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Die blonde Geisha

 

 

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Bibliothek der besten Romane

 

Band 380 (Band 12)[1]

 

Die blonde Geisha

 

Roman von

Willi Belka

 

Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H.
Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1928 by Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die alte Heimat.

Karl Schrock legte den Hobel hin und betrachtete kritisch das Brett, das er soeben behobelt hatte. Er seufzte tief auf. Die Arbeit machte ihm seit Monaten keine rechte Freude mehr. Er litt unter dem Unheil, das über das deutsche Vaterland gekommen. Hier in der westpreußischen Grenzstadt gab es für Karl Schrock noch etwas, das sein Herz schwer bedrückte: die alte Heimat Westpreußen war verloren gegangen an die – verdammten Pollacken, an dies falsche, heimtückische Gesindel, das jetzt schon, noch bevor der Friedensvertrag es ihnen gestattete, das Land überschwemmte, sich überall als Herren aufspielte und alle die schikanierte und drangsalierte, die ihr Deutschtum mutig bekannten.

Der Meister starrte tief in Gedanken versunken vor sich hin.

Was sollte er tun? Was wohl? Sollte er wirklich das Städtchen verlassen, in dem er aufgewachsen, in dem seine Eltern und Großeltern gelebt hatten, mit dem ihn tausend Bande vielfacher Erinnerungen verknüpften?! Sollte er der Heimat den Rücken kehren und anderswo sein Glück versuchen? Er – ein Fünfzigjähriger, der auch nicht zu den Gesündesten und Kräftigsten gehörte und den das böse Asthma so oft quälte?!

Ja – geraten hatten es ihm viele, die’s gut mit ihm meinten. Und viele waren schon geflüchtet, hatten schleunigst Haus und Hof verkauft und sich über die nahe pommersche Grenze in Sicherheit gebracht.

Meister Schrock hatten mit finsterer Miene und zusammengebissenen Zähnen diese lieben Freunde ziehen lassen, – den Herrn Doktor Helmer, den Rechtsanwalt Würzner, den Brunnenmacher Schielke, den Schlosser Radke – und wie sie alle hießen.

Um ihn her war’s einsam geworden. Was noch im Städtchen jetzt von Deutschen wohnte, verdiente diesen Ehrennamen nicht. Das waren keine Deutschen, das waren jämmerliche Renegaten, die den Mantel nach dem Winde hingen, die jetzt schon so taten, als erhofften sie von der polnischen Herrschaft ein reines Paradies auf Erden.

Oh – es gab genug – übergenug von diesen charakterlosen Gesellen. Übergenug! Wenn sie Meister Schrock jetzt auf der Straße trafen, gingen sie im Bogen um ihn herum. Noch wagte diese Bande sich nicht offen an ihn heran. Sie fürchteten die Schwadron deutscher Reichswehrkavallerie, die drüben im Pommerschen auf den Grenzgütern einquartiert war.

Noch nicht! Aber polnische Truppen sollten ja bereits im Anmarsch sein. Wenn diese uniformierten, fanatischen Banditen hier erst erschienen, dann – dann –

Ja – was würde dann werden – was?!

Meister Schrocks Mienen wurden immer düsterer. Er dachte an sein einziges Kind, seine Irmgard! Mein Gott – hatte er das Mädel vielleicht deshalb etwas lernen lassen, deshalb sie stets wie seinen Augapfel behütet, damit sie nun das Opfer schonungsloser Lüste irgend eines dieser erbarmungslosen, von Volkshaß zu Tieren gewordenen polnischen Soldaten würde?! Wäre es nicht besser gewesen, er hätte mit den Seinen gleichfalls der Heimat Lebewohl gesagt?! War es nicht von ihm eine Art Starrköpfigkeit gewesen, daß er trotz aller Warnungen hier ausharrte? Und – war wirklich auf den polnischen Arzt des Städtchens, den Doktor Szichorski, so viel Verlaß, daß er diesem Leben, Wohl und Wehe der Seinen anvertraute, nur weil der Doktor stets versicherte, er würde die Familie Schrock schützen?

Meister Schrock wurde es heiß vor Sorgen und Gedanken.

Da – sein trüber Blick hellte sich etwas auf. Er hatte einen schlanken Herrn bemerkt, der in seinen glänzenden Lackschuhen über den Hof getänzelt kam.

Der Doktor Kasimir Szichorski! Der eleganteste Mann des Städtchens! Der große Weiberheld!

Der Pole trat ein, nickte dem Meister schon von der Tür freundlich zu, rief in überschwenglich herzlicher Weise:

„Gutten Tag – gutten Tag, mein libber Herr Schrock! – Gutten Tag, – wie geht es Ihnen?“

Er schüttelte Schrock affektiert die Hand.

„Wie befinden sich Frau und Fräulein Tochter? Gutt – gutt hoffentlich! – Erlauben Sie, daß ich nemme Platz ein wennigg? Wir habben uns nicht gesehhen seit vier Tagge.“ Er setzte sich auf einen Schemel. „Vier Tagge ist serr lange Zeit bei heitige Verhältnisse. Oh, was passiert alles in vier Tagge. Man sollte es nicht halten für meeglich! Polnische Truppen – unsere Truppen werdden einricken hier noch disse Nacht. Ja – es passiert serr vill, serr vill. Ich soll hier nun den deitschen Landrat vertretten, – ich, der Doktor Szichorski, und ich habbe keine Ahnung von Verwaltungsgeschäfte. Aber – der Vaterland ruft – und man gehorcht!“

Karl Schrock war wie gelähmt. Die Haller-Truppen[2] kamen –! Das Unheil nahte –!

Szichorskis Mienen verloren den begeisterten, triumphierenden Ausdruck. Seine Augen kniffen sich eng zusammen und musterten heimlich das in tiefen Sorgenfalten liegende Gesicht des Deutschen.

„Es wird zugehhen bei mir serr lebhaft bald,“ fuhr er fort. „Die Offiziere werdden verlanggen, daß ich als Oberhaupt der Stadt ein gastfreies Haus mache. Meine Wirtin hat nun serr wennig Geschick zu empfanggen feine Herren. Mir fehlt eine Damme von Bihldung als Vertretterin der Hausfrau. Da meechte ich bitten Sie nun, libber Meister, daß Sie zuredden Fräulein Irmgard, mir zu helfen bei die Bewirtung der Gähste – als meine Hausdamme. Meister –“

Wieder schielte er nach Schrocks Gesicht hin.

Der Tischlermeister wandte sich kurz um. Er wollte den Polen nicht sehen lassen, wie entsetzt er über diesen Vorschlag war.

Vorschlag?! – Karl Schrock dachte: „Nein – das ist kein Vorschlag, keine Bitte, – das ist ein versteckter Befehl!“

Seine Hände ballten sich zwischen den Spänen auf der Hobelbank unwillkürlich zu Fäusten. Und seiner Brust drohte sich ein Stöhnen zu entringen, ein trostloser Laut der Reue, daß er hier abermals mit seinem Starrkopf das Unrechte getroffen hatte – geblieben war, ausgeharrt hatte auf verlorenem Posten.

Seine Irmgard – und zu Kasimir Szichorski! Zu diesem Schürzenjäger, vor dem keine Bauerndirne sicher war, von dem keine anständige Frau sich behandeln ließ! – Niemals durfte das sein – niemals! Nie durfte sein Kind jenes Haus betreten – noch dazu als Hausdame, die polnische Offiziere empfangen sollte!

Der elegante Doktor hatte sich gemächlich eine Zigarette angezündet und dabei mit einem Grinsen den Rücken des deutschen Tischlermeisters betrachtet, das vielsagend genug war.

Was lag nicht alles in diesem widerlichen Lächeln. Was enthüllte es alles! Fanatischen Deutschenhaß, Schadenfreude, Lüsternheit, Triumph!

„Schauen Sie aus nach Fräulein Irmgard, libber Schrock?“ meinte er nun. „Oh – ich habbe gesprochen mit ihr soeben in Ihre Wohnstube, Meister. Fräulein Irmgard erklärte, Sie sollten entscheiden.“

Schrocks Fingernägel gruben sich in die Handflächen. – Ruhe – nur Ruhe jetzt – und Zeit gewinnen! Nur vorsichtig sein diesem geschmeidigen Schurken gegenüber, der jetzt erst sein wahres Gesicht zeigte.

Also deshalb hatte dieser Intrigant stets so getan, als verehre er ihn, den begeisterten Deutschen, gerade ob seiner nie verhehlten Heimats- und Vaterlandsliebe, – deshalb hatte dieser Wüstling ihn durch Versprechungen geködert und ihn glauben gemacht, er würde ihn schützen gegen jede Unbill von polnischer Seite!

Ruhe – Besonnenheit – Zeit gewinnen. Und – sich nicht anmerken lassen, wie es in Wahrheit in ihm aussah. Doppelte, dreifache Vorsicht gegenüber diesem Menschen, der, wie jeder wußte, aus einer Tagelöhnerfamilie stammte, auf einem deutschen Gymnasium eine Freistelle gehabt und mit Hilfe erschlichener deutscher Stipendien studiert hatte!

Meister Schrock drehte sich dem Polen wieder zu, lehnte sich an die Hobelbank und sagte leichthin:

„So – also Irmgard wäre nicht abgeneigt! Das ist schon viel wert. Ich will nachher gleich mal mit meiner Frau noch sprechen. Ich selbst hätte nichts dagegen, Herr Doktor. Aber meine Frau? Na – ich werde schon mit ihr fertig werden. Sie wird einsehen, daß es für uns nur von Vorteil ist, wenn wir in näherer Beziehung zu dem neuen Herrn Landrat stehen.“

Kasimir Szichorski blies den Zigarettenrauch in die Höhe und sagte dann mit einem gewissen Nachdruck, der fast wie eine Drohung klang:

„Ich könnte wohl habben bis heite abbend bestimmten Bescheid, Meister? Sonst muß ich mich nottwendigg umsehhen nach andere Damme. Fräulein Irmgard müßte auch schon antretten ihre Stellung heite. Also – bis zum Abend, nicht wahr?“

„Gewiß, Herr Doktor, gewiß. Meine Frau ist bei Wentzkes auf dem Abbau und muß vor Dunkelwerden wieder hier sein. Dann komme ich gleich zu Ihnen –“

Der Pole erhob sich.

„Gutt, gutt. Also auf Widdersehhen –“ Er streckte Schrock die Hand hin.

„Auf Wiedersehen, Herr Doktor. – Wann werden denn die Truppen eintreffen?“

„So um Mitternacht. Ich habbe schon beffohlen, daß vorr der Stadt eine Errenpforte gebbaut wird mit Lampions und ein Transparentschild. – Ich muß eilen. Also bestimmt noch heite abbend! Und – saggen Sie Ihrer Frau, Meister, daß – ich jetzt von heite nacht die Stadt regiere, ich, der Doktor Szichorski!“

Dann nickte er Schrock nochmals zu und tänzelte hinaus.

„Schuft!“ keuchte der Meister hinter ihm drein. „Schuft – Du wirst mich nicht – widdersehhen, – Du verdammter Schuft!“

 

2. Kapitel.

Entwurzelt.

Irmgard Schrock hatte nach der Unterredung mit Doktor Szichorski sich an das Pianino in der guten Stube gesetzt und leise – – das wehmütige „Polnische Lied“ gespielt, die Melodie nur so halb angedeutet.

Das polnische Lied! – Es paßte zu ihren Empfindungen. Denn diese Gedanken begleiteten den eleganten jungen Arzt hinüber in die Werkstatt.

Und diese Gedanken umgaukelten jetzt eine Zukunft, von der die blonde, schlanke Irmgard sich nicht nur den Himmel auf Erden, sondern auch den Ehehimmel versprach.

Weder Vater noch Mutter ahnten auch nur im entferntesten, wie es seit Wochen in ihrem Innern aussah, ahnten nichts davon, daß sie mit dem Doktor damals in der Dämmerung auf dem einsamen Landweg zusammengetroffen war, daß er sie begleitet und sehr bald in keckem, schlauem Werben auf sie eingeredet, ihr erklärt hatte, er liebe sie bis zum Wahnsinn, – er liebe sie so, wie nur ein Pole lieben könne. Und wenn er scheinbar ein Schürzenjäger sei, dann – suche er sich eben zu betäuben, dann sei das nur ein Beweis dafür, daß sein leidenschaftliches Herz sich ablenken müsse, wenn er selbst eben nicht krank werden wolle vor Sehnsucht nach ihr – nach diesem blonden, holden Mädchen.

Das war vor sechs Wochen gewesen. Und Kasimir Szichorski verstand es, diesen ersten Angriff auf das junge, reizvolle Weib dann durch Blicke und gelegentliche Bemerkungen klug stets wieder zu erneuern, bis Irmgard ihm wirklich glaubte, bis sich in ihre keuschen Träume immer häufiger das Bild des Doktors eindrängte, bis sie kaum selbst mehr wußte, ob sie ihn wiederliebe oder ob es nur so ein wenig Eitelkeit war, die sie so oft an ihn denken ließ.

Und dann war er heute gekommen.

Hatte auf den Knien vor ihr gelegen; hatte geschworen, sie müsse sein Weib werden, oder er würde sich erschießen. Sie solle nur zum Schein bei ihm Hausdame spielen, damit seine polnischen Landsleute sich davon überzeugten, daß sie keine Polenhasserin wäre, daß die Polen sie als ihresgleichen betrachten lernten.

Dann – dann würde er sich mit ihr verloben, würde sie heiraten! Das schwöre er ihr zu bei dem Andenken an seine gute Mutter.

Irmgard hatte wie betäubt zugehört

Heirat – Frau Doktor Szichorski sollte sie werden! Und der Vater war doch nur der letzte, kleinste Tischler des Städtchens, nur so einer, der kleine Flickarbeiten machte und hin und wieder einen Sarg.

Frau Doktor Szichorski! – Beim Andenken an seine Mutter hatte er es ihr geschworen! Und – er war doch so gläubig, so religiös! –

Daß diese Mutter des eleganten Doktors im Gefängnis in Danzig gestorben war, wußte Irmgard freilich nicht; ebensowenig, daß Kasimir Szichorski sich nur mit einem Gefühl des Ekels an das alte schnapsduftende Weib erinnerte, die ihm das Leben gegeben und die als Gelegenheitsdiebin die Gefängnisvorschriften besser kannte als irgend sonst etwas Gedrucktes. –

So war es denn gekommen, daß Irmgard ihm, völlig verwirrt über so berauschenden Zukunftsaussichten, ihre Hände, die er mit Küssen bedeckte, entrissen hatte und in das Nebenzimmer gestürzt war, – nur noch leise gerufen hatte:

„Fragen Sie den Vater!“

Da hatte der Pan Doktor sich wieder aus seiner knienden Stellung mit demselben Grinsen aufgerichtet, mit dem er nachher des Meisters Rückenansicht musterte, hatte lautlos aufgelacht, als er die Tür hinter sich schloß und – sich bereits Sieger gewähnt! –

Irmgard Schrock war noch immer halb betäubt von der leidenschaftdurchglühten Sprache und den Schwüren des eleganten jungen Arztes, der für sie ja der erste Mann aus „feineren“ Kreisen war, der ihrer Schönheit huldigte.

Irmgard spielte weiter ganz leise das Polnische Lied. Ihre Gedanken schwebten in sonnigen Zukunftshöhen.

Was galt ihr der politische, jetzt noch mehr verschärfte Gegensatz zwischen Polentum und Deutschtum?! Was galt ihr der Haß, der jetzt überall gärte zwischen Nation und Nation?! Auch zwischen den einzelnen Vertretern der Völker?!

Die Töne quollen jetzt in vollen Akkorden leicht unter ihren Fingern hervor, umrauschten sie fast wie Orgelmusik bei diesem weichen Anschlag der Tasten.

Orgelmusik – Hochzeit – Frau Doktor!

Irmgards Gewissen schlief immer mehr ein. Ja – sie wollte den Eltern schon klarmachen, daß man Doktor Szichorski unmöglich dadurch aufbringen könne, daß man seine Bitte ablehnte; sie würde klug verheimlichen, mit welchen Erwartungen sie das Haus des jungen Polen betreten würde; sie würde verschweigen, daß seine Leidenschaftlichkeit sie doch so ein wenig erschreckte. –

Meister Schrock riß die Tür zur guten Stube auf.

„Irmgard – dieses Lied! In meinem Hause!“ rief er ärgerlich, aber keineswegs unfreundlich.

Das blonde Mädchen war flammend rot geworden, schlug den Klavierdeckel überhastet zu, daß die Seiten im Innern des Instrumentes nur so mitdröhnten, sprang auf und stotterte – wieder recht unüberlegt:

„War Doktor Szichorski bei Dir, Vater?“

„Ja – der Schuft!“ stieß Meister Schrock leise hervor. Aber trotz der gedämpften Stimme lag in diesen Worten eine Überfülle heftiger Empfindungen.

