los!“ keuchte Bertram.

„Verzeihung. Wie ist denn –“

„Unten – bei der Parazza –“

Sie jagten den Hauptflur entlang, die Treppe hinab.

Die Salontür der Parazza stand weit offen. Teling hatte auch zu dieser Tür einen Schlüssel besessen. Es war der zweite, klug vorbereitete Fluchtweg.

Breul schaltete im Salon das Licht ein.

„Zwecklos!“ rief Bertram. „Ob der Haupteingang noch offen ist?“

„Ja. Der Portier sollte erst die Gäste einlassen, die von der Reunion –“

Bertram lief schon weiter. Der Nachtportier saß am Fenster seiner erleuchteten Loge.

„Hat jemand soeben das Hotel verlassen?“ fragte Bertram.

„Ja – und sehr eilig. Wer es war, konnte ich nicht erkennen –“

Breul stand draußen auf der Freitreppe. Ein feiner Sprühregen schlug ihm ins Gesicht. Die Bogenlampen der Strandpromenade kämpften gegen diesen nebelartigen Regen und die dichte Finsternis umsonst an, schwankten im scharfen Nordost hin und her und ließen das Dunkel außerhalb ihres trüben Lichtkreises um so tiefer erscheinen.

Erich Bertram war neben Breul getreten.

„Eine Verfolgung ist aussichtslos,“ meinte Breul ingrimmig. „Nun ist der Lump uns entwischt. Es war bestimmt dieselbe Gestalt, die ich zweimal beobachtete.“

Im Lichtkreis der nächsten Bogenlampe tauchten zwei aufgespannte Regenschirme auf.

„Der Chef und seine Frau,“ fügte Breul hinzu. „Na – Wurzler wird schön wütend sein!“

„Breul, würden Sie es auf Ihren Eid nehmen, daß die Gestalt, die Sie sahen, wirklich dieselbe wie heute, also Teling, war?“ flüsterte Bertram hastig.

„Hm – es muß doch wohl dieselbe gewesen sein!“ brummte der Ober, dachte: „Weiß der Teufel, weshalb der Doktor diesen Teling immer so reinwaschen möchte?“

Das Ehepaar Wurzler kam die Freitreppe empor. Emil Wurzler musterte Breul und den angeblichen Krinski argwöhnisch.

„Guten Abend,“ meinte er zögernd. „Ist irgend was passiert?!“

Bertram nahm das Ehepaar beiseite und erzählte das Vorgefallene.

„Herr im Himmel!“ stöhnte Wurzler. „Die Geschichte kann mich pleite machen, wenn sie bekannt wird! Herr Doktor, sorgen Sie nur dafür, daß die anderen Gäste nichts erfahren. Ich bitte Sie inständigst: die Sache muß geheim bleiben!“

„Ich will’s versuchen,“ nickte Bertram nachdenklich. „Lassen Sie Doktor Stelter aus dem Kurhause holen. Gehen Sie am besten selbst hin, Herr Wurzler. Ersinnen Sie irgend einen Grund, Stelter –“

Emil Wurzler lief bereits hinaus. – Die Reunion sollte um ein Uhr zu Ende sein. Wurzler bat den Kurhausdirektor, den er persönlich kannte, Doktor Stelter herauszubitten. Stelter saß mit der Parazza und dem schwedischen Ehepaar Söndersen im Nebensaal. Als der Direktor ihm zuflüsterte, daß Wurzler ihn vor der Herrengarderobe mit einem soeben eingetroffenen Telegramm erwarte, fragte er ganz laut: „Ein Telegramm?! Hoffentlich hat man mir meine Berliner Wohnung nicht ausgeräumt!“ – Dann entschuldigte er sich bei der Parazza und den Söndersens und folgte dem Direktor.

