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Ein kleiner Held

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Ein kleiner Held.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Unkas, der Mohikaner.

Wenn die Jungen Ritter und Räuber oder Trapper und Indianer spielten, war Kribergs Fritz immer der Anführer der einen Partei, natürlich der Räuber oder der Indianer. Ihm konnte es nie wild genug hergehen – nie! Und Ritter und Trapper waren ihm zu zahm.

Fritz Kriberg spielte also eine gewisse Rolle unter seinen Altersgenossen. Die jüngeren Schüler des Gymnasiums in Bramberg bewunderten ihn, drängten sich an ihn heran, suchten seine Freundschaft. Die war aber schwer zu erringen. So freundlich der kräftige, dreizehnjährige Bursche auch war, so gern er Schwächere schützte und oft die Rolle eines Richters bei Streitigkeiten freiwillig und mit viel Geschick übernahm: zwischen allen den anderen Knaben und ihm stand doch stets etwas wie eine unsichtbare Scheidewand.

Woran das lag, wußte er selbst nicht. Vielleicht daran, daß er, obwohl wilde Spiele sein schönstes Vergnügen waren, doch geistig reifer sich fühlte und nicht recht begriff, wie man sich der Schularbeiten wegen Sorge machen konnte. Er besaß eben ein so vorzügliches Gedächtnis und eine so schnelle Auffassungsgabe für alle Lehrfächer, daß er spielend leicht in der Schule mitkam. Wäre er nur ein wenig ehrgeizig gewesen, so hätte er stets Primus sein können. Aber alles, was auch nur im entferntesten an Strebertum erinnerte, war ihm verhaßt.

Um von Fritz Kriberg ein richtiges Bild zu geben, muß auch noch erwähnt werden, daß er sich nie an Streichen beteiligte, die ein gewisses Maß von jugendlichem Übermut überschritten. Alles Rohe, alles, was andere kränken konnte, haßte er ebenso wie Strebertum und Anschmeichelei; ferner sei gesagt, daß sein Vater einer der reichsten Bürger des ostpreußischen Grenzstädtchens war, welches wir hier Bramberg nennen wollen; schließlich, daß er das einzige Kind seiner Eltern war und von diesen sehr geliebt und verwöhnt wurde, was er durch rührende Anhänglichkeit und Hingabe ihnen dankte. – –

In den Sommerferien 1914 waren Kribergs nicht wie sonst in ein Bad gereist. Zumeist bevorzugten sie die See, einen der Badeorte der samländischen Küste, der Bernsteinküste, von der schon im Altertum die Phönizier das Elektron, das gelbe Gold des Meeres, den Bernstein, in abenteuerlichen Fahrten geholt haben sollen. Aber 1914 hatte Herr Kriberg von seinen Reisen nach Rußland schon im Mai recht beunruhigende Nachrichten mitgebracht. Russische Geschäftsfreunde, die dem Getreidehändler wohlwollten, warnten ihn. Es würde Krieg geben. Im Reiche des Zaren herrsche eine Unruhe und ein geheimes Treiben, das auf böse Dinge schließen ließe.

Herr Kriberg war ein weitsichtiger Mann. Er zog schleunigst von seinen Schuldnern in Polen und Kurland alle Außenstände ein und gab natürlich auch den deutschen Militärbehörden einen Wink. Er hatte ja selbst genügend von den großen Truppenverschiebungen beim östlichen Nachbarn gesehen.

In Deutschland wartete man ab. Um aber den politischen Gewitterhimmel nicht noch mehr zu umdüstern, unterließ man gleiche Gegenmaßregeln, war aber dafür auf seiner Hut.

Dieses Bestreben, das drohende Weltunheil zu verhüten rächte sich dann leider.

Als die russischen Divisionen, die an der Grenze längst bereitstanden, nach der Kriegserklärung in den ersten Augusttagen an mehreren Punkten gleichzeitig in Ostpreußen einfielen, kamen auch für die Bewohner Brambergs schreckliche Tage. – –

Am Freitag vor der Mobilmachung hatte Fritz Kriberg mit seinen Freunden noch den ganzen Tag über Indianer und Trapper gespielt, wobei man sozusagen einen Teil der Lederstrumpf-Erzählungen aufgeführt hatte und zwar „Den Kundschafter am Binnensee.“

Gerade hierzu eignete sich ja die örtliche Lage der Stadt vorzüglich, da Bramberg sich dicht am Ufer des langgestreckten Bramberger Sees erhob und mehrere kleine Inseln in der Nähe sehr gut zu richtigen Indianer- und Trapperansiedlungen dienen konnten.

Südlich der Stadt, den Inseln gerade gegenüber, schob sich eine mit Buchen und Haselnußsträuchern dicht bestandene, schmale Halbinsel etwa 200 Meter weit in den See hinein, an deren Spitze die grasüberwucherten Ruinen einer Burg des deutschen Ritterordens sich erhoben. Diese Ruinen waren an jenem Freitag das Lager des letzten Mohikaners Unkas und seiner Schar. So hatte Fritz Kriberg sich selbst getauft – Unkas, – nach einem der Helden des „Lederstrumpf“. Auch die anderen „Indianer“ führten sämtlich berühmte Kriegsnamen von roten Häuptlingen, ebenso wie auch alle entsprechend kostümiert waren, – mit Anzügen aus grober Sackleinwand, die sie sich selbst mit Glasperlen, Federn und Blechmünzen benäht hatten. Selbst Halsketten aus „Raubtierzähnen“ fehlten nicht, – wenn diese auch vom Schlächter bezogen waren und aus den Mäulern harmloser Hammel stammten. Daß die Jungen sich auch allerhand Waffen gefertigt hatten, braucht nicht besonders erwähnt zu werden. Für die Geschicklichkeit der Bramberger Pennäler sprach aber fraglos die Tatsache, daß sie sich selbst, ohne jede fremde Hilfe, mehrere Rindenboote gebaut hatten, die recht leicht und doch dauerhaft waren.

Fritz hatte das Mittag sehr hastig an jenem Freitag hinabgeschlungen. Er merkte zwar, in wie düsterer Stimmung sich die Eltern befanden, lebte aber so ganz in dem aufregenden Indianerspiel, daß er nur daran dachte, schleunigst wieder nach der Ruine zurückzukehren. Hatten doch kurz vor dem Mittagessen zwei Späher von Unkas Schar gemeldet, daß die Trapper unter Anführung Old Shatterhands (das war Max Beyer, der Sohn des Apothekers) einen Angriff auf das Lager der Mohikaner zu planen schienen, da sie auf ihrer Insel mit dem Bau eines Floßes beschäftigt waren.

Als Unkas bei der Ruine wieder anlangte, fand er nur den Unterhäuptling „kleiner Bär“ (Ernst Lang, den Sohn des Landrats) vor. Die anderen fehlten noch.

Unkas befahl dem kleinen Bär, einen Beobachtungsposten auf der höchsten Stelle der Ruine zu beziehen. Er selbst begab sich nach dem Versteck, in dem die drei Rindenboote der Mohikaner lagen.

Es war dies eine tunnelartige Öffnung, die sich von der Seeseite in die hier steil ins Wasser abfallende Mauer der alten Ritterburg hineinzog. Der Eingang zu diesem verborgenen Ankerplatz war durch Brombeergestrüpp, Efeuranken und Dornen, die in den Mauerritzen sich angesiedelt hatten, wie durch einen Vorhang geschützt, so daß nur ein Eingeweihter ihn finden konnte. In der Tat wußten denn auch nur die Mohikaner von diesem Geheimnis. Und ihre Zungen band ein furchtbarer Eid. Selbst von den Bürgern Brambergs kannten nur einige diesen Wassertunnel, hatten aber nie ein Interesse dafür gehabt und diese Besonderheit der Ruine daher längst vergessen.

Unkas zündete, nachdem er sich an einem Tau in den Tunnel hinabgelassen hatte und in eins der dort liegenden Boote geklettert war, eine Fackel aus Kienholz an, befestigte sie in einem der Boote und trieb dieses mit einem Ruder tiefer in den dunklen, mauerüberwölbten Kanal hinein. Er hatte nämlich am Vormittag eine Fischotter beobachtet, die blitzschnell in dem Tunnel verschwunden war, und wollte nun nachsehen, ob sich hier irgendwo vielleicht eine ganze Otterfamilie häuslich eingerichtet hatte.

Nach etwa zwanzig Meter versperrte jedoch die hier eingestürzte Decke den Weg. Große Mauerbrocken lagen wild übereinander und füllten den Raum bis oben aus, so daß die Mohikaner bisher stets angenommen hatten, dieses Hindernis sei unüberwindlich. – –

Eine halbe Stunde später gesellte sich Unkas dem kleinen Bär wieder zu, der noch ebenso wie vorher hinter Brombeergebüsch auf dem Bauche lag und die Inseln beobachtete, auf denen Old Shatterhand mit seinen Trappern hauste und finstere Pläne gegen die Mohikaner vorbreitete.