Er warf sich in einen der mit Leinenbezügen bedeckten Plüschsessel. Er schaute sein Kind dann prüfend an. Irgend etwas hatte ihm bei ihrer Frage nicht behagt. Er war so ein Unterton gewesen, der zu viel Interesse an der unverschämten Zumutung des Polacken verriet.

„He – Irmgard,“ meinte er, „komm’ mal her. – Fixer, bitt’ ich, – was zögerst Du?! – Den Deubel – was machst Du für ein Gesicht?! – Sieh mich mal gefälligst an. – Was fehlt Dir eigentlich?! Du bist –“

Da kam ihm plötzlich ein Verdacht. Er packte die Sessellehnen mit den Händen, ruckte halb hoch.

„Hat der – schleimige Halunke etwa gewagt, zu Dir frech zu werden?“ preßte er hervor. „Raus mit der Sprache, Kind, – raus mit der Wahrheit!“

„Aber – aber, Vater! Keine Rede davon.“ Sie schaute ihn offen an.

„So so –! Na – ich hätt’s ihm auch nicht geraten, dem glattzüngigen Burschen!“ Er war beruhigt, setzte sich wieder bequem hin.

„Was sagst Du denn nun zu diesem seinem – Vorschlag?“ fuhr er leiser fort. „Ich brauch’ keine Antwort, Mädel; kann sie mir selbst geben. Eine solche Unverschämtheit von dem Liedrian – Du und Hausdame bei ihm. Du – Empfangsdame für polnische Offiziere, – Du – meine Tochter! Eine solche Unverschämtheit und scheinheilige Schurkerei ist’s, daß es mir in den Fingern kribbelte, als der Halunke mit dieser – Bitte herausrückte! Ins Gesicht hätte ich ihn schlagen mögen, dem – dem!“

Vor Aufregung, vor innerer Wut wurde ihm plötzlich die Luft knapp.

Irmgard hatte sich an den großen Kachelofen gelehnt. Sie schwieg.

„Glaub’s gern, Kind,“ fügte er hinzu und holte stoßweise Atem, „glaub’s gern, daß Du dazu nichts zu sagen weißt. – Aber nun ist genug über den Schuft geredet.“ Er stand auf, trat dicht vor die Tochter hin.

„Irmgard – wir müssen fliehen – noch heute, sofort,“ flüsterte er mit tief gefurchter Stirn. „In der Nacht rücken polnische Truppen hier ein. Dann – sind wir Schrocks vogelfrei. – Wir müssen weg. Auf jeden Fall! Und – heimlich! Kein Mensch darf was davon merken – keiner! Ich habe mir schon überlegt, wie wir’s anfangen. Du gehst jetzt gleich der Mutter entgegen nach dem Abbau zu Wentzkes. Der alte Wentzke soll mir seinen Kastenwagen um 7 Uhr schicken. Sag’ ihm, ich hätte einen Sarg nach Lubmin zu bringen; die alte Frau Müller sei gestorben. In Lubmin wohnen vier Müllers. Mag er sich da eine aussuchen, die tot sein soll. – Aber keine Andeutung zu Wentzke, was wir vorhaben. Du weißt: er ist auch einer von den Renegaten, der sich jetzt schon Bentzki nennt und polacksch seinen Namen schreibt! – Mach’ nun fix, Mädel! Ich packe derweil zusammen, was ich gern mitnehmen möchte von hier. In einen Sarg geht viel hinein. Alles andere bereden wir nachher, wenn Mutter und Du wieder –“

Draußen im Hausflur bimmelte die Zugglocke.

Schrock fuhr leicht zusammen. „Donner – man kriegt Nerven in dieser Zeit!“ meinte er. „Setz’ Dir den Hut auf. Ich werd’ nachschaun, wer draußen ist.“

Vor der Haustür stand der kleine, krummbeinige Produktenhändler Sally Pinkussohn.

„Na – was wollen Sie denn?“ fragte Schrock grob und pflanzte sich in der Tür auf. „Soll ich Ihnen vielleicht ein neues Firmenschild machen, damit Sie auch in polnischer Sprache Ihre Handelsartikel anpreisen können?“

Grimmer Hohn lag in den Sätzen.

Der Händler zuckte die Achseln. „Spaß, Herr Schrock! – Wetten, daß Se werden auch sich lassen polonisieren, wenn Se bleiben hier und wollen leben und nich verhungern?! Se werden missen, Meister! – Was ich will, sag’ ich ßu Ihnen besser drinnen ins Stüble, Meister. Und wenn ich’s hab’ gesagt, werden Se sagen: der Pinkussohn is e Schentlemen, wie die Engländer nennen e ganz ehrlichen Kerl.“

„Bedaure – „Schentelmen“ werde ich Sie nie titulieren, bester Pinkussohn. Es sei denn, daß Sie sich total umkrempeln und zuerst mal dort aus dem Knopfloch Ihres schmierigen Gehrocks die Rosette in polnischen Farben entfernen. Überhaupt – entfernen Sie sich selbst! Das ist mir am liebsten. Sie wissen, wie ich gerade über Sie denke!“

„Nu – Se werden sich auch umkrempeln, Meister,“ meinte Sally Pinkussohn gleichgültig. „Polnische Kavallerie wird kommen ßu reiten diese Nacht in die Stadt. Und dann – dann – nu, Se sind hier nich anjeschrieb’n gut bei die Polen, Herr Schrock. Und in Schöneck hat das Militär gemacht sehr e kurzen Prozeß mit den Schneidermeister Hölzer. Der sitzt ins Kittchen, und sein Haus haben se belegt mit Beschlag erst und dann hat er’s missen verkaufen for e Spottgeld an ’n Polen, sonst hätten se ’n jestellt an die Mauer und e paar Flinten ihm gegenüber. – Nu – bin ich e Schentlemen oder nich? Hab’ ich Se jewarnt oder nich? Bin ich ßu Ihnen gekommen, um Ihnen noch schnell abzukaufen Ihr Grundstick for e anstädjen Preis oder nich? Sind erst die Polen hier, Herr Schrock, dann – e Dreck kriegen Se for’s Grundstick – e Dreck, sag’ ich Ihnen! – Hier – achttausend Mark ßahl’ ich an; hier sind se. Und de Polen werden Ihnen jeben nich ßweitausend – jede Wett’ jeh’ ich mit Ihnen ein.“

Karl Schrock starrte dem kleinen Juden in das pockennarbige, verkniffene Gesicht. – An diese Möglichkeit, daß man ihm sein Grundstück nach seiner Flucht für den polnischen Staat unter irgend einem Vorwand beschlagnahmen könnte, so daß er ein Bettler wurde, – nein, daran hatte er in der letzten halben Stunde noch gar nicht gedacht!

„Kommen Sie!“ sagte er etwas freundlicher zu dem Händler und führte ihn in die Wohnstube.

Pinkussohn brauchte hier nicht mehr lange sein Opfer zu bearbeiten. Der Notar Löwenberg schloß um 6 Uhr sein Bureau. Also mußte Meister Schrock schnell zu einem Entschluß kommen. 18 000 Mark bot ihm Pinkussohn. 8000 wollte er bar auszahlen, weitere 5000 nach einem Monat, und der Rest sollte als Hypothek eingetragen werden auf das bisher schuldenfreie Grundstück.

Sie wurden einig. Pinkussohn holte dann einen privatschriftlichen Kaufvertrag hervor, der 14 Tage zurückdatiert war und der alles enthielt, was soeben vereinbart worden.

„Sehn Se – dieses Vertragje kommt ßu die Akten, Meister, damit ’s nich so aussieht, als ob Se grad heit erst aus Angst for die Polen verkauft hätten. – So – nu – bin ich e Schentlemen, Meister?“

Schrock schaute grübelnd vor sich hin.

„Wie ist’s nun aber, wenn – wenn ich vielleicht verreisen müßte und nach einem Monat nicht hier wäre, Pinkussohn?“ meinte er dann ohne besondere Betonung. „Es kann sein, daß ich zu meinem Bruder nach Pommern muß, der uns schon lange eingeladen hat.“

„Nu – ich schick’ Ihnen dann das Geld per Post oder durch ’n Bekannten.“

„Wenn nicht, wird’s auch eingetragen als Hypothek,“ sagte Schrock kurz. „Das muß mit rein in den notariellen Vertrag –“

„Worum nich?! – Am besten, Meister, – wir bitten den Notar, daß er is still über das Geschäft. Ich rede ßu keinem drieber!“

„Mir sehr recht. – Gehen wir also zu Löwenberg, – aber getrennt. Ich bin in ’ner halben Stunde dort.“

 

3. Kapitel.

Gefangen.

Irmgards Weg hinaus nach dem einsamen Bauerngehöft, dem Wentzke-Abbau, war für sie ein nicht minder schwerer Gang als der des Vaters zu Notar Löwenberg.

Zu jäh war sie vom scheinbar so strahlenden Gipfel ihrer Hoffnungen wieder hinabgestürzt in noch gesteigerte graue Alltagssorgen, um leicht über diese Enttäuschungen hinwegkommen zu können.

Es waren Enttäuschungen; es war, wie sie dachte, eine zerstörte Zukunft. Aber nicht einen Augenblick hatte sie etwa mit dem Gedanken gespielt, sich der Teilnahme an dieser Flucht zu entziehen und gegen den Willen der Eltern im Städtchen zurückzubleiben. Nein – dazu war Irmgard innerlich doch zu gesund, auch zu dankbar gegenüber den Eltern. Nur ihre Enttäuschung begleitete sie als traurige Weggenossin hinaus nach dem sogenannten Wentzke-Abbau. Sie begegnete der Mutter eine Strecke vor dem Gehöft, berichtete ihr schnell, was geschehen und was der Vater beabsichtigte, und bat sie, wieder mit umzukehren, damit sie beide gemeinsam heimgehen könnten.

Frau Amalie war eine kränklich, hagere Frau mit einem scharf ausgeprägten Leidenszug um den Mund. Sie war frühzeitig ergraut, und niemand hätte vermutet, daß sie erst 45 Jahre zählte. Über ihr lastete das Verhängnis ihrer Familie in Gestalt einer schleichenden Krankheit, an der sowohl ihre Großmutter und Mutter, als auch zwei ältere Schwestern gestorben waren.

Die blasse Frau mit den großen, dunklen Augen, in denen stets so ein müder, trostloser Ausdruck lag, hatte wortlos zugehört. Nur ein paar Tränen stahlen sich hervor, rollten über die Wangen, wurden schnell wieder heimlich weggewischt.

„Ja, ja – Vaters Starrkopf!“ sagte sie nun, während sie durch die schnell zunehmende Dämmerung neben Irmgard dem Gehöft wieder zuschritt. „Er ist genug gewarnt worden. Wenn ich so denke, was allein Rechtsanwalt Würzner geredet und geredet hat! Der meinte es doch wahrhaftig nur gut mit uns!“

Sie warf einen schnellen Blick auf ihre Tochter. Aber Irmgards Gesicht hatte sich bei der Erwähnung Würzners in keiner Weise verändert. – „Sie ahnt nichts,“ dachte Frau Amalie etwas enttäuscht. „Ja, ja – die Jugend! Nur nach jungen Leuten schauen sie aus, und verderben sich so manche glänzende Partie mit einem Manne gesetzten Alters.“

Es war bereits dunkel, als Mutter und Tochter daheim anlangten. Der Himmel hatte sich plötzlich mit schwarzem Gewölk bedeckt, und ein kalter Wind strich über das flache Land hin, ließ die Wetterfahne auf den Giebel von Tischler Schrocks Häuschen kreischen und sang in den alten, gebogenen Dachpfannen mit seltsamen Klagelauten. –

Meister Schrock hatte den schwarzen Fichtensarg in den Flur dicht an die Haustür gestellt und bereits fast ganz voll gepackt mit allerlei Sachen: Wäsche, Kleidern, Familienbildern, Eßwaren und anderem.

Als die Frauen den Flur betraten, blieben sie unwillkürlich bei diesem Anblick wie angewurzelt stehen. Schrock kam zögernd näher, schloß sein Weib nun wortlos in die Arme. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er konnte es nicht verscheuchen, dieses plötzlich in ihm erwachte Schuldbewußtsein gegenüber den Seinen. Er war gerecht genug, nur sich selbst anzuklagen, weil man nun bei Nacht und Nebel wie Diebe das Weite suchen mußte.

Frau Amalie weinte still an seiner Brust, faßte sich aber schnell wieder und sagte mit jener ruhigen Bestimmtheit, die ihr stets eigen gewesen: „Beeilen wir uns, Karl! Ich sehe da, daß Du vieles mitnehmen willst, was überflüssig. Ich werde noch einmal die Sachen sichten.“

Während der traurige, schwarze Behälter nun von neuem vollgepackt wurde, erzählte der Meister sehr zögernd von dem Verkauf des Grundstücks an Sally Pinkussohn. Schrock fürchtete neue Tränen seiner braven Lebensgefährtin. Aber Frau Amalie sagte nur:

„Es war vielleicht am besten so, Karl. Nur – nur das gerade Pinkussohn wieder die gute Gelegenheit so schnell herausgefunden hatte, billig unser Haus zu erwerben, das ihm schon lange ins Auge stach, – das will mir nicht behagen.“ –

Der alte Wentzke kam erst gegen ¾8 mit seinem Kastenwagen vorgefahren. Es regnete leicht. Inzwischen hatte Meister Schrock den Seinen genaue Verhaltungsmaßregeln gegeben. Damit der schwere Sarg nicht Wentzkes Verdacht erregte, wurde dem Alten so nebenbei angedeutet, man wolle für „Müllers“ noch eiserne Feldgeräte und anderes mitnehmen. Das habe man alles in den Sarg gepackt.

Frau Amalie und Irmgard faßten dann mit an und halfen, den Sarg auf den Wagen stellen, wo er mit einer Leinwandplane bedeckt wurde.

Da Schrocks Grundstück etwas außerhalb des Städtchens an der Chaussee nach Pommern zu lag, durften die Flüchtlinge hoffen, daß sie unbemerkt davonkommen würden. Bevor der Wagen, den der Meister begleiten wollte, abfuhr, machte sich Frau Amalie auf den Weg. Sie sollte ein Stück vorausgehen und erst vor dem Dorfe Lubmin sich ihrem Manne anschließen. Hier wollte Schrock auch den alten Wentzke halb und halb einweihen und durch einen Hundertmarkschein bewegen, ihn bis zum Pommerschen hinüberzubringen. Irmgard wieder sollte dem Wagen in nicht zu weiter Entfernung folgen.

Frau Amalie huschte jetzt zur Hintertür hinaus und strebte im Bogen der Chaussee zu. Sie weinte. Immer wieder drehte sie sich um, warf noch einen allerletzten Blick auf das Häuschen, in dem sie über 21 Jahre als Haus[frau][3] geschaltet und bis vor drei Jahren, bis zum [Beginn] ihres Siechtums, eigentlich nur glückliche Tage [verlebt ha]tte. –

Der Einspän[ner Wen]tzkes rumpelte davon. Der Alte und Meister [Schrock sch]ritten nebenher. Der alte Bauer grinste in [sich hinein,] während er an seinem Pfeifchen sog, in dem er Rosen- und Kastanienblätter rauchte. – Oh – der Schrock hielt ihn wohl für dumm! Na – der irrte sich! – In dem Sarge sollten Ackergeräte liegen! Wer das glaubte! Die Polen kamen ja, und da rückte der Schrock eben aus. Das war’s! Ein gutes Geschäftchen würde es werden. Bezahlen sollte der Schrock die Fuhre, daß ihm die Augen tränten!

Irmgard zog den langen Mantel an, setzte den dunklen Filzhut auf. Der Spiegel warf ihr ein ernstes und doch so reizvolles Gesicht zu. Sie betrachtete sich. Sie dachte wieder an den Doktor: daß sie eine Arztfrau hätte werden können! Und – welch schöne Arztfrau! – Sie seufzte. Dann ging sie noch schnell mit der Laterne in den Stall und warf den Ziegen reichlich Futter hin, ebenso den Hühnern.

Der Hofhund Karo rasselte mit der Kette, winselte und sprang hoch, als Irmgard vorüberkam. – Niemand hatte an Karo in all der Aufregung gedacht! – niemand! Sollte das treue Tier hier zurückbleiben und vielleicht schlecht behandelt werden? – Irmgard kettete Karo los, ermahnte ihn zur Ruhe und ging ins Haus zurück. Im Flur brannte noch die Kerze. Und – jetzt stand dort, wo vorhin der Sarg gestanden, Sally Pinkussohn, den Hut in der Hand, dienerte und meinte:

„Entschuld’jen Se, Freilein. Ich hob’ geklingelt. Keiner kam ßu öffnen. – Kann ich sprechen den Meister, Freilein?“

Seine kleinen Iltisaugen glitten unruhig umher. Er hatte so halb und halb mit einer Flucht Schrocks gerechnet, hatte so etwas spioniert, hatte den Wagen abfahren sehen, aber Frau Schrock hatte er zum Glück nicht bemerkt.