Wurzler war vor Aufregung blaurot im Gesicht und schwitzte wie im Dampfbad. Er berichtete dann alles so unübersichtlich, daß Stelter schließlich ärgerlich sagte: „Ich komme mit!“

Als sie im Atlantik anlangten, fanden sie Doktor Bertram oben in Stelters Zimmer vor. Bertram zog hinter ihnen die Tür zu.

„Sie gestatten, daß ich mich Ihnen mit meinem wahren Namen vorstelle,“ sagte er zu Stelter. „Doktor juris Erich Bertram, Hilfsarbeiter bei der Berliner Kriminalpolizei –“

„Ah – Herr Doktor Bertram!“ Stelter streckte Ihm die Hand hin. „Freund Ritzelt erzählte von Ihnen mal gelegentlich – Sehr erfreut. – Was ist hier denn eigentlich los?“

Bertram schilderte, wie er und Breul Teling hier bereits so gut wie fest zu haben geglaubt hatten. „Vielleicht sehen Sie sofort nach, ob Ihnen etwas gestohlen worden ist,“ bat er dann. „Ihre Koffer sind durchsucht worden. Da liegt in dem einen obenauf eine leere Buchattrappe und nebenbei ein großes Stück Watte.“

Stelters Augen wurden für einen Moment kleiner. Doch sehr kühl und gleichmütig erwiderte er: „Ich habe nichts von Wertsachen in meinen Koffern gehabt – nichts! Ich brauche daher gar nicht nachzusehen –“

Wurzler mischte sich ein. „Meine Herren, dann liegt gar kein Grund vor, von der Sache viel Aufhebens zu machen, gar kein Grund! Schonen Sie mich und mein Geschäft!“

„Von mir aus bewilligt!“ lächelte Stelter. „Der Hoteldieb hätte sich jemand anders als Opfer aussuchen sollen, nicht gerade mich! Ich bin für solche Leute ein absolut untaugliches Objekt. – Herr Doktor Bertram, Sie entschuldigen mich. Ich muß ins Kurhaus zurück.“

Die drei Herren traten in den Flur.

„Noch etwas, Herr Doktor,“ sagte Bertram zögernd. „Ich war es, den Ritzelt zuerst bei Ihnen einquartiert hat. Und Ritzelt hatte in Ihrer Wohnung an verschiedenen Möbeln Fingerabdrücke gefunden, die –“

„Oh – tun Sie mir einen Gefallen“ unterbrach Stelter ihn. „Begleiten Sie mich[7] bis zum Kurhaus. Unterwegs können Sie mir dann Ritzelts Erfolge mitteilen. Herr Wurzler ist wohl so freundlich, mein Zimmer abzuschließen.“

Bertram holte schnell seinen Gummimantel. Dann schritten die beiden die Strandpromenade entlang, und Bertram erzählte, wie er es herausgebracht hatte, wer der Eindringling in Stelters Wohnung gewesen, und wie er dann hier in der Person Fritz Telings dasselbe Mitglied der Familie Schmidt ermittelt und auch festgestellt hätte, daß Teling eine zweite Wohnung als Helene Münz bei der Witwe Senkpiel innehabe.

Stelter schien die ganze Geschichte recht gleichgültig zu sein.

„Ich begreife nicht, was die Person in meiner Wohnung wollte,“ meinte er, als sie vor dem Kurhause halt machten. „Nun – das herauszufinden ist Ritzelts Sache. – Werden Sie jetzt der Helene Münz einen Besuch abstatten, Herr Doktor?“

„Hm. Wäre es nicht besser, daß man sie bei dem Glauben beließe, daß ihr zweites Quartier noch ein Geheimnis ist? Ich, denke, sie wird dort bei der Senkpiel ruhig ein paar Tage verstreichen lassen, bevor sie Heilmünde verläßt. Sie dürfte sich dort ganz sicher fühlen –“

„Ohne Frage. Auch ich würde sie vorläufig nicht behelligen. – Auf Wiedersehen, Herr Doktor –“