Der kleine Bär meldete, daß auf den Inseln sich nichts rege und daß merkwürdigerweise von den Mohikanern niemand mehr erschienen sei.

Unkas stimmte diese Nachricht, daß seine Getreuen bis auf den kleinen Bär ausgeblieben waren, sehr nachdenklich.

Gerade in diesem Augenblick ertönte vom Fuße der Ruine her ein schriller Pfiff. Es war das Signal der Mohikaner. Gleich darauf stand die blaue Schildkröte (Robert, der Sohn des Schneidermeisters Pech) vor seinem Häuptling. Er war „in Zivil“, das heißt, er trug seinen gewöhnlichen Anzug.

„Unkas – wir müssen mit dem Spiel aufhören“, sagte er hastig. „Nach den neuesten Nachrichten gibt es bestimmt Krieg. Und unsere Eltern wollen nicht, daß wir uns von Hause entfernen. Bramberg soll, falls die Kriegserklärung erfolgt, sehr bedroht sein. Die Grenze ist ja nur zwei Meilen entfernt, und drüben sollen, wie ein Gendarm erzählt hat, mehrere Kosaken-Regimenter in den Wäldern verborgen sein.“

Die blaue Schildkröte war sehr aufgeregt und eilte gleich wieder davon, nachdem sie noch erklärt hatte, sie müsse dem Vater beim Verpacken der Stoffe helfen, die dieser nach Königsberg bringen wolle, falls wirklich mobil gemacht würde.

Als Robert Pech verschwunden war, sagte der kleine Bär, indem er aufstand und nach den Inseln deutete:

„Deshalb habe ich auch dort drüben noch keinen einzigen der Trapper bemerkt …! Auch sie haben den Kriegspfad verlassen! – Ich denke, wir gehen gleichfalls heim.“

Unkas nickte nur. Er schien überhaupt sehr zerstreut zu sein. Offenbar beschäftigte er sich in Gedanken mit etwas ganz Besonderem.

Die beiden Knaben kletterten von den Resten des eingestürzten Turmes herab und legten dann durch Abheben mehrerer Mauertrümmer an einer Wand ein Loch frei, das in einen kleinen Kellerraum führte.

Hier bewahrten die Mohikaner ihre Anzüge, Waffen und manches andere auf, hier kleideten sie sich um und verwandelten sich entweder in harmlose Pennäler oder blutgierige Rothäute.

Jetzt betraten sie als Pennäler wieder das Freie, verdeckten das Schlupfloch wieder sorgfältig und wandten sich der Stadt zu. – –

Am Tage darauf kam die Mobilmachung.

In Bramberg ging es zu wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen. Ein Teil der Bewohner floh jetzt schon nach dem Innern der Provinz. Die Zurückbleibenden hielten sich gleichfalls reisefertig.

Sonntag früh rückte eine Schwadron Ulanen ein, – bestaubt, schwitzend, aber guter Dinge und voller Begier, sich mit den Kosaken zu messen.

Die Ulanen trabten bald wieder weiter der Grenze zu.

Sonntag abend kamen schon die ersten Flüchtlinge von der Grenze an, erzählten Schauermärchen von den Kosaken und riefen die zweite Massenflucht in Bramberg hervor.

Auch Herr Kriberg schickte Frau und Kind nach Königsberg. Doch auf dem Bahnhof ging es derart wild her, daß Fritz von seiner Mutter getrennt wurde. Als er sie noch suchte, fuhr der überfüllte Zug ab.

Vor dem Bahnhof stieß Fritz dann zufällig auf seinen Vater.

„Du hier – noch hier, Junge?!“ rief Herr Kriberg erschrocken. „Ich denke, Du sitzt in irgendeinem Abteil des Zuges. Ich habe die Mutter beruhigt, ihr gesagt, daß Ihr Euch beim Großvater in Königsberg schon wieder zusammenfinden werdet. Und nun …?! – – Was tue ich mit Dir?! Vorläufig geht kein Zug mehr, – falls überhaupt noch einer fährt!“

„Ich bleibe eben bei Dir, Vater“, sagte Fritz bestimmt. „Telegraphiere nur an Großvater, daß wir hier sind und erst fliehen – zu Fuß oder Wagen –, wenn die Kosaken anrücken.“

„Gut – depeschieren wir! – Was soll ich auch anderes tun?!“ meinte Herr Kriberg, der sich fest darauf verließ, daß die Russen gerade ihn gut behandeln würden, weil er jenseits der Grenze sehr bekannt und allgemein beliebt war. Übrigens beabsichtigte er auch nicht, in Bramberg auszuharren. Nur für den äußersten Notfall hoffte er eben von der Freundschaft der Russen gutes.

 

2. Kapitel.

Als Spion vor dem Standgericht.

In der Nacht von Montag zu Dienstag sprengten Kosakenpatrouillen die Bahnstrecke hinter Bramberg. Die Ulanen, die noch in der Stadt waren, ein halber Zug nur, rückte am Dienstag morgen auf telephonischen Befehl ab.

Bramberg war jetzt wie ausgestorben. Nur noch fünfzig Menschen etwa waren zurückgeblieben, darunter der Bürgermeister, der Landrat, der Rektor der Volksschule und Herr Kriberg.

Am Abende hausten schon Kosaken in dem freundlichen Städtchen, plünderten, stahlen, tranken alle Schnapsvorräte aus, johlten, schossen in der Trunkenheit um sich, aber verübten wenigstens keine Roheiten. Das lag an ihrem Führer, einem Rittmeister, der die Deutschen als Kulturvolk schätzte, der aber doch ein zu fanatischer Russe war, um seine Leute „in ihrem Vergnügen“ zu stören.

Gegen elf Uhr abends, als gerade wieder ein heftiger Regenschauer herabprasselte, schlich eine schlanke Knabengestalt durch die Nachbargärten nach dem Hofe des kleinen Rathauses zu, kletterte hier über die Mauer und lugte dann durch eines der Fenster des Stadtverordnetensitzungssaales in diesen hinein.

Es war Unkas …

Und in dem Saal mit den jetzt durch Säbelhiebe zerstörten Bildern des deutschen Kaiserpaares wurde über Herrn Kriberg Standgericht wegen Spionage abgehalten.

Wer ihn bei dem Kosakenrittmeister angeschwärzt hatte, ist nie herausgekommen. Jedenfalls war er vor zwei Stunden plötzlich in seinem Hause verhaftet worden, nachdem die fremden Eindringlinge ihn zuerst wie ihresgleichen behandelt hatten, da er fertig russisch sprach und alle Wünsche der wilden Reiter erfüllt hatte.

Fritz sah, daß sein Vater gebunden vor dem langen Tische stand und totenbleich war. Er war, als die Kosaken den Vater abführten, gerade in dem Kornspeicher gewesen und hatte sich nachher vorsichtigerweise versteckt gehalten.

Die Beisitzer des Standgerichts, drei Offiziere außer dem Rittmeister, saßen so, daß sie den Fenstern den Rücken zukehrten.

Fritz merkte, daß es um die Sache des Vaters schlecht stand. Er hatte ja schon am Nachmittag erlebt, wie man den Landrat, den Bürgermeister und den Rektor als Geiseln auf einem Ackerwagen wie Verbrecher nach Rußland hinein abtransportiert hatte. Die Kriegsfurie war losgelassen, und ohne menschliches Rühren begingen Menschen gegen Menschen in halbirrem Vernichtungstrieb Akte brutaler Willkür und Grausamkeit.

Der Knabe bebte an allen Gliedern. Eine furchtbare Angst um das Leben des Vaters hatte ihn plötzlich gepackt. Er schaute nur immer auf das leichenblasse Gesicht des Gefesselten. Was dieser auf die Fragen der Offiziere erwiderte, konnte er nicht verstehen. Er sah nur, wie des Vaters Lippen sich bewegten, sah, wie einer der Russen ihm jetzt ein Bündel Briefe und eine Landkarte zeigte und höhnisch dazu das Gesicht verzog.

Seine Angst stieg. Aber für alles gibt es eine Grenze. Auch für die bange, bis zur zitternden Furcht gesteigerte Sorge um einen geliebten Menschen. Ganz plötzlich wird dann bei starken Naturen aus dieser Sorge das Bestreben zu helfen, zu retten.

So auch bei Fritz. Mit einemmal fiel die Angst wie ein lästiger Mantel von ihm ab. Mit einemmal begann er zu überlegen, wie er den Vater befreien könne.

Seine Gedanken jagten wie ein gehetztes Wild. Wenn er etwas für den Vater tun wollte, mußte es bald, nein – sofort geschehen.

Er war ein aufgeweckter, tatkräftiger Junge, schlau und listenreich. Das hatte er als Unkas oft genug bewiesen.