„Vater bringt einen Sarg nach Lubmin,“ erwiderte Irmgard. „Frau Müller ist gestorben. – Kann ich dem Vater was bestellen, Herr Pinkussohn? So um Mitternacht ist er wieder hier.“

„So so –“ – Pinkussohns Blicke streiften ein paar Sachen, die Frau Amalie in einer Ecke aufgeschichtet hatte, als sie den Sarg anders packte. „So so. – Und Ihre Mutter, Freilein, – kennt’ ich die mol sprechen?“

„Mutter ist schon zu Bett gegangen. Sie fühlte sich sehr schlecht. Ich wollte gerade nach der Apotheke. Entschuldigen Sie also – ich muß fort.“

„Nu – da hab’n wir ja denselben Weg, Freilein. Gehen wir also –“

Irmgard mußte mit in die Stadt, wenn sie des Händlers Argwohn nicht erregen wollte. Karo schloß sie im Flur ein.

Pinkussohn erzählte von allem möglichen. Ganz plötzlich richtete er dann zuweilen eine Frage an das junge Mädchen. Und immer bezogen sich diese Fragen auf den Meister oder den Sargtransport.

Irmgard fühlte immer deutlicher heraus, daß der Händler offenbar Argwohn geschöpft habe. Ihre Angst stieg. Nicht für sich fürchtete sie, aber für die Eltern, besonders den Vater, den Doktor Szichorski nun kaum noch irgendwie schonen würde, nachdem dieser den Polen in so schlauer Weise hinters Licht geführt hatte.

Und – als sie jetzt sich dies überlegte, kam ihr etwas zum Bewußtsein, was der Vater bei seinem Fluchtplan völlig übersehen hatte. Er hatte doch Szichorski zugesagt, ihm noch heute Bescheid zu geben, ob er gestatten würde, daß sie bei ihm Hausdame würde. Wenn der Vater sich nun bei dem Doktor nicht einfand, würde dieser ganz fraglos argwöhnisch werden.

Neben ihr redete Pinkussohn weiter von diesem und jenem. Irmgard aber bedachte, wie sie am besten diesen Fehler des Vaters ausgleichen könnte. Dann bat sie den kleinen Händler, zu Doktor Szichorski zu gehen und ihm zu bestellen, daß „die Sache in Ordnung sei und daß er noch heute auf sie rechnen könne. Nur der Unpäßlichkeit der Mutter wegen würde es etwas spät werden“.

„Bitte – richten Sie dies nur so aus, Herr Pinkussohn,“ fügte sie hinzu. „Dann weiß der Herr Doktor schon Bescheid. – Guten Abend!“

Sie betrat die Apotheke, kaufte eine Kleinigkeit und eilte dann wieder heim, holte Karo ab und nahm den Hund an die Leine. Er war für sie ein guter Schutz.

Sie schritt weit aus, um den Wagen rasch einzuholen. Dieser mußte ja bereits einen sehr großen Vorsprung haben. Der Regen wurde zeitweise zum Wolkenbruch. Dann flüchtete Irmgard unter einen der Chausseebäume, duckte sich unter dem Schirm zusammen und konnte sich doch so wenig schützen. Ihre Röcke, ihr Mantel troffen längst vor Nässe.

Das trostlose Wetter paßte gut zu ihrer ganzen Stimmung. Sie hatte nun unter alles was[4] mit Doktor Szichorski zusammenhing, endgültig einen Strich gezogen. Dadurch, daß sie den Händler Pinkussohn zu Szichorski geschickt hatte, war von ihrer Seite etwas geschehen, das gleichsam als Sühne für ihre ehrgeizigen Wünsche gelten konnte. Sie bereute es nicht, so gehandelt zu haben. Aber sie hatte doch das Gefühl, ihre Zukunft, ihr Glück hinter sich in dem kleinen Städtchen zu lassen. Es war von ihr ein Opfer gewesen, das sie den Eltern dargebracht hatte. Sie faßte es beinahe als einen Verrat an ihrer Liebe auf. Sie glaubte jetzt bestimmt, daß nur Kasimir Szichorski der Mann gewesen sei, für den sie je wärmer empfinden könnte. Sie wähnte ihn zu lieben, – wie so viele junge Mädchen sich dieser Selbsttäuschung gerade bei dem Manne hingeben, der ihnen als erster Aufmerksamkeiten erweist.

Anderthalb Stunden war Irmgard nun schon so mit weitausholenden Schritten gewandert. Sie näherte sich jetzt der Seenenge zwischen zwei großen Landseen, die einer Wüstenei von Sand und kassubischen Kusseln (Krüppelkiefern) am Tage ein etwas malerisches Aussehen gaben. Der nach Norden zu rechts der Straße gelegene See enthielt noch eine besondere Merkwürdigkeit, eine kegelförmige Sandinsel, die mit dem Land durch eine schmale Naturbrücke in Verbindung stand und auf der sich eine Ruine erhob, die noch aus der Zeit des Deutschen Ritterordens stammte.

Die Chaussee lief zwischen den Seen in Gestalt eines sehr hohen Dammes dahin. Als Irmgard sich gerade dieser Stelle näherte, hörte sie hinter sich Pferdegetrappel. Sie hatte ein Ohr dafür, ob es sich um einen Wagen oder um Reiter handele. Sie schloß mit aller Bestimmtheit aus den Hufschlägen auf mehrere Reiter. Sofort stieg auch die Angst in ihr auf, es könnte sich um polnische Kavalleristen handeln, des Vaters Flucht könnte entdeckt sein und es wären zu seiner Festnahme ausgeschickte Verfolger.

Dicht vor der Seenenge bog sie daher von der Chaussee ab, lief die Böschung hinunter und verbarg sich hinter ein paar Kiefern. Bei dieser Dunkelheit war es unmöglich, sie zu bemerken, wenn sie sich nicht gerade durch Rufen meldete.

Das Getrappel kam näher. Aber mit jedem Meter, den die noch unsichtbaren Reiter zurücklegten, wurde Irmgard auch immer zweifelhafter, ob sie in diesem Falle richtig handele. Blitzschnell überlegte sie mancherlei. Und bei dem, was sie jetzt dachte, war schon wieder ein ganz leichtes Spielen mit ihren ehrgeizigen Wünschen dabei. Wenn sie sich nicht verbarg, wenn sie sich sozusagen Szichorski freiwillig auslieferte, rettete sie vielleicht den Vater; vielleicht gelang es ihr irgendwie, die Reiter zur Umkehr zu bewegen; vielleicht befand sich gar Kasimir Szichorski mit unter den Kavalleristen; dann konnte sie ihn sicher dazu bewegen, den Vater entkommen zu lassen.

Lange Zeit zum Überlegen blieb ihr nicht. Sie verließ ihr Versteck wieder – gerade noch im letzten Augenblick. Als sie oben auf der Chaussee anlangte, kamen fünf Reiter angesprengt: polnische Kavallerie.

Der vorderste Reiter bemerkte die weibliche Gestalt, parierte sein Pferd und rief Irmgard in gebrochenem Deutsch an.

Irmgard gab ohne Zögern Antwort, erklärte auf des Patrouillenführers Frage hin, sie sei Irmgard Schrock.

Der Reiter stieß ein zufriedenes „Ah – serr gutt!“ aus, sprang vom Pferde und trat dicht vor sie hin.

„Wohin wollten Sie, Panetschka?“ (kleines Fräulein) fragte er weiter ganz höflich. Es war ein älterer Mann, ein Wachtmeister.

„Den Eltern nach, die über Pliegoda nach Lauenburg unterwegs sind.“ Das war eine bewußte Lüge. Die Chaussee nach Lauenburg bog nämlich kurz hinter der Seenenge ab. Irmgard hatte dabei die Absicht, die Verfolger in eine falsche Richtung zu schicken.

„Aber – eigentlich wollte ich nicht!“ fügte sie mit einem gut geheuchelten ärgerlichen Auflachen hinzu. „Nein – ich wollte nicht! Aber der Vater hätte mich für immer verstoßen, wenn ich Doktor Szichorskis Angebot angenommen hätte. Der Doktor hatte mich nämlich gebeten –“

„Oh – ich weiß – ich weiß!“ fiel ihr der Pole ins Wort. „Was tue ich nun mit Ihnen, Panetschka? Ich habe Befehl, Sie und Ihre Eltern zu verhaften. Ihr Vater ist des Hochverrats verdächtig. Wir sind jetzt hier die Herren und werden Euch Deutschen zeigen, wie wir Westpreußen schneller polonisieren, als es Euch gelungen ist, Posen zu germanisieren.“ Alle Freundlichkeit war aus seiner Stimme gewichen. Der fanatische Deutschenhaß kam zum Durchbruch, wurde nur noch gedämpft durch Doktor Szichorskis strengen Befehl, das deutsche Mädchen anständig zu behandeln.

Irmgard war bei dem Wort „Hochverrat“ alles Blut aus dem Gesicht gewichen. Eine namenlose Angst um den Vater befiel sie. – Wie – wie konnte sie diesen nur den Häschern entziehen? Wie nur?

„Bringen Sie mich zu Doktor Szichorski,“ sagte sie kurz, fast befehlend. „Die Eltern holen sie doch nicht mehr ein. Die sind längst jenseits der Grenze.“

„So – das wollen wir abwarten,“ meinte der Pole ebenso kurz. „Ich werde sie mit zwei von meinen Leuten nach der Stadt zurückschicken. – Was soll der Hund da bei Ihnen? Lassen Sie ihn los!“

Irmgard ahnte, daß der Pole Karo erschießen wollte. Sie zog ihn daher nur noch näher an sich heran, rief: „Wenn Sie dem Tiere etwas zu leide tun, werden Sie von Doktor Szichorski manches zu hören bekommen, was Ihnen nicht angenehm sein dürfte. Ich gehe ja ganz freiwillig mit zur Stadt zurück! Was hat Ihnen der Hund getan; Sind Sie so roh, daß Sie mich meines Lieblings berauben wollen?!“

Der Wachtmeister murmelte ein paar polnische Worte vor sich hin, rief dann zwei seiner Leute an, flüsterte mit ihnen und ritt mit den beiden anderen gleich darauf in scharfem Trab weiter.

 

4. Kapitel.

Das Schlafzimmer.

Der Führer der polnischen Kavallerieabteilung, ein Rittmeister Graf Amadeus Hektor Blinski, sowie seine beiden Leutnants saßen gerade in Szichorskis Speisezimmer an der reich gedeckten Abendtafel beim Nachtisch, als des Doktors alte Haushälterin diesem das Eintreffen Irmgard Schrocks meldete.

Szichorski sprang sofort auf und eilte in den Flur, wo Irmgard blaß und mit ängstlich jagendem Herzen neben Karo in ihren durchnäßten Kleidern stand.

Der Doktor verbeugte sich galant, warf dann aber einen ärgerlichen Blick auf den großen Hund, der mit dem feinen Instinkt des Tieres den Polen leise anknurrte.

Irmgard wartete Szichorskis Anrede nicht ab, sondern erklärte ihm etwa dasselbe wie dem Wachtmeister vorhin auf der Chaussee, – daß sie nur gezwungen die Flucht mitgemacht hätte und auch in allem anderen, was mit dieser zusammenhing, lediglich den strengen Befehlen des Vaters gefolgt sei.

Sie behielt also auch jetzt das im Auge, was sie sich als Richtlinie ihres Verhaltens gesetzt hatte: sie wollte Einfluß auf Szichorski erlangen und dann Kraft dieses Einflusses Vater und Mutter schützen, falls sie den Polen in die Hände fallen sollten.

Der Doktor, der sie geistig weit geringer einschätzte, als sie es tatsächlich war, konnte seine Genugtuung bei diesen ihren Worten kaum verbergen, dankte ihr wortreich, daß sie ihm die Ehre antun wolle, hier stellvertretende Dame des Hauses zu spielen, war sofort damit einverstanden, daß Karo in einer Kammer neben dem Fremdenzimmer ein trockenes Lager erhielte und befahl seiner Haushälterin, einer in der Stadt übel beleumundeten Witwe Anastasia Kunowski, das gnädige Fräulein in das für sie schon bereitgehaltene Zimmer zu führen, damit sie dort trockene Kleider anlegen könne.

„Ich habe mir erlaubt, einiges für Sie zu besorgen, was Ihnen hoffentlich gefallen wird,“ flüsterte er Irmgard dann mit feurigem Blick zu. „Sie sollen hier auch entsprechend Ihrer Stellung auftreten, Irmgard, meine angebetete Irmgard!“ Er drückte ihr zärtlich die Hand und bat sie, wieder lauter sprechend, nachher ihm und den Offizieren vielleicht noch ein wenig Gesellschaft zu leisten.

„Sie werden ja auch hungrig sein,“ meinte er. „Anastasia soll Ihnen zubereiten, was Sie wünschen. Sie haben nur zu befehlen – in allem!“

Die Alte brachte Irmgard dann in ein Zimmer, wo auf dem Bett allerlei feine Damenwäsche, dazu ein seidener, japanischer Kimono, dunkelblau mit roten Blumen, sowie reizende Hausschuhe aus rotem Leder lagen.

Anastasia Kunowski deutete auf diese Dinge und brummte unfreundlich: „Das is sich trockener Zeug. Was wollen Sie essen?“

„Ein paar Eier und Aufschnitt genügen mir,“ erklärte Irmgard absichtlich recht liebenswürdig. Dann wies sie auf eine Tür rechter Hand, die nicht verstellt war.

„Was für ein Raum ist das dort?“ fragte sie. „Es steckt kein Schlüssel in der Tür. Ich möchte mich einschließen beim Umkleiden.“

„Oh – nur mein Zimmer,“ sagte die Alte und versuchte harmlos zu lächeln. Aber der Blick ihrer Augen war dabei so voller Tücke und Bosheit, daß Irmgard plötzlich einen unbestimmten Argwohn empfand. Sie war jedoch klug genug, dies zu verbergen.

Zunächst schloß sie die Tür nach dem Flur ab. Dann faßte sie auf den Drücker der anderen Tür. Dieser war jedoch offenbar von der anderen Seite abgeschlossen. Irmgard bemerkte, daß der Schlüssel im Schloß steckte, als sie sich bückte und genauer hinsah.

Ihr Argwohn blieb rege, wurde dann nur etwas abgeschwächt durch die kindliche Freude an der eleganten Wäsche, den feinen Florstrümpfen und besonders dem Kimono, der ihr vorzüglich zu Gesicht stand.

Zwischen den Fenstern war ein großer, hoher Spiegel mit Konsole angebracht. Irmgard konnte sich gar nicht genug bewundern, dachte jetzt abermals mit gewissem Stolz und Siegesbewußtsein: „Du bist wirklich schön! Keine deiner Freundinnen gleicht Dir, – keine Frau des Städtchens verträgt einen Vergleich mit Dir – keine einzige!“

Sie hatte einmal in Danzig im Stadttheater die Operette „Geisha“ gesehen. Damals war sie entzückt gewesen über die kleidsame, farbenfrohe Geishatracht. Nun erblickte sie im Spiegel die reizendste blonde Geisha, die man sich nur vorstellen konnte. Sie lächelte sich zu.

Da – wie ein Blitz fiel die Erinnerung an die Eltern über sie her.

Eine furchtbare Angst überkam sie.

Würde der polnische Wachtmeister auch wirklich auf ihre List hereingefallen sein, würde er wirklich die Richtung nach Lauenburg eingeschlagen haben?! Wenn nicht, waren die Eltern verloren –!

Sie sank auf den nächsten Stuhl. Am liebsten hätte sie jetzt all den kostbaren Tand sich vom Leibe gerissen. Aber – wollte sie nicht Kasimir Szichorski beherrschen, wollte sie ihn nicht zwingen, ihr gehorsamer Sklave zu werden?!

Sie mußte hinüber zu ihm und den Offizieren. Und sie mußte auch schön sein, wenn sie ihn für sich gewinnen wollte! – Sie erhob sich wieder, begann vor dem Spiegel ihr Haar anders zu ordnen. Sie tat es mit müder Gleichgültigkeit. Sie hatte keine Freude mehr an ihrer Schönheit, an der blonden Geisha. Ihre Schönheit war ihr nur mehr Mittel zum Zweck.

Dann schloß sie leise die Tür nach dem Flur auf, betrat leise den langen Korridor und öffnete die nächste Tür behutsam. Es war die des benachbarten Zimmers, das mit dem ihren die eine Verbindungstür hatte.