Und Harry Stelter verschwand im Kurhause, während Erich Bertram langsam ins Atlantik zurückkehrte, wo Wurzler und Breul ihn im Bureau erwarteten. Bertram erklärte den beiden, daß die Vorkommnisse dieser Nacht geheim bleiben sollten, und begab sich auf sein Zimmer. Auch Wurzler und Breul suchten sehr bald, der erstere hochbefriedigt, daß die peinliche Geschichte wohl vertuscht werden würde, der andere sehr enttäuscht, ihre Schlafzimmer auf. –

Doktor Stelter trat an den Tisch heran wo die Parazza und das schwedische Ehepaar soeben den bestellten Mokka serviert bekamen.

„Ich muß zur Post und eine Depesche nach Berlin aufgeben,“ sagte Stelter zu ihnen. „Sie müssen mich noch eine Viertelstunde entschuldigen. Es ist mir da etwas zugestoßen, das ich sofort einem Freunde mitteilen muß.“

Er hatte noch seinen Ulster an und den Hut in der Hand, verbeugte sich und ging.

Auf der Straße begann er jedoch zu laufen. Ganz atemlos langte er im Postamt an und telegraphierte an Justus Ritzelt:

„Bitte sofort kommen. Sehr wichtig. Harry.“

Als er dann nach etwa zwanzig Minuten wieder bei seinen Bekannten erschien und am Tische Platz nahm, bestellte er beim Kellner Sekt, stürzte drei Gläser hinunter und war nun wieder der amüsante, geistvolle Gesellschafter wie immer.

Gegen halb zwei leerten sich die Säle des Kurhauses. Als letzte Gäste kamen die Parazza, die Söndersens und Stelter in das Atlantik heim. Der Nachtportier steckte schmunzelnd die Trinkgelder in die Tasche, wünschte den Herrschaften gute Nacht und schloß die Tür ab, legte sich in seiner Loge auf das Sofa und war sehr bald eingeschlafen.

Das große Hotel lag gegen ein Viertel drei Uhr still und dunkel da. Nirgends brannte mehr Licht, mit Ausnahme der Portierloge und der langen Flure.

– – – – – – – –

Nirgends brannte mehr Licht. Und doch waren noch mehrere Gäste wach. So auch die Parazza und ihre Zofe Juanita.

Die Parazza schritt im Dunkeln im Salon, in einen seidenen Schlafrock gehüllt, unruhig auf und ab. Juanita stand, ebenfalls im Negligee, am Fenster der Balkontür. – Jetzt blieb die Parazza neben Juanita stehen und flüsterte gepreßt:

„Ich tu’s, Hanna, – ich tu’s ganz bestimmt! Ich will „ihn“ entlarven – mag daraus werden was will! Sobald er hier erscheint und die Komödie beginnen soll, werde ich „ihn“ zwingen, die Maske zu lüften! Und – er wird die Maske lüften! Dieses Zwangsmittel ist überzeugend!“ – Sie hob die rechte Hand. Und im matten Schein der Bogenlampe der Strandpromenade blinkte ein kleiner Revolver. –

Vor ein paar Sekunden war durch die halb offene Tür aus dem Schlafzimmer der Parazza eine schattengleiche Gestalt lautlos über den Teppich bis hinter die beiden Frauen gehuscht.

Eine Gestalt im grauseidenen Schlafanzug, eine Kapuze mit nur zwei Sehlöchern über dem Kopf.

Eine Hand griff blitzschnell nach der Waffe, entriß sie der Parazza. Und eine tiefe, verstellte Stimme sagte mit beißender Ironie:

„Gottlieb Niemand ist allgegenwärtig! Unser Vertrag ist abgelaufen – durch Ihre Schuld! Ich warnte Sie vor Verrat! Nun nehme ich auch Ihre Juwelen mit, die der Sennora aus Brasilien noch mehr echten Glanz verliehen!“

Der kleine Revolver flog in eine Ecke.