Immer mehr klärten sich die wirren Befreiungspläne in seinem Hirn, nahmen feste Form an und wurden schließlich zum bestimmten Entschluß.

Er drückte das Gesicht ganz dicht an die Scheibe, bis der Vater ihn wirklich bemerkt hatte, winkte ihm nun zu und duckte sich wieder.

Nach einer Weile richtete er sich wieder auf.

Der Vater sah sein Gesicht hinter der Scheibe, verriet aber nicht etwa dadurch, daß er nun andauernd hinstarrte, des Sohnes Anwesenheit auf dem Hofe, sondern bemühte sich, sein bisheriges Verhalten in keiner Weise zu ändern.

Fritz machte mit der Hand allerlei Zeichen, deutete erst auf die Gaskrone über dem Tisch (die Stadt hatte eine eigene kleine Gasanstalt, die von den Kosaken sofort wieder in Betrieb gesetzt worden war), machte hierauf die Bewegung des Umdrehens eines Hahnes und winkte dem Vater zu.

Nachdem er dies mehrmals wiederholt hatte, wobei er noch andere, seine Absichten noch mehr erklärende Zeichen einflocht, verschwand er wieder und schlich nun schnell nach der Hintertür des Rathauses. Er wußte, daß der Hauptgashahn für das Gebäude im Flur neben dem Kellereingang angebracht war. Und – er hatte Glück.

Urplötzlich erloschen sämtliche Flammen im Rathause. Und wenige Sekunden später hatte Herr Kriberg sich trotz der gefesselten Hände gegen eines der Fenster geworfen … Das Glas splitterte, Holzleisten krachten, und Fritz zog den Vater schnell vollends in den Hof, durchschnitt ihm mit dem bereitgehaltenen Messer die Fesseln und drängte ihn zu einer Seitenpforte hinaus in die Hintergasse …

Hinter den Flüchtlingen wüstes Geschrei, Schüsse und brüllende Kommandostimmen …

Aber der Regen war der Verbündete der beiden Verfolgten, denen auch ihre genaue Ortskenntnis zustatten kam.

Fort ging’s durch die Gärten, über Zäune und Mauern hinaus ins offene Feld. Die Richtung, die die beiden notgedrungen hatten einschlagen müssen, führte sie nach der Halbinsel hin.

Auch diesen Umstand hatte Fritz in Betracht gezogen. Er wußte, wo es ein vorläufiges Versteck gab.

Dann, als sie gerade eine Wiese passierten, tauchten vor ihnen drei Reiter auf: eine Kosakenpatrouille!

Sie warfen sich lang hin. Sekunden der größten Angst folgten. Aber die Gefahr ging glücklich vorüber. Die Russen hatten die Flüchtlinge nicht bemerkt …

Wieder weiter. Jetzt aber mit größerer Vorsicht. Leider hörte der Regen auf, und der Mond trat hinter einer Wolke hervor …

In einem Graben krochen Vater und Sohn entlang. Fritz immer zehn Schritte voran, um rechtzeitig vor jeder Gefahr warnen zu können …

Man kam jetzt an einem kleinen Gehöft vorüber. Es war die Behausung des Abdeckers der Stadt.

Auch hier grölten trunkene Kosaken.

Im Bogen ging’s um das einsame Grundstück herum.

Dort drüben lag nun schon die Halbinsel, deutlich sich abhebend von der im Mondenschein flimmernden Oberfläche des Sees.

Fritz schaute sich nach dem Vater um, – stutzte …

Dessen Gestalt war verschwunden …

Der Knabe eilte zurück und – fand einen Ohnmächtigen, einen, der in einer Blutlache mit dem Gesicht lag.

Herr Kriberg hatte sich beim Sprung durch die Scheiben eine tiefe Schnittwunde an der Schläfe zugezogen, hatte sie in der Aufregung der Flucht bisher nicht weiter beachtet und nun nach den Aufregungen der letzten Stunden und durch den Blutverlust das Bewußtsein verloren.

Zum Glück war dieser vielleicht recht folgenschwere Zwischenfall am Rande eines Haferfeldes eingetreten, so daß Fritz den Vater in das Korn schleppen und ihm hier zunächst die stark blutende Wunde notdürftig verbinden konnte.

Herr Kriberg erlangte erst nach einer Stunde die Besinnung wieder, nachdem Fritz aus einem nahen Wassergraben in seiner Schülermütze wiederholt Wasser geholt und mit seinem angefeuchteten Taschentuch die Stirn des Bewußtlosen gekühlt hatte.

Sehr langsam nur konnten Vater und Sohn ihren Weg fortsetzen. Herr Kriberg war sehr schwach und drohte alle Augenblick wieder umzusinken.

Endlich war dann die Halbinsel erreicht. Im Schutz des ersten dichten Gebüsches bat Fritz den Vater, sich niederzulegen. Bisher hatten sie stets nur hastige, abgerissene Worte gewechselt.

„Wir sind jetzt ganz sicher, Vater“, sagte der Knabe, indem er sich neben ihn setzte. „Ich weiß in der Burgruine ein Versteck, in dem uns niemand finden wird. Nur mußt Du erst genügend Kräfte sammeln, um den schwierigen Weg dorthin zurücklegen zu können. Ruhe Dich hier also gut aus. Ich will inzwischen vorausschleichen und feststellen, ob die Russen in der Ruine nicht etwa einen Posten aufgestellt haben, weil man doch von dort aus den ganzen See überblicken kann.“ –

Nach einer halben Stunde kehrte Fritz mit der Nachricht zurück, daß die Ruine leer sei und man sich getrost nach dem Versteck begeben könne, ohne sich weiter allzu sehr in acht nehmen zu müssen.

Herr Kriberg war jetzt wieder besser bei Kräften, erhob sich und folgte dem Knaben, der auf einem schmalen Fußpfad den Trümmern der alten Ritterburg zustrebte.

Dann erklärte Fritz dem Vater, wie man in den Wassertunnel hinabgelangen könnte, zeigte das Tau, an dem man hinabklettern mußte und schwang sich als erster über den Rand der Mauer.

Das Schicksal war den beiden Deutschen gnädig. Wohlbehalten gelangte auch Herr Kriberg in den einen der Rindenkähne, den Fritz nun bei Fackellicht in den Hintergrund des Kanals drängte, bis die Schuttmassen ihm Halt geboten.

„Am letzten Freitag“, erklärte Fritz jetzt flüsternd, „suchte ich hier nach einem Otterbau. Dabei wagte ich es, dort auf den Schutthaufen hinaufzuklettern. Ich dachte mir, daß vielleicht auf der anderen Seite ein Kellerraum oder dergleichen sich befinden könnte. Und – daß ich richtig vermutet hatte, wirst Du gleich sehen, Vater.“

Er kletterte abermals voran. Die Mauertrümmer, große und kleine Blöcke, gaben Füßen und Händen genügend Stützpunkte. Oben auf den Schuttmassen mußten Vater und Sohn freilich ein Stück auf dem Bauche kriechen, ehe sich über ihnen das Loch in der Deckenwölbung öffnete, das durch den Einsturz entstanden war.

Nun aber ging’s ganz bequem wieder abwärts.

Das rötliche Licht der Fackel beleuchtete einen kleinen, niedrigen, viereckigen Raum, aus dem aber gegenüber dem Schuttwall eine gewölbte Öffnung und dahinter eine Treppe nach oben in weitere Gelasse führte.

Die Treppe hatte nur ein Dutzend Stufen und lief in einem gemauerten Schachte hoch. Sie mündete in ein rundes, sauber mit Mörtel abgeputztes Gemach. Von hier wieder ging eine zweite Treppe in ein kleines, quadratisches Verließ hinab, dessen Wände dick mit Schimmelpilzen und glitschigen Moosen bedeckt waren.

Beide Räume, die in den Resten des Turmes lagen und von außen keinen anderen Zugang mehr hatten, waren vollständig leer.

Fritz befestigte die Fackel in einer Mauerspalte und machte für den Vater dann aus seiner Jacke und Weste ein Kopfkissen.

„Ruhe Dich nur wieder aus“, sagte er schon wieder ganz heiter. „Wir sind hier gut geborgen. Ich will jedoch sofort noch einiges erledigen, was uns nützlich sein wird. Warte hier nur ohne Sorge. Ich bin bald wieder zurück.“

Herrn Kriberg hatte der beschwerliche Weg bis in dieses Versteck doch recht angestrengt, und ganz willig legte er sich lang auf den Steinboden und verfiel auch schnell in einen unruhigen Halbschlummer.

Fritz nahm die Fackel mit und kletterte wieder nach dem Kanal hinüber. Hier füllte er das zweite Rindenboot mit Wasser und warf noch einige Mauertrümmer hinein, bis es versank. Das Tau dieses Nachens hatte er aber vorher so unter Wasser an einem Mauervorsprung befestigt, daß das Boot sich leicht jeder Zeit wieder heben ließ. Dann verließ er den Kanal und begab sich in die Ruine hinauf. Die Nacht war hell und sternenklar, nachdem die Regenwolken sich jetzt ganz verzogen hatten.

