Walther Kabel
Kriminal-Roman
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Der Dampfer „Lord Sussex“ hatte soeben am Kai in Suez festgemacht.
Auch Doktor Loring und Stuart Waccam verließen das Schiff, um sich die berühmte Kanalstadt anzusehen. Waccam kannte sie schon. Sein Beruf führte ihn seit zehn Jahren durch alle Weltgegenden.
Braune Händler boten auf dem Kai mit greulichem Gekreisch allerlei Tand an.
„Alles Schwindel,“ sagte der Engländer zu seinem deutschen Freunde, den er vor zwei Monaten in Tokio kennengelernt hatte. „Die Sachen sind sämtlich in England und Frankreich fabrikmäßig hergestellt worden und erhalten hier erst die Alterspatina. Kommen Sie!“
Fritz Loring blieb trotzdem stehen.
„Haben Sie denn solches Interesse für Schildkröten?!“ meinte Stuart Waccam.
Loring trat näher an den Zerlumpten, hellhäutigen Fellachen heran, der die große Schildkröte feilbot.
Der Rückenschild des Tieres war etwa siebzig Zentimeter lang. Der schlangenähnliche Kopf mit den dunkeln Perläuglein fuhr hin und her. Eine Staub- und Schmutzschicht bedeckte den Panzer und machte die Riesenschildkröte unansehnlich und wenig begehrt.
„Kommen Sie!“ rief Waccam abermals ungeduldig, wurde dann aber durch die Baronin Lönberg abgelenkt, eine schlanke Schwedin mit köstlichem Blondhaar.
„Mr. Waccam, helfen Sie mir doch, etwas hier auszusuchen,“ bat sie und deutete auf einen Beduinen, der alte Waffen feilhielt.
Der englische Detektiv, der sich auf dem Lord Sussex als Kaufmann ausgegeben hatte, war ein wenig in die blonde Witwe verliebt, die in Kalkutta an[1] Bord gekommen war.
Er prüfte die Waffen, wählte eine alte Steinschloßpistole mit reichverziertem Kolben aus, ferner ein nubisches Hauschwert, einen Dinga-Schild aus Elefantenhaut und drei Wurfspeere.
Der Beduine forderte unverschämte Preise.
Waccam handelte, feilschte, fluchte. Die Baronin lachte. Es ging sehr vergnügt her.
Als Waccam sich dann nach Loring umschaute, war dieser verschwunden.
Dem Detektiv war dies nur lieb. Auch Loring machte der Baronin den Hof.
„Gehen wir in die Stadt,“ meinte sie mit einem verwirrenden Augenaufschlag.
„Gern – nur zu gern,“ lächelte Waccam selig.
Er reichte ihr den Arm. Ein Trupp bettelnde Kinder umlärmte sie. Die Baronin warf ihnen Geld zu. Die Horde balgte sich, blieb zurück.
Die Sonne brannte glühend heiß auf die Steinquadern des Hafendammes hernieder.
„In Stockholm liegt jetzt noch Schnee,“ sagte Inge Lönberg leise. „Ich beneide alle Menschen, die dauernd im Orient leben können. Ich hasse die Kälte. Weshalb haben Sie eigentlich Ihre Stellung in Tokio aufgegeben, Mr. Waccam? Japan ist doch so schön.“
„Weil ich dort gar keine hatte,“ dachte Stuart und erwiderte laut:
„Das Geschäft war erledigt, Baronin.“
„Erledigt?“
Der dürre Waccam blinzelte die schöne Frau an.
„Was würden Sie wohl für ein Gesicht machen, Baronin, wenn nicht ein Kaufmann Stuart Waccam, sondern der Londoner Privatdetektiv Stuart Waccam, sondern Advokat und Doktor[2] der Rechtswissenschaften, neben Ihnen her schritte?!“
Inge schrie leise auf und machte sich von ihm los.
„Wie – ein Detektiv?! Unmöglich!“
Sie musterte ihn von den weißen Segeltuchschuhen bis hinauf zu dem federleichten, breitrandigen japanischen Seidenhut.
„Unmöglich!“ wiederholte sie.
Er lachte und zeigte tadellose Zähne.
„Es ist so, Baronin. Ich war Advokat und bin mit fünfundzwanzig Jahren aus Not und Neigung Detektiv geworden. Praxis als Anwalt hatte ich nicht, Vermögen erst recht nicht, aber den Schädel voller Hirn.“
Sie hängte sich wieder in seinen Arm ein.
„Ich stellte mir Detektive immer so ganz anders vor,“ meinte sie. „Daher mein Erstaunen. Bei uns in Stockholm würde ich mit keinem Detektiv Arm in Arm gehen. Diese Leute dort sind nicht wie Sie Gentleman.“
„Danke, Baronin.“
„Was hatten Sie denn in Tokio zu tun? – Ich lese so gern Kriminalromane.“
„Ich jagte einer Perlenschnur nach –“
„So?! Also einer gestohlenen Perlenschnur.“
„Ja.“
„Und Sie haben sie erjagt?“
„Natürlich. Es hat zwar fünf Monate gedauert, aber sie ist auch ihre 100 000 Pfund Sterling wert. Es gibt nur eine einzige Perlenkette wie die der Frau Anni Bolke. Sie kennen den Namen wohl, Baronin: Bolke, der deutsche Kohlenkönig! Das heißt: Könige sind jetzt unmodern. Sagen wir „Kohlenmagnat“. Das klingt neuzeitlicher.“
„Wie interessant! Und August Bolke hatte Sie mit der Verfolgung der Diebe beauftragt?“
„Nein. Er hatte nur eine so hohe Belohnung für die Wiederherbeischaffung des Schmuckes ausgesetzt, daß die Sache sich für mich lohnte.“
„Und jetzt werden Sie August Bolke die Perlenschnur feierlich überreichen und Ihre Belohnung einstreichen.“
„Ja. Trotz der Kosten ist es ein gutes Geschäft.“
Die Baronin blieb wieder stehen, zog ihren Arm sacht an sich, schaute Waccam bittend an und sagte mit berückendem Lächeln:
„Sie müssen mir die Schnur einmal zeigen. Sie müssen! Ich habe noch nie eine kostbare Perlenkette gesehen.“
Stuart Waccam kniff die bartlosen Lippen etwas zusammen.
„Das kann ich aus dem sehr einfachen Grunde nicht, weil die Perlen in Tokio in einer Bank lagern,“ erwiderte er.
Inge Lönberg blickte ihn zweifelnd an, rief:
„Sie – Sie schwindeln ja! Soeben gaben Sie doch zu, daß Sie die Schnur August Bolke überreichen wollten.“
Waccam schnitt ein trauriges Gesicht.
„Reingefallen also! – Baronin, wenn Sie mir fest versprechen, niemandem zu erzählen, wer ich bin und was ich oder vielmehr Freund Loring in seinem Koffer mit Doppelboden versteckt halte, dann –“
Sie klatschte in die Hände wie ein übermütiges Kind.
„Oh – ich kenne ja außer Ihnen beiden niemand von den Passagieren genauer. Mit wem sollte ich darüber sprechen?!“
„Allerdings, Baronin. Sie sind sehr unnahbar.“
„Nun also!“
Sie gingen wieder Arm in Arm weiter.
„Wer hatte den Schmuck gestohlen?“ fragte sie gespannt. „Sie müssen mir alles ganz genau berichten. Ich möchte doch einmal vergleichen, ob in den Romanen und Detektivgeschichten nicht zuviel zusammenphantasiert wird.“
„Meine Antwort wird Sie enttäuschen. Ich weiß nicht, wer die Diebe sind. Und ich darf wohl mit Recht behaupten: niemand weiß es! Man vermutet: internationale Hochstapler! – Das wird wohl stimmen.“
Inge Lönberg schüttelte den Kopf.
„Mir unbegreiflich! Sie haben den Dieben die Beute doch wieder abgenommen, Mr. Waccam.“
„Den Dieben nicht. Nur dem Hehler in Tokio, einem Chinesen, bei dem ein Herr und eine Dame, anscheinend ältere Amerikaner, die Schnur verkauft hatten.“
Die Baronin überlegte.
„Wie gelangten Sie denn aber nach Tokio? Sie müssen doch die Diebe verfolgt haben?“
„Wenn ich Ihnen das alles erzählen wollte, würde ich viele Stunden gebrauchen. Jedenfalls: ich habe nie einen der Gauner zu Gesicht bekommen, nur die Chiffredepeschen, die sie mit ihren Helfershelfern in Deutschland wechselten. Mir gelang es, die Telegramme zu entziffern. So fand ich die nach Japan deutende Spur.“
In den graublauen Augen der Baronin leuchtete einen Moment ein besonderes Licht auf.
„Und diese Genossen der Diebe konnten sich ebenfalls vor Ihnen verbergen?“ fragte sie nun.
„Leider! Die Leute waren unglaublich vorsichtig. Das Gaunerkonsortium muß über geradezu geniale Köpfe verfügen. Ich bin bereits zehn Jahre Detektiv, habe noch nie versagt: in diesem Falle bringe ich die Beute zwar zurück, aber die Diebe selbst blieben mir unsichtbar. Sie waren wie der Nebel, den man auch nicht greifen kann.“
Sie hatten die Stadt erreicht.
Auf dem Postamt trat Waccam dann mit drei Briefen und einer Depesche an einen der Schreibschalter, um sie durchzusehen. Die Baronin gab ein Telegramm an ihre Verwandten in Stockholm auf. Wenigstens hatte sie dies Waccam gesagt. Das Telegramm lautete:
Alfred Mauser, Kairo, Hotel Atlantic
Kleid absenden mit Spitzenkragen.
Inge.
„Wann kann die Depesche in Kairo sein?“ fragte sie den farbigen Schalterbeamten ganz leise.
„Ist einer Stunde, Mistreß –“
„Danke.“ – Sie schien von der Auskunft befriedigt und ging dann vor dem Postamt wartend auf und ab.
Waccam erschien. Er sah merkwürdig verstört aus. Sein braunes Gesicht war erdfahl.
„Haben Sie schlechte Nachrichten erhalten?“ fragte Inge teilnehmend.
„Ja. Meine Mutter ist sehr krank.“ –
Um zehn Uhr vormittags waren sie wieder auf dem Dampfer, der eine Stunde später seine Reise fortsetzen sollte.
Waccam war in seine Kabine gegangen. Sie lag neben der Doktor Lorings.
Der Detektiv setzte sich in den Korbsessel und bedeckte die Augen mit der Hand. So brütete er wohl eine halbe Stunde lang vor sich hin.
Sein Gesicht war noch immer fahl und verfallen. Er trat vor den Spiegel des Wandschrankes und beschaute sich.
Drei Gläser Whisky aus seiner Reiseflasche stellten den früheren Waccam leidlich wieder her.
Er ging und klopfte bei Loring an.
Der junge Gelehrte, der im Auftrage der japanischen Regierung in Tokio die Staatsbibliothek, Abteilung Sprachenforschung, geordnet hatte, legte das Buch weg, in dem er gelesen.
Waccam lehnte sich an den kleinen Tisch.
„Wo waren Sie eigentlich geblieben, Doktor?“ fragte er zerstreut. „Haben Sie etwa die Schildkröte gekauft?“
„Ich wollte Sie und die Baronin nicht stören, Waccam. – Die Schildkröte war mir zu teuer.“
Des Detektivs Augen glitten in der Kabine hin und her. Dort standen Lorings Koffer, und dort unter dem Bett eine helle Holzkiste.
„Die Kiste ist ja neu,“ meinte Waccam. „Sie haben wohl andere Einkäufe gemacht?“
„Einen Teppich. Ich zeige ihn gelegentlich. Ich habe ihn tüchtig mit Kampfer bestreut und die Kiste fest zugenagelt. Er stank genau so wie der braune Dreckfink, der ihn mir anbot.“
Waccam hatte kein Interesse für Teppiche. Seine Gedanken waren schon wieder anderswo. Nach einer Weile sagte er:
„Ich habe die Postsachen abgeholt. Schlechte Nachrichten, Loring. Meine Mutter liegt in einer Klinik und muß operiert werden.“
Loring sprach dem Freunde aufs herzlichste Mut zu.
„Eine Operation ist noch lange kein Todesurteil,“ meinte er. „Ich glaubte bisher, Ihre Eltern wären beide bereits tot, lieber Waccam.“
„Das ist bedingt richtig. Meine Mutter ließ sich von meinem Vater scheiden, und dieser heiratete nochmals. Ich bin in seinem Hause erzogen und habe daher zwei Mütter gehabt. Meine rechte Mutter trat erst wieder in Verbindung mit mir, als mein Vater und seine zweite Gattin kurz hintereinander gestorben waren.“
Der kühl-sachliche Ton dieser Angaben, der in schroffem Gegensatz zu Waccams Art und Weise stand, wie er über die Erkrankung seiner Mutter soeben noch gesprochen hatte, setzte den Doktor etwas in Erstaunen. Seine klugen, kühlen Augen musterten forschend des Detektivs echt britisches Sportgesicht. Er wollte etwas fragen, unterdrückte die Frage aber und meinte:
„Sie waren wohl mit der Baronin bis jetzt zusammen? Fräulein von Olderstetten zeigte sich schon ein wenig besorgt um das lange Ausbleiben ihrer Brotherrin.“
„Dann haben Sie also der kalten Schönheit Gesellschaft geleistet, Loring? – Mäßiges Vergnügen!“ – Er rauchte sich eine Zigarette an. Sein Blick wanderte immer wieder nach dem Bett hin.
„Sagen Sie das nicht, Waccam,“ verteidigte der junge Gelehrte, der mit seinem blonden, ganz kurz gehaltenen Spitzbart und dem gebräunten Gesicht, der straffen Haltung und den energischen Bewegungen mehr einem Marineoffizier in Zivil als einem Doktor der Philosophie glich, „die Gesellschaftsdame der Baronin, Fräulein von Olderstetten, ist wohl nur infolge trüber Lebenserfahrungen so verschlossen und ablehnend.“ – Er wurde unwillkürlich warm bei diesem Thema. „Ich unterhalte mich sogar sehr gern mit ihr. Sie ist über den Durchschnitt der Damen hinaus belesen und vielseitig gebildet. Gewiß – jedermanns Geschmack dürfte sie nicht sein. Flirten ist ihr wohl genau so unmöglich, wie der Baronin ein Gespräch über Goethes Faust.“
Waccam verzog die Lippen. Dieses kaum merkliche Lächeln gab seinem Gesicht etwas Unangenehmes. Es war geradezu, als würde dadurch ein sonst stets verhüllter Winkel seiner Seele entschleiert.
„Sollten Sie etwa Frau Inge Artigkeiten sagen, nur um mit Hella Olderstetten plaudern zu können?“ meinte er wie im Scherz.
„Die Artigkeiten werden doch von der Seite verlangt, lieber Waccam. Internationale Witwen wie Inge Lönberg können ohne stete Huldigung ihrer Reize nicht leben.“
„Oh – wie scharf, Doktor! Das sollte die Baronin gehört haben!“ lachte Waccam etwas gezwungen. „Übrigens hat Frau Inge mir nun wirklich unser Geheimnis entlockt.“
„Wie – Sie haben ihr anvertraut, daß in meinem Koffer dort –“
„– dort die Bolke-Schnur liegt, – ganz recht! Ich mußte es tun, Doktor. Sie hatte mich infolge einer unbedachten Bemerkung in die Enge getrieben.“
Loring schob unmutig die Oberzähne über die Lippe und blickte vor sich hin.
„Das war sehr unvorsichtig, Waccam, sehr! Was wissen Sie denn über diese verführerische Frau?! Nur daß sie Indien bereist hat, daß sie –“
Der Detektiv fiel ihm wieder ins Wort.
„Ich weiß genug und kann an ihrer Echtheit nicht zweifeln.“
Loring zuckte leicht die Achseln. „Schließlich ist das ja Ihre Sache. Nur muß ich Sie unter diesen Umständen bitten, die Perlenschnur wieder an sich zu nehmen, die ich nur unter der Bedingung in meinem Koffer versteckte, das davon niemand etwas erfuhr.“
„Sind Sie aber auch ängstlich, Loring! Frau Inge wird doch nicht – Ah bah, – gut, abends nehme ich die Kette wieder zurück. – Ich werde mich jetzt niederlegen und ein wenig schlafen. Die ernste Nachricht aus der Heimat ist mir sehr an die Nerven gegangen. Zum Lunch komme ich nicht in den Speisesaal. Ich will allein sein. Wiedersehen, Doktor.“
Er nickte Loring zu und ging in seine Kabine hinüber.
Bald darauf setzte der Riesendampfer sich unter dem üblichen Sirenengeheul in Bewegung. –
Fritz Loring versuchte weiterzulesen, nachdem Waccam ihn verlassen hatte. Aber die Gedanken an die Perlenkette ließen ihm keine Ruhe. Schließlich legte er das Buch beiseite, nahm die weiße Mütze, verschloß seine Kabine sehr sorgfältig und stieg an Deck.