Sie rieb ein Zündholz an. Eine Schachtel Streichhölzer hatte auf der Spiegelkonsole gelegen.

Und – was sie nun beim schwachen Scheine des Hölzchens erblickte, jagte ihr eine heiße Blutwelle in die Wangen.

Es war – des Doktors Schlafzimmer!

Irmgard stand wie gelähmt. Ein ungeheures Entsetzen machte ihren Körper zur Statue. Jetzt begriff sie des Vaters Erregung über den Vorschlag des Doktors: jetzt endlich sah sie klar – ganz klar!

„Ruhe – Ruhe!“ warnte sie sich selbst. „Hier kann Dich nur Deine Kaltblütigkeit retten! Hüte Dich, Dir etwas anmerken zu lassen! Bedenke, daß Du in einem Hause bist, wo niemand mit Dir als einer Deutschen Mitleid haben wird – niemand!“

Sie war in vielem ganz ihre Mutter. Sie zwang sich gewaltsam fast zu den ersten Schritten in den Flur zurück, zwang sich weiter zu einem so vollendeten Komödienspiel, daß sie selbst erstaunt war, wie es ihr möglich wurde, mit dieser Angst im Herzen zu lächeln und zu scherzen. Sie war erstaunt darüber. Sie konnte heute noch nicht wissen, was alles ihr später diese Begabung, eine bestimmte Rolle darzustellen und auch mit allen Feinheiten in Ausdruck und Geste in diese sich hineinzufinden, ihr nützen würde.

Diese Nacht im Hause des polnischen Arztes war sozusagen Irmgards erstes Debüt. Noch oft erinnerte sie sich nachher an diese Nacht, an den galanten, vornehmen Grafen Blinski und an vieles andere –

Sie hörte hinter der Tür des Speisezimmers die Stimmen der vier Polen. Sie klopfte an.

Szichorski kam, riß die Tür auf, stutzte.

Ein triumphierendes Lächeln flog über sein Gesicht. Ah – das hatte er nicht erwartet! Das nicht! Nicht diese blendende Schönheit, nicht diese entzückende Geisha.

Er führte Irmgard, indem er ihr den Arm bot, wie eine große Dame zum Tisch.

Die drei Offiziere hatten sich erhoben. Ein flüchtiger Blick in ihre Gesichter zeigte Irmgard deutlich, welchen Eindruck sie auf die Herren machte.

Szichorski stellte sie als „Meine Hausdame – Fräulein Schrock“ vor.

Die beiden Leutnants, junge Bürschchen mit impertinenten Gesichtern, wagten ein vielsagendes, beleidigendes Lächeln.

Nur Graf Blinski, eine schlanke, rassige Erscheinung mit einem aristokratischen, schmalen, etwas melancholischen Antlitz, das durch ein randloses Monokel auch nicht den geringsten Anflug des Geckenhaften erhielt, küßte Irmgard respektvoll die Hand und verwickelte sie dann auch bald in ein zwangloses Gespräch, während Szichorski das mangelnde Taktgefühl durch allerlei Prahlereien bekundete, mit denen er die Wichtigkeit seiner jetzigen Stellung als Kreisstarost, als höchster polnischer Beamter des Kreises, hervorheben wollte. Er hatte offenbar den Weinen schon sehr stark zugesprochen. Seine Augen streiften Irmgard immer wieder mit begehrlichen Funkeln, und die Bemerkungen, die er leise und mit vieldeutigem Lächeln mit den Leutnants flüsternd austauschte, waren nichts als Hinweise auf seine Unwiderstehlichkeit Weibern gegenüber und Anspielungen auf die Rolle, die das deutsche Mädchen hier im Hause spielen würde – als seine Geliebte.

Als Anastasia das Essen für Irmgard auftrug, zogen sich Szichorski und die jungen Bürschchen in das Herrenzimmer an den Spieltisch zurück, um sich gegenseitig das Geld abzunehmen.

Graf Blinski leistete Irmgard Gesellschaft, schenkte ihr Rotwein ein und benahm sich in allem als tadelloser Kavalier.

Irmgard fragte das alte, schmierige Weib, ob nicht auch Karo etwas Eßbares bekommen könnte.

Die Alte nickte. „Hat er sich schon genug,“ meinte sie und verzog blitzschnell den zahnlosen Mund.

Irmgard fiel aber gerade diese Bewegung der Lippen des alten Weibes auf. Sie war jetzt überaus mißtrauisch, beobachtete unauffällig alles und jeden, nippte nur von dem Rotwein und war besonders Blinski gegenüber vorsichtig, den sie zunächst mit Szichorski so ziemlich auf eine Stufe stellte.

Dann aber, als die Spieler nebenan lebhafter wurden, beugte der Graf sich plötzlich vor und flüsterte:

„Ich warne Sie vor Szichorski, meine Gnädige. Schlagen Sie diese Warnung nicht in den Wind. Es ist ein –“ Er führte den Satz nicht zu Ende, machte nur eine unnachahmliche geringschätzige Handbewegung.

Irmgard traute ihm nicht. Wollte er sie etwa nur aushorchen? Sollte sie ihm vielleicht nur ihre innersten Gedanken preisgeben?

„Warnen?!“ Sie lächelte harmlos. „Doktor Szichorski ist ein Ehrenmann. Ich denke, alle Polen sind Kavaliere –“

Graf Blinski saß zurückgelehnt da. Seine Linke hob sich abermals zu einer fast verächtlichen Bewegung.

„Ich warne Sie!“ wiederholte er leise.

Irmgard schien darauf nicht zu achten.

Nachher ging sie mit Blinski in den Salon und setzte sich an das Pianino. Sie präludierte einige Minuten, ging dann in die Melodie des Polnischen Liedes über.

Die Spieler warfen die Karten hin, kamen herbeigeeilt, sangen den polnischen Text. – Auch Graf Blinski bewies, wie sehr er Pole war; auch er sang, sang mit jener schwärmerischen Begeisterung, in die die Vertreter dieser temperamentvollen Nation so leicht geraten, wenn es sich um nationale Dinger handelt. –

Irmgard mußte dann alles mögliche vortragen. Sie besaß ein vorzügliches musikalisches Gehör und große Fingerfertigkeit. Die Herren applaudierten immer wieder.

Der Doktor hatte Sekt bringen lassen; sein erstes Hoch galt dem neuen, großen Polen; sein zweites – „der Zierde seines Hauses, Fräulein Irmgard“.

Bisher war über Irmgards Eltern kein Wort gefallen. Jetzt aber erschien plötzlich die schmierige alte Hexe und meldete dem Grafen, daß Wachtmeister Czimelski draußen sei.

Blinski verließ den Salon, kehrte sehr bald zurück, verbeugte sich leicht vor Irmgard und sagte: „Meine Leute haben die Ihrigen nicht mehr erreicht. Sie mußten vor einer deutschen Grenzwache an der pommerschen Grenze sich zurückziehen.“

Da erst erkannte Irmgard mit Bestimmtheit, daß der Rittmeister es gut mit ihr meinte.

Szichorski wollte offenbar Irmgard die Laune nicht trüben lassen und sprach sofort von anderen Dingen.

Irmgards Entschluß war gefaßt. Sie handelte weiter mit derselben Verstellungskunst, die sie bisher befähigt hatte, diese Herren glauben zu machen, sie fühle sich hier durchaus wohl, sei leichtfertig, kokett und ohne jede Sorge um ihre Eltern.

Es war jetzt ein Uhr nachts. Irmgard erklärte dem Grafen, mit dem sie gerade ein Album durchgeblättert hatte, sie wolle sich nur aus ihrem Zimmer ein Taschentuch holen. Man ließ sie auch ungehindert hinaus in den Flur. Szichorski wähnte, seine Beute schon ganz sicher zu haben. Ihm war es nur lieb, daß Irmgards Eltern entkommen waren. Sie hätten ihm nur Scherereien bereitet.

Irmgard öffnete hastig die Tür der Kammer, wo Karo eingesperrt gewesen. Der Hund war nicht mehr da. Sie rieb ein Streichholz an, sah den Freßnapf auf dem Fußboden stehen und die Matte, die man für Karo hingelegt hatte. In einer Ecke standen noch eine Trittleiter und ein großer Reisekorb. Von einer unbestimmten Ahnung getrieben hob sie den Deckel des Korbes etwas an.

Sie prallte zurück, preßte die Lippen vor Schmerz und Wut zusammen. Denn in dem Korbe war Karos Kadaver verborgen. Der Hund war zweifellos vergiftet worden. Szichorski hatte sie dieses Beschützers berauben wollen.

Sie hastete in ihr Zimmer, zog den noch nassen Mantel über, packte ihre Kleider zu einem Bündel zusammen, steckte eine Kerze aus einem der Leuchter zu sich und eilte die Treppe in das Erdgeschoß hinab.

Der Schlüssel in der Haustür steckte von innen. Sie schloß auf, schloß von außen ab, schaute sich argwöhnisch um, warf den Schlüssel weg und kämpfte sich durch den zum Sturm angewachsenen Wind die Straßen entlang, stets im Schatten der Häuser sich haltend und immer wieder um sich spähend, der Chaussee zu. Sie erreichte diese auch unbelästigt und begann jetzt zu laufen. Es regnete wiederholt. Sie achtete auf nichts. Sie strebte nur vorwärts.

 

5. Kapitel.

Die Inselruine.

Um dieselbe Zeit, als Irmgard Schrock vor dem Spiegel sich eitel als Geisha bewunderte, hatte der Sargtransport einen Hohlweg erreicht. Hinter dem Wagen schritten jetzt der Meister und Frau Amalie her.

Mit 500 Mark hatte Schrock den alten Wentzke bestechen müssen, damit dieser sie über die Grenze brachte. Meister Schrock hatte dem Renegaten, dem frisch umgemodelten Herrn Bentzki, wortlos das Geld gegeben, hatte nur nachher zu seiner Frau gesagt:

„Schuft!“

Die Chaussee wand sich hier zwischen hohen Bergen hindurch. Ein Ausweichen nach rechts oder links war unmöglich. Und gerade an dieser Stelle kam der Wachtmeister mit seinen beiden Männern in voller Karriere hinter dem Wagen drein.

Der Regen hatte aufgehört. Sogar das dicke Gewölk war vom Sturm für ein paar Minuten auseinandergetrieben worden.

Wie höhnend grinste jetzt die Mondsichel vom Firmament herab und beleuchtete matt die schnell aufeinander folgenden Szenen.

Wachtmeister Czimelski donnerte den Flüchtlingen ein drohendes „Halt!“ zu.

Zitternd lehnte sich Frau Amalie an ihren Mann.

„Verloren!“ stöhnte der Meister auf. „Verloren!“

Czimelski brüllte das Ehepaar an:

„Seid Ihr Schrocks?“

„Ja – wir sind’s,“ sagte Karl Schrock wie betäubt von dieser furchtbaren Überraschung. Die Rettung war ja so nahe! Kaum noch eine halbe Stunde – dann wäre man in Pommern gewesen – in Sicherheit!

„Und der da?“ brüllte der Wachtmeister, sprang ab und trat auf den alten Wentzke zu.

„Wer bist Du denn? – Du hilfst wohl den verfluchten Deutschen fliehen? Bist wohl selbst einer?“

„Oh – der Schrock hat mich angelogen! Ich bin ein guter Pole. Heiße Bentzki. Der Schrock –“

„Pole bist Du – Pole?! So spricht doch mal polnisch, Du alter Hund!“

„Ich – ich bin ein guter Katholik, Herr,“ winselte der Renegat. „Fragen Sie nur den Herrn –“

Aber der Wachtmeister ließ ihn nicht ausreden.

„Scher’ Dich zum Teufel, Lump! Bist Du nicht in zwei Minuten verschwunden, hängen wir Dich auf! Los – zur Stadt zurück –! Oder –“

Und er langte dem Alten eins mit der Säbelscheide über die Beine, daß dieser aufheulte und davonrannte.

„So,“ wandte sich der Wachtmeister dann grinsend an Meister Schrock. „Nun zu uns. – Ich habe nicht viel Zeit. Wir müssen schnell einig werden. Der Jude hat Euch verraten. Ihr habt achttausend Mark bei Euch. Ist Euch Eure Freiheit so viel wert, he?! Wenn Ihr mir das Geld gebt, lassen wir Euch ziehen. Zum Schein schießen wir hier ein paarmal in die Luft und melden nachher, daß eine deutsche Patrouille Euch befreit hat! – Na – dalli nun! Wollt Ihr, oder –“

„Ich bin ein Bettler, wenn Ihr mir –“

Der Pole lachte hart auf.

„Mir gleichgültig. – Also –“

Frau Amalie flüsterte: „Gib ihm das Geld! Bedenke, was sie mit Dir vielleicht –“

Schrock hatte schon in die Tasche gelangt, reichte dem Wachtmeister die Banknoten.

Der zählte sie flüchtig durch, meinte dann:

„So – nun haltet mal das Pferd. Wir werden eine Knallerei markieren.“

Acht – neun Schüsse gaben sie ab, ritten dann im Trab davon.

Schrock lehnte am Wagenkasten, stierte ihnen nach.

„Bettler – Bettler – heimatlos!“ murmelte er geistesabwesend.

„Aber frei, Karl, – frei,“ sagte Frau Amalie fest. „Vorwärts – eilen wir, daß wir –“

Da stöhnte der Meister auf:

„Unser – unser Kind, Amalie! Wo ist Irmgard?! Was ist aus Irmgard geworden?“

„Sie wird sich schon zur Zeit versteckt haben, Karl. Sie ist nicht ängstlich. Sie ist von unserem Schlag. Und wir, Karl – wir werden schon durchkommen – irgendwie, irgendwo!“

Dann rumpelte der Wagen weiter die Chaussee entlang. –

Über die einsame, öde Heide wanderten in derselben Nacht zwei Männer in langen Gummimänt[eln.][5] Sie trugen Rucksäcke, und in jedem Rucksack steckte [ein] Koffer und eine Handtasche.

Diese Lasten schienen sehr schwer zu sein. [Beide] Männer gingen vornübergebeugt, stützten sich auf [ihre] Spazierstöcke und machten des öfteren halt. Si[e ka]men von einer Bahnstation, einem nahen pommer[schen] Städtchen. Daß sie die Heide nicht zum ersten [Male] durchquerten, bewies die Sicherheit, mit der sie [diesen] Weg nahmen.

„Teufel, der Dreck wiegt!“ knurrte der eine [klei]nere jetzt. „Setzen wir uns eine Weile nieder, [Rütt]ger. Ich schwitze, daß mir das Wasser den Rücken langläuft.“

„Du bist eben zu gut genährt,“ lachte der andere, dem die Last weniger auszumachen schien. „Hinsetzen hat keinen Zweck. Wir sind ja gleich da. Dann kannst du Dich im Trocknen ausruhn. – Ein Sauwetter! Der Regen meint’s gut! Aber – das schadet nichts. Er wäscht die Spuren weg. Wir können nicht vorsichtig genug sein. Ich möchte nicht den Erfolg zu guter letzt noch gefährden. Da nehme ich lieber Regen und Sturm mit in Kauf. – Trink’ einen Schluck Kognak, Breßla! Mensch – wirklich – Du wirst zu dick für unser Geschäft. Na – wenn wir erst den ganzen Kram unter Dach und Fach haben und jeder Rentier mit sechs Nullen ist, dann – dann wirst Du wahrscheinlich sehr bald an Herzverfettung eingehn! – Übe Mäßigkeit in allem! Das ist mein Grundsatz. Und ich –“

Er schwieg plötzlich, blieb stehen und lauschte.

Der Wind hatte ihm den Knall mehrerer Schüsse zugetragen.

„Du,“ meinte er, „sollten etwa die Polen schon so dicht an der Grenze sein?! Das klang wie ’ne kleine Patrouillenschießerei! Dann, Breßla, – dann wäre unser Weizen ja schnittreif!“

Sie wanderten weiter. Nach zwanzig Minuten kamen sie an das Westufer eines großen Sees, bogen links ab, schritten dann über eine schmale Landzunge hin und keuchten mühsam den sandigen Berg hinan, auf dem die alte Ruine aus der Ordenszeit sich erhob.

Der schlanke Rüttger hatte eine elektrische Taschenlampe eingeschaltet, legte nun seinen Rucksack ab, ging in die Westecke des viereckigen Kellerraumes und entfernte hier von dem mit Steinen, Sand und fahlem Unkraut bedeckten Boden an einer bestimmten Stelle all diese Mauertrümmer, die wie zufällig bis hierher gerollt zu sein schienen, scharrte auch den Sand beiseite und legte so einen quadratischen Holzdeckel frei, der sich leicht hochheben ließ.