Der Knabe öffnete den Eingang zu dem kleinen Gelaß, in dem die Mohikaner ihre Indianerkostüme und vieles andere verborgen hielten.

Er zündete eine alte, an der Wand hängende Stallaterne an und hielt nun über die Dinge, die hier aufgespeichert waren, sorgfältig Musterung. – Die Jungen hatten hier alles zusammengeschleppt, was sie nur irgendwie für ihre Spiele brauchen zu können gehofft hatten.

Da gab es zwei alte Teppiche, ein paar Pferdedecken, ein Stück Segeltuch, mehrere Stangen. Dies war das Material zum Zeltbau. Dann zwei verbeulte Kessel, eine ausrangierte Bratpfanne und ein paar Blechnäpfe und Blechlöffel, – ebenfalls Requisiten des Indianerlagers. Weiter allerlei Angelgerät, ein kleines Stellnetz, Taue und Stücke von Waschleinen. Auch eine Kanne Petroleum war vorhanden. Sodann hingen an den Wänden an langen Nägeln die Indianerkostüme und die Waffen, – Lanzen, Bogen und Pfeile und richtige Tomahawks mit eisernen Beilschneiden, die ein Schmied für billiges Geld gefertigt hatte, ferner Bowiemesser, die die Jungen sich selbst gearbeitet hatten. In einer Ecke wieder standen einige Holzkisten von verschiedener Größe, – eine wahre Raritätensammlung von allerlei Kleinkram, sämtlich Dinge, die als beschädigt einmal weggeworfen waren und nur noch für die Mohikaner Wert hatten.

Fritz hielt also Musterung und suchte alles das heraus, was für das Leben der Turmbewohner, das ja vielleicht längere Zeit dauern konnte, nützlich sein mußte.

Dann begann er das Ausgewählte in die Decken und Teppiche zu verpacken. Auch dies nahm lange Zeit in Anspruch.

Recht mühselig gestaltete sich der Transport der ziemlich schweren Bündel nach dem Turmgemach. Als er mit dem ersten das verborgene Gelaß betrat, fand er den Vater wach und seines langen Ausbleibens wegen schon in großer Sorge.

Fritz berichtete, was er vorgehabt hatte. Während er von der „Mohikaner-Schatzkammer“ erzählte, richtete er aus zwei Decken, den Indianeranzügen und dem Zeltleinen ein weiches Lager für den Vater her.

Herr Kriberg war noch sehr schwach, klagte über Kopfschmerzen und bat Fritz, ihm nachher die Stirnwunde tüchtig auszuwaschen, die ihm starke Schmerzen bereite.

Fritz sah voller Besorgnis, daß die Wangen des Erschöpften von einer ungesunden Röte bedeckt waren. Heiße Angst schlich ihm zum Herzen. – Wenn der Vater hier etwa infolge der überstandenen Aufregungen und der Schläfenverletzung ernstlich krank wurde – was dann …?!

Abermals fiel Herr Kriberg in einen recht unruhigen Schlaf. Fritz beobachtete ihn eine Weile, schlich dann wieder hinaus und brachte auch die übrigen vier Bündel nach dem Turmgemach. Dann schlug er die Kisten auseinander und schaffte auch die einzelnen Bretter und Brettchen in den Turm.

Er war nun bereits zum Umsinken müde, gönnte sich aber trotzdem noch keine Ruhe. Die Dunkelheit mußte ausgenutzt werden. In einer Pferdedecke holte er eine große Menge Moos, um daraus weiche Unterlagen für die Lagerstätten herstellen zu können.

Jeder dieser Gänge war nicht ganz ungefährlich. Wie leicht konnte eine Kosakenpatrouille auch die Ruine einmal als Ziel erwählen …! Mit angespannten Sinnen, stets auf der Hut vor Überraschungen, tat er jeden Schritt.

Es dämmerte bereits, als er die letzte Ladung Moos nach dem Turme brachte. Dennoch begab er sich abermals ins Freie und zwar wagte er sich jetzt bis auf die nahen Felder, wo er die zum Rucksack umgewandelte Pferdedecke mit Kohlrüben und Frühkartoffeln füllte.

Auf dem Rückweg mußte er wieder in einem Getreidefeld Schutz suchen, da ein paar betrunkene Kosaken von einem Gehöft nach der Stadt schwankten. Fritz konnte dann noch beobachten, wie ein Offizier zu Pferde die fünf Leute hart anfuhr und sie in ihr Quartier zurückjagte.

Er war heilfroh, unbemerkt in das Wäldchen schlüpfen zu können. Es wurde jetzt auch zusehends heller und heller, und er beeilte sich, schleunigst hinter dem Rankenvorhang des Kanals zu verschwinden, da er ja noch die Absicht hatte, das Stellnetz vor der Ruine auszulegen, um vielleicht ein paar Fische zu erbeuten.

Auch dies führte er noch aus, freilich in steter Angst, daß er von der Stadt her bemerkt werden konnte, da die Morgendämmerung gerade Gegenstände auf dem See bereits in weiter Entfernung erkennen ließ und er gezwungen war, mit dem Rindenboot ein Stück in den See hinauszurudern.

Nachdem das Netz aufgestellt war, versenkte er auch dieses Boot in derselben Weise und begab sich nun in das durch die Stallaterne nur notdürftig erhellte Turmgemach.

Herr Kriberg hatte Fieber. Sein Gesicht glühte. Er warf sich ständig auf seinem Lager hin und her und phantasierte sogar zuweilen.

Für den Knaben folgten nun fünf schwere, böse Tage und Nächte. Für alles hatte er zu sorgen, hatte den todkranken Vater zu warten, die Mahlzeiten herzustellen und auch noch das Turmgelaß wohnlicher und gesünder herzurichten.

Die Luft in dem runden Raum, die sich nur durch ein paar Mauerspalten erneuerte, war dumpf und ungesund. Die Hauptschuld hieran trug der feuchte quadratische Keller, der sich unterhalb des runden Gemaches befand und durch dessen offene Treppenöffnung ein wahrer Pesthauch nach oben stieg. Als der Knabe dies erst erkannt hatte, nagelte er einen Deckel aus den Kistenbrettern für die Öffnung zusammen und verstopfte diese noch dichter durch aufgeschüttete Erde. – –

Fritz war zuweilen der Verzweiflung nahe, besonders wenn der Vater, völlig erschöpft nach einem neuen Fieberanfall, ganz regungslos dalag und kaum merklich atmete.

Aber auch diese Zeit der Prüfung ging vorüber. Fritz hatte in diesen Tagen bewiesen, daß er ebenso umsichtig und erfinderisch wie auch von zärtlichster Liebe für den Vater erfüllt war.

Dann hatte Herr Kriberg die erste Stunde vollen, klaren Bewußtseins. Leise drückte er immer wieder die Hand seines wackeren Jungen.

Nun hatte Fritz nur einen Gedanken: für den Genesenden kräftige Nahrung zu beschaffen …! Dies konnte er aber nur, wenn er sich recht bedenklichen Gefahren aussetzte. Seit zwei Tagen war in dem Städtchen nämlich auch russische Infanterie einquartiert, und nächtliche Truppendurchzüge hatte der Junge auf der nahen Kreischaussee wiederholt beobachtet.

Am Abend des achten Tages brach er dann bereits gegen zehn Uhr zu einem Streifzug nach einem eine halbe Meile entfernten, inmitten von Torfmooren gelegenen kleinen Dorfe auf. Dort hoffte er nahrhafte Dinge zu erbeuten und nahm daher außer seinem Rucksack auch sein Bowiemesser und seinen Tomahawk mit.

Dem Vater sagte er nicht, was er beabsichtigte. Er fürchtete, dieser könnte ihm den Gang verbieten. Er erklärte daher, er wolle nur wieder einen Vorrat von Kohlrüben und Kartoffeln einholen.

Herr Kriberg warnte Fritz, ja recht vorsichtig zu sein, worauf der Knabe meinte, er würde heute wohl etwas länger fortbleiben, da er gleich eine ordentliche Menge Feldfrüchte besorgen wolle.

Geübt in lautlosem Dahinschleichen und ausgerüstet mit ebenso erprobten Sinnesorganen, gelangte Fritz nach einer Stunde etwa auf nur den Landeskindern bekannten Pfaden durch das Torfmoor wohlbehalten bis zu den ersten Hütten des Dorfes. Er hörte einen Hund kläglich heulen, hörte auch das dumpfe Brüllen von Rindern. Das Dorf war ja fraglos längst von den Bewohnern verlassen. Aber – ob es nicht vielleicht feindliche Einquartierung beherbergte …?!