Die Gestalt glitt rückwärts ins Schlafzimmer zurück.

Und – mit einem gellenden Wutschrei sprang die Parazza ihr nach.

Ein Faustschlag, und sie sank Juanita in die Arme, raffte sich sofort wieder auf, schrie noch lauter um Hilfe.

Stuart Atcinson hatte schon den ersten Schrei vernommen, hatte seine Tür aufgerissen.

Die Gestalt schoß förmlich aus der Schlafzimmertür der Brasilianerin heraus. Atcinson vertrat ihr den Weg, streckte die Arme aus.

Und taumelte zur Seite. Ein Dolchstoß hatte seine Brust, sein Herz getroffen.

Die Gestalt verschwand nach der Haupttreppe zu.

 

10. Kapitel.

Erich Bertram hatte in seinem Zimmer bei einer Zigarre im Dunkeln gesessen und die Ereignisse dieser Nacht nochmals überprüft, war dabei auf einen ganz besonderen Gedanken gekommen, den er nun nach allen Seiten hin erwog.

Dann von unten her ein schwacher Schrei – noch einer.

Er fuhr empor, lief zur Tür, trat in den Flur.

Und abermals ein Schrei – überlaut: „Hilfe – Hilfe – ein Mord!“

Er rannte die Treppen hinab, fand im ersten Stock die Parazza und Juanita neben Atcinson knien, fragte, was geschehen erhielt keine Antwort.

Die Parazza gebärdete sich wie eine Wahnsinnige, weinte, jammerte.

„Franz – Franz – Du darfst nicht sterben! Franz, Du mußt leben – für mich, Deine Rosa – Hilfe – er stirbt – einen Arzt – einen Arzt –!“

Bertram war dieser Verzweiflung gegenüber machtlos.

Auch Juanita weinte und rang die Hände, hörte auf nichts.

Doktor Stelter, der seine mangelhafte Toilette durch seinen Ulster verhüllte, trat neben Bertram.

„Was – was ist hier vorgefallen?“ stammelte er ganz entsetzt.

Bertram blickte ihn ratlos an – scheinbar ratlos.

Und als dritter Hotelgast fand sich nun ein erst vorgestern Abend hier abgestiegener Gutsbesitzer ein, dem der Nachtportier vor fünf Minuten die Tür aufgeschlossen hatte.

Der blondbärtige Hüne beugte sich über Atcinson, fühlte nach dem Puls.

„Tot!“ sagte er hart. „Frau Parazza, stehen Sie auf! Sie haben soeben bewiesen, daß Sie das Deutsche fließend beherrschen. – Dieser Tote dürfte –“

Die Parazza war plötzlich wie verwandelt. Sie hatte sich rasch erhoben, flüsterte zusammenschauernd:

„Es ist alles aus. Er ist tot! Er war mein rechtmäßiger Gatte. Sein Mörder soll der Strafe nicht entgehen!“

Nun erschienen auch Breul, Wurzler, mehrere andere Hotelgäste.

Der blonde Hüne schickte sie wieder weg, berief sich auf seine Beamteneigenschaft, nannte seinen Namen: Kriminalkommissar Ritzelt! Justus Ritzelt aus Berlin. Er und Bertram trugen den Toten in den Salon der Parazza. Stelter folgte mit den beiden Frauen. –

Hier im Salon erklärte die Parazza mit derselben unnatürlichen Ruhe, daß sie und ihr Gatte und dessen Schwester Hanna seit Jahren als Hoteldiebe die Welt bereist hatten, daß dann aber vor fünf Monaten in Frankfurt am Main ein Hotelgast, der mit einer Maske in ihre Zimmer gekommen sei, sie entlarvt hätte. „Er hatte uns ganz in seiner Gewalt, dieser Unbekannte. Er zwang uns, ihm fernerhin blindlings zu gehorchen. Seine Befehle erteilte er meist schriftlich als Gottlieb Niemand – durch Briefe, die mit Schreibmaschine geschrieben waren –“