Der Dampfer fuhr hier mit halber Fahrt. Die Kanalanlagen mußten vor dem Schwall einer unter Volldampf arbeitenden Schiffsschraube geschützt werden.
Die drückende Mittagsglut hatte sämtliche Passagiere erster Kajüte in die kühleren Gesellschaftsräume gescheucht, wo die Ventilatoren surrten und Männlein und Weiblein erschöpft Eisgetränke aus weißen Strohhalmen schlürften.
Loring setzte sich unter das Sonnensegel und warf einen verträumten Blick zurück auf die berühmte Kanalstadt. Dann wurde seine Aufmerksamkeit auf ein Motorboot gelenkt, das knatternd mit am Heck wehender Polizeiflagge dem Lord Sussex folgte.
Lorings Mienen verrieten plötzlich eine gewisse Unruhe.
Er stand auf, schritt nach der Mitte des Dampfers zu, wo ein paar Matrosen auf ein Signal des Hafenpolizeikutters hin bereits das Fallreep niederließen.
Er beugte sich über die Reling
Das Motorboot legte an. Ein Polizeibeamter schwang sich auf das Fallreep, eilte die Stufen hinan und rief dem Ersten Offizier des Dampfers zu:
„Ein lächerlicher Auftrag. Ich soll Ihren Steamer nach einer Schildkröte durchsuchen!“
Loring machte jäh kehrt und verschwand die Treppe hinab im Kabinengang, schloß seine Kabine Nr. 9 auf und riegelte hinter sich ab.
Zehn Minuten mochten vergangen sein, als der Erste Offizier und der Polizeibeamte, gefolgt von lachenden, witzelnden Fahrgästen, ebenfalls im Gange erschienen.
Loring hatte seine Tür wieder aufgeriegelt.
Es klopfte nach einer Weile.
„Mr. Loring,“ sagte der Erste Offizier mit breitem Grinsen, „man macht Jagd auf eine Riesenschildkröte, die heute früh aus einem Garten in Suez gestohlen worden ist. Der Dieb wurde erst gefaßt, als er die Schildkröte schon verkauft hatte. Er behauptet, er habe sie einem Passagier des Sussex für fünf Pfund Sterling überlassen. Das Geld hat man ihm abgenommen und dem Eigentümer des Panzerviehs übergeben, das damit mehr als bezahlt ist. Ich begreife nicht, weshalb dieser Mr. Charles Bugin so versessen auf die Schildkröte ist. Mag er sich doch eine andere kaufen! Jedenfalls gestatten Sie die Frage, ob Sie der Käufer des Tieres sind.“ Er grinste noch stärker, denn die ganze Geschichte kam ihm sehr komisch vor. Wer macht auch einer Schildkröte wegen so viel Aufhebens!
„Ich habe in Suez nur einen Teppich erworben,“ erwiderte Loring und zwang sich gleichfalls zu einem Lächeln.
Der Erste Offizier nickte und ging weiter, klopfte nun bei Waccam an, der jedoch nicht öffnete, sondern durch die Tür rief, man solle sich zum Teufel scheren, er schätze Schildkröten lediglich in Form von Suppe.
Die Passagiere wieherten.
Der Trupp zog weiter, und Loring drückte seine Tür wieder ins Schloß.
Das Polizeiboot kehrte unverrichteter Sache nach Suez zurück.
Loring, der wieder auf Deck an der Reling stand, schaute ihm nach, ging abermals in seine Kabine hinab und riegelte sich ein.
Um halb ein Uhr mittags wurde zum Lunch geläutet. Fritz Loring nahm im Speisesaal links neben Hella von Olderstetten wie immer Platz.
Das junge Mädchen, ganz in Weiß, kam sofort auf die Durchsuchung des Dampfers zu sprechen, was Loring recht peinlich war.
Hellas dunkle Augen mit den starken, geraden Brauen verrieten nichts von ihren geheimen Gedanken. Sie hatte ja von der Reling aus in Suez am Kai beobachtet, wie Loring überaus eifrig mit dem Schildkröten-Verkäufer verhandelt hatte. Nachher war Loring, gefolgt von einem einen recht schadhaften Orienteppich tragenden Beduinen über die Laufplanken an Bord gekommen. Der Teppich war lose zusammengerollt und die Enden umgeschlagen gewesen. Hella hatte bemerkt, daß in diesem Teppich irgend ein Tier verborgen war, welches sich krampfhaft bewegte. Hierdurch stutzig gemacht, hatte sie weiter festgestellt, daß der Beduine fraglos zu Loring gehörte und daß beide den Kabinengang auf Backbord betraten. Dann war der braune, zerlumpte Wüstensohn mit leeren Armen wieder erschienen und hatte den Dampfer verlassen.
„Eine alberne Geschichte!“ meinte Loring leichthin zu seiner Landsmännin. „Auch mich hat die hohe Kommission herausgetrommelt, ebenso Waccam, der den Scherz sich leistete, seine Vorliebe für Schildkrötensuppe zu erwähnen.“
Hellas ernstes, schwermütiges Gesicht senkte sich tiefer. Noch leiser sagte sie:
„Die Schildkröte muß doch ohne Zweifel einen besonderen Wert besitzen, Herr Doktor.“
Sie sprachen deutsch, und die Umsitzenden waren sämtlich Engländer bis auf die Baronin.
„Möglich – Liebhaberwert!“ erwiderte Loring kurz. Dann fügte er, um der Unterhaltung eine andere Richtung zu geben, hinzu:
„Ich habe vorhin den Roman zu lesen begonnen, den Sie mir liebenswürdigst liehen, gnädiges Fräulein. Sie haben recht gehabt, schon die ersten Seiten müssen jeden denkenden Menschen fesseln. Das ist kein bloßer phantastischer Roman, dieser Golem[3], sondern ein poetisches Hineinleuchten in der Menschenseele dunkle Irrgänge.“
Hella hob den Blick und schaute Loring an.
„Jede Menschenseele hat ihre geheimen Schwächen –“
Loring war’s, als sollte das eine Anspielung sein. Er fühlte, daß er rot wurde. Hastig drehte er den Kopf zu seiner linken Nachbarin hin und reichte ihr eine Kompottschale.
Die englische Pairstochter, ein reizloses Geschöpf von oft geradezu komisch wirkendem Hochmut, dankte nur durch ein Neigen ihres ellenlangen Pferdekopfes.
Immerhin: Loring glaubte, dieses fatale Erröten Hellas Blicken entzogen zu haben.
Sein Hirn arbeitete für Sekunden fieberhaft – Wußte sie etwas? – Nein – das war ja unmöglich!
Er wandte sich ihr wieder zu. Er wollte seine Taktik ändern, wollte seine Harmlosigkeit, was die Schildkröte Monsieur Bugins betraf, dadurch beweisen, daß er jetzt wieder das Thema Schildkröte ganz von selbst aufnahm. Er knüpfte an Hellas letzte Bemerkung.
„So ist zum Beispiel die Schwäche des Herrn Bugin sein Panzertier,“ versuchte er zu scherzen.
Hella erwiderte nichts, zerteilte mit Geschick einen gebratenen Fisch und goß scharfe Sauce darüber.
Loring wurde wieder unsicher. – Weiß sie wirklich etwas? – Wenn ja, so wäre es für Dich sehr demütigend, dachte er unter wachsender Gewissenspein. Bisher hatte ihn die Tatsache, daß Monsieur Bugin den Kaufpreis erhalten, leidlich beruhigt. Jetzt erschien ihm dieses Suez-Erlebnis so ungeheuerlich, so vollständig seinem wahren Charakter widersprechend, daß er einfach nicht begriff, wie er sich zu diesem törichten Streich durch seinen Gelehrteneifer hatte verleiten lassen können, der ihm Hellas Achtung verscherzen konnte.
Auch er schwieg beklommen. Dann begann Mr. James Hopperley, der feiste Missionar mit ihm eine Unterhaltung über den Tisch hinweg.
Hopperley war in Aden, der britischen Felsenfeste am Ausgang des Roten Meers, an Bord gekommen und hatte sich zwei Jahre in Innerarabien aufgehalten. Er war ein unleidlicher Schwätzer, renommierte mit seinen Abenteuern und begann Loring jetzt von einem geheimnisvollen kleinen Volksstamm zu erzählen, der in den unfruchtbaren, schauerlich öden Gebirgszügen nordwestlich von Mekka hauste.
„Ganz zufällig stieß ich auf diesen Stamm, der blaue Beduinenmäntel trägt. In keiner Reisebeschreibung habe ich ihn erwähnt gefunden. Ich bin der erste Europäer, der dieses sagenhafte Völkchen, von den anderen Arabern Dschawiri genannt und wie die Pest gemieden, eingehend studieren konnte. Denken Sie, Mr. Loring, die Leute sind von so heller Gesichtsfarbe, daß man sie bei ihrem rotblonden Haar für Nachkommen von Europäern halten könnte. Und das merkwürdigste: ihre Schriftzeichen ähneln denen, die etwa um die Zeit der Kreuzzüge in Deutschland gebräuchlich waren. Der Stamm zählt kaum tausend Seelen und – Sie werden es kaum glauben! – bedient sich zur Verständigung untereinander nur der Zeichensprache. Ich nehme an, daß es sich hier um ein Gelübde handelt, das –“
Loring hatte zunächst kaum hingehört. Als der dicke Missionar aber die Schriftzeichen erwähnte, nahm sein Gesicht den Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit an. Bald war er nun mit Mr. Hopperley in eine streng wissenschaftliche Debatte über die Art der Ausbreitung der Schriftarten vertieft, und Hella und Monsieur Bugin waren vergessen –
Das warme Frühstück war zu Ende. Ein Teil der Fahrgäste blieb noch sitzen. Die anderen verteilten sich in den Gesellschaftsräumen.
Hella, in so trauriger Stimmung wie seit langem nicht mehr, suchte ein durch künstliche Palmen verdecktes Rohrsofa im Lesezimmer auf und überließ sich hier ihren weltschmerzlichen Gedanken.
Sie war so bitter enttäuscht, daß selbst Fritz Loring, dessen Charakter sie für makellos gehalten hatte, der Versuchung so vieler Reisenden, sich ein Andenken auf etwas sensationelle Weise zu verschaffen und ihm dadurch erhöhten Wert zu geben, wenigstens vor sich selbst, heute unterlegen war.
In der Tür des Tanzsaales war dann einer der Stewards erschienen, rief irgend etwas dem kurzbeinigen Kapitän Bluncy des Sussex zu, der am Flügel lehnte, um der einen Walzer paukenden reizlosen Pairstochter Komplimente zu machen, da ihr Vater mit zum Aufsichtsrat der Dampfergesellschaft gehörte, in deren Diensten Bluncy stand.
Der Walzer brach ab.
Die tanzenden Paare standen wie angewurzelt. Dann schob sich die ganze Schar mit bestürzten Gesichtern hinter dem kleinen Bluncy zur Tür hinaus.
Vor der Kabinentür Nr. 9, die weit offen stand, lag eine Stewardeß, eine semmelblonde Engländerin mit nichtssagendem, sommersprossigem Gesicht, regungslos halb auf der Seite. Ein blutiger Fleck auf dem hellen Bastläufer des Ganges dicht am Kopfe des Mädchens ließ die neugierigen Damen aufkreischen und hielt auch die Herren[4] außer Bluncy und Loring in respektvoller Entfernung.
Bluncy mit seinem kupferbraunen, durch den bei der Tafel reichlich genossenen Wein noch dunkler getönten Gesicht suchte nach Möglichkeit gegenüber diesem unangenehmen Ereignis Haltung zu bewahren. Und doch schaute er jetzt den jungen deutschen Gelehrten, der als einziger vor der anscheinend Toten keinerlei Scheu zeigte, mit einem ratheischenden Blick an.
„Verdammt!“ knurrte er. „Auf meinem Schiff ein Verbrechen! Unerhört! Dreißig Jahre bin ich nun bereits –“
„Sie lebt,“ sagte Loring da, der sich gebückt und nach dem Puls der Stewardeß gefühlt hatte.
Er richtete sich wieder auf.
„Mr. Bluncy, Sie haben die Polizeigewalt hier. Was ordnen Sie an?“
Der Kapitän kratzte sich das fuchsrote borstige Haar.
„Der Schiffsarzt soll kommen!“ rief er dann mit einer großartigen Handbewegung. Er war froh, daß ihm wenigstens dies eingefallen war. Mochte Doktor Lindsam das weitere veranlassen.
Loring hatte in einer ihm selbst später unbegreiflichen Gedankenträgheit bisher gar nicht an die Perlenkette und die Möglichkeit gedacht, daß die offene Tür seiner Kabine, die Perlenschnur und die doch offenbar durch einen Schlag schwer betäubte Stewardeß auf ein zweites Verbrechen hinweisen könnten, eben auf einen entweder nur versuchten oder bereits vollendeten Diebstahl des kostbaren Halsschmuckes.
Als ihm jetzt die Erkenntnis aufstieg, daß jemand in seine Kabine eingedrungen, von der Stewardeß überrascht und verscheucht sein könnte, als ihm klar wurde, etwas Ähnliches müsse sich hier unbedingt ereignet haben, war er auch schon mit einem langen Schritt in seiner Kabine und warf einen prüfenden Blick auf die beiden auf dem Kofferbock übereinanderstehenden gelben Reisekoffer.
Sein Gesicht verfärbte sich vor Schreck.
Der Deckel des oberen Koffers war hochgeklappt, und der Inhalt lag zum Teil am Boden: Bücher, Wäsche, Andenken an Jagden und anderes. –
Jetzt durfte er keine Rücksicht mehr auf Waccams halbes Inkognito nehmen.
Im Nu war er wieder im Gange, trommelte mit den Fäusten gegen die Tür von Nr. 10.
„Teufel, was gibt’s?!“ grunzte Bluncy ganz entsetzt.
Waccam meldete sich.
„Ich bin’s, Loring, – rasch! Die Perlenkette ist gestohlen!“
Waccam schoß wie ein Pfeil im hellseidenen Schlafanzug aus seiner Tür heraus.
Die Damen kreischten abermals.
Der dürre Stuart riß den Einsatz aus dem Koffer, wühlte mit beiden Händen in den kostbaren japanischen Seidenstücken, fand den Ledergriff, hob den beweglichen Boden hoch, schaute in das schmale Versteck hinein.
„Gestohlen!“ knirschte er.
Loring stand neben ihm. Auch Bluncy war herbeigeschlichen.
„Was ist denn gestohlen?“ fragte er völlig entgeistert.
„Eine Perlenkette,“ erklärte Loring, dem vor Aufregung Schweißperlen die Stirn entlangrannen.
Waccam hatte sich umgedreht. Sein Gesicht war wie das eines Geiers, der auf eine Beute herabstoßen will.
Mit vorgerecktem Kopf, daß der magere Hals unwahrscheinlich lang erschien, blickte er durch die offene Tür auf das Mädchen, neben der jetzt der Schiffsarzt Lindsam kniete.
Loring und Bluncy schauten ihn erwartungsvoll an.
Dann sagte Stuart mit einer unheimlichen Ruhe zu dem Kapitän:
„Ich bin Berufsdetektiv, Mr. Bluncy. Ich werde den Fall untersuchen. Mag mein Freund Ihnen erklären, was es mit der Kette auf sich hat.“
Er ging zu der Stewardeß hin, bückte sich.
„Mr. Lindsam – der Befund?“
„Günstig. Sie wird sehr bald zu sich kommen.“
„Dann tragen wir sie in Lorings Kabine. Fassen Sie mit an. Vorwärts!“
Lindsam zögerte.
„Ich bin Detektiv,“ sagte Waccam so laut, daß auch all die Neugierigen es hören konnten.
Der Arzt und Stuart brachten das Mädchen in die Kabine, wo es nach einer Viertelstunde folgendes zu Protokoll gab:
Ich wollte Mistreß Lönbergs Kabine während des Lunch säubern. Als ich den Gang entlangkam, sah ich Nr. 9 offen und vor dem Kofferbock eine Miß, die ein längliches Etui in der linken Hand hielt und sich halb nach der Tür gewandt hatte. Kaum erblickte sie mich, als sie auf mich zusprang und mich mit irgend etwas niederschlug. Ich sank sofort bewußtlos um. Die Miß trug ein weißes Leinenkleid und einen Sturmschleier mehrmals um Kopf und Gesicht gewickelt. Das Kleid hatte einen Gürtel aus Bronzeschnallen. Wer die Miß war, weiß ich nicht. Aber Miß Olderstetten besitzt einen solchen Gürtel. Die Größe der Verschleierten entsprach ungefähr der Miß Olderstettens.
Diese Aussage war erst nach mannigfachen Fragen Waccams zustande gekommen.
Fritz Loring mischte sich erst ein, als die Stewardeß Nelly Simpson das Protokoll unterzeichnete.