Sehr langsam wagte Fritz sich in die Dorfgasse hinein, blieb immer wieder stehen und lauschte, ließ die Augen über die Umgebung hinschweifen, prüfte jeden verdächtigen Gegenstand und kam so Schritt für Schritt bis zu der kleinen Kirche.

Nirgends ein Lichtstrahl, nirgends ein erleuchtetes Fenster. – Aber er bemerkte auch nichts, was auf einen feindlichen Besuch hingedeutet hätte. Die Türen der niedrigen Häuschen waren sämtlich offen. Die Dörfler hatten ihre Heimat sicherlich in größter Eile verlassen unter Preisgabe ihrer gesamten Habe, wahrscheinlich in der Angst vor einem plötzlichen Erscheinen der gefürchteten Kosaken.

Fritz durchwanderte das ganze Dorf. Nirgends eine menschliche Seele! – Nun drang er durch ein Hinterfenster in ein Häuschen ein, fand beim Lichte von ein paar Streichhölzern in der Küche eine Laterne und ging dann nacheinander in sämtliche Stallungen, um das bereits halb verhungerte Vieh ins Freie zu treiben, wo es allein weiter für sich sorgen konnte. Bei dieser Arbeit, die seinem tierliebenden Herzen alle Ehre machte, stellte er fest, daß die Bewohner doch wohl die wertvollsten Stücke mitgenommen hatten. Immerhin befreite er noch gegen vierzehn Kühe, ein Dutzend Schweine und viel Federvieh aus der Hungerhaft.

Dann durchsuchte er, nachdem drei Hühner einen schnellen Tod gestorben waren, die Hütten nach Lebensmitteln. Viel fand er nicht mehr. Aber immerhin genug, um mit dem Ergebnis dieses Streifzuges zufrieden sein zu können.

Erst gegen drei Uhr morgens langte er, auf dem Rücken den schweren Rucksack und in jeder Hand einen Korb, vor der Ruine an. Bevor er aber in das Turmgemach hinabzuklettern wagte, legte er seine Bürden in einem Gebüsch nieder, um sich zu überzeugen, ob auch nicht etwa ein Feind in der Nähe sei.

Zu seinem Glück war er nicht leichtsinnig in die Ruine eingedrungen! Als er gerade um eine Mauerecke des kaum mehr als solcher zu erkennenden Innenhofes der einstigen Ordensburg einbog, bemerkte er drei russische Infanteristen, die regungslos wie die Bildsäulen dastanden und nach Osten starrten. Wirklich statuengleich standen sie da, auf ihre Gewehre gelehnt, deren Bajonette matt blitzten.

Fritz war der Weg nach jener Außenmauer versperrt, an der das Tau zu dem Tunnel hinabführte. Er mußte warten. Und er hätte es auch ganz geduldig getan, wenn er nicht durch den Gedanken an seinen Vater gepeinigt worden wäre, der sich fraglos seinetwegen die größten Sorgen machen würde.

Die drei Russen regten sich kaum. – Die Morgendämmerung kam – jenes fahle Licht, das alles in eine fast unheimliche Beleuchtung taucht.

Fritz lag lang auf dem Bauch in einem dichten Gestrüpp.

Jetzt tauchte im Osten die Sonne auf. Die ersten Strahlen des Tagesgestirns vergoldeten die Spitzen der Bäume.

Die drei Soldaten hatten die Gewehre schnell zu Boden gelegt und die Arme hoch über den Kopf gen Himmel gereckt. Einer von ihnen begann zu plappern, – es klang, als ob jemand ein Gedicht herunterleierte. Dann beugten sie sich tief nieder, richteten sich auf, wiederholten diese Bewegung siebenmal mit abgemessener Feierlichkeit. Inzwischen ging das Mundwerk des einen weiter wie eine schnurrende Kinderwindmühle.

Fritz kam plötzlich die Erleuchtung für dieses sonderbare Verhalten: es waren Sonnenanbeter, auch Untertanen des Riesenreiches Rußland, Leute von der persischen Grenze sicher … Der, der sich im Schnellsprechen zu üben schien, war wohl daheim so etwas wie Priester gewesen, bevor man ihn zum Dienst für Väterchen Zar preßte.

Schweigend hoben die drei gleich darauf ihre Gewehre auf und verließen die Ruine.

Der Weg war frei. – –

Herr Kriberg war wirklich schon in größter Angst um seinen braven Jungen gewesen. Als dieser nun aber reichbeladen und ob all der erbeuteten Lebensmittel in froher Stimmung erschien, als er hörte, was Fritz gewagt hatte, nur um den Vater durch kräftige Kost schnell wieder gesund zu machen, da nahm er ihn in seine Arme und küßte ihn in heißer Rührung. –

Nachdem der mutige Junge die versäumte Nachtruhe nachgeholt hatte, versuchte er einen Kochherd zu bauen, dessen Rauchfang er bis an die größte der Mauerspalten zu leiten gedachte. Diese führte nach außen nach dem See hin, und gerade über ihr auf dem Mauerrand wucherte, wie Fritz bereits festgestellt hatte, ein Dornendickicht, das sich breit in die Ruine hineinzog, so daß niemand recht herausmerken konnte, woher der Rauch kam, der nach Fertigstellung des Kamins nachts der Mauerspalte entquellen würde.

Als Bindemittel für die Steine, die er zum Bau des Herdes benutzte, verwandte Fritz einen grünbraunen Ton, der sich unweit des Kanals auf einer kleinen Sandbank abgelagert hatte. Kamin und Rauchfang gelangen so gut, daß der Knabe gleich am Abend nach Eintritt der Dunkelheit die erste Mahlzeit auf dem neuen Ofen zubereitete, und zwar kochte er für den Vater eines der drei in jenem Dorfe geschlachteten Hühner. –

Herr Kriberg erholte sich nun im Laufe von einer Woche so gut, daß er Fritz schon gelegentlich bei den nächtlichen Fahrten in einem der Rindenkähne begleitete.

Der Knabe hatte nämlich inzwischen gemerkt, daß Ausflüge zu Wasser bedeutend ungefährlicher waren als solche zu Lande. Und das Wiederflottmachen der versenkten Kanus war keine große Arbeit.

 

3. Kapitel.

Verfolgt.

Es kamen Nächte, in denen die beiden Turmbewohner von ihrem Nachen aus in der Ferne das dumpfe Dröhnen von Artilleriefeuer hörten, in denen bange Sorge um das Schicksal ihrer Heimatprovinz ihr Herz bedrückte.

Abgeschnitten von aller Welt, umgeben von Feinden, die in Herrn Kriberg einen gefährlichen Spion sahen, der seine Geschäftsreisen nach Rußland angeblich nur zu Spionagezwecken benutzt haben sollte, wußten sie nichts von dem Verlauf der ersten Kämpfe, ahnten nicht, wie es um das geliebte Vaterland stand.

Mittlerweile hatten die in der Stadt liegenden Truppen größtenteils recht häufig gewechselt. Nur ein zwanzig Mann starkes Etappenkommando blieb ständig, ältere Leute, die zum russischen Landsturm gehörten. Sie waren bequem, verließen kaum die nächste Umgebung des Städtchens, und kamen selbst am Tage nur selten nach der Halbinsel.

Anders war es mit den durchziehenden Truppen, die oft einen Tag oder mehrere Stunden in Bramberg Rast machten. Die schönen Spätsommertage lockten häufig naturliebende Soldaten nach dem Seeufer und der Ruine, auch viele, die in den klaren Fluten ein Bad nehmen wollten.

Im ganzen blieben unsere beiden Einsamen also so ziemlich unbelästigt. Trotzdem mußten sie ständig auf ihrer Hut sein. Ein blinder Zufall konnte die Leute des Etappenkommandos darauf aufmerksam machen, daß in der Ruine Deutsche hausten. Die Folgen wären nicht auszudenken gewesen.

So gingen vierzehn Tage hin. – Es war nicht allein die Sorge um das Wohl des Vaterlandes, die den beiden Deutschen trübe Stunden bereitete. Noch etwas anderes ließ besonders Herrn Kriberg nie zur Ruhe kommen. Seine Gedanken weilten so und so oft bei seiner Frau. Wie würde die Ärmste sich sorgen um das Ergehen des Gatten und des einzigen Kindes …! – Und wie mochte es um ihre Gesundheit, ihre Gemütsstimmung bestellt sein …?! – – Das waren schwere, schwere Gedanken, die wie dunkle Raben um das Haupt flatterten … – –

Lautlos glitt das Rindenboot über den dunklen See. Fritz ruderte; Herr Kriberg saß im Stern des kleinen Fahrzeugs.