Bertram warf einen kurzen Blick zu Stelter hinüber und fragte dann die Parazza: „Erhielten Sie auch hier Briefe? Welche Farbe hatte die Schrift?“

„Lila. – Ich habe noch mehr anzugeben. Der Unbekannte entwarf stets den Plan für einen neuen Diebstahl. Wir mußten uns in dem betreffenden Hotel einlogieren und dann nachts die Türschlösser der Zimmer, wo gestohlen werden sollte, anbohren und so vorbereiten, daß man sie von außen stets öffnen konnte. Wir taten dies bei Zimmern, die gerade leer standen und erst später belegt wurden. So auch hier im Atlantik. – In dieser Nacht sollten die Schmucksachen der Damen, die ihre Juwelen für die Reunion aus dem Hoteltresor zurückverlangt hatten, gestohlen werden und sind auch fraglos gestohlen worden. Diese Arbeit erledigte der Unbekannte stets selbst. Und doch – wir haben nie ermitteln können, wer dieser Niemand war. Wir hatten dieses Sklavenleben seit Wochen satt. Ich wollte frei sein, ebenso Franz, mein Mann. Wir gedachten den Niemand heute zu zwingen, sein Gesicht endlich zu enthüllen. Aber – er ist doch entkommen. Und – hat gemordet – meinen Gatten –“ – Sie schluchzte auf. – „Ich will jede Strafe gern auf mich nehmen, wenn nur der Mörder entdeckt wird!“ rief sie dann lauter und reckte die Hand wie beschwörend gegen Ritzelt aus. „Sie, Herr Kommissar, müssen ihn finden. Er ist schuldiger als Hanna und ich; er trieb uns zu stets neuen Diebstählen an! Er muß hier im Hotel wohnen!“

Die beiden Frauen saßen nebeneinander auf dem Sofa; um den Tisch herum vor ihnen die drei Herren, die hier Zeugen dieser seltsamen Geständnisse waren.

Nach Rosa Parazzas letzten Worten herrschte eine Weile Schweigen. Dann sagte Justus Ritzelt gedankenvoll, indem er auf die Tischdecke blickte:

„Ein Mord und ein Mordversuch – Um dreiviertel eins in dieser Nacht wartete ich vor dem Häuschen der Witwe Senkpiel auf Ihr Erscheinen, lieber Doktor –“ – Er hob den Blick und nickte Bertram zu. „Ich hatte Fritz Teling fliehen sehen. Ich wußte, was hier vorgefallen, hatte Telings Kletterpartien von der Strandpromenade beobachtet und dachte, Sie würden ihn bei der Senkpiel als Helene Münz verhaften. Ich wartete also hinter einem Baume des Bollwerks. Kurz nach dreiviertel tauchte ein Mann im dunklen Mantel auf, pochte an das Erdgeschoßfenster, und Helene Münz öffnete es, weil sie ihre Sache ohnedies verloren gab. Da – da stieß der Mann im Mantel zweimal zu, stieß nach dem Herzen und – traf nur die Miederstangen. Helene Münz sank trotzdem wie tot ins Zimmer zurück, und der Mörder lief davon, lief so schnell, daß[8] ich auf eine Verfolgung verzichten mußte. Ich kletterte in die Stube hinein und brachte das junge Mädchen – Helene Münz ist ja niemand anders als Lotte Schmidt, noch vor zwei Jahren Schauspielerin, dann Angestellte der Detektei Helios – sehr bald ins Bewußtsein zurück. Weshalb sie damals bei Doktor Stelter –“ – er vermied es, Stelter anzusehen – „eingedrungen war, hat mir ihr Chef, mein früherer Kollege Tabert, erst vor drei Tagen in Berlin anvertraut. Lottes Vater hatte den Rentner Busse, seinen alten Schulfreund, beerbt. Busse war leidenschaftlicher Sammler ganz alter Schmucksachen. So besaß er auch eine altägyptische Halskette, die ihm Doktor Stelter, wie er in einem hinterlassenen Briefe erwähnt hat, gern abkaufen wollte. Die Halskette fand sich nach Busses Tode nicht mehr vor. In jenem Brief aber erwähnte Busse außerdem noch, daß man ihm nach dem Leben trachte und auch verschiedentlich bei ihm habe einbrechen wollen. Es sprachen dann noch andere Umstände mit, die Lotte Schmidt veranlaßten, bei Stelter nach der Kette zu suchen. Man hatte die Familie Schmidt verdächtigt, Busse vergiftet zu haben. Jedenfalls: das junge Mädchen wollte Busses Tod aufklären. Ihr Verdacht, der sich gegen Doktor Stelter richtete, war so schwach begründet, daß selbst ich ihn als haltlos zurückgewiesen hätte. Stelter war ja ein angesehener Privatgelehrter, war mit mir noch dazu befreundet –“