„Waccam,“ sagte er mit unsicherer Stimme, „es kann doch keine Rede davon sein, daß Fräulein von Olderstetten hier als Diebin in Frage kommt. Sie ist meine Landsmännin, und ich –“
Waccam unterbrach ihn. „Lieber Doktor, wir werden prüfen!“ Seine Ruhe blieb unheildrohend. Der Ton seiner Stimme warnte vor jeder Einmischung.
„Kapitän,“ richtete er das Wort an Bluncy, „gehen wir in Ihre Kajüte. Lassen Sie Mistreß Lönberg und deren Gesellschaftsdame holen.“ –
In Bluncys Kajüte warteten der Kapitän, Waccam und Fritz Loring auf das Erscheinen der beiden Damen.
Dann kamen die beiden, nahmen auf dem Sofa Platz. Hella war auffallend nervös und sehr rot. Die Baronin, die sich unter den Neugierigen befunden hatte, schaute Waccam bittend an und sagte, als sie sich kaum gesetzt hatte:
„Mr. Waccam, ich will sofort bekennen, daß ich Miß Olderstetten gegenüber angedeutet habe, es befinde sich ein sehr wertvoller Gegenstand in dem einen Koffer Doktor Lorings. Von der Perlenschnur erwähnte ich nichts. Es tut mir sehr leid, mein Ihnen in Suez gegebenes Versprechen nicht gehalten zu haben. Tragen Sie mir dies nicht weiter nach. Ich fürchte, Hella und ich sind in meinem Salon belauscht worden, als wir hierüber sprachen. Daß etwa Hella die Schnur entwendet haben könnte, werden auch Sie wohl kaum –“
Waccams starrer Blick brachte sie zum Schweigen.
„Wo waren Sie, Baronin, als der Steward, der die Bewußtlose zuerst fand, die Nachricht in den Tanzsaal rief?“ fragte er kalt.
Bluncy rettete die Baronin vor weiterem Verhör.
„Die Baronin saß neben dem Flügel und tanzte auch mehrmals. Sie hat sich keine Minute aus dem Saal entfernt,“ erklärte er bissig.
Seine stille Wut richtete sich jetzt gegen den Detektiv, der diese Unglücksperlen an Bord gebracht hatte. Und grollend fügte er hinzu: „Wenn Sie, Mr. Waccam, die Kette dem Schiffszahlmeister zur Aufbewahrung im Tresor übergeben hätten, wäre mir diese Schweinerei erspart geblieben. Ersatzansprüche gegen meine Reeder können Sie nicht stellen, denn –“
Waccam fuhr dazwischen: „Ihre Großkrämer da in London werden unbehelligt bleiben! – Miß Olderstetten, und wo hielten Sie sich nach dem Lunch auf?“ warf er Hella eine von Argwohn durchsetzte Frage mit absichtlicher Plötzlichkeit zu.
Das Fräulein von Olderstetten hatte bisher ohne Teilnahme mit einem düster-verschlossenen Gesichtsausdruck dagesessen. Sie schrak leicht zusammen, blickte an Waccam vorüber durch das offene kleine Fenster auf die vorbeigleitende Uferlandschaft und erwiderte:
„Im Lesezimmer in der Palmenecke.“
„Allein?!“ – Das war wie ein Hieb.
„Allein –“
„Sah Sie dort jemand? Sprachen Sie mit jemand?“
„Nein.“
„Wann verließen Sie das Lesezimmer?“
Sie zögerte mit der Antwort.
„Bitte, Miß Olderstetten, reden Sie!“ sagte Waccam jetzt mit scheinheiliger Liebenswürdigkeit.
„Wie soll ich den Zeitpunkt so genau angeben?!“ erklärte Hella mit matter Stimme. „Ich ging durch die zweite Tür des Lesezimmers in die Bibliothek und von da in den Salon der Baronin. Hier vernahm ich erregte Stimmen im Gange, öffnete die Tür und erfuhr von der Stewardeß Brooc, daß ihre Kollegin tot im anderen Kabinengang liege.“
Loring dachte mit heißem Schreck: „Sie verschweigt etwas! Aber was?! Es ist ja undenkbar, daß sie die Perlen gestohlen hat!“
Waccam wurde noch liebenswürdiger. „Begegneten Sie jemand, als Sie den Salon der Baronin aufsuchten, Miß Olderstetten?“ fragte er harmlos und wie in gütiger Anteilnahme mit ihrer durch die Aussage der Verwundeten hervorgerufenen peinlichen Lage.
„Niemandem, Mr. Waccam –“
„Schade! – Sie besitzen doch einen Gürtel aus Bronzeschnallen?“
Hella schaute den Detektiv jetzt an. Der Blick war erstaunt und nichts weiter.
„Ja, einen solchen Gürtel besitze ich,“ erwiderte sie kühl.
„Sonst trugen Sie ihn stets zu diesem weißen Leinenkleid, Miß Olderstetten. Heute ein weißes Seidenband. Wo ist der Gürtel?“
„In meinem Koffer.“
„Miß Olderstetten hatte das Seidenband schon vor dem Lunch um!“ meldete die Baronin sich. Ihr Ton war scharf und von leiser Empörung durchzittert. „Ihr Verhör, Mr. Waccam, ist demütigend für meine Freundin. Sie sollten lieber daran denken, daß der Dieb einzig und allein unter den weiblichen Bedienten des Schiffes zu suchen ist. Auch diese tragen weiße Leinenkleider, und –“
„Gestreifte Leinenkleider,“ verbesserte Stuart kühl.
Die Baronin lachte auf. „Während Sie hier nutzlose Fragen stellen, kann der Dieb den Schmuck einem der zahlreichen Boote zuwerfen, die den Kanal beleben.“
„So?! Dann müßte der Dieb schon in Suez mit einem Helfershelfer diese Art von Beiseiteschaffung der Beute verabredet haben, falls Sie nämlich, Mistreß Lönberg, bereits in Suez Miß Olderstetten oder – sonst jemandem gegenüber diese grobe Indiskretion begingen, von einer wertvollen Sache in Lorings Koffer zu sprechen.“
Inge Lönberg preßte die Lippen zusammen und wurde rot.
„Ich habe Hella erst nach der Abfahrt darüber Andeutungen gemacht,“ stieß sie hervor. „Sonst niemandem. Das will ich beschwören.“
Waccam zuckte kalt die Achseln. Das hieß so viel wie: „Auf Eide gebe ich nichts!“
Der Eifer der Baronin, den wahren Dieb zu finden, schien noch zu wachsen.
„Es muß sofort festgestellt werden, ob nicht etwa jemand Hellas Bronzegürtel sich heimlich geholt hat, um den Verdacht auf sie zu lenken,“ rief sie nach kurzer Pause. „Gehen wir in ihre Kabine. Ich verlange, daß Sie den Fall mit etwas mehr Nachdruck untersuchen, Mr. Waccam. Ich bin leider durch meine kleine Indiskretion, die ich jetzt mehr denn je bedauere, mit in die Sache hineingezogen worden.“
Waccam hatte die Augen sinnend mit der Hand bedeckt. Seine schwarze Sumatra war längst erloschen. Er saß in dem leichten Rohrstuhl, die Beine weit von sich gestreckt. Die Nachlässigkeit seiner Haltung war fast eine Beleidigung für die beiden Damen, denen gegenüber er, so schien es Loring, sich keinen Zwang mehr auferlegen zu müssen[5] glaubte.
Er stand jetzt auf. „Doktor, Sie begleiten mich wohl,“ wandte er sich an Loring. „Wir wollen den Gürtel suchen.“
Lorings Abneigung gegen den Detektiv war noch größer geworden.
„Ich bleibe!“ erwiderte er kurz.
Waccam warf ihm einen schnellen eigentümlichen Blick zu.
„Kommen Sie denn, Miß Olderstetten,“ sagte er halb befehlend.
Loring hatte sich eines besseren besonnen. Er wollte Waccam mit Hella nicht allein lassen. Er mußte sie vor diesem Menschen schützen, der ihre Hilflosigkeit irgendwie ausnutzen konnte.
„Gut denn, ich begleite Sie, Waccam,“ sagte er rasch.
Hella, die sich schon erhoben hatte, reichte Loring den Kofferschlüssel. „Der Gürtel muß ganz oben liegen, Herr Doktor.“ – Ihre Augen begegneten den seinen in stiller Trauer. Da fiel ihm wieder das Gespräch an der Tafel über die Schildkröte ein. Etwas Gemeinsames verband sie jetzt: Hella war durch eine Verkettung besonderer Umstände in einen schmählichen Verdacht geraten, und er selbst hatte heute zum ersten Mal in seinem Leben etwas getan, das seinem innersten Wesen widersprach, etwas, das harmlos begonnen und dann für ihn zu einer nicht wieder gutzumachenden Schuld geworden.
Schweigend schritten Waccam und Loring den Steuerbordgang dahin bis zur Kabine Nr. 22.
Loring schloß die Tür. Waccam öffnete Hellas Koffer. Obenauf lag der Bronzegürtel.
„Natürlich!“ sagte Stuart Waccam mit seiner etwas komisch klingenden Aussprache des Deutschen. „Natürlich ist der Gürtel nicht verschwunden! Sie haben gemacht eine genaue Kalkulation über den Diebstahl, die beiden Damen, mein lieber Doktor!“ Er zwinkerte Loring vertraulich zu und gab seinem britischen Sportgesicht den Ausdruck unglaublicher Schläue.
Lorings eisige, ablehnende Miene störte ihn nicht.
„Oh, Sie werden machen durch eine Bekehrung, Doktor,“ fügte er hinzu. „Die Baronin und das Fräulein von Olderstetten denken sich, Stuart Waccam sei ein Narr!“
Loring verlor die Geduld.
„Das sind Sie auch, Waccam,“ platzte er heraus. „Ihr Verdacht ist geradezu lächerlich! Meine Kabine war verschlossen, der Koffer ebenso. Beide Schlösser sind Patentschlösser und wurden mit Nachschlüsseln geöffnet. Meinen Sie, Fräulein Hella oder Inge Lönberg schleppen sich mit Nachschlüsseln herum?! Ebenso gut könnte ich Sie für den Dieb halten wie die beiden!“
Waccam, die Hände in den Beinkleidtaschen, lächelte vor sich hin. Wieder so ein unangenehmes Lächeln, aus dem vielerlei sich herauslesen ließ.
Er schaute zu Boden und sagte leise:
„Jeder Mensch ist unvollkommen in seiner Seele, Doktor. Sie trauen mir nicht zu etwas Schlechtes, ich Ihnen nicht. Und doch kann sein passiert, daß wir haben getan in eine Minute von besonderer Umstände wegen eine Sache, welche ist eine Schurkigkeit. Ich Sie also bitte, sich nicht zu machen zu Verteidiger für die beiden Damen. Lassen Sie mich ungestört bei der Untersuchung.“ Kurze Pause. Loring hatte es geschienen, als ob Waccams Stimme bei den letzten Sätzen schärfer geworden war. – „Mein Bett,“ fuhr der Detektiv fort, „steht an die Scheidewand von unsre Kabinen. Vorhin, als ich mich legte nieder, hörte ich bei Ihnen so ein Geräusch, so ein Kratzen. Ich dachte an die Perlenkette, und da Sie schon hinaus waren, ging ich zu Ihrer Tür. Aber sie war zu. Ich legte mich nieder von neuem, aber die Geräusche blieben.“
Jetzt hob er den Kopf und schaute Loring voll an. „Haben Sie eine Ratte in Ihrer Kabine, Doktor?“
Loring krallte die Nägel in die Handflächen, um ein Erröten zu unterdrücken.
„Ratte?! Nein! Sie werden sich verhört haben!“ erwiderte er kurz.
„Ich – verhöre mich nie!“ Waccams Blick wurde zur Warnung. „Also, Doktor, stören Sie mich nicht! Ich werde mir so stellen, als ob ich hätte keinen Verdacht mehr auf die Damen. Aber – ich werde den Schmuck finden. Kommen Sie!“
Nun wußte Loring Bescheid. Stuart Waccam hatte die Schildkröte gehört! Und – er drohte ihm! Er forderte, Loring solle sich in diese Angelegenheit nicht mehr einmischen, sonst – würde er das andere Geheimnis nicht länger verschweigen. –
Sie schritten der Kapitänskajüte wieder zu. Aus Lorings Abneigung gegen Waccam war Feindschaft, fast Haß geworden.
In der Kajüte erklärte der Detektiv, die Damen sollten ihm das Verhör nicht weiter verargen. Sein Verdacht sei hinfällig geworden. – Er sagte es mit der berückenden Liebenswürdigkeit, über die er jeder Zeit selbst ihm unsympathischen Personen gegenüber zu verfügen schien. Es war dieselbe Liebenswürdigkeit, die auch Fritz Loring bisher getäuscht und Waccam zum Freunde gemacht hatte. –
Die Damen erhoben sich.
Inge Lönberg blieb, bevor sie hinaus auf das Deck trat, vor Stuart stehen.
„Ich traue Ihnen nicht, Mr. Waccam,“ sagte sie mit frostiger Verachtung. Dann nickte sie Bluncy und Loring zu und ging davon. Hella folgte ihr mit kühlem Gruß für die Zurückbleibenden.
„Scheußlich!“ brummte der Kapitän. „Überaus scheußlich all das! Und – es ist Ihre Schuld einzig und allein, Mr. Waccam! Wenn Sie –“
„Den Vers haben Sie schon vorhin gebetet, alter Bluncy!“ Der Detektiv rekelte sich im Korbsessel und setzte seine Pechnudel wieder in Brand. „Wir werden jetzt das Schiff durchsuchen,“ fuhr er fort. „Und natürlich nichts finden. Käpten, trommeln Sie sämtliche Fahrgäste erster und zweiter Kajüte in den Speisesälen zusammen. Der Erste Offizier und der Zahlmeister mögen mich begleiten. Sie kommen doch auch mit, Loring?“
„Nein, danke vielmals! Ich habe genug von der Sache.“
Er schritt zur Tür und verließ den Raum ohne Gruß.
Bluncy machte ein erstauntes Gesicht.
„Was fehlt dem Doktor, Mr. Waccam?“
„Hier fehlt’s ihm!“ Stuart deutete auf sein Herz. „Verliebt, Käpten – verliebt in die Diebin!“
„Wie?! Diebin?! Die Olderstetten?!“
„Wer sonst! Ich weiß auch bereits, wo die Perlen sich befinden.“
„Verdammt! Wo denn?“ Bluncys Blicke hingen an des Detektivs zu halbem Lächeln verzogenen Lippen.
„Das werden Sie sehen, alter Bluncy. Fangen wir also an. Die Durchsuchung der Kabinen ist ja nur Theater –“
„Bei Gott – sind Sie ein Kerl!“ meinte der kleine Brite achtungsvoll. „Ihren Namen las ich ja schon häufiger in den Zeitungen, Waccam. Mann, Sie müssen bereits als Detektiv ein Vermögen verdient haben.“
Waccams Miene ward für einen Moment unheimlich düster.
„Na, es geht,“ erwiderte er, stand auf und öffnete die Tür.
Seine Augen glitten über das Promenadendeck hin. Ah – dort verschwand gerade Loring mit Hella nach dem Achterschiff zu! – Waccams Augen funkelten böse. Niemand beobachtete ihn. Dann erlaubte er es zuweilen diesen Augen, seine wahren Gefühle widerzuspiegeln. –
Als Doktor Loring soeben Bluncys Kajüte verlassen hatte, sah er Hella an der Steuerbordreling lehnen. Ihm machte es ganz den Eindruck, als hätte sie ihn erwartet. Er trat neben sie. Und er dachte an das, was ihm bei dem Verhör aufgefallen war: Hella hatte etwas zu verheimlichen gehabt!
Sie wandte ihm ihr melancholisches Gesicht zu. In den Augen lag eine bange Frage. Und – diese Frage richtete sie nun auch ohne Scheu an den Mann, der ihr hier in dieser schwimmenden Stadt nächst Inge Lönberg der Nächste war.
„Was wird Waccam jetzt tun, Herr Doktor? Ich weiß ja, daß er geheuchelt hat. Er beargwöhnt mich noch genau so wie vordem. Aber –“ – Sie beendete den Satz nicht, seufzte kaum hörbar und fügte hinzu: „Was wird er tun?“
Loring hatte das deutliche Empfinden: Hella fürchtet Waccam und seine Absichten! – Er wurde langsam irre an ihr. Sollte sie vielleicht wirklich von der Baronin zu diesem dummen Streich – denn dann war es von Hellas Seite nur ein solcher! – sich zu diesem Diebstahl haben verleiten lassen? Die Lönberg war ja in des jungen Gelehrten Augen nichts als eine Abenteuerin. Diese Sorte Damen, die da von Weltstadt zu Weltstadt bummelten, überall daheim waren und doch nirgends Ruhe vor der eigenen krankhaften Unrast fanden, kannte er zur Genüge. –
„Das Gepäck sämtlicher Insassen des Schiffes wird durchsucht werden,“ sagte er langsam.