Sie kamen von der anderen Seite, wo eine tiefe Bucht weit in das Land einschnitt. Dort hatte Fritz in einem unzugänglichen Waldstück vor einigen Tagen ein paar Kühe entdeckt, die dorthin aus irgendeinem Dorfe geflüchtet waren und nun ein ebenso verborgenes Dasein führten wie die beiden Kribergs. Fritz hatte die Kühe jede Nacht gemolken, und auf diese Weise versorgten die Turmbewohner sich mit Fett, da der Knabe mit erfinderischem Sinn eine primitive, aber recht brauchbare Buttermaschine hergestellt hatte.

Vorn in dem Nachen standen zwei große Blechkannen voll Milch. Die Kannen stammten aus einem verlassenen Gehöft und waren die Beute eines der wenigen Streifzüge über Land, die Fritz noch unternommen hatte.

Der Himmel war bedeckt. Die Dunkelheit lag wie ein grauschwarzer Mantel über dem See. Leise gluckste das Wasser an den Bordwänden des schnellen Fahrzeugs, vorsichtig tauchte Fritz die Ruder ein, die sich nicht in Dollen, sondern in Schleifen aus Hanf bewegten und kaum ein Geräusch hervorriefen.

Dort drüben mußte Bramberg liegen. Aus dem Dunkel schimmerte ein einsames Licht herüber. Von der Stadt selbst war nichts zu sehen. Tiefe Stille ringsum. Hoch oben strich ein Zug Wildgänse vorüber, deren seltsames Pfeifen wie überirdische Laute durch die Nacht drang.

Es war angenehm warm und ganz windstill. Flüsternd tauschten Vater und Sohn hin und wieder eine Bemerkung aus. Aber Herr Kriberg gab auch scharf auf die Umgebung acht, obwohl man kaum hundert Schritt im Umkreis notdürftig die Wasserfläche überschauen konnte.

Von weither, von Nordwest, plötzlich dumpfe Knalle – Kanonenschüsse …!

„Wieder zerfleischen sich Menschen im Blutrausch um Englands willen“, meinte Herr Kriberg. „Fritz – so alt Du auch wirst, – vergiß diese Stunde nicht! Gerade so einsame Stunden mit einem Schweigen, das die Gedanken desto lebhafter vorwärts jagt, prägen sich am tiefsten ein. Vergiß England nicht! Mögen sie nach dem Kriege auch wieder mit gleißnerischen Zungen um unsere Freundschaft buhlen, diese Inselbewohner, die fast eines Stammes – welche Schmach! – mit uns sind, – laß Dich nicht umgarnen, erhebe, wenn Du ein Mann bist, Deine Stimme und rufe: „Ceterum censeo, Britanniam esse delendam!“ – Du weißt, wer es gewesen, der seinen Mitbürgern diese Sätze stets aufs neue zurief, – ein großer Römer, der freilich statt Britanniam Karthaginem sagte …! England wird stets unser Feind bleiben. Ein Nebeneinander für uns und jene gibt es nicht. Entweder wir oder sie!“ (Ceterum usw.: „Im übrigen meine ich, England müßte vernichtet werden!“)[1]

Fritz fühlte die Bedeutung der Stunde. Der Vater war stets ein so ruhiger, kühl abwägender Geist. Jetzt eben aber hatte seine Stimme ein Haß durchzittert, der die tiefsten Tiefen seiner Seele aufrührte …

Am Seeufer hatten sie vorgestern eine weggeworfene Petersburger Zeitung gefunden. Daraus hatte Herr Kriberg wenigstens etwas erfahren: daß ein von England seit Jahren vorbereiteter Vernichtungskrieg gegen Deutschland begonnen hatte …! – Er las es zwischen den Zeilen. Er hatte im Geiste das arme betörte Rußland bedauert, das sich aus ähnlichen Gründen an diesem Kesseltreiben beteiligte, wie seinerzeit Napoleon 3. den Krieg 70-71 gegen Deutschland vom Zaune brach: um der inneren Unruhe des Staates nach außen hin durch ein mörderisches Ventil, den Krieg, Abzug zu verschaffen.

Fritz merkte, daß der Vater seinen Gedanken nachhing und weniger als bisher auf die Umgebung acht gab. Daher ließ er das Rindenboot treiben und übernahm selbst eine Weile das Amt des Wächters.

Zum Glück für beide …

Ein dunkler Fleck tauchte auf – da vorn, wo die graue Wasseroberfläche in die Dunkelheit unmerklich überging wie eine Horizontlinie bei Nebel …

Der Fleck bewegte sich. Er hatte für Fritz etwas Unheimliches, Drohendes an sich. Es konnte nur ein Boot sein – und die Insassen nur Feinde – – Russen – Soldaten …!

Er griff zu den Rudern, tauchte sie leise ein, zog mit aller Kraft durch …

Mit einem Ruck schoß der Rindenkahn vorwärts, machte beinahe einen Sprung wie ein Tier, das sich zur Flucht wendet …

Die eine Milchkanne stieß klappernd gegen die andere. Und der in Gedanken versunkene Herr Kriberg beugte unfreiwillig den Oberkörper nach rückwärts.

Über das stille Wasser kam ein Ruf – ein russisches Wort …: „Halt! – Halt!“

Fritz gab dem kleinen, leichten Fahrzeug eine andere Richtung, ruderte mit zusammengepreßten Lippen. Jede Muskel seines Körpers spannte sich …

Der Kahn glitt schnell durch den ruhigen See …

Wieder ein Anruf: „Halt – oder wir schießen! – Halt – wer da?!“

Gleich darauf der erste Schuß.

Vater und Sohn hörten nicht mal die Kugel pfeifen.

„Laß mich rudern, Fritz“, flüsterte Herr Kriberg.

„Ich – bin – geübter, Vater!“ stieß der Knabe keuchend hervor …

Wieder ein Schuß – noch einer – noch einer …

Fritz lachte spöttisch auf.

„Munitionsverschwendung, Vater!“

Der dunkle, große Fleck, der dem Rindenboote folgte und aus dem jetzt immer wieder ein Feuerblitz aufzuckte bei jedem Gewehrschuß, wurde undeutlicher. Die Russen blieben zurück … –

Ein splitterndes Knacken … – Fritz stieß einen unterdrückten Angstruf aus: das eine Ruder war gebrochen …

Herr Kriberg beugte sich weit vor.

„Gib mir das andere Ruder. Ich werde wricken.“ (Mit einem Ruder vom Stern aus rudern.) Seine Stimme war ganz heiser.

Fritz reichte es ihm. Dann saß er eine Weile in sich zusammengesunken da. Er sann und sann. Sollte dies wirklich ihre letzte Fahrt sein …?! Sollte der Feind triumphieren. Gab es keine Rettung …?!

Die Schüsse hatten eine Weile aufgehört. Jetzt begannen sie wieder …

Peng – peng – peng, peng, peng …

Ein paar Kugeln fuhren mit warnendem sitt – sitt über die Köpfe der Flüchtenden hinweg.

Fritz goß plötzlich zum Erstaunen des Vaters die Milch aus den Blechkannen, die dichte Verschlüsse hatten, in den See …

Dann ein paar Worte der Aufklärung zum Vater hinüber.

Beide, jeder auf einer Seite, glitten über Bord ins Wasser, gaben dem Kahn, nachdem sie noch die Milchkannen herausgehoben hatten, einen kräftigen Stoß, schwammen dann, die leeren Blechgefäße mit sich ziehend, aus der Fahrtrichtung heraus …

Das Boot der Verfolger glitt an ihnen vorbei.

Die Russen sahen sich umsonst nach dem Nachen um. Er war verschwunden, – – denn Fritz hatte die Bordwand mit dem Tomahawk an verschiedenen Stellen durchlöchert, so daß das Rindenboot bis an den Rand sich schnell mit Wasser gefüllt hatte …

Die beiden Deutschen schlugen jetzt, nachdem sie die leeren Gefäße wie Schwimmblasen unter sich befestigt hatten, die Richtung nach der Ruine ein.

Das feindliche Boot begegnete ihnen nicht wieder. Wenn sie die Milchkannen nicht als Schwimmgürtel gehabt hätten, wären sie nie mit den voll Wasser gesogenen Kleidern an Land gelangt. So aber kamen sie glücklich in den Kanal unter dem alten Gemäuer hinein, sanken dann erschöpft auf ihre Lagerstätten und schliefen sofort ein …

Fritz träumte aufregende Dinge in dieser Nacht.

 

4. Kapitel.

In der Apotheke.

Als die schmalen Streifen des Tageslichts schon längst durch die Risse der Mauer sich hindurchstahlen, erwachte der Knabe, erhob sich, zündete die Petroleumlaterne an und sah nach der Uhr.

Neun Uhr vormittags bereits …! – Ja, die Schwimmtour hatte sie beide doch recht müde gemacht! Der Vater schlief noch so fest, pustete und schnarchte leise …

Fritz setzte den Morgenimbiß aufs Feuer, nachdem er Holzstückchen im Herde zu hellen Flammen entfacht hatte. Vorher hatte er sich überzeugt, daß es draußen regnete. Dann durfte man es auch am Tage wagen, sich eine warme Mahlzeit zuzubereiten.