Unter dieser primitiven Falltür befand sich ein eckiges Loch, – der Zugang zu einem tieferen Kellergeschoß, das aus zwei Räumen bestand, die völlig trocken und auch gut ventiliert waren.

Wollene Decken, zwei Graslagerstätten, ein Spirituskocher und anderes deuteten darauf hin, daß dieser Schlupfwinkel von den beiden Männern schon häufiger benutzt worden war.

Rüttger brachte eine Acetylenlampe schnell in Ordnung und rief dabei dem etwas korpulenten Breßla, der sich keuchend und pustend auf das eine Grasbett geworfen hatte, heiter zu: „Dicker, immer wieder muß ich hier allein das Hausmädchen spielen! Weiß Gott, Du eignest Dich wunderbar zum Rentier!“

Die Lampe brannte. Jetzt konnte man auch die Gesichter der beiden Freunde genauer betrachten. Rüttger und Breßla mochten etwa Anfang der Dreißiger sein. Ersterer war bartlos, hatte einen regelmäßigen, energischen Gesichtsschnitt und erinnerte mit seinen frischen, gesunden Farben ein wenig an einen Seemann. Seine grauen Augen blickten offen und frei. Lebensfreude und Kraftbewußtsein entstrahlten ihnen so stark und in so angenehmer, gewinnender Weise, daß jeder wohl sofort für diesen von der Natur mit einem so bestechenden Äußeren ausgestatteten Menschen Sympathie gefaßt hätte. Er war unter dem Gummimantel mit einem Sportanzug mit Kniehosen bekleidet, trug dazu braune, derbe Schnürschuhe und einen weißen Stehkragen mit einer dunklen Krawatte, in der eine große Perle als Nadel schimmerte. Die zum Anzug passende, weiche Reisemütze troff von Nässe. Rüttger wand sie mehrmals aus, brachte seinen dunkelblonden Scheitel mit einem Kamm wieder in Form, begann nun die beiden Koffer auszupacken und entnahm jedem vier große, gewichtige Pakete, die mehrfach verschnürt waren.

Der dicke Klaus Breßla, dessen von einem blonden Spitzbart umrahmtes Vollmondgesicht sich lediglich durch ein paar wässerige, helle Augen und eine kleine Wippnase auszeichnete, schaute ihm gelassen zu und sagte nur einmal sehr herzlich: „Du bist ein gutes Tierchen. – Tatsache! Wer Dich jemals verlästern würde, dem – dem langte ich eine runter, daß er gleich merkt, was ich mal war, bevor ich durch die Schieberkost so faul wurde.“ Er belächelte seinen mäßigen Witz und steckte sich eine Zigarre an.

Rüttger entfernte nun aus dem aus gebrannten Steinen bestehenden Bodenbelag vier bestimmte Steine und legte die Pakete in ein großes Erdloch, in dem bereits einige Dutzend ähnliche Pakete aufgestapelt waren. Dann brachte er die Steine wieder an Ort und Stelle, scharrte Sand und Gras darüber und meinte: „Es ist jetzt ½3 Uhr morgens. Um 4 haben wir den edlen Pan Szichorski herbestellt. Für alle Fälle will ich aber schon jetzt an den Rendezvousplatz gehen. Derweilen mach’ Du uns eine Mahlzeit zurecht. Aber reichlich, Dicker. Ich habe einen Mordshunger.“

Er kletterte gewandt an dem Birkenstamm empor, der hier mit seinen kurz abgehauenen Ästen die Leiter nach der Falltür hin vertrat. Oben bedeckte er die Falltür wieder mit Schutt und schlenderte dann dem Seeufer zu, bog rechts ab und erreichte nach zehn Minuten die Chaussee und die Seenenge. Hier setzte er sich auf einen Chausseestein, rauchte behaglich eine Zigarre und dachte über alles mögliche nach.

Der Sturm hatte inzwischen den Himmel von allem Gewölk gesäubert. Der Mond stand tief. Es war jetzt immerhin so hell, daß Rüttger gut hundert Meter weit die Chaussee nach dem Städtchen zu überblicken konnte.

Rüttger gewahrte plötzlich in der Ferne auf einem der hellen Flecken eine Gestalt, die mühsam gegen den mit aller Kraft hier entlangstoßenden Sturm ankämpfte.

„Donner – eine Frau!“ dachte er. „Was tut die hier?! Diese Nacht eignet sich doch kaum zu Wanderungen.“

Die Frau kam näher. Sie versuchte zu laufen. Aber sie schien bereits zu erschöpft, um es mit dem Winddruck mit Erfolg aufnehmen zu können.

Rüttger sah, daß sie im linken Arm ein Bündel trug und unter dem Mantel ein buntes Kleid anhatte. Er bemerkte auch, daß sie hinkte. Nun – diese leichten Hausschuhe eigneten sich auch kaum für den spitzen Chausseeschotter der frisch gewalzten Straße.

Die Frau war jetzt zehn Schritt vor ihm stehen geblieben und hatte sich an einen Baum gelehnt. Ihr trockenes Schluchzen drang trotz des Sturms bis zu dem stillen Beobachter hin.

Rüttger stand auf und schritt auf sie zu. Kaum hatte sie ihn erblickt, als sie in wilder Hast die Böschung hinablief, um sich in den Krüppelkiefern zu verbergen. Es war Irmgard Schrock.

Ihre Kräfte waren jedoch verbraucht. Sie strauchelte, sank gerade im Chausseegraben aufwimmernd zusammen, wollte sich wieder aufraffen, sah nur noch als letztes, was ihr klar zum Bewußtsein kam, ein mitleidiges, bartloses Gesicht dicht vor dem ihren und verlor die Besinnung.

Leo Rüttger zögerte nicht lange. Er nahm das junge Weib, dessen Schönheit ihn ebenso begeisterte wie rührte in die Arme und eilte mit der süßen Last der Insel zu.

Kaum war er in der Heide verschwunden, als ein Radler auftauchte, der nun an derselben Stelle absprang, wo Rüttger vorhin gesessen hatte.

Dann führte er seine Maschine in ein nahes Gestrüpp, setzte sich auf den feuchten Boden, schlug seine Gummipelerine enger um sich und rauchte eine Zigarette nach der anderen, wobei er verschiedentlich leise allerlei Verwünschungen vor sich hin murmelte.

Nach zehn Minuten trabten auf der Chaussee fünf Reiter vorüber. Der vorderste war Rittmeister Graf Blinski.

Der Radler fluchte wieder leise. Der Fluch galt dem Grafen. Die Gedanken des Dasitzenden verdichteten sich zu leisem Selbstgespräch in polnischer Sprache.

„Der Kerl ist mir unbequem! So ein aufgeblasener Aristokrat! Ich werde ihn schleunigst irgendwie weggraulen. Der Wachtmeister wird leichter für die Sache zu gewinnen sein.“ Er lachte höhnisch auf. „Die beiden werden sich wundern! Es wird ein Geschäft werden, bei dem nur ich verdiene!“

Die Zeit verstrich. Der Radler fluchte wieder. Seine schlechte Laune machte sich jetzt gegen Rüttger Luft. „Er müßte längst hier sein! – Wenn ich nur irgendwie herausbekäme, wo die beiden hier ihren Schlupfwinkel haben. Rüttger behauptete immer, mitten in der Heide in einer Strauchhütte. Das glaube ich nicht! Na – heute werde ich abermals versuchen, ihm nachzuschleichen. Der Hund ist nur so vorsichtig!“

 

6. Kapitel.

Der Retter.

„O, mein Gott!“ – Irmgard war wieder zu sich gekommen, stieß entsetzt diesen Angstruf aus und suchte sich aus den Armen des sie davontragenden Mannes freizumachen.

„Lassen Sie mich los!“ rief sie wieder. „Wer sind Sie?! Haben Sie doch Erbarmen mit mir!“

„Das habe ich!“ meinte Rüttger freundlich. „Sie brauchen mich nicht zu fürchten. Ich bin kein Wegelagerer. Ich will Sie nur unter Dach und Fach bringen. Gestatten Sie nur ruhig, daß ich Sie trage. Mir macht das nichts aus, und Sie sind völlig erschöpft. Wir sind doch fraglos Landsleute – Deutsche. Ich kann nur annehmen, daß Sie sich auf der Flucht befinden.“

Der Wind schlug Irmgards Mantel zurück. Der Kimono wurde sichtbar. Rüttger traute seinen Augen nicht. Ein japanischer Kimono?! Und dazu diese roten Schühchen?! Was war das nur für ein holdes blondes Mädel, das er hier von der Straße aufgelesen hatte?!

Irmgard sträubte sich nicht länger. Der Mann hatte so etwas Vertrauenerweckendes an sich. Sie sagte nur leise: „Ich werde Ihnen aber auf die Dauer zu schwer werden –“

„O nein! Ich bin es gewöhnt, noch Schwereres zu schleppen.“ Er lachte heiter auf. Das Lachen nahm mehr als alles andere für ihn ein. „Erlauben Sie mir nun, daß ich mich Ihnen trotz dieser nicht gerade salonmäßigen Umgebung in aller Form vorstelle, meine Gnädige: Leo Rüttger, ohne bestimmten Beruf, zur Zeit – na sagen wir: Kaufmann, demnächst aber hoffentlich Teilhaber einer Filmfabrik. – Ich schwärme nämlich für den Film. Ich will mein Vermögen – geistiges und bares – ganz der Zappelleinwand weihen. – Sie müssen jetzt aber ein anderes Gesichtel aufsetzen, bitte! Sie haben keinen Grund, so traurig und ängstlich dreinzuschaun. Ich erkläre hiermit feierlich, daß ich Sie unter meinen und meines Freundes Breßla Schutz stellen. Sie werden sofort unser Schloß kennen lernen. Nur eine ernste Bitte: Versprechen Sie mir, nichts und niemandem, wer es auch sei, davon etwas zu erzählen, was Sie jetzt sehen werden. Wir leben hier nämlich so etwas in der Verborgenheit.“

Er beugte den Kopf tiefer. Zum ersten Mal begegneten sich jetzt mit langem Blick zwei Augenpaare. Irmgard errötete unwillkürlich. Sie war Weib genug, um zu bemerken, daß Rüttger sie nicht nur mit freundlichem, aufrichtigem Mitgefühl, sondern auch mit jener werbenden Bewunderung betrachtete, die nichts Verletzendes an sich hat.

Ein besonders heftiger Windstoß trieb Rüttger ein paar Schritte seitwärts. Er hatte den Kopf wieder heben müssen, meinte vergnügt: „Eine tolle Nacht! Ich liebe so etwas. Nur nichts Alltägliches. Das Leben ist ja meist so scheußlich altbacken-eintönig. – Wie steht’s also mit dem Versprechen? Ich muß leider darauf dringen, daß ich diese Zusage von Ihnen erhalte, meine Gnädige, obwohl ich mir nicht denken kann[6], daß Sie Gutes mit Verrat belohnen werden.“

Irmgard wurde wieder stutzig. „Verrat?!“ meinte sie unsicher. „Ja – was – treiben Sie denn hier in der Einsamkeit der Heide?“

„Dinge, die uns arm oder reich machen können – je nachdem,“ erklärte er plötzlich ganz ernst. „Sie jedoch werden davon in keiner Weise berührt. Wir werden Sie, wenn Sie sich erholt haben, dorthin bringen, wohin Sie wünschen.“

Irmgards Mißtrauen und leise Angst waren schon wieder von diesem offenen Gesicht, dieser zwanglosen Art Leo Rüttgers zerflattert.

„Ein Versprechen, daß ich nichts verraten werde, erübrigt sich,“ erklärte sie einfach. „Ich würde nie Gutes mit Schlechtem danken – nie!“

Sie blickte zur Seite, da Rüttger jetzt die Uferböschung zum See hinabstieg.

„Ah,“ meinte sie, „jetzt kenne ich Ihr – Schloß! Es ist die Ruine auf der Insel. Sie scheinen hier doch also in der Gegend bekannt zu sein. Daß ich Sie noch nie gesehen habe, Herr Rüttger! Ich wohne in dem Städtchen an der Chaussee nach Danzig. Das heißt, ich wohnte dort. Meine Eltern haben flüchten müssen – in dieser Nacht.“

Rüttger schritt über die Landzunge hin. Der sandige Inselberg fing den Wind ab. Plötzlich wurde es still um das Paar, das auf so seltsame Weise sich kennen gelernt hatte. So kam es, daß Irmgards nächste Sätze besonders deutlich klangen, da kein Lufthauch sie verwehte:

„Mir erging’s noch schlimmer. Ein polnischer Arzt hatte mich in sein Haus gelockt –“ Überhastet und getrieben von dem Wunsche, ihrem Retter zu zeigen, daß sie ihm vollständig vertraue, berichtete sie nun in aller Kürze, was ihr widerfahren, ließ nur eins weg: was ihre Eitelkeit bei alledem mitverschuldet hatte. Szichorskis Namen nannte sie ebensowenig.

Gerade als Rüttger jetzt durch die Mauerbresche in den Keller der Ruine hinabstieg, erwiderte er als einziges auf diesem schlichten Bericht seines schönen Schützlings: „So so, der Herr Doktor Kasimir Szichorski also! Sieh an – also derartiges bekommt er fertig.“

Er stellte Irmgard langsam auf ihre Füße, meinte weiter: „Einen Augenblick. Ich will nur das Schloßtor öffnen, gnädiges Fräulein!“

„O bitte – nennen Sie mich Fräulein Schrock. Ich bin eines Handwerkers Kind,“ sagte sie und schaute sich fragend um. Sie konnte nicht recht begreifen, was er mit dem halb scherzenden „Schloßtor öffnen“ gemeint hatte.

Rüttger hob den Bretterdeckel empor. Da erst besann sich Irmgard, daß sie ihn noch etwas hatte fragen wollen.

„Kennen Sie Doktor Szichorski denn?“ meinte sie und gab damit ungewollt zu, daß Szichorski es gewesen, der nach ihr seine begehrlichen Hände ausgestreckt hatte.

„Gewiß,“ erwiderte Rüttger. „Ich kenne ihn jetzt jedoch erst so, wie ich ihn kennen muß – in meinem Interesse! Und das danke ich Ihnen, Fräulein Schrock. Wer einer solchen Schurkerei fähig ist, wie Szichorski sie bei Ihnen versucht hat, der ist mit allergrößter Vorsicht zu behandeln.“

Er deutete dann in die Tiefe. Irmgard trat näher. Sie erblickte durch das Loch den dicken Breßla, der vor dem Spirituskocher saß und mit dem Löffel in einem Aluminiumkesselchen rührte.

„Ein behagliches Bild!“ flüsterte Rüttger. – – Breßla schaute nach oben, rief: „Wie, bist Du schon zurück, Leo? Ist der edle Popolsku nicht gekommen?“

„Ich bringe Besuch – eine Dame!“ rief Rüttger hinab.

„Deine faulen Witze kannst Du Dir sparen! Wo sollen hier Damen herkommen?! – Beeil’ Dich, daß Büchsenfleisch kocht und duftet wie –“

Irmgard mußte trotz der sonderbaren Lage, in der sie sich befand, auflachen, sagte nun laut, da Breßla sich hastig erhoben hatte: „Entschuldigen Sie, daß ich hier als Störenfried eindringe –“

Rüttger betrachtete ihr jetzt so heiteres Gesicht voller Bewunderung für so viel jugendlichen Liebreiz, meinte dann:

„Werden Sie an dem Birkenstamm hinabklettern können, Fräulein Schrock?“

Er half ihr und gleich darauf saß Irmgard auf einem der Koffer und trank aus einem Aluminiumbecher gesüßten Tee mit etwas Rum. Rüttger hatte das Versteck sofort wieder verlassen. Sie hatte nun Gelegenheit, auch seinen Freund näher kennen zu lernen. – Breßla war weit weniger zwanglos als Rüttger. Zuerst blieb er verlegen und wußte nicht recht, wie er Irmgard unterhalten solle. Allmählich taute der Dicke aber doch auf. Als Irmgard so nebenbei erwähnte, daß Rüttger viel Kraft besitzen müsse, da er sie doch eine so weite Strecke getragen hätte, griff Breßla diese Gelegenheit sofort auf und fing an, ein Loblied auf seinen Freund zu singen, das so recht aus ehrlichem Herzen kam, wie Irmgard richtig herausfühlte.

„Womit handeln Sie denn?“ fragte sie arglos.

„Zur Zeit handeln wir mit äußerster Vorsicht!“ umging Breßla scherzend eine direkte Antwort. „Wie wäre es nun mit etwas Fleisch, Fräulein Schrock? – – Nein – Sie müssen essen, und tüchtig essen. Wir haben übergenug Vorräte hier. Es ist dies hier ja unser Hauptkontor. Unsere Zweigniederlassung befindet sich in Berlin.“ Er war jetzt völlig aufgetaut und bemutterte Irmgard in so lieber Weise, daß sie merkte, ein wie goldenes Herz dieser Freund Rüttgers besaß.