Hellas Blicke wanderten wie in flehender Bitte zum klaren Himmel empor. Ihr Antlitz war wie versteinert vor Schreck.
Loring beugte sich näher zu ihr hin.
„Was haben Sie, Fräulein Hella?! Diese – diese Angst in Ihren Zügen? – Sprechen Sie!“
Hella starrte weiter hinaus in das unendliche Nichts. Dann flüsterte sie hastig:
„Ihr Gepäck wird nicht durchsucht werden. Sicher nicht! Sie – Sie müssen mir einen Gefallen tun. Ich – ich habe da etwas in Kalkutta unverzollt an Bord geschmuggelt, – ein – ein Elfenbeinkästchen; verbergen Sie es unter Ihren Sachen!“
Sie schaute ihn an. Ihre Augen waren dunkel vor Erregung.
Loring dachte: „Sie lügt! In dem Kästchen befindet sich die Bolke-Schnur!“
Und erklärte enttäuscht und traurig:
„Fräulein von Olderstetten, was enthält das Kästchen?“
„Nichts – nichts! – Oh – Waccam kommt! Fort von hier!“
Loring schritt neben ihr weiter.
„Gut denn. Holen Sie das Kästchen,“ meinte er und streifte sie mit ernstem Blick.
Sie tat ihm leid. Sie erschien ihm wie eine Büßerin. Wie schwer mochte sie bereits die vorschnelle Tat bereuen – genau so wie er die seine! Jetzt waren sie einander gleichwertig, beide behaftet mit einem Makel, wenn auch das, was er begangen, weniger hart zu beurteilen war. Sollte er ihr unter diesen Umständen nicht helfen?
Im Kabinengang trennten sie sich.
„Ich – ich komme zu Ihnen – sofort –“ hatte Hella noch geflüstert.
Loring betrat seine Kabine.
Da war der untere Koffer auf dem Kofferbock. Darin hatte er Monsieur Bugins Schildkröte vorhin untergebracht, hatte sie mit Wäschestücken bedeckt, hatte den Teppich in die Holzkiste gelegt.
Ah – das Tier bewegte sich, kratzte, rumorte.
Vielleicht war es dem Ersticken nahe!
Loring horchte in den Gang hinaus.
Alles still.
Hastig öffnete er den Koffer, nahm den Einsatz heraus, riß die Wäsche zur Seite.
Mit zischendem Laut fuhr der flache Kopf des Panzertieres in die Höhe.
Loring eilte wieder zur Tür, horchte.
Da wurde die Tür aufgestoßen.
Hella stürmte herein, drängte Loring zur Seite.
„Waccam!“ keuchte sie.
Loring riegelte ab.
Mit starren Augen blickten sie sich an.
Draußen ein leichter Schritt.
Es klopfte.
Loring legte den Finger auf den Mund.
Die beiden rührten sich nicht.
Eine Stimme – die Stuart Waccams:
„Loring, ich bin’s! Sind Sie da?“
Als Antwort hinter Loring und Hella ein Poltern – ein Krach.
Die Schildkröte war über den Rand des Koffers geklettert. Koffer und Schildkröte lagen auf den Dielen.
Hella, leichenblaß, umklammerte Lorings Arm mit der Linken. In der Rechten hielt sie einen in Papier gewickelten Gegenstand an die stürmisch atmende Brust gedrückt.
„Sofort, Waccam!“ rief der Doktor. „Ich wechsele die Wäsche! Der verdammte Koffer kippte um. – Was gibt’s denn?“
„Der Franzose mit seinem Motorboot ist wieder in Sicht – der Bugin! Natürlich seiner Schildkrötensuppe wegen! – Wiedersehen!“
Schritte entfernten sich hastig.
Hella gab Lorings Arm frei und sank erschöpft in einen Korbstuhl.
„Mein Gott – wieder Bugin!“ hauchte sie. „Weshalb nur haben Sie verheimlicht, daß Sie der Käufer des Tieres sind?! Jetzt – jetzt wird vielleicht alles an den Tag kommen und Sie sind schwer bloßgestellt, Herr Doktor!“
Sie schaute zu der Schildkröte herab, die auf den Rücken gefallen war und nun Beine und Kopf wild hin und her bewegte, da sie von selbst sich nicht aufrichten konnte.
Loring horchte.
Da war soeben nebenan bei Waccam ein metallisches Knacken hörbar geworden.
Auch Hella lauschte.
Nichts mehr.
Loring nahm ihr schweigend das Kästchen ab – deutete auf die Tür.
Hella erhob sich zaudernd, schob den Riegel zurück, trat dann rasch in den Gang hinaus.
Und – prallte zurück.
Aus Waccams Kabine war Inge Lönberg erschienen, lächelte, schloß die Tür ab, steckte den kleinen Schlüssel vorn in den Busenausschnitt, winkte Hella.
Sie huschten davon. –
Loring hatte nichts davon bemerkt. Er hatte das Päckchen, das Hella ihm gebracht, auf das Bett gelegt und die Schildkröte in den Koffer zurückgetan.
Er wunderte sich, daß es plötzlich in der Kabine immer dunkler wurde.
Vor den runden Fenstern hingen graue Schleier: Nebel vom nahen Mittelmeer her!
Er schaltete das Licht ein. Er war zu einem Entschluß gekommen. So schwer es ihm auch fiel, sich von der Schildkröte und ihrem Geheimnis zu trennen, von einem Geheimnis, das seinen Forschereifer wie bisher nichts auf der Welt aufgestachelt hatte, – jetzt mußte er sich schuldig bekennen! Bugin kam und würde nochmals das Schiff durchsuchen. Da war es besser, die Wahrheit einzugestehen.
Plötzlich griff er mit der Hand nach der Stirn.
Schiffsdurchsuchung –! Wo – wo ließ er da das Kästchen?! Jetzt lagen die Verhältnisse ja ganz anders. Jetzt würde auch seine Kabine nicht verschont bleiben! Wo – wo verbarg er nur das Kästchen?! Es war ja viel zu groß, es am Körper unterzubringen!
Ratlos starrte er auf das verhängnisvolle Päckchen, hob es wieder empor, entfernte gedankenlos das Papier, auch die zweite Papierhülle, die verschnürt gewesen.
Und schloß wie betäubt die Augen.
Es war ein Elfenbeinkästchen, aber – überreich mit Edelsteinen verziert.
Es mußte einen Wert von Millionen haben; es war altindische Arbeit.
Wie kam Hella zu dieser Kostbarkeit?! Wie nur?!
Etwa – etwa auch gestohlen?!
Da war ein Verschluß, mit Smaragden besetzt. Loring drückte; der Deckel sprang auf.
Leer – leer! Keine Perlenschnur! Leer –!
Wo waren die Bolke-Perlen – wo?!
Und Loring fühlte plötzlich kühlen Schweiß auf seiner Stirn.
Angst – Angst! Um Hella –?!
Wo waren die Perlen –?!
Der Dampfer hatte soeben den Kanal verlassen und fuhr zwischen den beiden Riesendämmen dahin, die bei Port Said, der Einmündung des Kanals ins Mittelmeer, den Nilschlamm fernhalten sollen.
Die Baronin hatte Hella auf Deck zugeflüstert:
„Packen Sie das Nötigste aus unseren Koffern rasch in meinen kleinen Koffer, liebe Hella! Fragen Sie nichts. Später, wenn wir den Lord Sussex gegen ein schnelleres Schifflein vertauscht haben, ist mehr Zeit dazu.“
Hella eilte denn auch davon.
Inge Lönberg trat an die Backbordreling.
Dichter, grauer Nebel hüllte alles ringsum in seine feuchten, undurchsichtigen Gewebe. Der Dampfer ließ unausgesetzt seine Sirenen ertönen. Von den Dämmen her heulten die elektrisch betriebenen Nebelhörner.
Die Baronin beugte sich über die Reling, lauschte.
Da war ein feines, dumpfes Knattern irgendwo in der Nähe.
Sie faßte in das goldene Handtäschchen, blickte sich um, sah niemand, zog eine Pfeife aus Silber hervor, pfiff ein Signal – schrill, kurz.
Sofort kam Antwort – aus den Nebelschwaden.
Aufatmend huschte die blonde Frau über das Deck. –
Loring saß noch immer in zwecklosem Brüten da.
Zuckte jetzt zusammen.
Es hatte geklopft.
Eine Stimme: „Inge Lönberg! Öffnen Sie!“
Er tat’s.
Sie trat ein, riegelte hinter sich ab.
„Hella hat mir in ihrer Sorge um Sie anvertraut, daß Sie Bugins Schildkröte gekauft haben,“ sagte sie überstürzt. „Wenn Sie wollen, können Sie sofort dieses für Sie jetzt gefährliche Schiff unbemerkt –“
Sie schwieg.
Ein dünner heller Sirenenton draußen auf dem Wasser.
„Begleiten Sie uns,“ drängte die Baronin noch erregter. „Nehmen Sie nur einen Koffer mit. Rasch – in drei Minuten oben an Backbord bei dem Großboot. Rasch!“
Loring sah wie stumpfsinnig, daß Inge das Kästchen ihm wegnahm, es einhüllte und in den Koffer zu der Schildkröte stopfte.
„In drei Minuten!“ wiederholte die Baronin. „Hellas wegen –!“
Schon war sie hinaus.
Fritz Loring raffte sich auf. Er begriff alles nur halb. Und gehorchte trotzdem, handelte wie unter einem unverständlichen Zwange.
Schlich mit dem schweren Koffer an Deck.
Begegnete drei Fahrgästen. Erwiderte auf erstaunte Fragen:
„Will den Koffer beim Zahlmeister abgeben,“ traf auf Deck niemand mehr, tappte über feuchte Deckplanken durch lauwarmes Nebelgespinst zum Großboot an Backbord.
„Hinab! Eine Strickleiter!“ empfing die Baronin ihn, riß ihm den Koffer weg.
Und Loring schwang sich über die Reling.
Kam mit einem Bein auf ein neben dem Lord Sussex lautlos dahingleitendes Schifflein, wurde von kräftigen Armen in Empfang genommen, hörte Hellas Stimme dicht dabei:
„Gott sei Dank!,“
hörte Inges Stimme über sich:
„Platz da! Die Koffer!,“
hörte noch höher vom Deck des Dampfers Waccam brüllen:
„Sie entfliehen! Hier – eine seidene Strickleiter!,“
hörte das Poltern der beiden auf die Planken der Motorjacht fallenden Koffer und das ratternde Sausen der angelassenen Motoren.
„So,“ sagte die Baronin lachend neben ihm, „so, Master Waccam, nun suchen Sie uns! – Willkommen, Herr Doktor, auf meiner Astarte, meiner Jacht, die ich mir telegraphisch von Suez hierher beordert hatte – als – „Kleid“! – Ah – Waccam rast vor Wut. Er sollte seine Lungen schonen. Meine Astarte läuft acht Knoten mehr als der Sussex!“ –
Stuart Waccam hatte Lorings Kabine unverschlossen gefunden, war eingetreten, bemerkte sofort das Fehlen des einen Koffers, rannte an Deck, fragte Bluncy auf der Kommandobrücke nach Lorings Verbleib.
„Scheren Sie sich zum Teufel!“ grobste ihn der Käpten an. „Sie machen uns alle verrückt! Denken Sie, ich habe für Mr. Loring ein Boot ausgeschwungen, damit er spazieren rudern kann?!“
Waccam packte den kleinen Käpten bei der Schulter.
„Da – was war das soeben – das Poltern?“ stieß er hervor.
Wie ein Pfeil schoß er plötzlich die mit Gummi belegten Stufen der Brücke hinab, eilte an der Backbordreling entlang.
Eine Strickleiter fühlten seine tastenden Finger.
Geschlungen um die Relingstange – eine seidene Strickleiter.
„Sie entfliehen –!“
Bluncy stürzte kollernd vor Wut herbei.
„Teufel, – sind Sie verrückt! Wer flieht?!“
„Die beiden Weiber und Loring. Sie – Sie Idiot! Wer sonst?!“
Da – wieder ein dünner Sirenenton.
„Der Franzose!“ – Bluncy wollte mit Waccam später der Beleidigung wegen abrechnen. „Der Bugin will an Bord!“ – Und er verschwand wieder nach der Brücke zu.
Stuart Waccam rieb sich kichernd die Hände.
„Tadellos – tadellos! Sie entfliehen! Ich werde sie verfolgen! – Tadellos!“
Und ging, da hier keine Zeugen vorhanden, gemächlich hinab in den Kabinengang und in seine eigene Kabine. Blieb darin keine zwei Minuten, kam wieder heraus halb taumelnd, verstört – ein gebrochener Mann.
Sein Unterkiefer flatterte vor Aufregung. Seine Augen waren hervorgequollen.
Dann raste er an Deck, fand Bluncy am Fallreep, hörte Bugin rufen:
„Jetzt habe ich den Schuft mit, der die Schildkröte stahl und verkaufte –“,
schoß das Fallreep hinab, prallte mit dem Franzosen zusammen, brüllte ihn an:
„Waccam mein Name, Londoner Detektiv. Der Monsieur, der Ihr Vieh kaufte, ist soeben entwischt – mit der Schildkröte! Hinein in Ihr Boot! Die Flüchtlinge sind noch nicht weit voraus! Auch im Motorboot – oder Motorjacht!“
Bugin bekam einen Stoß, flog halb in sein Boot, rief:
„Schaffen Sie mir die Schildkröte zurück, und hunderttausend Franc sollen Sie dafür –“
Waccam war schon hinten am Steuer.
Das Boot jagte davon.
„Herr Doktor,“ sagte Inge Lönberg in der kleinen eleganten Heckkajüte der Astarte, „ich bin Ihnen eine Aufklärung schuldig, was das Elfenbeinkästchen betrifft.“
Sie saß neben Hella auf dem kleinen Ledersofa dieses Schmuckkästchens von Jacht; ihnen gegenüber Fritz Loring in einem Damenklubsessel, jetzt wieder völlig Herr seiner selbst.
Der Tisch war zu einem verschwenderischen Imbiß gedeckt. In einem silbernen Kühler stand eine Flasche Sekt, umknistert von Eisstücken, die sich infolge der Schwankungen der Jacht dauernd in Bewegung befanden.
Die Baronin blickte Hella jetzt zärtlich an.