Harry Stelter richtete sich jetzt in seinem Sessel höher auf und fragte empört:

„Ritzelt – was soll das alles?! Hältst Du mich etwa für den Mörder Busses?! Das wäre so unsäglich albern, daß ich –“

Ritzelt unterbrach ihn kalt.

„Sie sind der Mörder! Sie hatten die Halskette in Ihrem Koffer verborgen! Und – Sie waren es, der Lotte Schmidt in dieser Nacht als gefährliche Feindin beseitigen wollte! Sie flohen, als ich auf das Fenster zulief. Wäre ich nicht zur Stelle gewesen, wäre Lotte Schmidt jetzt tot und die Halskette für alle Zeit verschwunden. – Wo waren Sie denn gegen dreiviertel eins?!“

„Auf dem Postamt!“ lachte Stelter schneidend auf. „Ich habe dort an Sie depeschiert, Herr Kriminalkommissar.“

„Das hätte mit Hin- und Rückweg nach dem Kurhaus nur zehn Minuten in Anspruch genommen. Der Sie bedient habende Kellner im Kurhaus sagte aus, Sie seien über zwanzig Minuten fort gewesen. – Und der Sekt sollte dann Ihre Nerven wieder in Ordnung bringen.“

Erich Bertram hatte sich weit vorgebeugt, rief jetzt:

„Und mir haben Sie nahe gelegt, Helene Münz in dieser Nacht nicht zu behelligen, als wir vor dem Kurhaus standen! Schon da hatten Sie fraglos den Entschluß gefaßt, sie zu ermorden, wobei ich Sie eben nicht stören sollte!“

Stelter lächelte nur.

„Und noch eins[9]!“ fuhr Bertram erregt fort. „In Ihrem großen Koffer haben Sie eine Schreibmaschine mit – eine Schreibmaschine mit lila Farbband. Der Koffer war ja ebenfalls offen, und ich war in Ihrem Zimmer lange genug allein, um auch festzustellen, daß dieser Koffer einen doppelten Boden hat. Zwischen diesen doppelten Böden lagen ein – grauseidener Schlafanzug, ein Paar weiche Schuhe aus Seidenstoff, eine Kapuze und – ein Dolchmesser –“

Niemand hatte jetzt auf Rosa Parazza geachtet. Ihre Augen hingen rachgierig auf Stelters plötzlich farblosem Gesicht; ihre rechte Hand aber verschwand in der tiefen Tasche des Morgenrocks, wo sie vorhin den kleinen Revolver wieder verborgen hatte.

„Sollten Sie nicht gar der Herr Gottlieb Niemand sein?!“ fügte Bertram noch lauter hinzu. „Sollten Sie nicht das Atlantikgespenst –“

Ein heller Knall – noch einer – noch einer.

Da erst hatte Ritzelt der Parazza den Revolver aus der Hand geschlagen.