Nachher hängte er eine Decke vor den offenen, niedrigen Eingang zu dem weiten Kellergelaß, machte Irmgard ein Lager zurecht, steckte eine zweite Acetylenlampe an und zeigte dem schönen Schützling dann den „Damensalon“, wünschte Irmgard angenehme Ruhe und zog sich zurück.

Ach – Irmgard fühlte sich hier geborgen. Wie unendlich dankbar war sie den beiden Landsleuten für all die liebevolle Fürsorge. Sie streckte sich auf das Grasbett hin, deckte sich zu, drehte die Lampe aus, deren Flamme dann langsam erlosch.

Irmgard besaß genug Sinn für Romantik, um dieses Abenteuer mit seinen für sie so günstigen Einzelheiten wie ein schönes Traumerlebnis hinzunehmen. Kein Wunder, daß auf ihr unberührtes Herz gerade die Persönlichkeit ihres Retters besonders wirkte. Er erschien ihr im Rahmen dieses Abenteuers wie eine eigenartige Romanfigur: sie erinnerte sich mit seltsamem Glücksgefühl daran, wie er sie in den Armen gehalten, an seine Brust gedrückt und getragen hatte: sie rief sich besonders gern den einen Moment ganz genau ins Gedächtnis zurück, als seine Augen den ihren zum ersten Male begegnet waren und wie in den seinen deutlich etwas wie begeisterte Bewunderung für ihre Schönheit zu lesen gewesen war.

Mit solchen Gedanken, mit den ersten scheuen Anfängen erwachender Liebe, schlief sie ein. –

Als sie nach vielen Stunden erwachte und sich erhob, hörte sie hinter dem Vorhang im Nebenraum leises Flüstern. Ein paar Worte verstand sie doch, ohne gerade lauschen zu wollen. Es war Rüttgers Stimme, die da soeben geäußert hatte:

„– ein verwünschtes Pech, Dicker! Diese blonde Geisha darf sich nicht allzu sehr in meine Gedanken eindrängen. Du kennst mich: ich verachte die Weiber, weil sie alle nur etwas Halbes sind. Sie geben sich nie restlos einem großen Gefühl hin, bleiben stets abhängig von den kleinen Schwächen ihres Geschlechts: Eitelkeit, Unaufrichtigkeit, Gefallsucht und tausend kleinen Bedenken. Ich wünschte, unsere holde Geisha begegnete mir nie mehr im Leben!“

Irmgard stand regungslos. Das Blut schoß ihr ins Gesicht. Jäh kamen ihr die Einzelheiten eines ihrer Traumgesichte dieser Nacht zum Bewußtsein: sie hatte dicht an Rüttger gelehnt dagestanden, hielt ihn umschlungen; vor ihnen fiel ganz steil ein ungeheurer Abhang zu einem sturmgepeitschten Meer wie eine Mauer ab; die blutig rote Sonne ragte noch etwas über den Horizont hinweg. Sie hatte Rüttger dann geküßt mit verzehrender Leidenschaft, und plötzlich war der Boden unter ihnen gewichen und hatte sie mit hinabgerissen in eine endlose Tiefe.

Und jetzt – jetzt konnte sie Rüttgers Worte doch nur so deuten, daß er tatsächlich bereits in ihr halb und halb sein Schicksal sah: das Weib, das er schon liebte, das er doch verachtete, weil er keinem Weibe eine restlose Hingabe, ein völliges Aufgehen in dem geliebten Manne zutraute.

Ein nie geahntes Glücksempfinden erfüllte sie nun. Sie mußte lächeln. Es war das Lächeln eines Weibes, das sich zu kennen glaubte, das sich anmaßte, einem Leo Rückert zu genügen, weil es eben das Leben und die Liebe nicht kannte.

Sie wollte nicht die Lauscherin spielen, meldete sich, rief:

„Darf ich eintreten?“

Dann erfuhr sie, daß es schon wieder Abend war, daß sie volle zwölf Stunden fest geschlafen hatte; dann merkte sie, daß Rüttger still und insichgekehrt war, daß er den Dicken die Unterhaltung ihres Schützlings überließ.

Auch sie wurde schweigsam. –

Um elf Uhr abends brach man auf, nachdem Rüttger draußen eine volle Stunde die Umgebung abgesucht hatte, da er eine Schurkerei Szichorskis fürchtete, wie er Irmgard gegenüber offen zugab. Diese Nacht war windstill und sternenklar. Rüttger ging eine Strecke voraus. Irmgard und Breßla folgten. Auch der Dicke schien jetzt bedrückt. Er sprach wenig. Nur etwas von seinen Sätzen hatte offenbar eine bestimmte Bedeutung.

„Wir werden uns bald trennen, Fräulein Schrock,“ hatte er geäußert. „Sie dürfen niemandem sagen, daß Sie mit uns zusammen gewesen sind. Sie müssen irgend eine Lügengeschichte ersinnen, die derart ist, daß Leo und ich ganz aus dem Spiel bleiben. Am besten für Sie ist, daß Sie uns völlig aus Ihrem Gedächtnis streichen. Wir werden uns ja auch kaum wiedersehen, aber – wir beide werden gern an unsere blonde Geisha zurückdenken, wenigstens ich. Rüttger – hm ja, – der – der hat für Frauen wenig übrig, offen gestanden!“

Irmgard merkte: der gute Breßla wollte ihr von vornherein jede Hoffnung nehmen, daß dieses Abenteuer etwa eine Fortsetzung haben könnte; er mochte fürchten, die blonde Geisha könnte schon jetzt sich in den Freund so etwas verliebt haben. Und diesen vielleicht aufkeimenden Gefühlen wollte er sofort ein Ende bereiten.

Irmgard hatte auf diese Sätze nichts erwidert. Ihr war das Herz so schwer, so bang; sie schaute in eine ungewisse, freudlose Zukunft hinein; sie wußte, daß die Eltern die alte Heimat nie vergessen würden, daß sie nie wieder froh werden würden; sie kannte der Mutter schleichendes Leiden, sah ein langsames Dahinwelken voraus.

Der Mond stieg über die Anhöhe empor; in der Ferne keckerte ein beutelüsterner Fuchs; hin und wieder gingen Hasen vor den Wanderern flüchtig hoch.

Rüttger hielt sich stets einige zehn Schritt voraus. Irmgard sah, wie gerade, leicht und kraftvoll er dahinschritt. Sie hätte zu ihm eilen mögen, sich in seinen Arm einhängen und bitten: „Verlaß mich nicht; versuch’s mit mir; gib mir etwas Sonne, gib mir etwas von Deinem heiteren Lebensmut ab.“

Unweit des ersten pommerschen Dorfes nahe der Chaussee kam am Rande eines Fichtengehölzes der kurze Abschied. Wieder fühlte Irmgard deutlich, daß Rüttger dieses Lebewohl absichtlich förmlich überhastete.

Ein Händedruck, ein paar fast kalt-höfliche Worte von seiner Seite, – dann ging sie allein der Chaussee zu. Noch einmal drehte sie sich um. Der Mond beschien den Waldrand so hell, daß sie Rüttger und Breßla noch hätte sehen müssen. Aber – nur die Fichtenwipfel nickten ihr grüßend zu. Die Freunde waren verschwunden.

Da schluchzte Irmgard auf: da reckte sie unwillkürlich die Arme aus nach dem Waldsaum, flüsterte, überwältigt von der Sehnsucht des Weibes, das endlich gerade den Mann gefunden hat, den sie nie vergessen zu können meint:

„Weshalb gingst Du von mir – weshalb?!“ –

Ihre Augen waren gerötet von Tränen, als sie den Gasthof fand, in dem die Eltern sich einlogiert hatten, um hier auf ihr Kind zu warten.

Weinend sank sie dem Vater in die Arme; weinend kniete sie dann am Bett der plötzlich schwer erkrankten Mutter.

Sie hatte sich die Zukunft doch so richtig ausgemalt. Es gab keine Sonne mehr für sie; und was für andere wie Sonne aussah, war nur wieder Herzensnot und banges Zweifeln, welchen Weg sie gehen sollte.

 

7. Kapitel.

Graf Blinski.

Monate später.

Am Fenster einer Wohnung am Nikolsburger Platz in Berlin-Wilmersdorf steht eine schlanke, in Trauergewänder gekleidete blonde Frau und schaut sinnend auf den Schmuckplatz hinab, wo der Wintersturm die entlaubten Bäume grimmig durchschüttelt und die Schneeflocken hie und da zu Schanzen auftürmt.

In dem Zimmer, an dessen Fenster das blonde, junge Weib lehnt, spielen zwei Kinder an einem Tische mit buntbeklebten Bauklötzchen und bemühen sich, nach der Vorlage ein bestimmtes Bild zusammenzustellen.

Es sind ein Knabe und ein Mädchen mit überzarten Gesichtern. In dem Ausdruck ihrer Züge liegt etwas Altkluges, fast Unkindliches. Des öfteren blicken die Kinder nach der blonden Frau hin; dann leuchten die Augen ein wenig auf. Jetzt kann das Mädelchen doch nicht länger schweigen.

„Tante Irmgard, Du – Du stehst schon so lange dort, und wir – wir werden nicht fertig mit dem Ziegenbock. Die Hörner finden wir nicht –“

Irmgard dreht sich langsam um, nickt der kleinen Else zu.

„Ich komme ja schon, Elschen –“

Sie setzt sich. Müde und versonnen sind ihre Augen. Mit Gewalt muß sie sich aufrütteln, um ihre Pflicht zu erfüllen. Nein – nicht nur ihre Pflicht! Nicht nur diese bildet das Band zwischen ihr und Rechtsanwalt Würzners Kindern; sie hängt an den Kleinen; sie wäre ja auch undankbar, täte sie’s nicht. Sie fühlte ja täglich, stündlich, daß sie in das Leben Elschens und Rudis wieder Sonnenschein hineingetragen hat, fühlt die Liebe der mutterlosen Zwillinge, eine scheue Liebe, die sich noch nicht recht hervorwagt, weil die Kleinen es verlernt hatten, ihre Empfindungen frei zu äußern im Verkehr mit dem ernsten, stillen Vater, der es nie verwinden konnte, daß diese beiden kleinen Geschöpfe seinem über alles geliebten Weib das Leben gekostet haben. –

Rechtsanwalt Philipp Würzner hatte sich nach seinem rechtzeitigen Wegzug aus dem westpreußischen Städtchen hier in Berlin niedergelassen. Er war vermögend; er konnte auf Praxis warten.

Dann hatte er durch einen Landsmann zufällig von dem traurigen Geschick Irmgard Schrocks gehört, hatte sie als Hausdame in sein Heim geholt.

Viele Wochen war das nun her; und vieles war anders geworden in Würzners Leben, in seiner Kinder bisher so freudlosem Dasein. –

Nach einer halben Stunde wurde es dunkel. Rudi durfte die Hängelampe einschalten. Wieder verging eine halbe Stunde. Draußen schrillte draußen die Flurglocke, dann kam das Mädchen und brachte auf silbernem Teller eine Visitenkarte.

„Der Herr bittet um eine Unterredung,“ richtete das Mädchen aus.

Irmgard nahm die Karte mit einer gewissen Hast auf.

Vielleicht – vielleicht!

Aber – zu ihrem Erstaunen und ihrer Enttäuschung las sie dann:

Graf Hektor Amadeus Blinski,
Rittmeister,
kommandiert zum Polnischen Generalkonsulat

Berlin W. Leonhardstr. 11.

„Führen Sie den Herrn Grafen in den Salon, Anna,“ sagte sie gleichgültig.

Was konnte Blinski nur wollen?! Gerade Blinski! Sie war ja nur ein einziges Mal mit ihm zusammen gewesen – damals in jener Nacht, als sie auch – den Anderen kennen lernte – ihr Schicksal!

Sie erhob sich. Sie war nun doch ein wenig neugierig, welche Veranlassung Blinski hierher geführt haben könnte. Er mußte ja ohne Zweifel erst langwierige Erkundigungen eingezogen haben, bevor er ihren jetzigen Aufenthalt erfahren hatte.

Sie durchschritt das Speisezimmer, betrat den Salon, wo Anna die Krone eingeschaltet hatte.

Graf Blinski stand auf und kam ihr entgegen. Er war im Rock, der seine schlanke, sehnige Gestalt noch besser zur Geltung brachte als die Uniform.

Sein Blick überflog Irmgards Erscheinung wie prüfend. Sie merkte, wie sein Schritt zögernder wurde, wie überrascht er war.

Er küßte ihr die Hand, sprach ihr zunächst sein Beileid wegen des Todes ihrer Eltern aus.

Sie deutete auf einen Sessel, bat ihn, wieder Platz zu nehmen, – alles mit der ruhigen Sicherheit einer Dame.

Seine Blicke deuteten an, was er verschweigen mußte: daß er sie schöner denn je fand; daß er die Umwandlung, diesen vollständigen Wechsel in ihrem äußeren Wesen sehr wohl bemerkte.

„Ich wollte mir nur gestatten, gnädiges Fräulein, mich nach Ihrem Ergehen zu erkundigen,“ hatte er begonnen. „Sie werden dieses freundschaftliche Interesse an Ihrer Person nach jener Nacht begreifen. Sie haben mich damals nicht einen Augenblick getäuscht. Ich wußte, daß Sie fliehen würden. Ich konnte mir nicht denken, daß ein deutsches Mädchen von Ihrem ganzen Auftreten einem solchen Schurken blindlings in die Falle gehen würde. Ich übernahm damals auch persönlich Ihre von Szichorski befohlene Verfolgung, um – Sie entschlüpfen zu lassen. – Danken Sie mir nicht! Es war meine Pflicht als Pole, Ihnen zu helfen. Ich konnte dies nur heimlich tun. Ich war ja Szichorski unterstellt. Ich meldete sein Verhalten Ihnen gegenüber sofort nach Posen an die Zentralverwaltung. Aber dort haben wir leider vielfach jetzt Leute in leitenden Stellen, die über ihrem fanatischen Deutschenhaß völlig das vergessen, was man der polnischen Nation stets nachgerühmt hat: die Ritterlichkeit! Besonders Frauen gegenüber! – Man warf meinen Bericht in den Papierkorb; man schätzte den Herrn Doktor Szichorski sehr hoch ein. Hatte er doch mit dafür gesorgt, in dem Städtchen und in der Umgebung eine Menge Renegaten für Polen zu gewinnen – Leute, die natürlich bei erster Gelegenheit genau so laut „Hoch Preußen!“ rufen werden wie jetzt „Es lebe Polen!“ Und diese Gelegenheit werden sie meiner Ansicht nach bald haben, wenn unsere Regierung weiter so schlecht ihre Stützen sich auswählt wie zum Beispiel diesen Szichorski. Wissen Sie, daß er mit 2 Millionen Amtsgeldern flüchtig geworden ist, gnädiges Fräulein? Und zwar schon einen Monat nach Ihrer Flucht? – Es ist so: ich hatte diesen Menschen sofort richtig eingeschätzt. Aber – man hörte ja nicht auf mich. Bei uns regiert jetzt eben der blinde Fanatismus, dessen Vertreter Leute sind, deren enger Horizont sie wohl leidliche Ärzte, Anwälte, Lehrer und Handwerker abgeben läßt, aber nie Staatsmänner! – Genug davon! Jedenfalls: Szichorski ist jetzt nichts als ein gemeiner Defraudant, ein Genosse – stellen Sie sich vor! – deutscher – „Schieber“, wie man diese Art Händler jetzt nennt. Er, der scheinbar so begeisterte Vaterlandsfreund, hatte seit längerem, wie aus Papieren, die man in seinem Schreibtisch fand, hervorging, mit zwei Deutschen in Verbindung gestanden, die sehr wahrscheinlich Silber und Gold über Danzig ins Ausland verschoben haben. – Ah, fühlen Sie sich plötzlich schlecht? Sie sind so bleich geworden. Darf ich nach dem Mädchen klingeln, damit es Ihnen vielleicht ein Glas Wasser bringt? Hat die Erinnerung an jene Nacht Sie so erregt? Das würde ich unendlich bedauern –“

Irmgard schüttelte den Kopf. „Beunruhigen Sie sich nicht, Herr Graf. Ich habe hier in Berlin viel zugelernt, aber auch viel verloren: meine gesunden Nerven. Aber diese kleinen Anfälle gehen schnell vorüber. – Sie sprachen da soeben von zwei deutschen Händlern oder – Schiebern. Ich bin nun damals in Pommern nach meiner Flucht zwei Männern begegnet, die mir auf einem Bahnhof unweit der Grenze auffielen. Sie erwiesen mir auch eine kleine Gefälligkeit. – Kennen Sie vielleicht die Namen jener beiden Leute?“

„Ich will versuchen, mich darauf zu besinnen. Den einen hat man vor Monaten abgefaßt. Er wurde zu hoher Geldstrafe und zwei Monaten Gefängnis verurteilt. Man hatte ihn mit einer Menge Silber im Zuge nach Lauenburg betroffen. Sein Genosse entkam. Er hat diesen nie verraten, hat sogar bei seiner Verhaftung schnell noch Papiere zerkaut und hinabgewürgt, aus denen man sicherlich den Namen dieses zweiten Schiebers erfahren hätte, der nun fraglos nie entdeckt werden wird. – Richtig – der Abgefaßte hieß Breßla, – ganz bestimmt Breßla.“

Irmgard saß mit zusammengepreßten Lippen da. Ihr Blick war seltsam leer und tot geworden.