„Auch meine liebe Gefährtin hat des Kästchens wegen böse Stunden durchgemacht,“ fügte sie lächelnd hinzu. „Erst jetzt ist sie völlig beruhigt. – Die Sache verhält sich so, Herr Doktor. Wir, Hella und ich, sahen in Benares, wohin wir von Kalkutta einen Ausflug gemacht hatten, im Laden eines chinesischen Raritätenhändlers das Elfenbeinkästchen. Es gefiel mir. Der Preis von drei Millionen Rupien störte mich nicht weiter. Aber ich wußte, daß ein sehr hoher Ausfuhrzoll auf derartigen Antiquitäten lastet. Ich habe nun einmal eine krankhafte Leidenschaft dafür, die Zollbeamten zu überlisten. Ich teile sie mit amerikanischen Milliardärinnen, die ebenfalls besonders gern Edelsteine nach Amerika einschmuggeln. Ich besuchte nochmals allein den Laden des Chinesen, kaufte das Kästchen und vereinbarte mit ihm, er solle es als gestohlen der Polizei melden. Es hatte im Schaufenster gestanden, und die Beamten der Steuerbehörde würden sein Verschwinden aus dem Fenster sehr bald bemerkt und gefragt haben, ob es verkauft sei. Dann hätte der Chinese mich als Käuferin nennen müssen, und an ein Durchschmuggeln des Kästchens war nicht mehr zu denken. Wie gesagt, lieber Doktor, der bezopfte Chinamann ging auf alles ein. Die Zeitungen erfuhren von dem „Diebstahl“, und eine dieser Notizen las auch Hella, als wir bereits wieder in Kalkutta waren. Sie sprach mit mir darüber, ahnungslos, daß ich die „Diebin“ war –“
Inge Lönberg trank Hella zu. „Ihr Wohl, liebes Närrchen!“
Dann fuhr sie fort: „Glücklich schmuggelte ich das Kästchen in Kalkutta durch die Zollkontrolle an Bord des Lord Sussex. Heute früh wollte es ein Zufall, daß Hella das Kästchen in seinem Versteck, in meinem Toilettenkasten unter Puderschachteln und anderen Kleinigkeiten entdeckte. Sie glaubte, ich hätte es – gestohlen! – Köstlich, nicht wahr?!“
Hella wurde rot. „Ich mußte es doch annehmen,“ verteidigte sie sich. „Wie sollte ich die Wahrheit erraten?“
„Oh – ich trage Ihnen diesen Verdacht nicht nach, liebste Hella! – Jedenfalls verriet mir aber Hellas verändertes Benehmen und eine gewisse Verstörtheit, daß sie das Kästchen nun zu Gesicht bekommen hatte. Ich schwieg, beschloß jedoch, den Lord Sussex, wo irgend ein Zufall mein Geheimnis an den Tag bringen konnte, schleunigst zu verlassen. Als Waccam seine Briefe auf der Post in Suez las, telegraphierte ich an den Kapitän meiner Astarte, den braven Herrn Mauser, der übrigens ein Landsmann von Ihnen beiden ist, und bestellte meine Jacht an jene Stelle, wo wir den Dampfer dann verließen. Auf dem Lord Sussex begannen nun nach der Abfahrt von Suez die Widerwärtigkeiten: Bugin suchte seine Schildkröte, und Waccam beschuldigte Hella des Diebstahls der Perlenkette, die sie natürlich nicht gestohlen hat. Ein solcher Unsinn kann nur Stuart Waccams Kopf entspringen. Wenn Sie in Hellas Verhalten bei dem Verhör also gewisse Zweideutigkeiten festgestellt haben, lieber Doktor, so sind diese lediglich ihrer inneren Zerrissenheit wegen „meines Diebstahls“ zuzuschreiben. Nach dem Verhör wollte Hella, wie Sie wissen, das Kästchen Ihnen anvertrauen. Als sie es holte, überraschte ich sie und weihte sie nun in alles ein, bat sie jedoch, das Kästchen Ihnen trotzdem zu geben, da Waccam, wenn er es bei einer Durchsuchung des Gepäcks bei uns beiden gefunden hätte, mir nicht geglaubt und mir viele Weiterungen – Zollhinterziehung! – bereitet haben würde. Was dann geschah, ist Ihnen bekannt.“
„Ein ganzer Roman!“ scherzte Loring und hob seinen[6] Sektkelch gegen die Baronin. „Ihr Wohl – zugleich meinen Dank für Ihre Gastfreundlichkeit!“
Er spielte nur den Harmlosen. Er leerte das Glas mit liebenswürdiger Miene und dachte: „Du unterschätzt mich, Inge Lönberg! Hier stimmt etwas nicht in diesem Roman! Du hast Deine Jacht zwischen die beiden Dämme an die Kanalmündung bestellt. Wozu das, da Du den Lord Sussex bequemer in Port Said im Hafen hättest verlassen und Dich auf die Astarte begeben können! Und dann die Geschichte mit dem Chinesen in Benares! Ich kenne die Chinesen! Wo wird einer dieser schlauen Burschen sich zu derartigem hergeben, einen Diebstahl vorzutäuschen?! Die Sache wird wohl so sein, daß das Kästchen wirklich gestohlen wurde und Du es dem Diebe abkauftest! Deshalb auch jetzt all diese Heimlichkeiten!“ –
„Oh – da ist jeder Dank überflüssig!“ hatte Frau Inge inzwischen erwidert. „Ich freue mich aufrichtig, daß wir Waccam und diesem Bugin ein Schnippchen geschlagen haben. – Übrigens, Herr Doktor, weshalb wollten Sie denn die Schildkröte um jeden Preis behalten?“
Sie schob Loring das Kästchen mit den Zigaretten hin und lehnte sich behaglich zurück.
Loring überlegte kurz. „Ich werde das Tier nicht behalten, Frau Baronin,“ erklärte er dann. „Es ist mir sehr lieb, daß Sie die Astarte sofort hatten wenden lassen und daß wir also wieder unterwegs nach Suez sind. Ich will nicht einer bloßen Laune wegen Ungelegenheiten haben. Sobald wir in Suez sind, und unsere Ankunft dort dürfte um Mitternacht erfolgen, werde ich die Schildkröte Bugin zurückbringen.“
„Ah – Ihr Gewissen meldet sich! Das ist hübsch von Ihnen, Doktor.“
War das Hohn?! – Loring warf einen prüfenden Blick zu der schönen Frau hinüber. Aber sie lächelte ihn so kameradschaftlich an, daß er seufzend sagte:
„Was wir so gemeinhin Gewissen nennen, ist ja doch nur nüchterne Verstandesarbeit. Wir werden uns plötzlich über die Folgen irgend einer Verfehlung klar, und diese Folgen malen wir uns dann mit allen irgend erdenklichen Möglichkeiten weiter aus, worauf uns die Angst packt, – und das ist dann die Stimme des Gewissens!“
Inge Lönberg blies den Rauch ihrer Zigarette graziös in die Luft. „Köstlich, Doktor, köstlich ist diese Definition des Begriffs Gewissen! – Sie sind mir aber immer noch die Antwort auf eine Frage schuldig geblieben. Schildkröten hätten Sie doch in jeder Größe auch noch in Port Said kaufen können. Weshalb meldeten Sie sich als Käufer von Bugins Schildkröte nicht sofort bei des Franzosen erster Nachfrage auf dem Lord Sussex?“
Loring hatte jetzt Zeit gefunden, diese Antwort sich genau zurechtzulegen.
„Weil ich mich scheute, zuzugeben, ein gestohlenes Tier erworben zu haben,“ entgegnete er kühl.
Er fühlte, daß Hella ihn überrascht anblickte. Er heuchelte trotzdem größte Gelassenheit und fügte hinzu: „Ich wollte auf dem Dampfer nicht Gegenstand des Bordklatsches und ironischer Neugier werden. Es finden sich[7] stets böse Zungen, die mir nachgeredet hätten, ich müßte gewußt haben, das Tier sei gestohlen gewesen, da ich es so billig gekauft hätte. Nachher war es zu spät, diese kleine Feigheit rückgängig zu machen. Meine Schuld wuchs lawinenartig an, und unter dem Druck der eigenen Vorwürfe beging ich den noch größeren Fehler, mit Ihnen zu fliehen, Frau Baronin. Es war eine Kopflosigkeit, ein momentanes Versagen ruhiger Überlegung.“
„Wenn die Schildkröte sozusagen wertlos ist, dann war es allerdings ein Fehler,“ nickte die Baronin ernsthaft. „Nun – die Sache läßt sich ja leicht wieder einrenken, wenn auch noch nicht in dieser Nacht. Ich muß nämlich unbedingt noch einen Bekannten meines verstorbenen Mannes begrüßen, der am Westufer der sogenannten Bitter-Seen vor Suez als Einsiedler haust. Kapitän Mauser übergab mir einen Brief Frederic Drongelars. Wir werden dort aber nur bis zum Morgen bleiben.“
Hella von Olderstetten wandte den Kopf und blickte Inge überrascht an.
„Drongelar?“ meinte sie zögernd. „Ist das derselbe Herr, den wir in Benares trafen?“
Die Baronin schüttelte leicht den Kopf.
„Nur sein Zwillingsbruder, liebe Hella. Der, den ich in Indien flüchtig begrüßte, heißt Holger mit Vornamen.“
Hella schien noch etwas bemerken zu wollen, schwieg jedoch und griff nach ihrem noch halb gefüllten Sektglase, trank es leer und stellte es wieder auf den Tisch. Inge Lönberg hob jetzt lauschend den Kopf. Auf Deck liefen mehrere Leute hin und her.
„Da muß etwas geschehen sein,“ sagte sie hastig, erhob sich und schritt zur Tür. „Sie entschuldigen mich einen Moment,“ dann war sie schon auf der Treppe und zog die Tür hinter sich zu. –
Die beiden Zurückbleibenden schwiegen eine Weile, schauten aneinander vorüber. Sie hatten beide etwas auf dem Herzen, trugen beide Verlangen nach einer vertraulichen Aussprache. Loring fand zuerst den Mut zu einem offenen Wort, beugte sich halb über den Tisch und flüsterte:
„Nur Ihnen die Wahrheit, Fräulein Hella: der schmutzige Rückenschild des Buginschen Panzertieres zeigt eine verschwommene, kreisrunde Inschrift in uralten deutschen Buchstaben –“
„Ah!“ rief Hella ebenso leise. „Also deshalb!“
„Ja – deshalb. Es ist eine Inschrift in Kerbschnitt. Die Schriftzeichen sind jedoch im Laufe der Jahre so undeutlich geworden, daß ihre Entzifferung mir viel Mühe machen dürfte. Schildkröten werden nachweislich sehr alt, und man kann nie mit Genauigkeit ihr Alter angeben, jedenfalls erreichen sie eine Lebensdauer von mindestens fünfhundert Jahren. So alt ist Bugins Tier fraglos. Wenn ihm nun die Inschrift noch in jungen Jahren in den Rücken geschnitten wurde, was ich ebenfalls bestimmt glaube, kann hier –“
Hella unterbrach ihn. „Weshalb verschwiegen Sie all dies der Baronin?“ fragte sie mit angstvollem Interesse.
„Weil – weil ich an des chinesischen Raritätenhändlers Bereitwilligkeit, der Baronin in der von ihr angegebenen Weise bei einer Zollhinterziehung zu helfen, stark zweifle und mir auch diese telegraphische Beorderung der Jacht seltsam erscheint. Ich rede ohne jeden Rückhalt mit Ihnen, Fräulein Hella, wir sind Landsleute. Wir müssen uns Vertrauen entgegenbringen. Kurz: ich fürchte, die Baronin ist in vielem nicht aufrichtig!“
Hella nickte unwillkürlich, flüsterte verwirrt:
„Ja – ja, auch ich bin etwas irre an ihr geworden. Niemals bisher ertappte ich sie auf einer Lüge. Vorhin hat sie gelogen. Der Herr in Benares hieß Frederic Drongelar, nicht Holger Drongelar. Es war überhaupt seltsam, dieses Zusammentreffen mit ihm.“
„Inwiefern?“
„Darüber ein andermal. Und – und dann noch, Herr Doktor: Frau Inge verließ Waccams Kabine im selben Moment, wie ich aus Ihrer Kabine in den Gang schlüpfte. Sie hatte einen Schlüssel zu dem Türschloß. Denken Sie – einen Nachschlüssel!“
Lorings Gesicht spannte sich. „Und – wie begründete sie Ihnen gegenüber dieses Eindringen in Waccams Kabine?“ meinte er atemlos.
„Sie erklärte mir, sie habe Waccam einen Zettel auf das Bett gelegt – mit einer Aufschrift, daß er den Dieb der Bolke-Perlen unter dem Schiffspersonal suchen solle, und unterzeichnet hätte sie den Zettel mit „Ein Eingeweihter“. Sie behauptete, sie habe dies in meinem Interesse getan. Aber – damals hatte ich das unbestimmte Gefühl, daß sie die Unwahrheit sagte. Ich fand dann keine Zeit, weiter darüber nachzugrübeln. Die Ereignisse überstürzten sich. Wir flohen –“
„Leider!“ – Und Loring holte tief Atem – „Leider, Fräulein Hella! Wie lange sind Sie bereits Gesellschaftsdame bei der Baronin?“
„Acht Monate –“
„Ist Ihnen an Frau Inge nicht schon früher eine Eigentümlichkeit aufgefallen?“
„Nein. Höchstens die Manie, Reiseandenken mitgehen zu heißen: Löffel, Tassen, Aschbecher – alles wertlose Dinge. Im übrigen war ich –“
Sie schwieg. Die Baronin kehrte in die Kajüte zurück.
Loring schauspielerte, lachte und sagte: „Oh – ich werde Monsieur Bugin ein Sühnegeld zahlen! Dann wird er mir eher verzeihen!“
Frau Inge trat an den Tisch. „Tun Sie es, Doktor! Geld ist die größte Macht der Welt. Alles kann man kaufen, alles, – Menschen, Tiere, Länder!“ – Ihre Augen bekamen einen seltsamen Glanz. „Wer das Geld verachtet, ist kein großer Weiser, sondern ein närrischer Schwächling. Nur Idioten verzichten auf Macht!“
Sie war plötzlich eine andere geworden. Staunend starrten Hella und Loring die berückende Frau an.
Doch ebenso plötzlich wurden ihre von dämonischer Wildheit durchleuchteten Züge wieder friedlich und heiter wie die eines Kindes, glätteten sich wie der Spiegel eines wunderschönen Sees nach kurzem Windstoß, der kleine schillernde Wellen aufgerührt hat.
„So sprach mein Vater stets über Geld und Macht,“ fügte sie nun wie in weher Erinnerung hinzu. „Und gerade er war so bettelarm, daß er sein Kind sogar an den über vierzig Jahre älteren Baron Lönberg verschachern mußte, um nicht –“ – Eine Handbewegung, als wollte sie all das aus ihrem Gedächtnis fortwischen.
Dann sagte sie zu Loring: „Lieber Doktor, Sie werden uns jetzt entschuldigen. Es ist zehn Uhr geworden.“
Loring wünschte den Damen gute Nacht und verschwand in seiner winzigen Kabine, die neben der Kapitän Mausers lag.
Als die Baronin vorhin an Deck gekommen war, hatte der schwarzbärtige Kapitän sie sofort leise angerufen. Er stand im Steuerhäuschen, machte ihr Platz und sagte halblaut:
„Ich mußte Dich sprechen, Inge. Deshalb ließ ich Refim und Mekra über das Deck laufen. – Wir werden verfolgt.“
Nur die Kompaßlampe spendete hier nach oben hin schwaches Licht. Die Baronin war zusammengezuckt. Der Kapitän hatte es bemerkt.
„Keine Sorge, Inge!“ beruhigte er sie. „Es ist ein halbgedeckter Motorkutter mit drei Leuten darin.“
„Bugins Boot also!“ Sie sagte es schon wieder ganz gleichmütig.
„Ja, Bugins Boot. – Wir laufen jetzt fünfzehn Knoten, obwohl das hier im Kanal nicht gestattet ist. Sobald eine Kanalstation auftaucht, fahre ich langsamer. Der Motorkutter ist jetzt zurückgeblieben.“
„Wann erreichen wir die Bitter-Seen?“ fragte die Baronin sinnend.
„Gegen elf Uhr. Noch eine Stunde also –“
„Er sucht uns zu täuschen,“ wechselte Inge das Thema.
Und sie berichtete, was Loring über den Grund seiner kleinen Verfehlung angegeben hatte.
„Laß doch das Panzertier!“ meinte der Kapitän achselzuckend. „Es mag eine Schrulle von dem Doktor sein. Ein Gelehrter –!“ Wie geringschätzig das klang!
„Im Gegenteil, Frederic,“ sagte die Baronin eifrig. „Im Gegenteil – ich muß wissen, was es mit dieser Schildkröte auf sich hat! Refim mag sofort die Landkarte in Lorings Kabine anders hängen, damit der Schieber freiliegt.“
„Was willst Du? Ihn beobachten?“
„Was sonst?! Vergiß nicht, daß Bugin zweimal den Lord Sussex –“
Sie beendete den Satz nicht. Ihr Blick war durch die Fenster des Steuerhäuschens wieder nach rückwärts den Kanal entlang geeilt.
„Ah – der Kutter!“ rief sie.
„Verdammt! Er holt auf.“ Frederic beugte sich über das Sprachrohr.
„Volle Kraft voraus!“ befahl er dem Maschinisten.
Und zu Inge: „Jetzt nehmen wir keine Rücksicht mehr! Kanalreglement hin, Kanalreglement her! – Waccam tut es auch nicht!“
Die Astarte schoß dahin, hinter sich einen hohen Schwalch mitziehend.
Die Bahn war frei. Keins der Kanalboote in der Nähe.
„Wenn wir die Bitter-Seen erreicht haben, verschwinden wir in der Dunkelheit,“ sagte die Baronin nervös. „Schade, daß die Mittelmeernebel nicht bis hierher vordringen. – Frederic, dort tutet eine Kanalwache! Das gilt uns!“
„Mag der Kerl tuten!“
„Und wenn sie uns aufhalten?“
„Wie denn?!“ lachte der Schwarzbärtige sorglos.
Dann pfiff er ein kurzes Signal. Das gelbbraune Gesicht Refims erschien im Lichtkreis der Kompaßlampe.
Inge flüsterte ihm etwas zu.
„Alles richtig, Lady!“ nickte der Fellache und verschwand.
Die Baronin lauschte.
„Da – wieder so ein Wächter, Frederic! Fahren wir langsamer. Waccam wird –“
Ein greller Scheinwerferblitz flog über die Jacht hin, kehrte zurück, klebte an ihr fest.
„Halbe Fahrt – nein, – stoppen!“ brüllte Frederic in das Sprachrohr[8].
Inges Lippen zuckten.
„Herr Gott, nur jetzt keinen Aufenthalt,“ keuchte sie.
„Wir haben keinen Lotsen an Bord!“
„So?! Meinst Du?! Mag nur ein Kanalboot längsseit kommen, dann ist der Lotse da – ich! Mütze und Rock liegen bereit. Dann bin ich eben ein neuer Lotse aus Port Said. Mit diesen Kaffern werden wir doch noch fertig!“
Der Scheinwerfer erlosch. Dafür blitzte hinter der Astarte eine weiße Lichtbahn auf und zeigte den Motorkutter wie das Bild einer Laterna magica.