Während er eifrig mit dem Aufräumen des Turmgelasses beschäftigt war, das ihnen sowohl als Wohn- und Schlafraum als auch als Küche diente, überlegte er sich die Folgen, die das nächtliche Abenteuer nach sich ziehen könnte. Er verhehlte sich nicht, daß ihre Lage jetzt weit gefährlicher als bisher war. Die Russen, einmal aufmerksam geworden auf Deutsche, die noch hinter den Linien der Kämpfenden hier im Grenzgebiet zurückgeblieben waren, würden jetzt fraglos alles daran setzen, diese Leute aufzustöbern. Man mußte fortan also doppelt vorsichtig sein! Hierdurch aber würde die Lebensmittelbeschaffung nicht unwesentlich erschwert werden.

Es waren also keine angenehmen Gedanken, die den Kopf des wackeren Jungen durchkreuzten. Seine eigene Person trat dabei völlig in den Hintergrund. Er dachte nur an das Wohlergehen des geliebten Vaters.

Häufig schaute er zu diesem hinüber. Herr Kriberg schlief noch immer, obwohl Fritz bei seiner Arbeit nicht alle Geräusche vermeiden konnte.

Dann packte den Knaben plötzlich eine unbestimmte Angst. Der tiefe Schlaf des Vaters kam ihm unnatürlich vor. Sollte etwa der lange Aufenthalt im Wasser dem Vater geschadet haben?! Sollte es halbe Bewußtlosigkeit und kein erquickender Schlummer sein …?! –

Er nahm die Lampe und beugte sich über den jetzt unruhig sich hin und her Werfenden.

Jetzt erst bemerkte er die im Fieber förmlich glühenden Wangen, das stoßweise Atmen …

Abermals also erhob sich das graue Gespenst einer ernsten Erkrankung vor ihm. Abermals würden Tage peinvoller Angst vorüberschleichen, würde zu der Unsicherheit ihrer Lage noch die Furcht vor dem unerbittlichen Sensenmann hinzukommen, der schon einmal neben diesem Lager gestanden hatte.

Einen Augenblick packte den Knaben tiefe Mutlosigkeit. Dann aber regte sich in ihm das Verantwortlichkeitsgefühl. Wenn er kleinmütig wurde und verzagte, – was sollte dann wohl werden?! – Er wurde wieder ruhiger. Er dachte an Gott, der ihn bisher auf einsamen Pfaden beschützt hatte. Im Gebet fand er Trost und Stärkung.

Gegen Mittag begann Herr Kriberg zu phantasieren. Alle kalten Umschläge halfen nichts … Der Kranke erkannte seinen Sohn nicht mehr. Sein fiebererhitztes Hirn beschäftigte sich zumeist mit der Verhandlung vor dem russischen Standgericht, mit der Anklage wegen Spionage. Wild schrie er immer wieder: „Ich bin kein Spion … Ich habe die mir erwiesene Gastfreundschaft nie verletzt …!“

Fritz war völlig ratlos. Verzweifelt saß er neben dem Lager des Vaters. Er wußte nicht, wie er helfen sollte. Er hatte noch keinen Bissen zu sich genommen. Alles war ihm gleichgültig, was ihn selbst anging.

Das Herdfeuer war längst wieder erloschen. Der Regen hatte auch aufgehört. Draußen schien die Sonne wieder.

Durch eine besonders breite Mauerspalte hatte Fritz vorhin auf den See hinausgeblickt, hatte gesehen, wie die Russen das mit Wasser gefüllte Rindenboot fanden und nach der Stadt schleppten.

Nach der Stadt …! – Er dachte jetzt immerfort an Bramberg, an die Apotheke, an die wenigen Einwohner, die in dem Städtchen noch zurückgeblieben waren.

Die Apotheke …! – Da gab es einen alten, grauhaarigen Provisor, einen Sonderling, den viele seiner Seltsamkeiten wegen für nicht ganz zurechnungsfähig hielten. Der war auch nicht mit geflohen, sondern wollte für den Besitzer der Apotheke diese bewachen und in Ordnung halten.

Heberlein hieß er. – Heberlein war selbst ein halber Arzt. Wenn Fritz den sprechen könnte …!

Der Abend kam. Herr Kriberg lag jetzt in todesähnlicher Erschöpfung da. Fritz legte ihm eine neue Kompresse auf die Stirn, stellte neben die Lagerstatt ein Gefäß mit Trinkwasser und verließ den Turm auf dem verborgenen Wege durch den Wassertunnel.

Die Nacht war dunkel, warm und gewitterschwül. Über den westlichen Horizont lief hin und wieder ein heller Schein hin: Wetterleuchten. –

Fritz war jetzt bereits in Wahrheit berechtigt, den Namen Unkas zu führen. Früher gegenüber den eingebildeten Gefahren der Indianerspiele hatte er eine Geschicklichkeit im Anschleichen und eine Verschlagenheit bewiesen, die nun die Grundlage bildeten für seine jetzige Kaltblütigkeit und abwägende Klugheit wirklichen Fährlichkeiten[2] gegenüber.

Wie er so durch das Dunkel der Nacht dahinglitt wie ein Schatten, alle Sinne gespannt, zusammengeduckt gleich einem sprungbereiten Raubtier, das jeden Augenblick einen Feind zu wittern fürchtet, war er nicht mehr das spieleifrige Kind, sondern der bereits zum zielbewußten Jüngling herangereifte, stets schon weit über seine Jahre hinaus reife Knabe.

Auf allerlei Schleichwegen gelangte er in den Hof der Apotheke. Das Fenster des kleinen Laboratoriums war erleuchtet. Dahinter hantierte Herr Roderich Heberlein, füllte gerade aus einer riesigen Glasflasche in ein irdenes Gefäß eine wasserklare Flüssigkeit.

Fritz bemerkte zu seinem stillen Grauen, daß Heberlein seine Arbeit mit lauten Selbstgesprächen und häufigem höhnischem Auflachen begleitete. Ebenso war das Gesicht des alten, wunderlichen Provisors zu einer wahren Teufelsfratze verzerrt, während seine Augen in unheimlichem Glanze leuchteten.

Nachdem der Knabe festgestellt hatte, daß sich in dem Hause augenblicklich keine Russen befanden, pochte er leise an die Scheibe …

Heberlein faßte sofort unter den Holztisch. Seine Hand kam mit einem Revolver zum Vorschein. Seine Blicke musterten das Fenster argwöhnisch. Dann erkannte er Fritz Kriberg, den er stets sehr gern gehabt hatte, weil der Junge ihn nie durch lose Streiche geärgert hatte. Er winkte Fritz zu, schloß die Tür des Laboratoriums auf und ließ ihn eintreten.

„Wo kommst Du her?!“ fragte er zerstreut, indem er sich seiner Arbeit sofort wieder zuwandte. Plötzlich lachte er schrill auf: „Ah – weiß schon, weiß schon! Du hast Deinem Vater damals aus dem Sitzungssaal zur Flucht verholfen – natürlich! Feiner Streich, – macht Dir Ehre! Aber ich bin doch noch schlauer …“ Er kicherte wie ein Teufel. „Noch viel schlauer! Mein Streich wird noch besser wirken …!“ Abermals das schreckliche Kichern …

Da sah Fritz ein, daß er einen Wahnsinnigen vor sich habe.

Am liebsten wäre er sofort wieder davongelaufen. Aber die Angst um das Leben des Vaters hielt ihn doch zurück.

Als er nun Heberlein den Zustand des Vaters schilderte, benahm der Provisor sich jedoch ganz verständig, bereitete ihm einige Pulver und eine Medizin, schrieb ihm noch auf, wie der Kranke bei bestimmten Krankheitserscheinungen behandelt werden solle, und bewies daß er in dieser Beziehung seine fünf Sinne noch vollständig beieinander hatte.

Kaum war diese Angelegenheit aber erledigt, als sich irgendeine wahnwitzige Idee seiner wieder vollständig bemächtigte.

Mit heiserem Kichern führte er Fritz an den Laboratoriumstisch und zeigte ihm das große Gefäß.

„Zweimal habe ich für die Russen Schnaps brauen müssen!“ flüsterte er. „Jetzt erhalten sie den dritten Liebestrank … Er wird ihnen gut bekommen! – Sieh dies Gläschen. Es enthält ein Gift. Es genügt für das ganze Etappenkommando! – Feiner Gedanke, wie?! Zwei Dutzend Russen weniger – –, hi, hi, hi! Feiner Gedanke! Der Schnaps wird erst nach zwölf Stunden wirken …! Dann werden sie alle umfallen wie die Fliegen nach Fliegengift …!“

Fritz grauste es. Schnell verabschiedete er sich und eilte der Ruine wieder zu.

 

5. Kapitel.

Des Feindes Dankbarkeit.