Breßla – Breßla!

Sie hätte den Namen des anderen nennen können, – einen Namen, der ihr eine stete, heiße Sehnsucht verkörpert hatte:

Leo Rüttger –!

Und – Rüttger ein – Schieber, – einer, der die Not des Vaterlandes durch Ausfuhr von Edelmetall noch vergrößert hatte –!

Sie hörte nicht mehr hin auf das, was Graf Blinski weiter noch sagte. Sie hörte nur immer eine innere Stimme, die ihr grausam zuraunte:

Und der Mann hat Deine Tage und Nächte in Ewigkeiten eines unstillbaren Sehnens verwandelt, der hat Dich nach jenem Abschied am Waldrande nie mehr freigegeben, obwohl Du ihn nie wiedersahst, nie mehr von ihm hörtest! Der hat sich Deiner bemächtigt, hat das Weib in Dir geweckt, hat Dein Blut, obwohl Dir fern, erhitzt zu schrankenlosem Begehren, der ist an all den Tränen Schuld die Du ihm nachweintest – ihm, – Deinem Schicksal, Deiner großen Liebe!

Schieber – Schieber, Genosse eines Szichorski?

Das also war Leo Rüttger – das! –

Langsam erwachte Irmgard dann wieder, begriff das, was Blinski nun sprach.

„Ich habe es durchgesetzt, daß man Ihnen zu Ihrem Eigentum zurückverhilft. Jener jüdische Händler und der ungetreue Wachtmeister sind zur Rechenschaft gezogen worden. Ich freue mich aufrichtig, Ihnen mitteilen zu können, daß Ihnen in den nächsten Tagen eine Anweisung auf eine hiesige Bank über 12 000 Mark zugehen wird. – Die Summe ist nicht groß, aber –“

Irmgard hatte ihm die Hand gereicht.

„Herr Graf, ich danke Ihnen herzlich. Es gibt also doch noch ritterliche Polen –“

Er führte diese Hand an seine Lippen. Der Kuß war ehrerbietig, und doch –

Irmgard hatte ein sehr feines Gefühl für die geringsten Anzeichen, ob eine Huldigung die Grenzen rein freundschaftlicher Gefühle überschritt. Täglich hatte sie ja Gelegenheit, dies hier im Hause an Philipp Würzner zu beobachten.

Plötzlich war es in ihr wir eine Ahnung aufgegangen: Graf Blinski hatte nicht lediglich die Ritterlichkeit hergeführt! Er hatte nicht aus Ritterlichkeit sie damals in jener Nacht gewarnt und sie auch weiter schützen wollen!

Blinski hielt ihre Hand noch immer in der seinen. Er war aufgestanden. Er sprach jetzt leise, bewegt, zuweilen fast leidenschaftlich:

„Irmgard, ich will ehrlich sein! Ich bin nicht lediglich als – guter Freund hier erschienen. Ich – habe Sie nicht vergessen können! Das Bild der lieblichen blonden Geisha begleitete mich bei Tag und Nacht. – Irmgard – ich liebe Sie! Sie befinden sich hier in abhängiger Stellung. Ich biete Ihnen meinen alten Namen an, ein sorgloses Leben; ich werde Sie auf Händen tragen; nie sollen Sie bereuen, mich erhört zu haben! Werden Sie mein Weib, Irmgard! Sie sind heimatlos! Ich weiß, wie Ihre Verwandten in Pommern an Ihren Eltern gehandelt haben, wie Ihres Vaters Bruder Sie wie Bettler, wie lästige Gäste mit bäuerischer Roheit schließlich halb und halb davongejagt hat, obwohl er es zu Reichtum gebracht hat; ich weiß, daß Ihre arme Mutter elend dahinsiechte, daß Ihren Vater ein Schlaganfall kurz nachher traf. – Irmgard – werden Sie mein Weib! Sie werden mich lieben lernen! Sie werden es, weil ich kein Mensch bin, der ein geliebtes Wesen enttäuschen könnte! – Ich verlange heute keine Antwort, Irmgard. Ich bitte nur, daß Sie mir gestatten, hier häufiger mich einzufinden –“

Da endlich vermochte sie ihn zu unterbrechen. Sie war ganz betäubt gewesen durch diese Werbung. Nie – nie hatte sie für möglich gehalten, daß Blinski so offen seine Gefühle schon heute enthüllen würde.

„Hier – hier sich einfinden?!“ stieß sie hervor. „Oh – das ist unmöglich! Das – das würde ja Rechtsanwalt Würzner –“ Sie stockte, errötete jäh, fuhr dann mutig fort:

„Herr Graf, auch ich will rückhaltlos ehrlich sein.“ Sie blickte ihn frei an. „Ich kann Ihnen nie angehören – nie! Ebensowenig Rechtsanwalt Würzner, der still und bescheiden seit langem um meine Liebe wirbt, wie ich sehr wohl herausgefühlt habe. – Ich – trage das Bild eines anderen im Herzen. Und diese Liebe, der auch niemals die Erfüllung werden kann, soll mein bleiben – wie ein Schatz, den man nicht zu heben vermag, der einen aber trotzdem beglückt! – Fragen Sie nichts weiter, Herr Graf, Sie müssen sich mit diesen Andeutungen begnügen. Ich achte Sie sehr hoch als ritterlichen Mann! Freundschaft, treue Freundschaft könnte ich Ihnen geben, Liebe – nie!“

Graf Blinski schwieg sekundenlang. Dann sagte er gepreßt:

„Freundschaft, Irmgard?! Dazu bin ich zu sehr Pole. Ich könnte für mich nicht einstehen; es könnte eine Stunde kommen, wo ich mich Ihnen zu Füßen werfen würde und – um Liebe betteln! Das – will ich nicht! Dazu bin ich zu sehr – Mann! – Deshalb – leben Sie wohl, Irmgard, ich werde –“

Seine Stimme zitterte. Er bekam kein Wort mehr über die Lippen, wandte sich hastig ab und verließ den Salon.

 

8. Kapitel.

Mutti, – Mutti –!

Irmgard hatte sich wieder gesetzt. Sie konnte jetzt nicht mit den Kindern zusammen sein. Sie mußte Zeit haben, ihre große Liebe zu Grabe zu tragen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie einem Unwürdigen ihre unendliche Sehnsucht und ihr stilles Hoffen auf ein Wiedersehen geweiht hatte.

Leo Rüttger – Schieber – Schieber!

Für sie, die von den Eltern in so strengen Begriffen von Ehrlichkeit und Unehrlichkeit erzogen worden war, galt Rüttger jetzt – einem Diebe gleich! –

Mehr noch: da sie argwöhnte, daß Szichorski mit diesen Millionen nur geflüchtet wäre, um mit Breßla und Rüttger dunkle Geschäfte machen zu können, hielt sie Rüttger für mitschuldig an dieser Unterschlagung amtlicher Gelder.

Wenn Breßla ihn – sagte sie sich mit Recht – nicht so treu geschützt hätte, säße Rüttger jetzt im Gefängnis. Er war ja die Seele dieser Schiebergeschäft gewesen, – er, der geniale, smarte ehemalige Reporter! –

Irmgard starrte mit tränenleeren Augen vor sich hin. Wie sehr sie Rüttger geliebt hatte, wußte sie jetzt erst, daß sie ihn für immer verloren hatte, da er für sie nunmehr ein Toter war. Und war für sie doch das Leben gewesen, die Sonne, das Licht, die Zukunft! So fest hatte sie daran geglaubt, daß er eines Tages den Weg zu ihr zurück finden würde, überwältigt von einer Sehnsucht, die der ihrigen gleichkam.

Und all das nun vorbei – vorüber! Nun gab es kein Hoffen und Harren mehr! Nun mußte ihr Herz still werden, ihre Sehnsucht einschlafen – mußte!

Lange saß sie so, und ihre starke Seele begrub so eine große Leidenschaft.

Dann stand sie auf. Jetzt hatte sie nur noch Pflichten. Nichts weiter. Und die Arbeit, das treue Sorgen für zwei heranwachsende kleine Menschlein sollte ihr helfen, über diese plötzliche Leere, die in ihr war, hinwegzukommen.

Sie ging und setzte sich wieder zu den Kindern an den Spieltisch. Ihr Gesicht mochte wohl seltsam verändert sein. Denn anders konnte sie sich die scheuen Blicke der Kleinen und deren halb verlegenes Wesen nicht erklären. Nach einer Weile schob sich dann Elschens kleine Hand scheu in die ihre.

„Tante Irmgard, wirst Du auch nie mehr von uns gehen?“ flüsterte das Mädchen wie in Angst. „Wirst Du unsere Mutti werden, Tante Irmgard?“

Mutti werden! – Also hatte Würzner doch offenbar schon irgendwie den Kindern in Aussicht gestellt, daß sie eine neue Mutti bekommen würden! Sie hatte sich also nicht getäuscht: Er hoffte, daß sie seine Werbung annehmen würde.

Ihr wurde noch schwerer ums Herz. Was sollte sie Elschen antworten? Sollte sie den Kindern die Sonne stehlen durch ein „Nein – Eure Mutti kann ich nicht werden –?“ Sollte sie diese Kleinen, denen sie das Lachen wieder beigebracht, so bitter enttäuschen und betrüben?

„Elschen – ja, ich bleibe bei Euch als Eure liebe Tante,“ sagte sie endlich. „Immer bei Euch – so lange Ihr mich haben wollt!“

Das gemeinsame Abendbrot war vorüber; die Kinder zu Bett gebracht.

Irmgard saß in ihrem Zimmer und schrieb in ihr Tagebuch, was der heutige Nachmittag ihr genommen.

Es klopfte. Dann trat Philipp Würzner ein, – etwas gebeugt schon, massig, groß, ernst mit ergrautem Haar. Und er war doch noch nicht einmal ein Vierziger.

„Gestatten Sie, daß ich Platz nehmen, Fräulein Irmgard,“ sagte er seltsam unsicher. „Ich hätte – mit Ihnen etwas zu besprechen –“

Irmgard wies stumm auf einen Korbsessel. Nun – nun kann die Entscheidung. Sie wußte es. Die Entscheidung, ob sie auch diese Heimat verlieren würde.

„Fräulein Irmgard,“ begann er mit einer Ruhe, die heute erkünstelt war, „hat Ihnen Ihre liebe Mutter je anvertraut, was ich einst mit ihr in einer Stunde, wo mein Herz mich dazu drängte, besprochen habe? Daß – ich schon daheim in unserem Städtchen fühlte, nur Sie können mir eine Dahingegangene ersetzen? Wissen Sie, daß Ihre Mutter mir damals antwortete, ich solle warten; Sie seien noch zu jung, um – an einen Witwer als Gatten zu denken? – Ich habe gewartet. Und dann fügte es das Schicksal, daß ich Sie als liebe Hausgenossin zu mir holen konnte; dann lernte ich von Ihnen, meinen Kindern etwas Wärme zu geben; dann wurde mir klar, daß ich sie nie wieder missen könnte. – Irmgard –“ – er stand auf und nahm ihre Hände – „werden Sie hier Hausfrau, werden Sie mein Weib!“

Sie hatte den Kopf tief gesenkt; schwieg.

„Irmgard, meine Kinder lieben Sie,“ fuhr er noch leiser, noch flehender fort. „Sollen die Kleinen ohne Mutter aufwachsen, nie mehr zu jemand Mutti sagen dürfen? – Irmgard – ich bin ein alter Mann, nur nach dem Namen nach jung. Wollen Sie mich einen Greis bleiben lassen? Und könnten mir doch die Jugend so leicht wiedergeben!“

„Ich – ich darf nicht!“ stieß Irmgard fast angstvoll hervor. „Ich – ich kann ja nicht –! Quälen Sie mich nicht! Hätten Sie nie dies alles gesagt – nie! Jetzt muß ich ja fort von hier! Wie sollte ich nach dieser Aussprache noch mit Ihnen unter einem Dach leben?!“

Sie mied seinen Blick, erhob sich schnell, ging zum Schreibtisch, nahm das Tagebuch und reichte es ihm.

„Lesen Sie die letzte Seite –,“ meinte sie und stellte sich an das Fenster.

Und er las:

„– Ich habe etwas geliebt, das wie ein körperloses Gebilde war. Ich habe ihn ja nur kurze Stunden gekannt. Dann gingen wir auseinander, und das Schicksal türmte Berge zwischen uns auf. – Nie mehr etwas von ihm, über ihn. Und doch: wie hat er mich stets besessen! Wie oft war er bei mir, hat mich geküßt! Meine Träume waren Seligkeiten mit ihm, mein bewußtes Denken Sehnsuchtsschreie nach einer Verwirklichung dieser Träume.

Dann heute, als all das zerschellte wie ein kostbarer Glückspokal, heute der Abschied von ihm, ein Abschied ohne Worte für immer, aber auch ein Schwur ohne Worte für mich: Einsam zu bleiben! Nie einem anderen zu gehören – nie! – Wie könnte ich das auch?! Ich bin ja sein gewesen, so oft, wenn auch nur in flüchtigen Traumgesichten! Sein war ich: und – ich werde auch treu sein, treu und einsam.

Heute warb Graf Blinski um mich; morgen wird es vielleicht Würzner tun. Und beiden die gleiche Antwort: Ich kann nicht!

Und – ich will auch nicht! Ich habe ausgelöscht in meinem Gedächtnis, was ich heute über ihn hörte. Nun darf ich wenigstens meinen Erinnerungen leben: wie er mich über die Heide trug, wie der Sturm uns zauste, wie er so fröhlich lachen konnte, wie er mir vorkam gleich einem Gott mit seiner sieghaften Heiterkeit.

Das alles gehört mir, soll mir bleiben, und nichts –“

Hier brach das Geschriebene ab.

Philipp Würzner legte das Buch auf den Tisch.

„Irmgard –!“

Sie wandte sich um. Seine Augen ruhten ernst auf ihrem blassen Gesicht.

„Irmgard – was Sie da geschrieben, sind Augenblicksstimmungen, die vielleicht Jahre überdauern mögen. Aber – es bleiben Stimmungen! Sehen Sie, Irmgard, als meine Frau mir genommen wurde, da glaubte ich auch: Du erträgst das nicht! Du wirst nie darüber hinwegkommen! – Und – ich habe es ertragen, und ich – liebe jetzt Sie genau so innig wie einst jene Tote! – Das Leben den Lebenden! Es liegt eine tiefe Weisheit in diesen Worten. Auch Sie werden das bald erkennen. Sie sind jung. Die Jugend kann nicht alles in sich abtöten, was nach Erfüllung lechzt. Nur – zurückdämmen kann sie’s! – Irmgard, ich will Ihnen vergessen helfen. Ich will nie fragen, wer jener andere war. Ich –“

Er schwieg. Die Tür hatte sich leise geöffnet. In ihren langen Nachthemdchen, Morgenschuhe an den Füßen huschten Elschen und Rudi herein, blieben erst scheu an der Tür stehen, flogen dann auf Irmgard zu, umklammerten sie und Rudis helle Stimme rief zwischen den Rockfalten hervor:

„Tante – Tante, vorhin hat der Pappi gesagt: „Betet, daß Ihr eine Mutti bekommt, daß die Tante heute Eure Mutti werden will!“ – Tante Irmgard, wir haben immerzu gebetet – bis jetzt! Wirst Du nun unsere Mutti werden?“

Würzner trat schnell hinzu, legte[7] seinen Arm um Irmgard.

„Wollen Sie wirklich nein sagen?! – Das Leben den Lebenden, Irmgard!“

Ihr kamen Tränen in die Augen. Sie wußte selbst nicht, daß sie ein Ja hauchte.

Sie fühlte seine Lippen auf ihrer Stirn, hörte die Kinder jubeln:

„Mutti – Mutti!“ –

Das war Irmgard Schrocks Verlobung.

 

9. Kapitel.

Die zappelnde Leinwand.

Eine Woche war vergangen.