Harry Stelter war hochgeschnellt, war wieder in den Sessel zurückgesunken. Sein Körper verlor jede Spannkraft. Seine Arme hingen schlaff herab.

Und doch stieß er noch lallend hervor, während schon zwei Blutfäden aus den Mundwinkeln zum Kinn hinabglitten:

„Sammlerleidenschaft – wie Busse. Alles – nur – deshalb. – Und – weil – die Gefahr – reizte – als – Hoteldieb, als – als – Atlantikgespenst.“

Dann noch ein ruckweises Strecken des Leibes. Und Doktor Harry Stelter war tot.

– – – – – – – –

Vier Stunden später.

Frau Senkpiel blickt ihre Mieterin, die soeben die Küche betreten hat, sprachlos an.

Ist das noch Helene Münz, die grauhaarige Musiklehrerin?! Wo nur ist plötzlich der blonde Bubenkopf hergekommen, wo sind die runden Wangen geblieben?!

Das ist ja ein junges Mädchen mit zartem schmalem Gesicht! Das ist doch nicht ihre Mieterin!

Lotte Schmidt lächelt verlegen.

„Ich bin’s wirklich, Frau Senkpiel,“ sagt sie überlaut in Rücksicht auf der Witwe schlechtes Gehör. „Endlich bin ich’s – Lotte Schmidt – wieder ganz Lotte Schmidt!“

Da – die altehrwürdige Zugglocke im Flur beginnt schrill zu bimmeln.

Lotte erschrickt. Lotte ahnt, wer Einlaß begehrt. Lotte wird sehr rot.

Und eilt doch so schnell in den Flur, öffnet.

Erich Bertram streckt ihr strahlend beide Hände entgegen.

„Fräulein Lotte –“

Mehr bringt er nicht über die Lippen; mehr braucht er auch nicht zu sagen; seine Augen verraten übergenug.

Und Lotte Schmidt flüstert leise:

„Jetzt – jetzt will ich nicht mehr Schauspielerin werden, Erich. Nein, jetzt –“

Und – da braucht sie nichts mehr hinzuzufügen.

Er hat sie schon in die Arme genommen, küßt sie.

„Jetzt wirst Du mein Frauchen, wildes Lottchen, – mein liebes, verständiges Frauchen!“ jubelt er.

Frau Senkpiel steht hinten im Flur und staunt, staunt.

„Diese Badegäste!“ denkt sie. „Diese Berliner! Aus denen soll nun einer klug werden!“

Nachher gratuliert sie dann aber doch sehr herzlich, denn diese Lotte hat ihr ja gleich so gut gefallen. –

Nachmittags gehen Erich und Lotte Arm in Arm am Atlantik-Hotel vorüber.

Auf der Freitreppe stehen Emil Wurzler und der Herr Ober und dienern tief vor dem Brautpaar, und beide lächeln zufrieden. Wurzler weiß, daß die Entlarvung der seit langem gesuchten Hoteldiebe für das Atlantik eine tadellose Reklame abgibt; und Otto Breul weiß, daß er durch das Atlantikgespenst ein paar tausend Mark Belohnung verdient hat.

Geschäft ist Geschäft!

Aber so eine neu erwachte, innige Jugendliebe ist schöner.

 

 

Anmerkungen:

  1. In Abweichung davon wird auf dem Einband direkt Walther Kabel als Autor benannt.
  2. In der Vorlage steht: „Rickelt“.
  3. In der Vorlage steht: „es“.
  4. In der Vorlage steht: „ihn“.
  5. In der Vorlage steht: „wir“.
  6. In der Vorlage steht: „fürmlich“.
  7. In der Vorlage steht: „ich“.
  8. Hier ist eine halbe Zeile doppelt, der Rest der Zeile mit unverständlichem Kauderwelsch gefüllt.
  9. In der Vorlage steht: „ein“.