Fritz fand den Vater in tiefer Bewußtlosigkeit auf dem Lager. Nur schwer gelang es ihm, dem Kranken zwei der Pulver und nach einer halben Stunde auch die Medizin einzugeben.

Dann saß er vor sich hin brütend da und wartete die Wirkung der Medikamente ab. Heberlein hatte gesagt, daß, wenn der Patient nach zwei Stunden in einen wohltätigen Schweiß verfalle, auf schnelle Besserung zu rechnen sei.

Fritz dachte immer wieder an den alten Provisor. Er glaubte nicht recht, daß Heberlein wirklich beabsichtigte, die Russen zu vergiften.

Je länger er sich aber die Szene im Laboratorium vergegenwärtigte, je mehr er sich Einzelheiten im Benehmen des Provisors ins Gedächtnis zurückrief, desto unsicherer wurde er, ob Heberlein nicht wirklich etwas Furchtbares plante. Gleichzeitig überkam ihn das Gefühl, doch eigentlich der Mitschuldige an diesem Meuchelmorde zu sein! – Gewiß, es handelte sich um die Tat eines Unzurechnungsfähigen, aber seine Schuld als Mitwisser wurde dadurch nicht geringer.

Diese Gedanken ließen ihm keine Ruhe. Er sagte sich, es sei seine Pflicht, die Russen zu warnen. Aber – er sagte sich auch, daß er einen Landsmann damit verriet, den die Russen vielleicht erschießen würden, ohne sich darum zu kümmern, daß sie einen Kranken vor sich hätten.

Ein böser Zwiespalt der Empfindungen!!

Er wurde mit sich nicht einig. – Dann sah er die ersten Schweißperlen auf des Vaters Stirn, merkte, daß dessen Atemzüge ruhiger wurden, daß die krankhafte Röte des Gesichts sich verlor, daß der Puls langsamer ging.

Unwillkürlich faltete er die Hände, dankte Gott in heißem Gebet.

Wieder fiel ihm da Heberlein ein, der vergiftete Schnaps, – die ahnungslosen Feinde, die Opfer! Es waren Feinde, gewiß! Aber doch Menschen, die nur den Befehlen ihrer Vorgesetzten gehorcht hatten, die nicht ahnten, daß sie lediglich auf Englands Geheiß in Deutschlands friedliche Gefilde den Krieg hineintragen mußten!

Fritz hielt es nicht länger in dem Turmgemach aus. Irgend etwas mußte geschehen! Was – das wußte er noch nicht. Aber er konnte niemals dulden, daß dieser Massenmord ausgeführt wurde. Es würde ihm schon noch etwas einfallen – ein glücklicher Gedanke – zur rechten Zeit.

Der Morgen graute bereits, als er sich vorsichtig an dem Tau nach oben auf die Außenmauer schwang. Wie immer blieb er erst noch eine Weile hinter den Brombeerbüschen liegen und vergewisserte sich, ob auch alles ringsum frei von Feinden war. Dann sah er, daß dicht unterhalb der Ruine an einer sandigen Uferstelle zwei russische Offiziere sich gerade anschickten, ein Morgenbad zu nehmen. Er kroch bis zum Rande dieser Mauer, verbarg sich sorgfältig und rief dann auf deutsch hinab:

„Versteht einer der Herren deutsch?“

Die Offiziere griffen sofort zu ihren Pistolen, musterten mißtrauisch das Gestrüpp oben auf der Ruine und flüsterten miteinander. Dann erwiderte der eine:

„Ich verstehe deutsch. Wer ist dort?“

„Jemand, der Sie warnen möchte, der zufällig davon Kenntnis erhalten hat, daß gegen Sie von einem Geistesgestörten ein Anschlag vorbereitet worden ist, ein sehr gefährlicher Anschlag sogar. Wenn die Herren mir auf Ihr Offiziersehrenwort versprechen, den Geisteskranken zu schonen, so will ich Ihnen alles sagen.“

Der eine der Offiziere war der Kommandeur des Etappenbezirks Bramberg und Umgegend, – ein älterer graubärtiger Herr im Range eines Oberst. Er gab die geforderte Versicherung ab. Und gleich darauf eilten beide der Stadt wieder zu. Die Sonne war soeben aufgegangen. Sie kamen daher wohl kaum zu spät.

Fritz kehrte in das Turmgemach zurück. – Herr Kriberg war bei vollem Bewußtsein, aber noch sehr schwach. Als Fritz ihm erzählte, was er soeben zur Rettung der Russen getan hatte, belobte ihn der Vater. Es sei Christenpflicht, das Vernichtungswerk eines Wahnsinnigen zu hintertreiben, und er sei ganz damit einverstanden, daß Fritz die Russen gewarnt habe.

Sehr bald schlief Herr Kriberg wieder ein. Mittags erwachte er, aß etwas, erhielt ein Pulver und verfiel wieder in Schlaf.

Fritz hatte nun Zeit, sich oben umzusehen. Mit größter Vorsicht kletterte er aus dem Tunnel auf die Mauer. Die Ruine war leer. Aber – – unten am Seeufer saßen wieder die beiden russischen Offiziere, rauchten Zigaretten und tauschten hin und wieder ein Wort aus. Des öfteren schauten sie auch nach dem Gestrüpp empor, in dem Fritz schon am Morgen gelegen und wo er auch jetzt wieder sich verborgen hatte.

Der Knabe rief sie nach einer Weile an. Schon aus den ersten Worten der Russen erkannte er, daß sie nur zu dem Zweck sich hier wieder eingefunden hatten, um abermals mit ihm zusammenzutreffen.

Der Oberst erklärte, sie seien Fritz zu großem Dank verpflichtet. Der Provisor habe tatsächlich Gift in den Schnaps getan und sei fraglos bei Begehung dieser Vorbereitungen zu einem Massengiftmord irrsinnig gewesen, was er jetzt auch dadurch bekundet habe, daß er in einem Anfall von Tobsucht sich aus dem Fenster des Zimmers, in dem er vernommen wurde, herausgestürzt und dabei lebensgefährliche Verletzungen davongetragen habe. Er sei nicht mehr zu retten, da die Wirbelsäule schwer beschädigt sei.

Der Oberst forderte Fritz dann auf, sich zu zeigen, indem er ihm freies Geleit durch die russischen Linien ehrenwörtlich zusicherte.

Nach längerem Hin und Her vertraute sich Fritz, indem er zu den Offizieren nach dem Seeufer hinabging, dem Oberst an, war aber doch so vorsichtig anzudeuten, daß er mit dem Vater drüben am anderen Ufer in einem Versteck hause.

Der Oberst versprach ihm dann, er wolle von dem russischen Oberkommando einen Passierschein für die beiden Deutschen erwirken. Er bewies, daß er die Warnung des Knaben richtig einschätzte und daß er sich erkenntlich zeigen wollte. Fritz sollte sich nach drei Tagen morgens in der Ruine wieder einfinden. – –

Die drei Tage genügten, um Herrn Kriberg so weit wieder herzustellen, daß er sein Lager verlassen konnte. Am Morgen des vierten Tages waren die beiden Offiziere wieder zur Stelle und brachten einen Passierschein mit, der sogar die Unterschrift eines Großfürsten trug.

Auch Herr Kriberg verließ nun den Schlupfwinkel in der Ruine und wurde von dem Etappenkommandeur gleichfalls sehr freundlich begrüßt.

„Ihre Angelegenheit ist nachgeprüft“, erklärte er. „Die Briefe, die Sie der Spionage zu verdächtigen schienen, haben sich bei genauer Durchsicht als harmlos herausgestellt.“ – Er reichte Herrn Kriberg die Hand und sorgte dann dafür, daß Vater und Sohn sich zunächst noch eine Woche in dem Kribergschen Hause in Bramberg erholen konnten.

Nachher wurden ihnen als Eskorte ein gebildeter Unteroffizier und zwei Mann mitgegeben. In einem Wagen ging es die Chaussee nach Königsberg zu. Überall wurden die beiden Deutschen sehr höflich behandelt. Stand doch auf dem Passierschein genau angegeben, weshalb sie freies Geleit erhalten hatten. Und aus ihrer Dankbarkeit machten die Russen kein Hehl.

Wohlbehalten gelangten die beiden auch durch die Vorpostenlinie. Auf deutscher Seite staunte man nicht wenig, als Herr Kriberg ihre Erlebnisse erzählte. Fritz wurde wie ein Held gefeiert.

Am nächsten Tage war die Familie in Königsberg wieder vereint. Weinend schloß die Mutter die glücklich Geretteten in ihre Arme. –

Das ist die Geschichte von Unkas, dem Häuptling der Mohikaner. Sie zeigt, was auch ein kleiner Bursche zu leisten vermag, wenn er nur das Herz auf dem rechten Fleck hat.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. Siehe auch Wikipedia: „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam“.
  2. Gefahren.