„Aha – jetzt nehmen sie Freund Waccam vor!“ lachte der Kapitän. „Wir haben achthundert Meter Vorsprung. Das genügt. – Volle Fahrt, Achmed! Aber nur drei Minuten lang!“
Inge wartete. Jetzt meldete sich kein Wächter.
„Ich werde Loring zu Bett schicken,“ meinte die Baronin. „Er wird dann wohl die Schildkröte aus dem Koffer nehmen. – Wiedersehen, Frederic!“
Sie schritt die Kajüttreppe hinab. –
Doktor Loring hatte in seiner kleinen Kabine die Schildkröte mit vier Bindfäden mitten auf dem Bastteppich so an den Füßen und an dem Bett und den Kleiderhaken festgebunden, daß sie trotz aller verzweifelten Anstrengungen sich weder vorwärts noch rückwärts bewegen konnte. Sie biß zuerst wütend um sich, ergab sich dann aber in ihr Schicksal und saß still.
Loring kniete hinter ihr, ein Notizbuch und Bleistift in den Händen.
Er zeichnete die undeutlichen Schriftzeichen sorgfältig ab.
Rechts neben ihm war schon vorhin ein viereckiges Stück der Verbindungswand nach des Kapitäns Kabine hin lautlos verschwunden. Inges Gesicht lugte durch die Öffnung.
Nun war Loring fertig, murmelte halblaut in seinem Eifer:
„Man wird die meisten Buchstaben mal so, mal so ergänzen müssen. Vielleicht ergibt sich dann schließlich ein Sinn –“
Er stand auf, machte das Tier los, packte es am Rückenpanzer und trug es in den Koffer zurück.
Das Wandloch hatte sich geschlossen.
Loring setzte sich auf den Bettrand, prüfte wieder die Reste der Schriftzeichen auf seinem Notizbuchblatt.
Er wurde müde.
„Später!“ dachte er und begann sich zu entkleiden, drehte das Licht aus und warf sich auf sein schmales Lager.
Seine Gedanken, immer noch mit den Ereignissen des Tages beschäftigt, wurden lebendiger, zwangen den Körper zu jener überreizten Frische, in der das Hirn doppelt scharf arbeitet.
Loring ging die Geschehnisse nochmals durch, von jenem Augenblicke an, als der Lord Sussex am Kai in Suez angelegt hatte.
Jede Einzelheit prüfte er, beleuchtete sie von allen Seiten, suchte nach dunklen Stellen, nach Auffälligem, nach Widersprüchen.
Und – fand den ersten. Da hatte Waccam ihm doch gelegentlich in Tokio erzählt, daß seine Eltern längst tot seien. – Ja, jetzt besann Loring sich ganz genau: nie hatte Waccam seine Mutter erwähnt! Und was er dann heute von der Ehescheidung berichtet hatte, konnte auch nicht stimmen, denn er hatte ein andermal gesagt, seine Eltern hätten überaus glücklich miteinander gelebt!
Weshalb also diese Lügen?!
Die Baronin wieder hatte vorhin betont, Waccam sei ganz verstört aus dem Postgebäude auf die Straße hinausgetreten. – Hatte Waccam etwa die Krankheit seiner Mutter und auch alles übrige über seine Eltern nur zwecks Bemäntelung seiner Verstörtheit erfunden, den Schmerz und die Sorge um seine Mutter nur geheuchelt? Aber – was mochte er dann wohl für eine Nachricht erhalten haben, die imstande gewesen, ihn derart zu erschüttern?!
Loring setzte sich im Bett aufrecht. Ihm rann der Schweiß aus allen Poren. In der kleinen Kabine war es vor Hitze kaum auszuhalten.
Er stand auf, tastete sich bis zu dem einzigen Korbsessel hin.
Nun saß er und spürte anderen Unklarheiten nach.
Kam auf die Person Inge Lönbergs. Ah – da konnte man dunkle Punkte genügend feststellen – mehr als genug: reich, aber machthungrig, geldgierig. Dabei kleinen Diebereien nicht abgeneigt, noch weniger dem großen Betrug einer Zollhinterziehung.
Lorings Gedanken machten jetzt bei dem halt, was Hella ihm anvertraut hatte: daß Frau Inge einen Nachschlüssel zu Waccams Kabine benutzt hätte!
Einen Nachschlüssel! Und – die Geschichte in Benares mit dem Chinesen, – mit Frederic Drongelar! Da sollte am Westufer der Bitter-Seen ein Einsiedler hausen, ein Freund ihres verstorbenen Mannes, ein Frederic Drongelar, also derselbe Mann, dem Frau Inge in Benares begegnet war. – Zufällig begegnet? – Nein! Niemals! Der „Einsiedler“ trieb sich wohl in einer bestimmten Absicht in der Welt herum! Aber – welche Absicht hatte ihn nach Benares geführt?! –
Loring umgab tiefste Dunkelheit.
In dieser Dunkelheit zeichnete seine Phantasie ihm ein besonderes Bild:
einen Raritätenladen, einen Einbrecher, der das Elfenbeinkästchen stahl: Frederic Drongelar!
Vielleicht – vielleicht war es so gewesen! Wer war denn diese Baronin: eine Abenteurerin! – Wer war Frederic: eine mystische Persönlichkeit! – Beide vielleicht Hochstapler, Diebe, vornehme Gauner!
Loring starrte in die Finsternis hinein.
Das Kästchen haben die beiden gestohlen, entschied er.
Und Hella, die arme Hella, dient diesem Weibe nur als Aushängeschild der Ehrbarkeit.
Lorings Blicke hingen schon sekundenlang an einem winzigen Lichtpünktchen dort an der Wand, die er nur als vorhanden kannte, nicht sah.
Jetzt kam ihm diese dünne Lichtbahn als etwas Besonderes zum Bewußtsein.
Da mußte sich in der Holzwand, die beiderseits mit Kork belegt und mit einer Paneeltapete beklebt war, doch ein Löchlein befinden, und dort nebenan in des schwarzbärtigen mürrischen und schweigsamen Kapitäns Kabine mußte Licht brennen!
Loring wollte sich erheben und das helle Pünktchen näher untersuchen. Er blieb sitzen, dachte: „Mach’ Dich nicht albern Fritz! Willst Du etwa Waccam nacheifern und Detektiv spielen?!“
Und dachte weiter: „Ich bin freilich auf dem besten Wege dazu! Der Anfang ist schon da: ich kombiniere, ich ziehe Schlüsse aus Tatsachen, ergänze die Lücken dieser Tatsachen. Und ich muß es tun. Soll ich untätig bleiben? Soll ich die Dinge ihren Lauf nehmen lassen? Nütze ich nicht Hella damit, wenn ich die Augen gut offen halte – auch für ein Lichtpünktchen! Soll nicht Hella die Perlenschnur gestohlen haben?!“
Da stand er nun wirklich an der Verbindungswand, hatte sein Taschenmesser ganz leise geholt und fuhr mit der kleinen Klinge mit größter Vorsicht einen Riß in der dicken Öltapete entlang.
Ein Riß?! – Nein – das war ein glatter Schnitt.
Und – hier setzte er sich nach unten fort.
Es war ein Viereck, welches die Klinge so offenbarte, also – eine Klappe in der Wand, ein Loch – zum Spionieren!
Als Fritz Loring sich dies klar gemacht hatte, war sein nächster Gedanke: dann hat man Dich auch beobachtet, als Du die Schriftzeichen des Schildkrötenpanzers nachmaltest! –
Das war der Beginn neuer Kombinationen. Loring kam zu folgendem Ergebnis: die Baronin hat Dich absichtlich mit auf ihre Jacht genommen, damit sie feststellen könnte, weshalb Du die Schildkröte verheimlicht hast! Und sie ist von dem Dampfer entflohen, weil sie für das Kästchen fürchtete, das nicht entdeckt werden durfte! –
Loring kehrte zu seinem Bett zurück und legte sich abermals nieder.
Das unerträgliche Hitzegefühl im ganzen Körper ließ nach. Seine Nervosität schwand. Sein Hirn arbeitete träger. Für heute wußte er genug. Morgen würde er Hella verschiedenes fragen, und dann würde er völlig klar sehen!
Er war bereits im Einschlafen, als die Jacht kräftiger zu schwanken begann. Sie mußte die Bitter-Seen erreicht haben, wo es infolge des Nachtwindes leichte Wogen gab.
An Deck eiliges Hin- und Herlaufen, Poltern, Knarren, Quietschen, als würden schwere Kisten weitergeschoben.
Was geschah an Deck? Der Lärm wollte nicht aufhören. Wieder setzte Loring sich aufrecht. Sein Mißtrauen regte seine Phantasie an. Ein leises Angstgefühl beschlich ihn. Er war hier Gast auf einer Jacht, die einer Verbrecherin Eigentum war – er und Hella!
Und – wieder stand er auf, begann sich jetzt anzukleiden, nahm aus dem Einsatz des Koffers seinen Revolver heraus, den er sich in Tokio auf Waccams Rat hin gekauft hatte für Ausflüge über Land.
Er schob die kleine Waffe in die Schlüsseltasche seiner Beinkleider – für alle Fälle – im Dunkeln.
Klatschte da nicht ein Segel? – Knarrte da nicht der Langbaum eines Großsegels?
Ah – die Motoren arbeiteten nicht mehr. Und doch rauschte und gluckste das Wasser an der Bordwand dahin. Loring schob die dichte Gardine des kleinen Fensters zurück.
Draußen Tropennacht, halbhell, unzählige Sterne, eine endlose Wasserfläche.
„Besuch beim Einsiedler!“ dachte Loring und lächelte ingrimmig. Oh – man sollte ihn kennenlernen! Er war kein Stubenhocker, kein Bücherwurm, war damals vor fünf Jahren als Kriegsgefangener aus Sibirien entflohen – bis nach Persien hinein. Vier Monate Wildnisleben. Von drei Gefährten zwei erschossen. – Oh – er würde hier schon seinen Mann stehen! Alles für Hella!
Eine zarte Sehnsucht überkam ihn. Hier in dieser abenteuerlichen Nacht fühlte er zum ersten Male so recht, wie sehr er sie liebte.
Vielleicht lag auch sie jetzt mit offenen Augen da und erwog, was man von Inge Lönberg zu halten hätte. Vielleicht fürchtete sie sich in ihrer Einsamkeit vor unbekannten Schrecknissen, die durch diesen aufregenden Tag wie Gespenster emporgewachsen waren.
Arme, liebe Hella! –
Loring zog die leichte Jacke über, tastete im Finstern nach der Mütze.
Die Schildkröte rumorte im Koffer. Mochte sie! Sie hatte Wasser und Nahrung, hatte Luft und etwas Bewegungsfreiheit.
So riegelte er denn seine Kabinentür auf und trat in den engen Gang hinaus.
Da rechts ein schwacher Lichtschein: Die Treppe!
Da links Hellas Kabine.
Loring hielt den Atem an.
Eine Gestalt huschte auf ihn zu, umschlang ihn.
Unterdrücktes Schluchzen:
„Ich – ich fürchte mich!“
Hella – Hella an seiner Brust, bebend vor Angst.
Er zog sie in seine Kabine.
Dunkelheit. Heiße Lippen brannten aufeinander.
„Ich liebe Dich, Hella –“
„Jetzt – jetzt bin ich wieder tapfer – und so glücklich!“ hauchte sie in seinen Armen.
Hastiges Hin und Her von Fragen und Antworten.
Dann kehrte Hella zurück in das enge Gemach, wo sie qualvolle Stunden nie müden Grübelns durchlebt hatte, bis sie sich zu dem hatte flüchten wollen, von dem sie Schutz und etwas Zärtlichkeit erhoffte.
Die Astarte hatte ihr Aussehen völlig verändert. Aus der Motorjacht war ein Schoner mit niederen Heck- und Bugaufbauten geworden.
Loring war selbst Segler, hatte einen Blick für diese Verwandlung.
Er war an Deck gekommen. Wer wollte es ihm verbieten?!
Das Steuerhäuschen mit den blinkenden Fenstern war verschwunden. An seiner Stelle ein kleiner Oberlichtaufbau.
Dort hinten jetzt ein Steuer mit langer Pinne; dort zwei Gestalten. –
Loring spielte Waccam, schritt pfeifend auf Inge Lönberg und den düsteren Kapitän zu, rief:
„Hallo – ist das noch die Astarte?!“
Die Baronin streckte ihm die Hand hin.
„Hat der Lärm Sie geweckt, Doktor?“
„Und ob! Auch die Hitze. Hier ist’s kühler. – Sind Sie Zauberin, Baronin? Sie haben aus der Motorjacht eine Schonerjacht werden lassen!“
„Meine Erfindung, Doktor! Ich bin stolz darauf. Einmal vor vier Jahren war ich mit der Astarte in den Gewässern von Borneo. Sie wissen: Malaien – geborene Seeräuber, auch heute noch! Da hätte so eine Malaienprau uns beinahe gekapert. Die Astarte schien ihr ein leckerer Happen. Wir entwischten, kamen nach Padang, und dort ließ ich für die Astarte die zerlegbaren Aufbauten und alles andere herstellen. Dann fuhren wir wieder nach Borneo – als Schonerjacht – in dieselbe Bucht hinein. Die braunen Piraten glaubten einen anderen leckeren Bissen vor sich zu haben, kamen nachts heran. – Fragen Sie meinen Kapitän, Doktor, ob wir die Burschen nicht fein zusammengeschossen haben! An die Nacht werde ich denken! – Seitdem haben die Maskierungsstücke der Astarte unten im Raum gelegen. Erst heute konnten wir sie wieder brauchen, als Stuart Waccam und Ihr Schildkrötenfreund Bugin uns im Kanal allzu dicht auf den Fersen waren. Da verließen wir an der Einmündung des Kanals in die Bitter-Seen das enge Fahrwasser und nahmen Kurs nach Westen, setzten Segel und – Waccam steuert wohl noch jetzt hinter einer harmlosen englischen Jacht von der Größe der Astarte drein!“
„Glänzend!“ meinte Loring. – „Sie weiß für alles eine Begründung!“ sagte er zu sich selbst. „Malaiische Piraten stampft sie aus dem Meer – alles, wie’s ihr gerade in den Kram paßt!“
„Nicht wahr, Doktor?“ lachte die Baronin. „So etwas prickelt im Blut, ist besser als Sekt!“
„Eine richtige Abenteurergeschichte!“ nickte er vergnügt. „Wann sind wir bei Frederic Drongelar? Ich bin auf seine Einsiedlerhütte äußerst gespannt.“
„Hütte!“ rief Inge Lönberg „Hütte ist prächtig gesagt. Sie werden sich wundern! Aber ich verrate vorher nichts. Nur –“ – sie zögerte – „nur eine Bitte, Doktor: geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie von Drongelars Einsiedelei keinem Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen verraten. Er wünscht nicht, daß ein Strom kamerabewaffneter Touristen ihn stört. – Habe ich Ihr Wort?“
„Ja. – Warum auch nicht, Baronin? Ich bin Ihnen so sehr zu Dank verpflichtet, daß Sie alles von mir verlangen können – nur keinen Diebstahl oder dergleichen, es müßte sich denn gerade um Ihr Elfenbeinkästchen handeln. Das wäre eine Sünde wohl wert!“
Er hatte es scherzend in leichtem Plauderton hingesprochen.
Und doch war Frau Inge etwas zusammengefahren.
Schnell erwiderte sie:
„Ihre Scherze sind – sündig!“ versuchte sie ihrerseits zu witzeln. „Unser Kapitän macht ein finsteres Gesicht dazu. – Nicht wahr, Mauser, von Stehlen und dergleichen mögen Sie nichts hören!“
Der Kapitän schwieg.
„Gehen wir in die Kajüte, Doktor,“ meinte die Baronin. „Refim mag uns einen Imbiß bringen.“
Refim stellte erlesene Dinge auf den Tisch, dazu abermals eisgekühlten Sekt.
„Es ist das einzige anständige Getränk, Doktor,“ erklärte Frau Inge und füllte die Kelche. „Ihr Wohl! – Was macht denn Bugins Panzervieh?“
Loring merkte: die Baronin mußte inzwischen bereits dem einzig anständigen Getränk sehr reichlich zugesprochen haben. Ihre Augen schillerten. Ihre vornehme Ruhe war einer quecksilbrigen Lebendigkeit gewichen.
„Die Schildkröte dankt für gütige Nachfrage,“ entgegnete er und zerlegte eine Sardine mit größter Umständlichkeit.
„Bugin wird sich die Haare ausraufen, Doktor! Übrigens – holen Sie das Tier doch einmal her. Ich muß es mir ansehen.“
„Gern, Baronin –“ – „Nun wird sie natürlich die Schriftzeichen auf dem Rückenschild bemerken,“ dachte er, „und dann wird sie mich bitten, ihr zu sagen, was es für Buchstaben sind!“ –
Die Schildkröte stand auf dem Teppich der Kajüte und biß wieder um sich.