Es war Sonnabend. – Nachmittags um 4 Uhr kam Würzner aus seinem Bureau. Man setzte sich zu Tisch. – Er erzählte, daß der Direktor der neuen Filmgesellschaft Primissima, Herr von Scholten, sein Mandant, ihn für morgen zur Besichtigung der Baulichkeiten der Filmfabrik eingeladen hätte.

„Was meinst Du, Irmgard, wollen wir uns die Zerstreuung nicht gönnen?“

Filmfabrik! – Irmgard durchzuckte es schmerzlich.

Da war sie schon wieder, diese Erinnerung an einen, der nach ihrem Willen für sie tot sein sollte und – der doch noch lebte, wie etwas, das man lebendig begräbt, nur um es nicht mehr zu sehen, um sich vorzutäuschen: es ist gewesen, ist erstorben in uns! – Es lebte! Und wie lebendig es war, merkte sie jetzt erst wieder. Leo Rüttger hatte ja damals in jener Nacht so begeistert von der Filmindustrie ihr gegenüber gesprochen. Selbst darauf besann sie sich noch, obwohl es doch nur ein paar Sätze gewesen, gelegentlich eingestreut in ein anderes Thema! Sie besann sich eben auf alles, auf jedes Wort von ihm; sie hörte ihn noch sagen: „Ich verachte die Weiber, weil sie stets etwas Halbes sind. Sie geben sich nie restlos einem großen Gefühle hin –“

Wo war der sichere Beweis, daß Rüttger wirklich schuldig?! Und – wenn er schuldig gewesen wäre, – was ging das schließlich ihre Liebe an?! Sollte nicht die Liebe stärker sein als alles, stärker als kleinliche Bedenken, stärker selbst als das Urteil der Öffentlichkeit, die diesen oder jenen verdammte aus nüchternen moralischen Erwägungen! Eine große Leidenschaft mußte sich über all das hinwegsetzen – mußte! Sonst war es eben kein – „ganz Großes!“

Dies war’s, was Irmgard Schrock sich in den schlaflosen Nächten nach ihrer Verlobung mit Philipp Würzner immer aufs Neue überlegt hatte; dies war wie eine neue Offenbarung in ihrer Seele fest verankert.

Und jetzt, als sie abermals an Leo Rüttger, den Toten, dachte, erkannte sie noch mehr: daß sie selbst gar nicht mehr wollte, daß er für sie tot sei; daß alles wieder zurückgekehrt war, was sie weit von sich gewiesen, daß es neu in ihr erwacht war, stärker, mächtiger denn je: die große Leidenschaft, die große Liebe, die unendliche Sehnsucht; – daß alle Halbheit jetzt verschwunden; daß es ihr gleichgültig, wie Leo Rüttger von der Welt beurteilt und verurteilt wurde!

Jetzt hatte sie wieder zurückgewonnen, was ihres Lebens Inhalt gewesen: diese Vereinigung mit ihm, obwohl räumlich getrennt! Er gehörte ihr wieder, ihr und ihren Träumen! Er war wieder das ferne Ziel stillen Hoffens. –

Es fuhr sich so schön an dem klaren, sonnigen Wintertag im Auto durch den Grunewald gen Wannensee. Hier draußen lag noch die weiße Schneedecke, die in den Straßen Berlins nur noch grauer Schlick war, häßlich, jeder Poesie beraubt. Hier wehte des Winters Poesie rundum.

Das Auto hielt vor dem Riesenbau mit dem Obergeschoß aus Eisenkonstruktionen und Glas, vor diesem ungeheueren photographischen Atelier, in dem Menschen und Menschenschicksale, Leidenschaften aller Art auf das rollende Filmband gezaubert wurden.

Direktor von Scholten empfing die Gäste, küßte Irmgard die Hand. – Welch ein berückendes Weib! dachte er. Das wäre ein Gesicht für eine Filmdiva! Und diese Augen, diese sprechenden Augen!

Unendlich viel gab es in dem Riesenbau zu sehen. Scholten erklärte alles, zeigte, wie die prachtvollen Salons aufgebaut würden – wie alles nur eine schöne Täuschung war.

„Mein Teilhaber, unser Oberregisseur Rüttger, hätte Ihnen all das weit besser klarmachen können,“ meinte er und schaute unauffällig auf Irmgard.

Die war blaß geworden – so blaß.

„Leider ist er beschäftigt,“ fügte Scholten hinzu. „Er ist ja die Seele des Unternehmens, ein Mensch, der einfach alles kann, ein Genie in seiner Art, so vielseitig, so findig, wie es wohl wenige gibt.“

Irmgard schritt wie im Traum weiter.

Er – er wirkte hier an dieser Stätte. Er hatte erreicht, was ihm als Endziel vorgeschwebt hatte; der Film als Gegenstand eines Lebensberufs!

Eine seltsame Unruhe erfaßte sie. Sie wußte nicht, was sie wünschen sollte: daß er hier plötzlich erschien oder – daß er nicht käme! – Aber ihre Seele rief nach ihm. Alle Sehnsucht dieser Monate vereinigte sich in dem lautlosen Flehen: „Komm’, gib mir Sonne!“

„Ich möchte Ihnen nun noch Teile eines neuen Films im Vorführungsraum zeigen,“ sagte Scholten. „Wir sind mit dem Film nicht ganz zufrieden. Die Rolle der Heldin liegt unserer „Diva“ nicht ganz. Wenigstens erklärte Rüttger mir, der das Filmdrama selbst verfaßt hat, daß ihm bei der Rolle etwas weit Zarteres, Eigenartigeres von Frauencharakter vorgeschwebt hätte.“

In bequemen Sesseln saßen sie dann in dem schmalen, langen Vorführungsraum. Auf der quadratischen Fläche zuckten farbige Buchstaben auf. Der Titel des Filmwerks –

Die blonde Geisha.

Dann der erste Akt: Eine Schmiede, ein blondes Töchterlein, dessen Lebensschicksale hier begannen.

Weiter und weiter rollte das Filmband; Szene um Szene, Akt auf Akt.

Irmgard sah ihr eigenes Leben an sich vorüberhuschen. Der, der den Film verfaßt, hatte gerade nur so viel an den tatsächlichen Ereignissen geändert, daß die handelnden Personen nur von sich selbst wiedererkannt werden konnten.

Jetzt die Nacht auf der Heide; der Mann, der das junge Weib in den Armen trug, mitnahm in ein romantisches Versteck. – Jetzt der letzte Akt: die Heldin im Hause eines durch Schicksalsschläge frühzeitig gealterten Arztes, als dessen Operationsschwester; er, der berühmte Chirurg, liebt seine Gehilfin, möchte seinem Lebensabend etwas – Sonne geben durch ein friedvolles Liebesglück; sie, die den Retter nie vergessen hat, lehnt seine Werbung ab, erkrankt plötzlich schwer, wird durch des Arztes Kunst geheilt, reicht ihm nun aus Dankbarkeit die Hand zum Lebensbunde, friert in dieser Ehe, kämpft beständig gegen die Sehnsucht nach dem anderen an, welkt dahin in diesen Seelenkämpfen, bis ein Zufall dem Arzte die Wahrheit enthüllt und er sie großmütig freigibt – für den anderen, den Glücklicheren. –

Auch Philipp Würzner hat längst durchschaut, daß dieser Vorführung gerade dieses Films eine bestimmte Absicht zugrunde liegt; jetzt endlich kennt der das Geheimnis von Irmgards Vergangenheit, weiß, wem ihre Liebe gehört: dem Retter, dem Manne, der sie eines Nachts durch Sturm und Regen vor den Verfolgern in Sicherheit brachte!

Erkennt[8] alles, erkennt[9] auch sich selbst; er ist der Arzt, der die Jugend an sich fesselte und selbst nicht mehr jung sein kann.

Er beugt sich Irmgard zu, flüstert:

„Ich gebe Sie frei, – ich muß verzichten! Jugend zu Jugend, predigt der Film. Und – er hat recht!“

Irmgard schweigt. Ihre Gedanken sind anderswo.

Lautlos ist hinter ihr eine Gestalt erschienen, beugt sich zu ihr herab.

„Bitte – folgen Sie mir –“

Wie ein Sturmwind durchbraust’s ihre Seele:

Er – er!

Wie Frühlingswind – wie lauer Tauwind, der alles Eis wegschmilzt, der den Sommer, die Wärme ankündigt.

Sie erhebt sich leise. –

Der Film zeigt die letzten Szenen: die Vereinigung der Liebenden.

Irmgard sieht nichts mehr davon; sie tritt hinaus in die blendende Helle des Aufnahmeateliers, des glasüberwölbten Riesensaals.

Vor ihr steht Leo Rüttger – genau wie einst, – frisch, kräftig; nur um den Mund einen Zug von Ernst und seltsamer Ergriffenheit.

Er sagt nichts, schaut Irmgard nur an. Dann verbeugt er sich, reicht ihr den Arm, führt sie in sein Zimmer, schließt die Tür.

Stumm deutet er auf ein Bild über seinem Schreibtisch – ein Ölgemälde, eine – blonde Geisha, die unverkennbar Irmgards Züge trägt.

„Nach ein paar heimlichem Momentaufnahmen von einem Freunde gemalt,“ sagt er leise.

Irmgard starrt empor zu dem Bilde.

Sie begreift jetzt, was dies Bild für sie bedeutet: den Beweis, daß Rüttger sie nie vergessen hat! –

„Irmgard!“

Sie wendet sich ihm zu. Beide Hände streckt er ihr entgegen. Und sie legt die ihren hinein in diese starken Hände, denen sie sich in einer Nacht angstvoll entwinden wollte, – als der Sturm über die Heide fegte.

„Irmgard, Sie haben gesiegt!“ sagt er leise und voll tiefer Zärtlichkeit. „Ich dünkte mich stärker als die Erinnerung an jene Stunden, die wir einst beisammen waren; ich glaubte, sie auslöschen zu können, weil ich von den Frauen nicht – viel hielt. – Ich konnte es nicht; ich habe Sie nie aus den Augen verloren, Irmgard; habe vorausgesehen, was sich im Hause Würzners ereignen würde; das Hausmädchen hat geplaudert. – Irmgard, sie wollen – aus Mitleid Jugend zum Alter gesellen. Das ist – ein Unding, das ist wider die Natur! Das dürfen Sie nicht! – Alles sollen Sie wissen, Irmgard. Hätten Sie mich damals nicht vor Szichorski gewarnt, würde er Breßla und mich betrogen haben. Wir hatten eine große Menge Silber in der Ruine aufgestapelt. Wir wollten es ins Ausland schaffen. Wären Sie nicht als Warnerin mir vom Schicksal in den Weg geführt worden, hätte Szichorski uns festnehmen lassen; dann wäre der ganze Schatz verloren gewesen. So aber entgingen wir seiner Tücke. Wir haben jeder unsere Million verdient, obwohl mein armer Dicker dann noch für Monate ins Gefängnis mußte. Nun – er ist wieder frei; er ist zu seinem ehrbaren Beruf in verfeinerter Form zurückgekehrt, besitzt in Westdeutschland ein großes Cafee. – Mir ermöglichte die Million die Gründung dieser Filmfabrik. Gewiß – das Geld ist nach der landläufigen Moral unredlich verdient. Aber, Irmgard, – man kann alles wieder gut machen, wenn man nur will, auch – Schiebergeschäfte! Zunächst: ich habe durch diese Gründung gegen hundert Menschen eine Erwerbsmöglichkeit geschaffen; dann – ich kann, wenn die Fabrik weiter sich so entwickelt wie bisher, eines Tages der Allgemeinheit zurückerstatten, was ich durch diese Schiebergeschäfte ihr entzog. Und ich werde es teilen, bevor ich Sie nun frage: Haben Sie mich ebensowenig vergessen, wie ich Sie niemals verdrängen konnte aus meiner Erinnerung?“

Sie erwiderte nichts. Nur ihre Augen strahlten auf.

Dort, wo die beiden Hand in Hand standen, lag der Sonnenschein grell und weiß in breiter Lichtbahn auf dem kostbaren Teppich.

Die Sonne hüllte die beiden ein. –

Sie erwiderte nichts. Sie entzog ihm nur ihre Hände, legte ihm die Arme um den Hals, schmiegte sich an ihn, schluchzte auf vor Glück.

„Die Sonne – die Sonne ist da –!“ flüsterte sie nun an seiner Brust.

Seine Hand hob ihren Kopf.

„Blonde, kleine Geisha, – endlich, endlich!“ jubelte er auf. Und wie er’s ausrief, – das war wieder derselbe lebensfrohe, sieghafte Leo Rüttger, den Irmgard nie hatte vergessen können.

Er küßte sie; küßte sie zart und innig.

– – – – – – – –

Der Frühlingssturm brauste über das Häusermeer Berlins hin, schüttelte die Bäume auf dem Nikolsburger Platz, mahnte sie, daß es Zeit sei, Knospen zu treiben, zu erwachen aus langem Winterschlaf.

Philipp Würzner stand am Fenster des Kinderzimmers, schaute hinab auf die Straße.

Hinter ihm spielten Elschen und Rudi am Tisch, warfen immer häufiger verlangende Blicke nach dem Vater hin.

„Pappi!“ meldete sich Elschen. „Pappi, komm’, zeig mir, wie ich diese Puppe ausschneiden soll –“

Er trat an den Tisch, lächelte seinen Kindern zu, – ein glückliches Lächeln war’s; beugte sich über Elschen, half ihr, fühlte den Kinderarm zärtlich auf seinem Nacken, küßte die Kleine.

Alles, was einst zwischen ihm und seinen Kindern als Schranke sich erhoben hatte, war beseitigt. Das war Irmgards Geschenk, das sie hier zurückgelassen; das hatte sie erreicht, nur sie.

Die Liebe zu seinen Kindern hatte Philipp Würzner nun doch die Jugend wiedergegeben; eine andere Jugend, als er sie sich einst erträumt hatte; kein Liebesglück, aber auch ein Glück, ein großes, bleibendes Glück.

„Pappi, wann kommt Tante Irma wieder zu uns?“ fragte Rudi und blickte auf eine photographische Vergrößerung in kostbarem Rahmen, die an der Wand hing und die Tante Irma als Japanerin darstellte.

„Mein Junge, die Tante hat jetzt viel zu tun, hat wenig Zeit. Sie ist jetzt Filmschauspielerin, ist in kurzem berühmt geworden. Sie war ja auch erst vorgestern bei uns. Ihr könnt sie aber besuchen gehen. Ihr wißt ja, wie gern sie Euch bei sich hat. Wollt Ihr hin? Dann schicke ich die Anna mit Euch mit –“

Elschen schüttelte den Kopf.

„Pappi – wir bleiben lieber bei Dir. Du hast heute ja frei. Auf die Sonnabendnachmittage freuen wir uns schon immer so – so recht sehr. Du spielst eben so schön mit uns wie Tante Irma. Und Du bist doch auch unser lieber Pappi, und die Tante ist nur – die Tante geblieben –“

Philipp Würzner strich über Elschens Haar hin. In seinen Augen schimmerte es feucht.

Unser lieber Pappi! – Nie hatte er das früher gehört, nie –!

„Elschen – das darfst Du nicht sagen: nur die Tante geblieben!“ meinte er ernst. „Mag die Tante Irma jetzt auch Frau Rüttger heißen, – für uns muß sie stets so etwas sein wie eine Märchentante, wie eine gütige Fee, die stets um uns ist, unsichtbar, wie es so Feen sein können, – die uns hier Sonne und Glück gespendet hat und weiter spendet –“

„Und Schokolade bringt sie auch stets mit,“ rief Rudi eifrig. „Und wenn wir bei ihr sind und sie bitten, dann zieht sie sich auch so an, wie sie dort auf dem Bilde ausschaut, und dann ist sie so wunderschön, Pappi, so – so, wie eine – eine –“

„– süße, blonde Geisha,“ vollendete der Pappi und seufzte ganz leise.

Ganz leise.

Der Frühlingssturm, der an den Fenstern rüttelte, übertönte den Seufzer.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. Dieser Text ist der Neuauflage (ab 1929) Die guten Vergiß mein nicht-Romane, Band 12 entnommen. Copyrightvermerk von 1920 und Druckplatten stammen aus der Erstauflage, vom Verlag ist lediglich die Titelseite neu erstellt worden.
  2. Siehe auch Wikipedia: Józef Haller von Hallenburg (polnischer General).
  3. In der Vorlage sind 6 Zeilen jeweils in der Mitte unleserlich. Fehlender Text sinngemäß ergänzt.
  4. In der Vorlage steht: „wis“.
  5. In der Vorlage sind 10 von 12 Zeilen jeweils am Ende unleserlich. Fehlender Text sinngemäß ergänzt.
  6. In der Vorlage steht: „wann“.
  7. In der Vorlage steht: „lege“.
  8. In der Vorlage steht: „Er kennt“.
  9. In der Vorlage steht: „er kennt“.