Dann kam das, was Loring erwartet hatte.
Frau Inge rief plötzlich:
„Doktor, Doktor – sehen Sie nur! Hier ist doch ein Zeichen eingeschnitten – und hier ebenfalls, – oh, eine ganze Inschrift!“
Loring hatte längst sein ferneres Verhalten sich zurechtgelegt.
„Hm – haben Sie das Geheimnis also wirklich entdeckt, Baronin!“ meinte er wie mißmutig. „Nun muß ich ja wohl mit der Wahrheit herausrücken. Dieser Zeichen wegen wollte ich das Tier nicht wieder hergeben. Ich habe diese Zeichen vorhin nachgemalt und trage sie nun im Notizbuch bei mir. Ich möchte sie gern entziffern.“
„Wird es Ihnen gelingen?“ Atemlose Spannung durchwehte die Frage.
„Wohl kaum. Ich kenne so ziemlich alle Schriftzeichen, selbst die ältesten, selbst die seltensten. Ich stehe ratlos da.“
„Wie schade! – Es könnte sich doch zum Beispiel um Angaben über das Versteck eines Schatzes handeln!“
Loring lachte.
„Sie haben Phantasie, Baronin! Schätze kommen nur in Romanen vor. Ich denke nüchterner als Sie. Es wird wohl nur eine Inschrift gleichgültigen Inhalts sein.“
„Und die wird man einer Schildkröte in den Rückenpanzer einschneiden?! Etwas Gleichgültiges!“ – Inge Lönberg schüttelte den Kopf. „Doktor, das glaube ich nicht! Nie und nimmermehr!“
„Dann mag es etwas Wissenschaftliches sein, Baronin. Ein Schatz – das wäre zu abgeschmackt!“
Die Schildkröte war unter den Tisch gewandert. Die schlanke Frau bückte sich, packte den Rand des Rückenschildes mit der Rechten und zog das Tier rückwärts wieder hervor.
„Haben Sie aber Kraft, Baronin!“ meinte Loring verblüfft. Die Schildkröte wog reichlich fünfzig Pfund, und der Doktor hatte sie stets mit beiden Armen gehoben.
„Sporttraining, Tennis, Golf und so weiter!“ erklärte sie gleichmütig und kniete neben dem wild um sich schnappenden Tiere nieder. „Man müßte die Oberfläche des Schildes mal mit Wasser, Seife und Bürste reinigen. Wie wär’s damit, Doktor?“
„Geldgier!“ dachte er. „Der Schatz!“ Und sagte laut: „Das wäre ein Gedanke!“
Sie sprang rasch auf. „Ich hole das Nötige. Binden Sie sie doch fest.“ Kurze Pause. „Es wird schon gehen. Dann haben wir’s bequemer!“
„Aha!“ lächelte Fritz Loring still für sich. „Jetzt hätte sie sich beinahe verraten, die schöne Inge! Anbinden – wie in meiner Kabine! Fraglos war sie es selbst, die mich durch das Guckloch beobachtet hat.“ –
Die Baronin kehrte mit einer Schüssel Wasser, zart duftender Toilettenseife und einer neuen Handbürste zurück.
Loring geriet jetzt halb wider Willen selbst etwas in Eifer. Diese Reinigung des Rückenschildes, die er ja ebenfalls beabsichtigt hatte, aber bisher nicht ausführen konnte, war geeignet, das Geheimnis der Schriftzeichen der Lösung näher zu bringen.
Mit einem: „Sie gestatten Baronin!“ krempelte er sich die Ärmel hoch!
Inge hielt die Schildkröte kniend fest. Loring handhabte die Bürste, deren Borsten schmutzige Seifenflocken auf Inges weißes Sportkleid spritzten.
Es war ein merkwürdiges Bild, wie diese beiden Menschen da auf dem hellen Bastteppich knieten, zwischen sich das unruhige, zischende Tier.
Es war etwas Abenteuerlich-Phantastisches an dieser Szene. Loring empfand dies mit einem gewissen Übermut. Die drei Gläser Sekt, die er vorhin getrunken hatte, und dazu das Bewußtsein, die reizvolle Frau bereits durchschaut zu haben und auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein, machten ihn mehr denn je für absonderliche Erlebnisse empfänglich, denen er auch in Japan an Waccams Seite nie aus dem Wege gegangen war. –
„Oh – welche Schmutzkruste!“ rief Inge. „Geben Sie mir die Bürste, Doktor! Sie erlahmen schon!“
Ohne Rücksicht auf ihr Kleid setzte sie die Reinigung fort.
Dann meinte Loring, der für nichts mehr Interesse hatte als für die immer schärfer hervortretenden Buchstaben:
„Jetzt abspülen, Baronin! Lassen Sie mich nur machen!“
Inge jedoch ergriff einfach die Waschschüssel und goß deren Inhalt über den mit Seifenschaum bedeckten Panzer.
„So, Doktor, jetzt sieht die Sache anders aus!“ meinte sie triumphierend. „Jetzt beweisen Sie, daß Sie ein Gelehrter sind!“
Loring stand neben ihr.
„Erst nach einen Schluck Sekt,“ fügte sie hinzu. „Mir ist warm geworden. Ihr Glas ging zum Teufel. Da – bitte – erst Sie! Wir trinken aus demselben Kelch! Hoffentlich ein Freudenkelch! Der Schatz –!“ Sie lachte wieder – nervös, fahrig, ungeduldig.
„Ihr Wohl, Baronin!“
Sie nickte ihm zu. Sie war wie eine Bacchantin, wie eine Priesterin der eleusinischen Orgien[9], wie in des Sinnenrausches wildestem Moment. Sie hatte trotzdem etwas Faszinierendes an sich. Loring begriff jetzt, daß selbst ein Stuart Waccam ihr auf Tod und Leben den Hof gemacht hatte. Für eine gewisse Sorte von Männern mit leicht entzündbarer Begehrlichkeit mußte sie überaus gefährlich sein. Auf ihn wirkte sie nur als Rätsel Mensch. Wie – wie nur hatte sie sich jetzt verändert!
Sie füllte das Sektglas wieder, lehnte sich leicht an Loring, trank langsam.
Der Duft eines erhitzten, raffiniert gepflegten Frauenkörpers drang ihm in die Nase.
Ihr Haar duftete. Ihr Wohlgeruch umschmeichelte ihn.
Blitzartig tauchte da Hellas Bild vor ihm auf.
Hella, die stille, melancholische Hella, das Blümlein Rührmichnichtan!
Waccam hatte sie stets „den Eisblock“ genannt.
Fritz Loring wußte es besser. Fritz Loring war gegen diese Künste Frau Inges gefeit. Dieses Weib versuchte ihn nunmehr auch auf diese Weise zu umgarnen. Er erkannte, was sie beabsichtigte: Sinnenrausch sollte ihn zu ihrem Sklaven machen. Sinnenrausch sollte ihn anfeuern, die Inschrift zu enträtseln – für Inge!
Und abermals lächelte er verächtlich in sich hinein. Aber – hier hieß es, schlau sich zeigen, nicht allzu ablehnend, nichts verraten von den innersten Empfindungen. Hier drohten Hella und ihm vielleicht Gefahren, wenn er auch nur andeutete, daß er die Baronin durchschaut hatte. –
Er nahm ihr den Sektkelch ab, stellte ihn beiseite.
„Jetzt die andere Arbeit, Baronin, die Geistesarbeit,“ sagte er und erwiderte den Druck ihres Leibes. „Jetzt soll der Geist sprechen! Herr, gib uns Erleuchtung!“
Er traf den scherzenden Ton überaus echt. Waccam wäre mit ihm zufrieden gewesen. Waccams Handwerk verlangte die Heuchelei. Loring beurteilte ihn milder, da er jetzt selbst die Unaufrichtigkeit als Waffe nötig hatte.
Er beugte sich über das Tier, das plötzlich ganz ruhig geworden, vielleicht infolge der blendenden Helle der Fünfzigkerzenlampe, die über ihm sacht hin und her pendelte.
Die Berührung mit Frau Inge war unterbrochen. Loring war nur noch Gelehrter, Forscher.
Er überflog den Kreis der Buchstaben, die, obwohl verschwommen, jetzt doch unschwer zu erkennen waren.
Er stand da, tief gebückt, schien zu prüfen, nachzusinnen.
Er prüfte nicht mehr. Er hatte diese Schriftzeichen, in denen zahllose Urkunden aus der Zeit Kaiser Karls des Großen geschrieben waren, zur Hälfte mühelos herunterlesen können.
Aber – er sann nach, überlegte, ob es ratsam sei, der Baronin das Geheimnis anzuvertrauen. Er wog alles genau ab, sagte sich, daß Inge Lönberg und ihre Verbündeten ihn und Hella in Frederic Drongelars Einsiedelei vielleicht für immer verschwinden lassen könnten, wenn er jetzt nicht log.
Das Geheimnis war gefährlich. Er spürte es an sich selbst. Es kostete ihn ungeheure Anstrengung, sich nicht zu verraten, seine Mienen zu beherrschen.
Dann schüttelte er mit einem Seufzer den Kopf.
„Das sind wohl Buchstaben,“ sagte er wie in tiefem Grübeln. „Aber keine, die ich kenne. Offenbar aus mehreren Alphabeten kombinierte Buchstaben –“
Die Baronin hatte sich wieder an ihn gelehnt.
„Werden Sie sie entziffern können, Doktor?“
„Ja, ich hoffe. Ich brauche nur Zeit dazu –“
„Ah – Sie hoffen! Das ist gut. Zeit – daran mangelt es ja nicht. Bei Frederic werden Sie Ruhe und Sammlung haben. Bugin kann warten!“
„Zeit – zur Flucht!“ dachte Loring. „Bei der ersten Gelegenheit entweiche ich mit Hella.“
Und sagte nickend: „Ganz recht: Bugin kann warten! Mein Forschereifer lullt mein Gewissen ein.“
Neben ihm ein Auflachen.
„Gewissen! Ah bah – Gewissen! Haben große Männer ein Gewissen gehabt: ein Hannibal, Cäsar, Napoleon, Bismarck?! Seien Sie nicht altmodisch, Doktor!“
Die Tür nach dem Mittelgang hatte sich leise geöffnet. Hella ward in der Türspalte sichtbar.
„Ich bin kein Napoleon, Baronin,“ meinte Loring. „Ich bin bisher, bilde ich mir ein, ein Ehrenmann gewesen. Ich möchte es bleiben –“
„Und – wenn die Inschrift wirklich auf einen Schatz hinweisen sollte?“ fragte sie rasch.
„Dann – dann werde ich ihn nicht heben, Baronin. Ich bin wohlhabend, reich.“
Er überlegte abermals jedes Wort. Er wollte sie auf die Probe stellen. Sie sollte sich irgendwie verraten.
„Also Bugin?“ forschte sie atemlos.
„Bugin – natürlich! Ihm gehört ja die Schildkröte.“
„Sie würden also Bugin alles mitteilen?“
„Das ist wohl selbstverständlich –“
„Sie – Sie sind ein – merkwürdiger Mensch!“ Das war Hohn und Verachtung Ein feines Ohr vernahm den Unterton nur zu deutlich.
Dann fuhr sie anders fort: „Merkwürdig in Ihrer strengen Ehrlichkeit, Doktor, die ich allerdings nur billigen kann. Tausend andere würden an Ihrer Stelle in einem solchen Falle nur für sich selbst aus der Sache Kapital schlagen, zumal Ihnen ja, lieber Doktor, ein gutes Recht zur Seite steht: Sie wären es ja gewesen, der die Inschrift enträtselt hat!“
„Wer sagt Ihnen, daß Bugin dies nicht bereits gelungen ist?“ warf er als neuen Fühler ein.
Inge Lönberg zog die Unterlippe durch die Zähne. Ihr Gesicht hatte sich umwölkt.
„Nein – nein, das kann nicht stimmen!“ stieß sie dann hervor. „Hätte Bugin das Geheimnis entdeckt, würde er auch bereits den Schatz gehoben haben, Doktor! Dann wäre er nicht so eifrig hinter dem Tiere her gewesen! Er fürchtet eben, ein anderer könnte die Schrift enträtseln. Deshalb die Jagd nach der Schildkröte.“
„Hm – ich gebe mich geschlagen, Baronin. – Jedenfalls: Bugin würde rechtmäßiger Eigentümer dessen sein, was die Inschrift vielleicht verspricht – vielleicht!“
„Ja – Bugin! – Oh – er wird sich freuen, wenn Sie ihm eines Tages die fertige Lösung unterbreiten. Doktor, da muß ich dabei sein. Ich werde ja als zweite diese Lösung erfahren, Sie als erster, – dann – Bugin! Nicht wahr, ich werde doch eingeweiht?“
„Gewiß, Baronin. Weshalb nicht?! Dann reisen wir nach Suez und überraschen Bugin, der mir großmütig verzeihen dürfte. Nur“ – und er seufzte übertrieben tief und kläglich – „nur – ein Schatz wird wohl kaum dabei herauskommen, obwohl ich mir schon vorhin sagte, daß man eine lediglich wissenschaftliche Inschrift, etwa über das Alter des Tieres, doch kaum in kombinierten Buchstaben eingeschnitten hätte. Wozu diese Geheimniskrämerei?!“
„Ah – sehen Sie! Sie lassen sich bekehren, Doktor!“
An Deck jetzt wieder das Trampeln hastiger Füße: das Signal für Inge, nach oben zu kommen.
Sie lauschte, sagte dann: „Ich muß oben mal nachschaun, ob die Küste in Sicht ist. Tragen Sie das kostbare Tier nur in Ihre Kabine zurück, Doktor. Nachher treffen wir uns wieder hier in der Kajüte. Es ist besser, daß Sie sich jetzt auf Deck nicht zeigen. Der Tag bricht an.“
Sie verließ die Kajüte durch die andere Tür. Die Gangtür hatte sich geschlossen, ging jetzt jedoch wieder auf.
Hella räusperte sich, winkte Loring.
Dann waren sie in seiner Kabine allein. Fahles Licht des grauenden Morgens zeigte Hellas blasses, übernächtiges[10] Gesicht.
Loring hatte die Schildkröte rasch in den Koffer getan, hatte Hella an sich gezogen.
„Du hörtest, was wir sprachen?“ fragte er leise.
„Ja –“ – Sie errötete in seinen Armen „Ja, Fritz, – und ich – ich fürchte mich jetzt mehr denn je! Die Baronin lügt, heuchelt. Sie wird es nie dulden, daß Bugin etwas von der Lösung erfährt! Fritz – man wird uns beide nicht mehr fortlassen aus der Einsiedelei!“
Er küßte sie, streichelte ihr die Wangen.
„Wir werden fliehen, Liebling. Man wird uns nichts antun, bevor ich dem Weibe das Geheimnis nicht verraten habe.“
„Wie – Du kennst es?!“ Sie bog den Kopf zurück.
„Ich kenne es, Hella –“ – Er flüsterte nur. „Die Inschrift ist altdeutsch, lautet:
Ostturm von Damaskus, Ostseite, unten in der Mauer weißes Kreuz. – Ritter von Dragamir.“
Und erklärend fügte er hinzu:
„Ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, daß dieser Ritter von Dragamir zur Zeit der Kreuzzüge im Ostturm der damaligen Festung Damaskus, die mehrmals von den Kreuzfahrern belagert und erobert wurde, etwas Wertvolles verborgen hat. Er mag dann in Gefangenschaft geraten sein und als Sklave der Sarazenen Gelegenheit gehabt haben, der Schildkröte sein Geheimnis mitzugeben, die also ein Alter von fast tausend Jahren haben muß, falls meine Annahme richtig ist. – Du bist nun Mitwisserin dieses Geheimnisses geworden, Hella. Sollte mir etwas zustoßen, so begib Dich zu Bugin nach Suez und teile ihm alles mit. – Jetzt müssen wir uns trennen. Wir dürfen keinen Verdacht erregen. Glaube mir aber: wir werden ungehindert fliehen können! Nur hüte Dich, diesem Weibe zu zeigen, wie Du über sie denkst! Leb’ wohl, mein Liebling –“
Inge stand neben Kapitän Frederic am Steuer.
„Er ist vertrauensselig wie alle Deutschen,“ sagte sie wegwerfend. „Es wird vielleicht das größte Geschäft werden, das wir je gemacht haben!“
Ihr Blick ruhte auf der nahen Küste – der Westküste der Bitter-Seen.
Da schnitt eine Bucht tief in die gelben, trostlosen Sanddünen ein. Kleine kahle Sandinseln mit weiß schillernden Ufern bildeten eine Barriere vor dieser Bucht, in deren Hintergrund starre, dunkle Felsmassen sich zu zackigen Bergen auftürmten.
Frederic, und nur er, kannte die Einfahrt in die Bucht.
„Zum ersten Mal bei Tageslicht!“ sagte der Kapitän dumpf. „Das gefällt mir nicht, Inge.“
„Die Ufer sind ja unbewohnt, Frederic –“
„Ein gutes Fernglas zeigt noch jetzt vom Kanal aus unser weißes Segel –“
„Du bist verstimmt –“
„Vorsichtig und mißtrauisch nur. Waccam ist kein Dummkopf. Und – noch nie haben wir Fremden das alte Römerkastell gezeigt, Inge.“
„Gezeigt?! Nun gut. Tote reden nicht, Frederic!“
„Hör’ auf davon! Sind wir Banditen?! Wir sind bisher, ohne Schaden zu nehmen, drei Jahre lang der Schrecken der reichen Orientreisenden gewesen, sind, und darauf bilden wir uns etwas ein, nie mit Gewalt vorgegangen. Sollen wir einem Phantom, einem eingebildeten Schatz zu Liebe uns Ungelegenheiten bereiten?! Ich warne Dich, Inge! Deine unersättliche Geldgier, Dein Machthunger werden –“
Refim kam, ein Fernrohr in der Hand, und meldete kurz:
„Nichts Verdächtiges, Master. Das Signal wurde soeben gezogen. Also alles in Ordnung.“
Die kahlen Berge kamen näher, streckten zerklüftete Landzungen wie Finger in die große Bucht hinein.
Die Jacht fuhr scheinbar auf das schroffe Gestade zu, zwischen zwei der Landzungen weiter.
Auf der einen dicht an der Küste stand eine verdorrte Palme, der einzige Baum weit und breit. Oben am Stamm der Palme flatterte ein roter Fetzen Stoff: das Signal!
Dann warf Frederic das Steuer herum. Nach Norden hin öffnete sich in der Steilküste eine schmale Einfahrt, nur dem ortskundigen Auge als Kanal erkennbar.
Das Großsegel der Jacht sank. Die Astarte glitt mit mäßiger Geschwindigkeit in den Kanal, der nach mehreren Biegungen, eingesäumt vor hohen Felsmauern, in ein kleines Becken mündete, auf dessen flachem Vorstrand ein riesiger uralter Turm aus mächtigen Steinquadern finster und geheimnisvoll emporragte: das Römerkastell, der Schlupfwinkel der Geschwister Inge und Frederic!
Die Jacht legte an einer Felsterrasse an. Zwei braune Beduinen, in helle Burnusse gehüllt, erschienen aus der Türöffnung des Kastells, winkten den Freunden zu. Inge eilte in die Kajüte hinab, Frederic verschwand in dem Turme.
„Kommen Sie, Doktor,“ rief die Baronin. „Wir sind angelangt! – Ich werde Hella schnell wecken. Das arme Ding scheint noch immer zu schlafen.“
Loring stieg langsam an Deck. Der düstere Turm, das kleine Wasserbecken, in dem sich die finsteren Berge widerspiegelten, machten einen bedrohlichen Eindruck auf ihn. Seine Augen suchten nach einem Weg durch diese Steinwildnis – nach einem Wege in die Freiheit. Und bedrückt gestand er sich, daß er sich die geplante Flucht doch wohl zu leicht vorgestellt hätte.
Aus dem dunklen Tor des Kastells trat jetzt ein schlanker, bartloser Europäer in tadellos weißem Leinenanzug heraus, kam auf die Jacht zu, sprang leichtfüßig an Bord und lüftete vor Loring die weiße Mütze.
„Gestatten – Frederic Drongelar!“ stellte er sich vor. „Ich heiße Sie in meiner Einsiedelei herzlich willkommen, Herr Doktor. Kapitän Mauser hat Sie mir bereits gemeldet.“
Die beiden Männer tauschten einen Händedruck.
Loring war leicht verwirrt. Dieser Drongelar war eine durchaus sympathische Erscheinung. Der Doktor hatte auf so eine Art besseren Seeräuber gerechnet.
Inge und Hella erschienen auf der Treppe.
Hella benahm sich tadellos.
„Ihren Zwillingsbruder lernte ich in Benares kennen, Herr Drongelar. Sie beide ähneln sich wirklich auffallend.“
„Das hat schon mancher gesagt, Fräulein von Olderstetten. – Wollen die Herrschaften jetzt bitte mein Heim in Augenschein nehmen.“
Das Kastell hatte vier Stockwerke. Eine Steintreppe lief steil bis zur Plattform hinauf. Im ersten Stock bewohnte Drongelar drei modern eingerichtete Räume. Auch im zweiten waren durch Holzwände drei Zimmer abgeteilt. Hier sollten Inge, Hella und Loring untergebracht werden. Die Baronin belegte sofort den Raum dicht an der Treppe mit Beschlag. Wollten Hella und der Doktor ins Freie, mußten sie Inges Zimmer passieren. – Loring merkte sofort, daß dies beabsichtigt war: Erschwerung heimlichen Entweichens! – Der dritte Stock war leer. Im Erdgeschoß hausten Drongelars Diener. Hier lagen auch die Küche und die Vorratsräume. –
Nach der Besichtigung des Kastells speiste man gemeinsam bei Drongelar. Kapitän Mauser blieb diesem Frühstück fern. Loring wußte bereits, weshalb: Es gab keinen Kapitän Mauser! Auch keinen Einsiedler Drongelar! Es gab nur einen Mann, der jetzt den falschen Bart und die Perücke abgelegt hatte und hier Drongelar spielte! Wie dieser Mann hieß, würde sich später herausstellen. –
Der Tag verging ohne besondere Ereignisse. Drongelar sah sich die Schildkröte an und belächelte gutmütig die Annahme der Baronin, die Inschrift dürfte mit einem vergrabenen Schatz zusammenhängen. Man machte nachmittags einen Spaziergang in die Bergwildnis hinein, ließ sich von Drongelar erzählen, weshalb er in diese Einsamkeit geflüchtet sei, und Hella und Loring hätten all das fraglos ohne jedes Mißtrauen auch geglaubt, wenn sie nicht schon vorher die Baronin und ihren Anhang durchschaut gehabt hätten.
Abends schlenderte Loring allein zur Liegestelle der Jacht. Refim war an Bord. – „Ich habe mein Notizbuch in meiner Kabine unter dem Kopfkissen vergessen,“ sagte Loring. „Hole es mir, Refim!“
Loring hatte das Notizbuch in seiner Weste. Aber er mußte unauffällig auf der Jacht ein paar Minuten allein sein. – Refim kam ohne Notizbuch an Deck. – „Es ist nicht da, Master“ – „Dann lauf’ ins Kastell und bringe eine Laterne. Die Lichtanlage der Jacht ist nicht in Betrieb. Ich muß das Buch haben.“ – Refim eilte davon. Es war bereits so dunkel, daß der Turm von Deck aus nicht mehr zu erkennen war. Loring suchte in der Heckkammer nach einer starken Leine, schlang sie sich unter der Jacke um den Leib. – Refim erschien mit der brennenden Laterne. Das Notizbuch lag unter dem Bett, wohin der Doktor es soeben geworfen hatte. – Nun stieg er in sein Zimmer hinauf, klopfte an die Tür der Baronin, die jedoch mit Hella bereits zum Abendessen hinunter zu Drongelar gegangen war. Im Dunkeln wickelte Loring sich die Leine um den Leib, zog die Kleider wieder darüber. Der Spaziergang am Nachmittag hatte ihm den einzigen Paß durch die Berge nach Norden zu gezeigt. Noch in dieser Nacht wollte er mit Hella fliehen. Gerade in dieser ersten Nacht, wo niemand mit einem Fluchtversuch rechnen würde. Er hatte alles sorgfältig erwogen, hatte die Augen offen gehalten. Es mußte glücken. –
Beim Abendessen dieselbe harmlose Gemütlichkeit unter den vier um den sauber gedeckten Tisch Herumsitzenden. Man blieb bis gegen zehn Uhr zusammen, trank Sekt, plauderte. Hella beherrschte sich großartig. Loring hatte seine Freude an ihr.
Mitternacht.
Durch das engmaschige Drahtgeflecht des viereckigen Turmfensters lugte schräg der Mond hinein. Lorings Taschenmesser arbeitete an diesem Drahtgeflecht, schnitt es heraus – ohne viel Geräusch.
Dann öffnete er die nur angelehnte Tür zu Hellas Zimmer. Hella hatte an der anderen Tür gelauscht, schlich herbei, flüsterte: „Sie schläft!“
Die jetzt in einer großen Kiste in einer Ecke untergebrachte Schildkröte rumorte. Loring drückte die Tür leise ins Schloß. Mit Hella hatte er alles genau verabredet. Die Leine, in die er zahlreiche Knoten geschlungen, reichte bis zur Erde hinab. Er band das eine Ende um einen Stuhl, so daß dieser sich nachher als Halt vor die Fensteröffnung legen mußte.
Hella kletterte hinaus. Loring hielt die Leine. Während Hella vor Aufregung zitterte, blieb er völlig ruhig. Er bewunderte sich selbst. Er besaß doch bessere Nerven, als er gedacht hatte.
Jetzt ruckte Hella dreimal an der wieder schlaffen Leine. Sie war also unten angelangt. Loring folgte. Alles ging gut. Der Stuhl legte sich vor das Fensterviereck, als Loring das Gewicht seines Körpers dem dünnen Seil anvertraute.
Er kletterte abwärts – an Drongelars einem Fenster vorbei – im hellen Mondschein.
Hella empfing ihn mit einem gehauchten „Gott sei Dank!“ Sie bebte, konnte kaum sprechen.
Schritt für Schritt entfernten sie sich von dem düsteren Gemäuer, gelangten in den schwarzen Schatten der Berge. Noch ein Blick zurück auf das glitzernde Wasser des stillen Beckens, auf die Jacht.
Dann weiter – ein steiles Tal empor.
Wieder über mondhelle Stellen, jetzt in hastigem Lauf.
Wieder ein Blick zurück.
Alles still – nichts von Verfolgern!
„Gerettet!“ jubelte Hella leise.
„Ja – in einer Stunde müssen wir die Bahnlinie Suez-Kairo erreicht haben, mein Liebling.“ – Er drückte sie froh an sich, schaute nochmals das Tal hinab – erstarrte fast vor Schreck: drei – vier Gestalten dort unten – mit Laternen – die Verfolger!
Er verschwieg es Hella, drängte nur zur Eile.
Sie liefen in eine Schlucht hinab, liefen über Geröll drüben die Schluchtwand empor, glaubten den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, standen plötzlich vor einer Felswand, mußten umkehren. Hella sah jetzt die Gestalten, den tanzenden Laternenschein, schrie leise auf, sank halb bewußtlos Loring an die Brust, schluchzte, war unfähig, auch nur ein Glied zu rühren.
Er biß die Zähne zusammen, hob sie empor, trug sie zurück an jene Steilwand, legte sie nieder und barg sich am Rande der Schlucht hinter ein paar großen Steinen, nahm den Revolver, entsicherte ihn, erkannte Refim, den vordersten, scheuchte ihn mit drohendem Anruf zu den drei anderen zurück. Die Baronin, in einen hellen Seidenmantel gehüllt, löste sich von der flüsternden Gruppe, näherte sich Loring.
„Bleiben Sie stehen!“ warnte er.
„Schießen Sie doch!“ höhnte sie. „Schießen Sie doch!“
Und kletterte weiter.
Loring sah, wie Refim, Achmed und Drongelar sie als Deckung benutzten, wie sie hinter ihr herkrochen.
Noch dreißig Meter.
Die Waffe in seiner Hand zitterte. Seine Gedanken verwirrten sich vor wahnsinniger Hast. Was tun?! Was tun?! – Schießen? Hatte es einen Zweck?! – Man würde ihn dann selbst durch eine Kugel niederstrecken. Da – war der Revolver von selbst losgegangen? – da der Donner eines Schusses, widerhallend in den Bergen.
Da ein gellender Schrei. Die Baronin war umgesunken.
Loring fühlte eisigen Schweiß auf der Stirn. Die Kälte rann ihm wie Eiswasser den Rücken entlang. Das war genau dasselbe Empfinden wie damals vor dem ersten Sturmangriff – damals in Ostpreußen –
Refim sprang in langen Sätzen höher. Refim, der treue, blindergebene, wollte die Herrin rächen.
Drongelars Stimme – überlaut:
„Refim – zurück!“
Jetzt bemerkte auch Loring dort weiter hinten in der Schlucht sechs – sieben neue Gestalten, hörte eine andere Stimme, die Stuart Waccams:
„Ergebt Euch! Hier Polizei!“
Refim hatte halt gemacht, stellte die Laterne auf einen Stein, steckte den Revolver weg.
Das Spiel war aus, erkannte er. Und mit der stumpfsinnigen Gelassenheit des Orientalen gegenüber dem Unabwendbaren setzte er sich auf einen anderen Stein.
Waccam ließ die drei fesseln, beugte sich zu Inge Lönberg hinab. Loring war zu Hella geeilt. Sie umklammerte ihn, weinte.
So fand Stuart Waccam die beiden.
„Doktor, was ist hier eigentlich geschehen?“ hastete er hervor. „Der Teufel mag daraus klug werden! Die Baronin mit der Kugel in der schönen Schulter ist bewußtlos, und aus den anderen ist kein Wort herauszubekommen. Übrigens ist Ihr Freund Bugin auch zur Stelle. Er hat mir jetzt erzählt, was die Schildkröte so wertvoll macht. Gerade vor drei Tagen hat sein Bruder die Inschrift entziffert. Dann haben sie den Rückenschild wieder mit Schmutz eingerieben, und Francois Austin ist nun unterwegs nach Damaskus, wahrscheinlich sogar schon dort. Er will den Schatz heben. Sie sehen, Sie hätten da nichts mehr vorgefunden. Die Geschichte wird für Sie ein böses Nachspiel haben, und Fräulein Hella dürfte das Gericht in Suez auch noch kennenlernen – der Perlenkette wegen.“
Loring war mit einem Schlage unheimlich ruhig. Der gehässige Ton Waccams trieb ihm zwar das Blut zu Kopfe. Doch er beherrschte sich, sagte nur:
„Ich verbitte mir jede Beleidigung meiner Braut, Master Waccam. Sie sind Privatdetektiv, nichts weiter. Der Polizei werde ich Rede und Antwort stehen.“
Dann ging er mit Hella an Waccam vorüber in die Schlucht hinab, wo Inge Lönberg inzwischen aus der kurzen Ohnmacht wieder erwacht war. Um sie herum standen ein Polizeikommissar und vier Beamte aus Suez, dann Monsieur Bugin und die drei Gefesselten.
Waccam war dicht hinter Hella und Loring geblieben. Die Baronin erkannte ihn jetzt.
„Ah – Waccam!“ – Man hatte sie halb aufrecht gegen einen Stein gestützt. „Waccam – der Perlendieb!“ sagte sie klar und deutlich. „Waccam, der die Bolke-Perlen aus Lorings Kabine höchstselbst stahl und die Stewardeß, als Dame verkleidet, niederschlug!“
Der Detektiv stierte die Verwundete sprachlos an.
„Ja – Sie stahlen die Perlen, weil Sie in Suez die Nachricht erhielten, daß Sie Ihr ganzes Vermögen bei einer mißglückten Spekulation verloren hatten. Ich[11] fand diese Briefe, fand auch die Perlen in Ihrem Koffer. Ich gebe zu, daß ich sie mir angeeignet habe. Aber auch Sie sind jetzt geliefert, Stuart Waccam!“
Loring trat rasch vor. „Endlich also die Aufklärung – endlich!“ rief er. „Und mir logen Sie vor, Master Waccam, Ihre Mutter sei erkrankt! Ihre Mutter ist längst tot!“ – Dann wandte er sich an Inge Lönberg: „Und das Elfenbeinkästchen, Baronin? Sie haben es in Benares gestohlen, nicht wahr?“
Sie lächelte schwach. „Leugnen hätte keinen Zweck mehr. Man wird die Perlen, das Kästchen und noch anderes im Kastell finden.“
Der Polizeikommissar hatte seinen Leuten einen Wink gegeben. Auch um Waccams Handgelenke schnappten die Stahlbänder zu. –
Stuart Waccam erhängte sich später im Kerker in Suez. Die Baronin Lönberg, gebotene Drongelar, und ihr Bruder wurden zu mehrjähriger Gefängnisstrafe verurteilt. Die Schildkröte aber schenkte der enttäuschte Bugin dem Doktor Fritz Loring zum Andenken: im Ostturm der alten Befestigungen von Damaskus war kein Schatz, sondern nur ein verschimmeltes Pergament über eine der Belagerungen von Damaskus gefunden worden! –
Die Schildkröte wird wahrscheinlich noch Doktor Lorings Kindern als Kuriosität von den Eltern gezeigt werden können, vielleicht auch noch den Enkeln und Urenkeln, denn die Berliner Luft bekommt ihr vortrefflich und sie dürfte uns alle noch überleben, die wir ihre Geschichte mit einiger Spannung verfolgt haben.
Anmerkungen: