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Die eiserne Tür

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die eiserne Tür.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Unschuldig verurteilt.

Der Sammeltransport der nach Sibirien bestimmten Sträflinge war, von Odessa kommend, gerade gegen Abend nach endlosem Tagemarsche durch die öden Donsteppen in dem Kosakendorfe Thamirsk angelangt, als dem Führer des Zuges gemeldet wurde, daß in einer der Gefangenengruppen ohne Zweifel die Cholera ausgebrochen sei.

Alles Fluchen half nichts. Dabei verstand Rittmeister Wanzikoff es doch aus dem ff! – Es war nichts zu machen, die Cholera war da, und den Bestimmungen gemäß mußte der Transport nun so lange in dem Dorfe bleiben, bis die Seuche wieder erloschen war.

Die einzelnen Gruppen wurden außerhalb des Dorfes in schnell errichteten Nothütten untergebracht und mußten für ihre Verpflegung selbst sorgen. Dies war nun insofern nicht ganz einfach, als immer drei Leute durch kaum zwei Meter lange Ketten aneinander geschmiedet waren. Handelte es sich doch hier um einen Zug von Schwerverbrechern, denen schon unterwegs nach Sibirien klargemacht werden sollte, was ihrer dort wartete.

Die Gruppen bestanden durchweg aus 21 Leuten, denen zwei Wächter beigegeben waren. Diese sahen ihre Hauptaufgabe darin, die Sträflinge auszuplündern, ihnen alles aber auch alles halbwegs Wertvolle abzunehmen als Bezahlung für schlechte Lebensmittel und kleine Erleichterungen, und sie nachher geradezu zum Betteln zu zwingen, damit sie den „Verdienst“ abermals mit ihren Peinigern teilen konnten.

Gruppe Nr. 3 hatte dank der Umsicht des Sträflings Balldin sich in einer leeren Scheune in einem kleinen Tale einquartiert, das mit frischem Grase, grünen Sträuchern und einem winzigen Weiher einen recht freundlichen Eindruck machte.

Balldin, ein Deutscher, war für die Wächter der Gruppe 3 ein geradezu unentbehrliches „Stück“ geworden und erfreute sich auch heute wieder voller Freiheit, da ohne ihn die unpraktischen Russen, ein Unteroffizier und ein Gemeiner der Infanterie, weder aus noch ein wußten. Balldin, ein Mann in den besten Jahren mit blondem, jetzt stark verwildertem Bart, blauen Augen und einer wahren Athletengestalt, hatte bis vor einem halben Jahr in Odessa als Elektroingenieur ein Geschäft für elektrische Anlagen jeder Art besessen und es in drei Jahren bereits zu einem wohlverdienten Reichtum dank seiner Tüchtigkeit und seines Fleißes gebracht. Dann aber sorgten heimliche Widersacher dafür, daß er der Teilnahme an einer politischen Verschwörung wegen verhaftet und ihm der Prozeß in einer Weise gemacht wurde, wie dies nur im Reiche des Zaren möglich war, wo nur zu häufig falsche Zeugen und gefälschte Schriftstücke zur Beseitigung unliebsamer Personen eine große Rolle spielten.

Balldin beteuerte bis zuletzt seine völlige Schuldlosigkeit. Aber Leute von Stand und Ansehen, deren Feindschaft er sich durch seine Unbestechlichkeit – in Rußland seiner Zeit gleichbedeutend mit geschäftlicher Unklugheit – zugezogen hatte, setzten seine Verurteilung zu zehnjähriger Deportation nach Sibirien durch. Umsonst kämpften Balldins kluge, tatkräftige Frau und eine Reihe von Freunden für den Bedauernswerten, dessen Vermögen wie stets in solchen Fällen als dem Staatssäckel verfallen erklärt worden war.

Zum Glück war Balldin so vorsichtig gewesen, den weitaus größeren Teil seiner Ersparnisse so anzulegen, daß dieser dem gierigen Forschen unredlicher Beamten entging. Frau Anna Balldin hatte dabei aber die Vorsicht besessen, nach außen hin größte Dürftigkeit vorzutäuschen. Nach der Verurteilung ihres Gatten war sie zusammen mit ihrem vierzehnjährigen Sohne nach Deutschland über die rumänische Grenze abgeschoben worden unter dem ausdrücklichen Verbot eines abermaligen Betretens russischen Bodens. – –

Balldin und der Soldat Sharandoff gingen am nächsten Morgen nach dem Eintreffen des Sträflingstransportes in dem Donkosakendorfe Thamirsk auf die Jagd. Wie groß das Ansehen des Deutschen bei dem Bewachungskommando der Gefangenen war, erhellt schon daraus, daß man seinem Versprechen, keinen Fluchtversuch zu unternehmen, durchaus vertraute und ihm beinahe vollkommene Bewegungsfreiheit gestattete. Balldin war freilich vorsichtig genug, dieses Versprechen halb im Scherz immer nur für einen Tag abzugeben, so daß es bereits feststehende Gewohnheit geworden war, daß sich morgens zwischen Unteroffizier Ozinski[1] und ihm folgendes Gespräch abwickelte, bei dem stets beinahe dieselben Worte und zwar von beiden Seiten lustigen Tones fielen:

„Nun, wie steht’s heute, Karl Balldin?“ fragte der Truppenführer.

„Nun – wie gestern!“ erwiderte dann der Ingenieur augenzwinkernd. „Ich werde heute noch nicht auskneifen.“

„Gut so! Also heute noch nicht! Dann nehme ich Dir auch wieder die Kette ab.“

Damit war Balldin für einen Tag wieder die schweren Eisenfesseln los. –

Sharandoff, ein gutmütiger Mensch, der aber wie alle Soldaten des Transportes in der Ausplünderung der Gefangenen nichts Unehrenhaftes, eben sozusagen nur einen feststehenden Brauch sah, überließ sich ganz der Führung des jagdkundigen Deutschen.

Nachdem sie etwa eine halbe Stunde lang nach Norden zu durch die jetzt im Frühjahr frisch grünende Steppe gewandert waren, kamen sie an eine große, sumpfbedeckte Niederung, in der nach Balldins Versicherung ohne Zweifel allerlei Wasservögel zu finden sein würden.

„Wir wollen uns trennen. Du gehst rechts herum, Sergei, und ich links herum immer am Rande entlang. – Ziele aber gut! Mit gehacktem Blei schießt es sich aus Militärgewehren nur sehr mäßig.“

Sergei Sharandoff zuckte die Achseln. „Jeder trifft so gut er kann“, meinte er und schritt davon.

Balldin beeilte sich nicht sehr. Häufig blieb er stehen und schaute nach der Richtung aus, woher sie gekommen.

Dann bemerkte er einen zerlumpten Knaben, der mit tief in das Gesicht gezogener Fellmütze ebenfalls auf den Sumpf zuhielt.

In einem Gestrüpp trafen die beiden zusammen. Und – siehe da! – der schmutzstarrende, angebliche kleine Russe flog dem Sträfling hier um den Hals und hatte dann eine ganze Menge zu berichten, was von größter Wichtigkeit war.

„Endlich, Vater, – endlich!“ hatte er laut herausgejubelt. „Wir wollten vorsichtig sein. Daher hielten wir uns bisher fern. Die Mutter läßt Dich herzlich grüßen, und auch August Schmalz, der treue Mann!“

Nach zehn Minuten trennten sie sich wieder.

Balldin schoß dann neun wilde Enten und sechs Wasserhühner. Sergei Sharandoff hatte es nur bis auf vier Enten und eine Wildgans gebracht.

Sie kehrten nun nach dem kleinen Tale zurück, wo die ausgehungerten Sträflinge sie jubelnd begrüßten. Im Nu waren die Vögel fertig zum Braten gemacht und schmorten dann an Holzspießen über offenen Feuern.

Unweit der Scheune hatte jetzt auch ein armenischer Händler mit seinem Karren Quartier aufgeschlagen.

Der zweirädrige, mit einem Verdeck versehene Wagen mit seinen ungeheuren, plumpen Rädern, die grellbunt bemalt waren, zeigte an den Außenseiten, an Bindfäden hängend, all die vielen verschiedenartigen Gegenstände, mit denen Jussuf ben Mirk die Kosaken in den weit zerstreuten Dörfern des Dongebietes beglücken wollte.

Vom Handbeil bis zur Kaffeemühle, von dem falschen Korallenschmuck bis zum Leinenhemde mit bunten Einsätzen war so ziemlich alles vertreten, was die Kauflust dieser Halbwilden reizen konnte.

Sehr bald sammelte sich denn auch eine stattliche Menge von Weibern, Männern und Kindern an, sehr bald entwickelte sich ein lebhaftes Geschäft, bei dem der kleine, breitschultrige Jussuf bewies, daß in seinem dicken Kürbisschädel auch wirklich ein schlaues Gehirn vorhanden war.

Unterstützt wurde er bei dieser Arbeit von seiner in faltige Gewänder gehüllten Frau, die einen dichten Gesichtsschleier nach Art der Türkinnen trug, der nur die Augen freiließ.

Jussufs Gattin gehörte offenbar zu den schweigsamen Naturen. Sie sprach nicht ein Wort, verständigte sich mit ihrem Manne lediglich durch Zeichen, so daß die Käufer bald vermuteten, sie sei stumm.

Das einzige Kind der beiden, ein in Lumpen gehüllter Junge mit schmutzstarrendem Gesicht und einer bis über die Ohren reichenden Fellmütze, gab derweilen auf die drei Gäule acht, die in der Nähe weideten und die den Kosaken als begeisterten Pferdeliebhabern besonders in die Augen stachen.

Die Tiere waren für die Arbeit als Karrengäule viel zu schade. Es waren kräftige, junge Tiere von einem hochbeinigen Schlage und fraglos ausdauernde Renner. Aber Jussuf schlug jedes Angebot aus, obwohl man ihm teilweise recht hohe Beträge bot.

Im übrigen machte er glänzende Geschäfte. Abends freundete er sich auch mit Unteroffizier Ozinski und dem biederen Sergei Sharandoff an, spendierte ihnen Schnaps und erzählte, daß er ein unfehlbares Mittel gegen die Cholera hätte.

Erst spät zog er sich nach seinem Karren zurück, legte sich aber außerhalb auf den Steppenboden, in ein paar Decken gehüllt, zum Schlafen nieder, um die Pferde zu bewachen, die er an den Wagen angebunden hatte.

 

2. Kapitel.

Die Flucht.

Am nächsten Morgen gab es in der Sträflingsgruppe Nr. 3 große Aufregung.

Balldin war plötzlich an Cholera erkrankt.

Der noch nicht ganz nüchterne Ozinski raufte sich die Haare. Nun mußte er selbst für Lebensmittel sorgen! Und er war so träge – so sehr träge, lag am liebsten auf dem Rücken und zählte die vorüberfliegenden Schwalben.

Sergei Sharandoff erinnerte ihn dann an Jussuf ben Mirk.

„Er hat doch ein gutes Mittel gegen die Cholera!“ sagte er eifrig. „Bringen wir Balldin zu ihm.“

So geschah es auch. – Balldin sah sehr bleich aus und zeigte alle Erscheinungen der furchtbaren Seuche.

Jussuf schüttelte bedenklich den Kopf bei dem Anblick des Kranken.

„Er macht’s nicht bis zum Abend“, sagte er leise zu Ozinski. „Er hat die schlimme Cholera. Da wird auch mein Mittel nicht viel helfen, zumal er durch die Gefangenschaft sehr geschwächt ist.“

Abends führte Jussuf den Unteroffizier nach dem Gebüsch, in dem der arme Balldin weit ab von dem Karren und der Scheune aus Furcht vor Ansteckung von zwei Sträflingen auf Ozinskis Befehl niedergelegt worden war.

„Er ist tot“, erklärte der Händler stolz. „Ich es richtig vorausgesagt.“

Ozinski blieb der Leiche fern. Es genügte ihm, daß er Balldin regungslos mit entstelltem Gesicht, das schwärzlich angelaufen schien, daliegen sah.

„Scharre ihn ein“, meinte er zu Jussuf. „Der Rittmeister zahlt Dir dafür einen Rubel.“

Der Armenier war einverstanden.

Am folgenden Vormittag kam Rittmeister Wanzikoff, besah sich das Grab des toten Sträflings, gab dem um den Rubel bittenden Jussuf einen Hieb mit der Reitpeitsche und ging wieder von dannen.

Mittags zog Jussuf mit seinem Karren nach Nordost hin ab. Er hatte sehr viel von seinen Waren verkauft und Ozinski zum Abschied noch eine Streichholzbüchse mit dem Bilde des Zaren geschenkt, worüber der Unteroffizier vor Freude wahre Sprünge trotz seiner Faulheit tat.

Gegen ½7 abends erschien Wanzikoff plötzlich in Begleitung des Militärarztes aus der nächsten Stadt in der Scheune, war sehr aufgeregt und nahm zwei Sträflinge und Sharandoff für diese als Bewachung zum Grabe Balldins mit.

Die Sträflinge gruben und gruben.

In dem Grabe fand man nur den Sträflingsanzug mit der aufgenähten Nummer 116. Sonst nichts.

„Dieser Deutsche ist sehr schnell verwest“, meinte der Arzt ironisch.

Wanzikoff fluchte.

„Wie konnten Sie wissen, Doktor, daß der Balldin hier nicht liegt?“ fragte er dann.

„Weil die ersten drei Cholerakranken Ihres Transportes alles andere nur nicht die Cholera haben. Brechweinstein haben sie bekommen, in Schnaps gemischt – eine gehörige Dosis. Und den Schnaps hatte ihnen Balldin zugesteckt, der natürlich nur erreichen wollte, daß Ihr Transport, Herr Rittmeister, hier in Thamirsk halt machen sollte, um – eine Gelegenheit zur Flucht zu finden. Und ebenso natürlich war der Armenier ein guter Freund der verschwundenen Choleraleiche.“ Der Doktor lachte über seinen eigenen Witz, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Wanzikoff fluchte noch ärger.

Nachdem er seine Wut an Sergei Sharandoff ausgelassen hatte – Ozinski hatte sich schlauerweise rechtzeitig gedrückt! – schickte er zwanzig Kosaken hinter dem Karren drein.

„Wetten, Doktor, daß wir die Flüchtlinge morgen früh festhaben“, meinte er zu dem humorvollen Arzte.

Der nahm die Wette an.

„Ich setze zehn Rubel dafür, daß Ihr die Leute nicht erwischt. Es sind sehr gerissene Halunken. Das zeigt schon diese Cholerageschichte.“

Die zwanzig Kosaken, geführt von einem älteren Unteroffizier, ritten wie die Teufel auf der deutlich sichtbaren Fährte des Karrens entlang, die schnurgerade nach Nordost verlief.

Nach Dunkelwerden genügten zwei Fackeln, um die tief eingedrückten Radspuren zu erkennen. So ging’s bis gegen zehn Uhr. Dann bemerkten die Verfolger vor sich einen hohen Gegenstand.

Es war der unversehrte Karren, angefüllt mit dem Reste der Waren. Die Pferde und Menschen, die zu ihm gehörten, hatten das Weite gesucht.

Die Kosaken berieten, stimmten dann darüber ab, ob die Verfolgung fortgesetzt werden sollte. Alle erklärten, diese wäre zwecklos.

Der Karren war ihnen eben wichtiger. Und hiermit hatte Jussuf ben Mirk gerechnet.

Sie verteilten die leichte Beute unter sich, öffneten das Schnapsfäßchen, das ganz unten unter einem Sack mit Heiligenbildern gelegen hatte, tranken sich voll bis zur Bewußtlosigkeit und kehrten erst mittags am nächsten Tage nach Thamirsk zurück, wo sie Wanzikoff meldeten, die Flüchtlinge hätten einen zu großen Vorsprung gehabt.

Wanzikoff besaß eine sehr feine Nase für Spirituosen. Er roch, daß die ganze Bande stark nach gutem Kirschgeist duftete, wurde argwöhnisch, ließ den Unteroffizier abseits treten, redete ihm ins Gewissen, versprach ihm Straflosigkeit und – erfuhr so die ganze Wahrheit.

Da lieh er sich von dem Dorfältesten dessen vier prachtvolle Schweißhunde, nahm zehn tadellos berittene Kosaken mit und begann nun selbst die Hetzjagd hinter dem Deutschen drein, dessen Flucht ihm die Uniform kosten konnte, da der ver… Balldin ja ein gefährlicher politischer Verbrecher war. –

Zu derselben Nachmittagsstunde, als Wanzikoff mit seinen zehn Mann und den vier Hunden aufbrach, lagerten vier Personen einige zehn Meilen südwestlich von Thamirsk in einem kleinen Eichenwäldchen.

Drei gute kräftige Pferde weideten dicht neben dem kleinen Feuer, über dem ein Aluminiumkessel hing.

Die vier Leute waren das Ehepaar Balldin, dessen Sohn Fritz und der einstige Hausdiener des Geschäfts für elektrische Anlagen in Odessa, August Albert Josef Schmalz, der den Jussuf ben Mirk so tadellos gespielt hatte.

August Schmalz war ein Allerweltsgenie.

Wie alle Genies hatte auch er leider seine großen Fehler. So liebte er zum Beispiel den Alkohol in jeder Form über alle Maßen; ferner war er ein Lügner aus reiner Überfülle an Phantasie, erzählte die unglaublichsten Geschichten, die er selbst erlebt haben wollte und schließlich auch für wahr hielt, wenn er sie zum fünften Male etwa andächtigen Zuhörern auftischte; drittens besaß er noch ein so stark ausgeprägtes Selbstbewußtsein, daß er neben seiner keine andere Ansicht bestehen ließ. Diese Rechthaberei verleitete ihn oft zu Unhöflichkeiten, die er aber stets im nächsten Augenblick wieder bereute.

Er war es gewesen, der den ganzen Plan zur Befreiung Balldins ausgeklügelt und auch vorbereitet hatte. Schwierigkeiten gab es für ihn nicht. Er war gerissener als ein Grieche von den Kleinasiatischen Inseln und diesen Nachkommen der großen Hellenen sagt man eine Schlauheit nach, die selbst der Weisheit des alten Sokrates gewachsen sein soll.

Während in dem Kessel der Kaffee kochte, berieten Balldin und Schmalz die Fortsetzung der Flucht.

Der Ingenieur meinte, man würde den Schwindel mit dem leeren Grabe kaum merken. Schmalz widersprach lebhaft.

„Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein. Niemals dürfen wir es wagen, wie Sie dies wollen, schon von der vor uns liegenden Stadt Jelenowka aus die Eisenbahn im Vertrauen auf unsere falschen Pässe zu benutzen. – Ich bleibe dabei: Am sichersten ist, wir reiten weiter bis Genitschesk und mieten dort einen großen Kutter, der uns nach Salniraw bringt, wo uns niemand vermuten kann, da dieser Ort auf der Halbinsel Krim liegt und zumeist von Mohammedanern bewohnt wird, die sich um Fremde wenig kümmern.“

Frau Balldin stimmte August Schmalz zu.

„Bedenke, Karl, daß er doch diese Gegend hier am besten kennt“, sagte sie zu ihrem Manne, der es vermeiden wollte, Weib und Kind den Anstrengungen einer Flucht zu Pferde durch die Steppe noch länger auszusetzen.

Fritz Balldin trieb sich außerhalb des Eichenwäldchens umher, wo er im Sande zahlreiche Spuren von wilden Kaninchen entdeckt hatte, deren Schlupflöcher sich irgendwo in der Nähe befinden mußten.

Plötzlich sah er einen einzelnen Reiter auf das Wäldchen zuhalten. Es war ein junger Kosak mit recht aufgewecktem Gesicht, der Fritz sofort auszufragen begann. Der Knabe war jedoch schlau genug, den völlig Befangenen zu spielen, gab verkehrte Antworten, sprach sehr laut und erreichte so, daß der hellhörige August Schmalz aufmerksam wurde, sich erhob und zu dem Kosaken hinging, dem er eine lange, schöne Lügengeschichte auftischte.

Der Kosak schien jedoch irgendwie mißtrauisch geworden zu sein, ritt nachher im Galopp davon und ließ den krummbeinigen August in recht bedrückter Stimmung zurück.

Schmalz sagte zu Balldin, daß diese Begegnung ihm wenig gefalle. „Am besten ist, wir brechen auf und umgehen die nächsten Dörfer. Der Kosak sah mich immer so an, als ob er genau wüßte, wer ich bin. Vielleicht ist unsere Personalbeschreibung schon telegraphisch überallhin weitergegeben.“

Balldin[2] war bereit, dem Vorschlage Folge zu leisten. Und zehn Minuten darauf trabten die drei Pferde genau nach Westen zu von dannen. Auf dem stärksten Pferde saßen Frau Balldin und Fritz.

Zwei Stunden später war es offenkundig, daß ein Reitertrupp die Spuren der Flüchtlinge verfolgte.

Eine Hatz auf Leben und Tod begann. August Schmalz wandte allerlei List und Täuschung an, die Kosaken irrezuführen. Zwei Tage gelang ihm das, ohne daß die vier Fliehenden sich zu weit von jenem Eichenwäldchen entfernten. Dieses blieb vielmehr der Mittelpunkt des Kreises, in dem Schnelligkeit der Pferde und listenreiche Tatkraft die Verfolger umsonst bald hierhin bald dorthin jagten.

 

3. Kapitel.

Das Faule Meer.

August Schmalz stellte am vierten Tage dieser überaus anstrengenden und aufregenden Hetzjagd fest, daß inzwischen zu den ersten Verfolgern noch ein zweiter Trupp gestoßen war, der auch vier Schweißhunde bei sich hatte.

Die Lage der Flüchtlinge war jetzt überaus ernst geworden. Schmalz versuchte es daher mit einer neuen List, um die Kosaken endgültig von der Fährte abzubringen. Aus dicken Decken wurden für die Pferde eine Art Überschuhe gefertigt, die man mit dem Aufguß einer scharf riechenden Salbeiart tränkte, um den Hunden jede Witterung unmöglich zu machen.

In einem ausgetrockneten, lehmigen Flußtal, dessen Boden, zu einer rissigen, harten Tenne ausgedörrt, keine Spuren annahm, ritten die vier Deutschen zunächst nach Westen zu, bogen dann in ein Bachbett ein, verfolgten dieses, stets im flachen Wasser bleibend, bis zum Morgengrauen und schlugen nunmehr abermals eine südwestliche Richtung auf dem Kamm eines niedrigen, steinigen Höhenzuges ein, der sie bald in die Nogaische Steppe brachte, die nördlich der Halbinsel Krim sich hinzieht und noch dünner besiedelt ist als die weiten Ebenen der Provinz der Donkosaken.

Acht Tage brauchten die Flüchtlinge, um bis in Nähe der Stadt Genitschesk zu gelangen. Schon wähnten sie sich völlig sicher, als eines Abends, gerade in der Nähe der Bahnlinie nach Melitepol, hinter ihnen eine Schar Reiter auftauchte, deren Absichten kaum zweifelhaft sein konnten, da sie sich sofort fächerartig ausbreiteten und die vier Deutschen einzukreisen suchten.

Wiederum gab es einen stundenlangen Ritt auf Tod und Leben. Nur die Schnelligkeit der Pferde rettete den Ingenieur und die Seinen. Um Mitternacht gelangten sie weit östlich von Genitschesk an das sumpfige Ufer des sogenannten Faulen Meeres, fanden hier einen großen, plumpen Fischernachen, ließen ihre Pferde laufen und vertrauten sich den Wassern dieses Teiles des Asowschen Meeres an, dem man den wenig poetischen Namen Faules Meer gegeben hat.

Schmalz war es, der hartnäckig darauf drang, die Flucht auf diese Weise fortzusetzen. Nachdem er gesehen, daß die Kosaken ihre Fährte doch wieder entdeckt hatten, fühlte er sich auf dem Festlande nicht mehr sicher.

Balldin hatte gegen eine Reise im Boot seine großen Bedenken. Immerhin gab er zu, daß kein Gewässer so viel Schlupfwinkel bot als gerade das Faule Meer, von dem er schon recht viel gehört hatte.

Dieses, der westlichste Teil des Asowschen Meeres, liegt zwischen der Krim und der schmalen Landzunge von Arabat, ist sehr seicht und sumpfig, dicht mit Schilf bewachsen, in dem unzählige Wasservögel hausen, und besitzt viele Eilande, die jedoch nur schwer zu erreichen sind, da das Schilf stellenweise so hoch und widerspenstig ist, daß es kein Boot durchläßt. Jedenfalls ist das Faule Meer eines der größten salzhaltigen Sumpfgelände der Welt und ein prächtiges Jagdrevier auf Vögel aller Arten.

Nachdem der Ingenieur dem unbekannten Eigentümer des Bootes noch einen Fünfzigrubelschein in den Pfahl eingeklemmt hatte, an dem der plumpe Kahn befestigt gewesen war, griffen die beiden Männer zu den Rudern und lenkten in eine breite Straße zwischen hohen Schilffeldern ein, die nach Süden zu führte.

Am folgenden Abend bereiteten sie sich gerade auf einem winzigen Inselchen eine bescheidene Mahlzeit, als das Rattern eines Bootsmotors hörbar wurde. Gleich darauf glitt kaum zehn Meter vor ihnen in einer breiten Rinne ein Motorboot vorüber, auf dessen Vorderdeck, von einem kleinen Scheinwerfer hell beleuchtet, kein anderer als Rittmeister Wanzikoff stand, den Balldin sofort wieder erkannte.

Zum Glück blieben die Flüchtlinge unbemerkt. Trotzdem bemächtigte sich ihrer eine sehr gedrückte Stimmung.

Die Lebensmittel, die man noch bei sich hatte, waren so gering, daß damit kaum noch zwei Tage auszukommen war. Nicht besser stand es mit dem Trinkwasser. Kurz: die Lage erschien angesichts der Tatsache, daß die Russen mit seltener Hartnäckigkeit hinter dem entflohenen Sträfling her waren und jetzt die Fahrstraßen des Faulen Meeres offenbar mit Booten absuchten, mehr als bedenklich.

Unter diesen Verhältnissen kam man überein, sich einen Weg bis zu einer größeren Insel zu bahnen, an der man kurz vorher vorübergefahren war, ohne dort jedoch der natürlichen Pflanzenhindernisse wegen anlegen zu können.

Nach Eintritt der Dunkelheit wurde dieses Vorhaben mit aller Vorsicht durchgeführt. Um den Schilfgürtel des mit niedrigen Bäumen bewachsenen Eilandes zu durchdringen, brauchte man nicht weniger als fünf Stunden. Balldin und der treue Schmalz mußten stellenweise mit ihren Messern das Schilf, im Wasser bis unter die Arme stehend, abscheiden.

Endlich erreichte man dann den Eingang einer schmalen Bucht, die sich in vielfachen Windungen in die Insel hineinzog und die klares Wasser hatte. Nach einigen achtzig Metern etwa öffnete die Bucht sich zu einem seeartigen Becken. Inzwischen war der Mond aufgegangen und beleuchtete mit seinem Silberschein das stille Gewässer, das, wie Schmalz erklärte, vielleicht noch nie von Menschen besucht worden war.

Ganze Scharen von Vögeln bevölkerten die Oberfläche des Binnensees, stiegen nun lärmend auf, als die fremden Eindringlinge ihre Nachtplätze störten.

Das Boot wurde ans Ufer gezogen, und sofort machten Schmalz und der Ingenieur sich an die Arbeit, in der Nähe für Frau Balldin ein Zelt aufzuschlagen, dessen Leinwand bisher stets eins der Pferde getragen hatte.

Die Nacht war warm. Das Mondlicht genügte gerade, um das Zelt in primitiver Art vorläufig zu errichten. Die beiden Männer und Fritz streckten sich nachher auf den Boden aus, deckten sich mit ihren Wolldecken zu und schliefen, vollständig erschöpft nach diesem Kampfe mit dem Schilfgürtel, sehr bald ein und erwachten erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand und in den Zweigen der Bäume gefiederte Sänger den prachtvollen Frühlingstag priesen.

Das Bewußtsein, sich hier in Sicherheit zu befinden, wirkte froh belebend auf die armen Verfolgten, die nun schon seit Wochen kaum das Gefühl kannten, ihr Haupt irgendwo ruhig zum Schlafe niederlegen zu können.

Während Frau Balldin den letzten Kaffee in dem Kessel aufbrühte und die letzten drei Konservenbüchsen öffnete, wobei ihr ihr Gatte hilfreich zur Hand ging, sollten August Schmalz und Fritz die Insel durchstreifen und den günstigsten Platz für die neue Niederlassung im Faulen Meere aussuchen, – für die Niederlassung, denn die beiden Männer hatten beschlossen, hier mindestens sechs Wochen wenn irgend möglich auszuharren, bis ihre Verfolger die Suche endlich ganz aufgeben hätten.

Fritz, ein lebhafter, aufgeweckter Knabe mit der ganzen Abenteuerlust eines gesunden, phantasiebegabten Vierzehnjährigen, war überrascht, auf dem Eilande so viele verschiedene Baum- und Straucharten vorzufinden, darunter sogar einige tropische Gewächse, so besonders Feigenbäume und Dattelpalmen.

Schmalz, der Südrußland „wie seine Westentasche“ kannte, belehrte ihn, daß man sich hier ja in der Nähe des sog. Krimparadieses befände, das heißt jenes Küstenstrichs im Süden der Krimhalbinsel, der dem vorgelagerten Taurischen Gebirge, das die rauhen Nordstürme fernhält, sein mildes Klima und seine zauberhaft üppige Vegetation verdankt. Dieser bis zu neun Kilometer breite Küstensaum ist seit Alters her eine Siedelungsstätte aller Kolonialvölker gewesen. Hier haben Römer ihre Burgen angelegt, hier herrschten die Goten, bis sie von den Tataren verdrängt wurden, mit denen Venedig und Genua lebhafte Handelsbeziehungen unterhielten. Um das Jahr 1450 wurden dann die Türken Herren der Krim (-Festung), bis 1783 Rußland seine mächtige Hand auf die Taurische Halbinsel legte, deren Name besonders durch den Krimkrieg (1854–56), das heißt durch die Belagerung Sewastopols, bekannt wurde.

Noch etwas anderes außer dem Pflanzenreichtum fiel dem Knaben sehr bald auf: der stellenweise felsige Boden der Insel. – Dies war ja inmitten eines ausgesprochenen Sumpfgebietes in der Tat eine seltsame Erscheinung, die freilich darauf zurückgeführt werden könnte, wie der belesene August Schmalz betonte, daß das ganze Faule Meer einst Meeresboden gewesen sei, wie ja überhaupt die Ausdehnung besonders des Asowschen Meeres nach Norden und Nordosten in früheren Weltepochen bedeutend größer war, was aus der Bodenbeschaffenheit der umliegenden Steppen hervorgeht, bei denen Kalksteinschichten vorherrschend sind.

Diese traten nun auch auf der Insel vielfach zutage, bildeten sogar schroffe Hügel und Schluchten und gaben dem Landschaftsbilde eine angenehme Abwechslung.

Über die Gestalt des Eilandes konnte sich Schmalz zunächst nicht recht klar werden. Dann aber fand man auf einem hohen Hügel eine uralte Buche, deren Krone einen guten Aussichtspunkt bildete, so daß man nun auch die Grenzen der Insel unterscheiden und ein Bild ihrer Gestalt leicht gewinnen konnte.

Sie war eiförmig, erstreckte sich der Länge nach von Nord nach Süd, mochte hier etwa 800 Meter Ausdehnung bei etwa 500 größter Breite haben und schickte nach Norden zu eine schlauchartige, später nach Westen umbiegende schmale Halbinsel in ein ungeheures Schilffeld hinein, das sich bis zu den Ostgestaden der Krim hinzog. Der Binnensee lag auf der Westseite, erhielt von Osten her Zufluß durch einen Bach und wurde im Norden wieder durch einen Hain von mächtigen Eichen beschattet, zwischen deren Kronen Fritz so etwas wie ein altes Gemäuer zu entdecken glaubte.

Als er dies August Schmalz erzählte, dabei mit der Hand die Richtung andeutend, schüttelte der höchst verwundert seinen dicken Kopf, auf dem er noch immer eine Art Turban mit ein paar Hahnenfedern an der Seite trug, – eine Bedachung seines kahlen Schädels, die mit zu der Maskierung als Jussuf ben Mirk gehört hatte.

„Wirklich – es sieht aus wie eine Ruine!“ meinte er nun. „Vorwärts, schaun wir uns das Ding an!“

Sie kletterten schnell von der Buche, die am Oststrande stand, herab und eilten dem Eichenhaine zu.

Unterwegs sahen sie, daß das Eiland nicht lediglich von Vögeln, sondern auch von Säugetieren bewohnt war. Eine Wildschweinart, kleiner als die in Deutschland vorkommende, sowie zahlreiche Kaninchen und einiges Raubzeug wurden beim Nahen der Menschen flüchtig.

Dann hatten sie den Eichenhain vor sich.

Sie betraten ihn von Osten und standen hier bald vor einer zum Teil eingestürzten Steinmauer, hinter der inmitten der Eichen eine Menge herrlicher Oliven wuchsen. Als sie dann die Mauer überstiegen hatten, fanden sie auch bald die Ruine.

„Ah – ein alter genuesischer Wachtturm!“ rief August hocherfreut. „Schau an –! Und wie gut er erhalten ist! Allerdings – das sind ja auch Steinquadern, denen selbst die Jahrhunderte nichts anhaben können!“

Es zeigte sich, daß der Turm nach Westen zu noch einen niedrigen Anbau hatte, der offenbar als Wohnung benutzt worden war. Auch dieser hatte dem zerstörenden Zahne der Zeit erfolgreich getrotzt. Freilich, die eisenbeschlagene Eichentür, die von der Nordseite in diesen Anbau führte, war nur noch eine pilzüberwucherte, formlose Masse, die den Eingang halb versperrte.

August Schmalz drang keck in das halbdunkle Innere ein. Viel zu sehen gab es hier nicht. Unkraut hatte sich durch die teilweise zertrümmerten, bleigefaßten Fenster und die Tür Zutritt verschafft und die Bodenplatten hier und da gehoben. Es waren zwei Räume vorhanden. Aus dem hinteren Gemach führte eine eiserne Tür in den Turm. Diese war verschlossen, und selbst August Schmalzens Riesenkräfte genügten nicht für diese festen Krampen und dieses starke Schloß.

Das vorhandene Mobiliar war kaum noch zu verwenden. Alles faul und morsch. Nur in dem vorderen Gelaß, wo ein Kochherd aus Steinen und Eisenplatten die hochentwickelte Ofentechnik der genuesischen Baumeister deutlich bewies.

Dieser Herd gab August wieder Gelegenheit zu der Bemerkung: „Also wirklich Genueser haben hier einst gehaust! Sieh nur die lateinische Inschrift in der einen Steinplatte –!“

Fritz versuchte die vier eingemeißelten Zeilen zu übersetzen, konnte aber nur genau dasselbe herausbekommen wie Schmalz, da ihnen beiden verschiedene Vokabeln fehlten.

„Inschrift hin, Inschrift her!“ meinte der kleine, listenreiche Mann. „Die Hauptsache bleibt, daß wir hier ein Quartier gefunden haben, wie es besser den Umständen nach kaum sein kann. In kurzem werden wir es gesäubert, mit Möbeln eigenen Geschmacks und eigener Herstellung versehen und es uns behaglich gemacht haben.“

 

4. Kapitel.

Das neue Heim.

Fritz schnitt zu dieser Voraussage ein sehr bedenkliches Gesicht.

„Wir besitzen von Werkzeugen nur unsere Taschenmesser und das kleine Handbeil“, meinte er. „Etwas wenig für eine Möbeltischlerei –!“

August Schmalz lachte vergnügt. „Allerdings – sehr wenig! Aber schau’ Dir mal dort in der Ecke den morschen Schrank an! Mir scheint, es dürfte in den Beschlägen, ebenso auch in denen der Eingangstür, genug Metall vorhanden sein, um daraus an Werkzeugen zu schmieden, was uns fehlt, mein Junge. Dein Vater ist Ingenieur, ich selbst wieder verstehe eigentlich von allem etwas, – und da sollten wir nicht in kurzem es hier ganz wohnlich haben?! Wäre ja noch besser!“

Dann besichtigten sie den Turm von außen, der nur den einen, leider festversperrten Zugang durch den Anbau hatte. Die Fenster lagen etwa 4½ Meter über dem Erdboden und waren vergittert. Es blieb also nichts übrig als die Eisentür gewaltsam zu sprengen, wenn man in den Turm hinein wollte, dessen oberster Teil stellenweise eingestürzt war und der daher den Eindruck einer Ruine machte, obwohl diese Beschädigungen nicht gerade zu bedeutend waren. Vielmehr hatte man es auf die überall, selbst in den Rissen und Spalten des Mauerwerks, üppig sprießenden Unkräuter zurückzuführen, daß das uralte Bauwerk auf den ersten Blick ein so verfallenes Bild darbot.

August und Fritz kehrten nun eiligst zum Lagerplatz am Südstrande des Binnensees zurück, berichteten hocherfreut von ihrer Entdeckung und halfen dann auch bei der sofortigen Übersiedelung nach dem Turme, bei der man sich des Bootes bediente, da das neue Heim kaum 150 Meter vom Nordufer des Binnensees entfernt lag.

Der Ingenieur war von dem Turmanbau als Wohnung geradezu entzückt.

„Hier halten wir es monatelang aus“, meinte er. „Wir haben hier alles, was wir brauchen – wenigstens in Rohmaterialien. Die Herstellung von Werkzeugen ist eine Kleinigkeit. Ich sehe hier Eisen- und Bronzebeschläge in Menge. In ein paar Tagen wird das Innere des Anbaus nicht mehr wiederzuerkennen sein.“

Gleich an diesem ersten Tage wurde mit den Vorarbeiten begonnen. Da unsere unfreiwilligen Ansiedler Schußwaffen – zwei Doppelflinten und zwei Revolver – besaßen, hätten sie mit Hilfe dieser so viel wilde Kaninchen erlegen können, als sie einmal als Nahrung, dann aber auch zur Gewinnung von Tierbälgen zwecks Herstellung eines Blasebalges für die Schmiede- und Schlosserwerkstatt brauchten, die in dem einen Winkel zwischen Turm und Anbau eingerichtet wurde.

Die beiden Männer kamen jedoch überein, die Schußwaffen nicht zu benutzen, um jeden verräterischen Knall zu vermeiden. Sie stellten vielmehr Schlingen her, die, vor den Schlupflöchern der flinken, scheuen Tiere befestigt, schon am nächsten Morgen ihnen eine Beute von vier Kaninchen einbrachten.

Am Abend nach der Übersiedelung ereignete sich dann, gerade als die vier Flüchtlinge beim Essen saßen, etwas, das ihre Freude über die Auffindung des alten Turmes stark dämpfte.

Balldin sprach über seine Leiden während seiner Kerkerhaft und während des anschließenden Transportes durch die Steppen, als aus dem Turme urplötzlich ein gellender Schrei hervordrang, dem sich ein schrecklich klingendes Gelächter anschloß.

Die vier neuen Bewohner der Insel, die im Freien unter einer jüngeren Eiche saßen, schauten einander zum Teil entsetzt, zum Teil verwundert an.

„Was war das eben?“ fragte August Schmalz. „Es schien doch so, als kämen die Töne aus den hochgelegenen Turmfenstern –!“

Der Ingenieur nickte.

„Allerdings! Und ich möchte jede Wette eingehen, daß nur eine menschliche Kehle diese Laute zustande gebracht hat.“

Seine Gattin gab ihm recht.

„Das war kein Tier – ausgeschlossen!“

„Ganz gut“, meinte August, indem er sein Zwergengesicht in nachdenkliche Falten legte. „Also ein Mensch?! Was tut der im Turm? Wie und wann ist er hineingelangt?!“

Alle schwiegen und lauschten.

Dann sagte Balldin ernst:

„Fremde Fußspuren – außer den unsrigen! – sind hier nirgends zu entdecken. Sie haben wieder den Nagel auf den Kopf getroffen, lieber Gustel. Wie und wann mag das nächtliche Konzert hier auf diesem stillen Eiland eingeführt worden sein –? – Meinetwegen könnte es sofort wieder vom Programm gestrichen werden. Ich lege keinen Wert darauf.“

„Ich auch nicht!“ versicherte Schmalz und schüttelte den runden, mächtigen Kopf hin und her. „Aufregungen haben wir genug hinter uns – fürwahr! Uns kann man getrost Ruhe gönnen. Wenn ich nur an den Abschluß der Verfolgung denke – an dieses Wettrennen –!“

Fritz ließ kein Auge von den Turmfenstern.

„Wir müßten die eiserne Tür sprengen und in den Turm eindringen“, sagte er zu seinem Vater.

„Du weißt ja, mein Junge: die Tür spottet unserer Kraftanstrengungen. Bevor wir nicht Werkzeuge haben, die Steinquadern zu lockern, in die die Türkrampen mit Blei eingegossen sind, ist in dieser Hinsicht nichts zu –“

Er gedachte, mit „zu wollen“ den Satz zu beenden.

Aber – da waren die Schreie und das furchtbare Gelächter schon wieder.

Schmalz sprang auf.

„Es kam oben aus dem Turm! Jetzt weiß ich’s ganz genau!“

„Sehr unangenehm, dieser Lärm“, sagte die tapfere Frau Balldin, die ihren Mut bereits als stumme Frau des Händlers Jussuf genügend bewiesen hatte und auch jetzt wieder ihre Gelassenheit voll bewahrte – ein echt deutsches Weib von jenem Schlage, die sich so vortrefflich als Pioniere im Auslande bewähren.

Damit hatte das Konzert für heute aber auch sein Ende gefunden.

Nur das Konzert! Denn als das Ehepaar Balldin dann sein Gemach, das hintere, an den Turm angrenzende, bezogen hatte, vernahm es noch eine lange Zeit, bis nach Mitternacht, im Turm allerhand Geräusche, die den Ingenieur auch veranlaßten, an der eisernen Tür zu lauschen.

Diese schloß nicht ganz dicht an die Türvertiefung der Mauer an, vielmehr war noch genügend Zwischenraum vorhanden, um sowohl das Lauschen zu erleichtern als auch die Nase als Hilfskraft zu benutzen. Und gerade die Nase verriet Balldin, daß im Turme Dinge besonderer Art vorgehen mußten.

Zu seiner Frau sprach er heute darüber nicht mehr, meinte nur, es wäre jetzt ganz sicher, daß im Turme mehrere Leute ihr Wesen trieben.

Dann legte er Revolver und Büchse neben sein Lager und war auch bald eingeschlafen.

Nicht so sein einziges Kind, der mutige Fritz, der nebenan mit August Schmalz eine breite Lagerstatt teilte.

Der Knabe, einer von jenen durch besondere, traurige Verhältnisse schnell ausgereiften Charakteren, die weit über ihre Jahre hinaus tatkräftig und klug berechnend sind, wartete voller Ungeduld darauf, daß August einschliefe.

Zunächst gedachte der aber noch eine Weile mit seinem Zimmergenossen zu plaudern, den er längst in sein ehrliches Herz eingeschlossen hatte.

Schließlich spielte Fritz mit viel Geschick den Todmüden.

Eine halbe Stunde später erhob er sich leise und schlüpfte ins Freie.

Der Himmel war sternenklar, der Mond soeben aufgegangen. Ein leiser Wind rauschte in den Eichen und den Oliven. Zauberhafte Düfte subtropischer Pflanzen wehten über die Insel hin. Auf dem nahen Binnensee kreischten die Wasservögel zuweilen auf.

Fritz hatte sich die Eiche genau gemerkt, deren Krone zwei starke Äste gerade über die eingestürzte Turmspitze hinwegreckte.

Er war ein guter Turner und gewandter Kletterer. In kurzem befand er sich im Wipfel des Baumes und rutschte nun im Reitsitz auf dem einen Ast entlang, der sich unter dem Gewicht des Knaben immer mehr senkte, so daß Fritz dann wirklich mit den Füßen auf einem der eingeknickten Dachbalken einen sicheren Standort sich verschaffte, von dem aus er, nachdem er sich eine Weile vorsichtig umgeschaut, weiter durch eine nur halb verschüttete Luke in das Innere des Turmes sich hineinwagte.

Es war nicht lediglich Neugier, die ihn dieses Wagnis unternehmen ließ, auch nicht bloße Abenteuerlust. Nein – in ihm schlummerte ein gewisser Ehrgeiz, morgen vor seinen Vater hintreten und sagen zu können:

„Siehst Du, ich weiß jetzt, was im Turme vorgeht!“

Sehr bald umfing ihn nun auf der steinernen, abwärts laufenden Treppe tiefste Dunkelheit, so daß er sich lediglich auf das Tastgefühl seiner Hände verlassen mußte.

Schritt für Schritt ging’s tiefer.

Ihm war nicht ganz wohl zumute. Er sagte sich, daß, wenn wirklich Leute in dem alten Turme hausten, diese guten Grund hätten, sich versteckt zu halten, daß sie deshalb auch wohl jeden Eindringling als Feind betrachten würden.

Immer langsamer drang er hinab.

Die Treppe hatte bisher drei Absätze gehabt. Durch was für Räume sie hindurchlief, wußte der Knabe nicht.

Nur eins fiel ihm auf.

Es roch hier im Turme ohne Zweifel nach Maschinenöl, – nach Maschinen eben, die in Gang waren.

Was bedeutete dies nun wieder? Was nur?

Fritz wurde daraus nicht klug. – Am liebsten wäre er jetzt umgekehrt, zumal er sich sagte, daß er beinahe bis zur Höhe des Erdbodens gelangt sein müsse.

Die Treppe ging jetzt auch nicht weiter wie bisher. Seine umhertastenden Hände berührten allerhand Kisten, auch etwas Weiches, das er für ein Ruhebett hielt.

In seiner Tasche lockten die Zündhölzer, die er Schmalz vorhin heimlich weggenommen hatte. Er kämpfte lange mit sich.

Dann wagte er’s doch –

Ein Hölzchen flammte auf. Fritz schaute sich um. Der unsichere, schwache Schein ließ ihn so ziemlich alles erkennen, was dieses Turmgemach anfüllte: die vielen Kisten in allen Größen, das Ruhebett mit der wertvollen Perserdecke, die eiserne Tür, die in das Gemach der Eltern führte, und anderes.

Jedenfalls war dieser Raum bescheiden möbliert und diente ohne Zweifel Menschen zum gelegentlichen Aufenthalt.

Am wichtigsten aber war dem kecken Knaben eine Falltür, die genau in der Mitte des Gemachs sich mit ihrer Holzumrahmung deutlich von dem Steinfußboden abhob.

Sie hatte einen festen eisernen Handgriff, und als Fritz jetzt, wieder mutiger geworden durch das Bewußtsein der Nähe seiner Eltern, sie aufzuklappen suchte, gelang ihm dies ohne Schwierigkeiten.

Lautlos hob er sie hoch und lehnte sie, die sich in Gelenken bewegte, nach hinten über.

Das Streichholz erlosch in diesem Augenblick.

Immerhin hatte er aber noch gesehen, daß eine Holztreppe, die ebenso wie die Falltür noch recht neu aussah, weiter abwärts ging.

Überzeugt, daß die Leute, die hier im Turme die Schreie und das Lachen ausgestoßen hatten, längst wieder fort waren, begann er abermals Stufe für Stufe hinabzuklimmen.

Dann aber blieb er mit einem Male wie angewurzelt stehen. –

Er hatte leise Stimmen vernommen, gleichzeitig aber auch ein Surren und Stampfen, das nur von einer in Gang befindlichen Maschine herrühren konnte.

Da bekam er’s doch mit der Angst.

Eiligst trat er den Rückweg an, atmete auf, als er erst über sich die Sterne funkeln sah.

Doch – dieses befreite Aufatmen verwandelte sich schnell in jähen Schreck.

Er hatte eins ganz übersehen: daß der Ast, mit dessen Hilfe er den Turm betreten hatte, wieder hochgeschnellt war, nachdem sein Gewicht ihn nicht mehr niederdrückte.

Und nun gab es keine Möglichkeit, diesen Ast wieder zu sich herabzuziehen –! Er versuchte dies und jenes, er zerbrach sich den Kopf, – es ging nicht: er war auf dem Turme gefangen!

Gerade als ihm dies klar geworden, hörte er Stimmen. –

Zwei Männer kamen, leise miteinander sprechend, nach oben.

Fritz schaute sich verzweifelt um, kroch dann geschwind hinter Trümmer der Balkendecke, verhielt sich hier ganz regungslos.

Die Männer stiegen bis ganz nach oben, flüsterten dann weiter miteinander. Ihre Sprache verstand Fritz nicht, obwohl er verschiedene Worte deutlich hörte. Russen waren es nicht. Er konnte ihre Gestalten ja auch sehen, die sich deutlich gegen den Nachthimmel abzeichneten.

Sie waren gut gekleidet, die Leute. Der eine fast schon ein Greis, der andere jung und sehr hager. Sie blickten oft abwärts nach der Tür des Turmanbaus hin, sprachen dann lebhafter, und zweimal schüttelte der Alte drohend die Faust – offenbar in großer Wut gegen die neuen Bewohner der Insel.

Dann kletterten beide wieder hinab.

Fritz fiel eine Zentnerlast vom Herzen.

„Wenn ich jetzt nur noch wüßte, wie ich vom Turm herabkomme“, dachte er. „Dann bin ich fein heraus! Aber – wie nur, wie?! Der heimtückische Ast! Daß er auch gerade hochschnellen muß! So ein Pech! August würde sagen: Junge, Du hast so viel Pech wie ’n Schuster!“

Ah – ein Gedanke! – Im Nu hatte er jetzt seine Hosenträger abgeknöpft und an das eine Ende einen seiner Schuhe gebunden.

Diesen Lasso ließ er nun erst um seinen Kopf kreisen und schließlich über ihm über den Ast fallen und zwar so, daß der Schuh sich an einem Seitenzweig verfing, und er den Ast nun langsam herabziehen konnte.

Gewonnen – gerettet! – Er hätte beinahe vor Freude laut herausgejubelt – beinahe, – überlegte sich diesen Leichtsinn aber noch rechtzeitig und begnügte sich nachher, als er wieder auf dem Erdboden stand, damit, beide Arme dankbar zu den Sternen emporzurecken.

Dann schlich er in das Schlafgemach hinein, dessen Tür der Ingenieur bereits leidlich in Stand gesetzt hatte.

Alles Schleichen und Lautlossein half ihm nichts.

August Schmalz war wach und Fritzens wegen schon sehr in Unruhe. Er kriegte ihn nun sofort beim Wickel, schüttelte ihn und flüsterte:

„Kleiner Lump – Rumtreiber! Wagehalsiger! Wo warst Du?!“

Fritz lachte leise.

„Oh, – ich war nur sehen, ob der Mond schön scheint –“

„Bengel – das wagst Du mir vorzukohlen! Bengel, sehe ich so dämlich aus, daß Du mir solche Märchen aufbinden willst! Das – das verbitte ich mir!“

Er tat nur so ärgerlich. In Wahrheit ahnte er schon, daß Fritz im Turme gewesen war.

„Also wo warst Du? – Mit einem Freunde Deiner lieben Eltern wirst Du doch nicht weiter Versteck spielen.“

„Nein, nein, – Sie sollen alles erfahren, lieber Schmalz, alles. Sie werden staunen –“

Und August Schmalz staunte wirklich!

 

5. Kapitel.

Das Geheimnis des genuesischen Turmes.

Am nächsten Morgen bei der ersten Mahlzeit erfuhren Fritzens Eltern dann ebenfalls, was ihr unternehmungslustiger Sprößling in der vergangenen Nacht erlebt hatte.

Balldin war sehr ungehalten.

„Dieser Leichtsinn!“ schalt er. „Eigentlich müßte ich Dir dafür die Hosen stramm ziehen, Fritz! Nun – ich erkenne aber an, welch’ gute Absicht Du dabei gehabt hast.“

Er drückte seinen Jungen die Hand. Innerlich freute er sich doch, daß sein Fritz so waghalsig war.

Knaben von jener verweichlichten, trägen Art vieler Großstadtpflänzchen mochte er nicht leiden. Ihm war ein frisches Wesen bei einem Kinde die Hauptsache. Schlafmützen waren ihm ein Greuel.

August Schmalz schlug vor, man sollte jetzt doch sofort bei Tage den Turm nochmals durchsuchen.

Der Ingenieur schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Ich habe gestern nacht [dort drinnen vielerlei][3] Geräusche vernommen, auch merkwürdige Dünste gerochen“, begann er und ließ sich näher darüber aus. „Jetzt ist seit 2 Uhr morgens im Turm alles mäuschenstill. Ich behaupte: Es befindet sich dort niemand mehr!“

Schmalz machte große Augen. „Ja – wohin aber sollten die Leute denn ausgeflogen sein – etwa durch die Luft, per Rumplertaube[4]?! – Anders dürften sie von hier kaum wegkommen.“

Das jetzt von einem verwilderten blonden Bart umgebene Gesicht Balldins verzog sich etwas ironisch.

„Nein lieber Augustus der Kleine – es gibt auch andere Wege! Doch davon später. – Ich möchte den Turm jetzt lieber in Ruhe lassen. Ich habe meine Gründe dafür. Wir wollen hier doch in Ruhe eine Weile leben. Da soll man seine Nase nicht in Dinge stecken, die einen nichts angehen. – Nein – ich verbiete Euch sogar, hier hinsichtlich des Turmes irgend etwas ohne meine Erlaubnis zu unternehmen! Verstanden!“

Dabei blieb es – sehr zum Ärger und zur Enttäuschung Augusts und Fritzens, die geradezu darauf brannten, festzustellen, was es eigentlich mit dem alten Wachtturme für eine Bewandtnis hatte.

Vorläufig mußten sie sich aber noch sehr – sehr in Geduld fassen.

An diesem zweiten Tage nach dem Einzug in den Turmanbau wurde das Robinsondasein bereits noch weiter ausgestaltet. Der Ingenieur gab August und Fritz so reichlich zu tun, daß sie gar nicht auf böse Gedanken kamen. Er selbst schonte sich auch nicht, und seine Gattin betätigte sich eifrigst als Scheuerfrau, säuberte die beiden Gemächer gründlich und gab allen mit ihrem rastlosen Fleiß ein gutes Beispiel.

Abends war man dafür dann aber auch ein gutes Stück weitergekommen. Freilich: die Müdigkeit steckte unseren Ansiedlern ordentlich in den Gliedern und beim Abendessen wurde viel gegähnt und wenig gesprochen.

Da – gerade während der Mahlzeit abermals das Konzert –!

Der Ingenieur lächelte über die erschrockenen Gesichter.

„Laßt ihnen doch das Vergnügen!“ meinte er. „Sie wollen uns ja nur hier fortgraulen! Das ist der Zweck der Übung. Wenn sie sehen, daß wir uns nicht stören lassen und wir sie nicht stören, werden sie’s schon aufgeben.“

Er behielt recht damit. Noch einmal, zwei Tage darauf, ertönte das Lachen und Schreien. Dann blieb’s still.

Die Tage vergingen unseren Robinsons auf der schönen Insel sehr schnell. Auch diese Flüchtigkeit der Zeit war eine Folge geregelter Beschäftigung, wie Balldin sie von den Seinen verlangte; den kleinen Augustus mit einbegriffen.

Eine Woche nach der Landung auf dem Eiland besaßen die beiden Gemächer bereits neue Möbel, erhob sich vor der Tür des Anbaus eine große Laube mit Tisch und Bänken, war auch die Werkstatt überdacht und die Küche in einem besonderen Raum abgeteilt.

Alles in allem lebte es sich auf der Germania-Insel sehr behaglich. Wenn etwas noch immer störend wirkte, so war es der Gedanke an die geheimnisvollen Gäste im Turm, von deren Anwesenheit man oft genug durch leise Geräusche und leichte Dünste Kenntnis erhielt.

Was die Leute aber am Tage trieben, wo sie geblieben, das konnte nur ein besonders kluger Kopf sich austüfteln. Aber Balldin hatte einen solchen höchst brauchbaren, – und Augustus Schmalz ebenfalls! Dieser tat aber stets so, als wäre ihm hier der Verstand stehen geblieben. Obwohl er mittlerweile einen bereits recht weit gediehenen Plan zur Festnahme der zeitweiligen Turmbewohner entworfen hatte, – dies aber nur für den Fall, daß die „Rätselhaften“ irgendwie unangenehm werden sollten, spielte er sich stets als den Ahnungslosen auch Fritz gegenüber auf, der in seiner Harmlosigkeit annahm, Augustus Schmalz hätte sich wirklich an das Verbot gehalten und den Turm nicht betreten.

So vergingen Wochen – volle sechs, und noch immer herrschte auf dem Eiland eitel Behagen und Zufriedenheit.

Dann aber – gerade an einem Sonnabend Abend – ereignete sich etwas, das eine schnelle Lösung aller Rätsel herbeiführte.

Als man sich zum Mittagessen in der Laube versammelte, fand Fritz auf dem Tisch einen Zettel, der in schlechtem Deutsch und lateinischer Schrift folgende Mitteilung enthielt:

„Ihr vorsichtig sein mußt. Rittmeister Wanzikoff ist auf Eurer Spur ganz dicht. Wenn Ihr in Not, flüchtet in Turm. Wir mit Euch gut es meinen, weil Ihr habt Euch nicht gekümmert um uns. Schlüssel zu Eisentür steckt in Mauerloch neben Fenster, zweites von außen.“

Soweit diese Warnung.

Es war klar, daß sie auf den Tisch gelegt worden war, als unsere Ansiedler sich sämtlich vorhin am Seeufer befunden hatten, wo der Augustus mit dem dicken Kopf gerade einen wahren Riesenfisch mit der Angel gefangen hatte.

Der Ingenieur meinte weiter, man täte wohl am klügsten, wenn man die Gastfreundschaft des Turmes sofort in Anspruch nähme, – ohne abzuwarten, bis der hartnäckige Wanzikoff hier lande und man dann in wilder Hast den Schlupfwinkel aufsuchen müßte.

„Wir werden jetzt hier fortan doch in steter Unruhe leben“, fügte er hinzu. „Da ist es entschieden besser sogleich zu verschwinden, zumal die Turmleute uns doch ihre Hilfe nie in dieser Weise angeboten hätten, wenn sie nicht auch die Macht besäßen, uns auch weiter zu schützen.“

Dieser Vorschlag war so eindrucksvoll und klug, daß auch August Schmalz ihm sofort zustimmte.

Nach dem hastig beendeten Essen wurde alles zusammengepackt, was man mitnehmen wollte. Dann holte Balldin den Schlüssel aus dem Versteck hervor, öffnete die Eisentür, und alle verschwanden im Turme. Hinter ihnen sperrte Schmalz die Tür wieder ab.

Zum Erstaunen der Flüchtlinge lag auf der Falltür ein zweiter Zettel:

„Steigst getrost abwärts. Ihr werdet weitere Weisung finden.“

So war es auch. Am Fuße der neuen Holztreppe, die Fritz damals nur halb hinabgekommen war, lag Zettel Nr. 3.

„Benutzt den Gang, zündet aber vorher das Stroh an.“

Tatsächlich lagen hier zwei Bund Stroh, darauf leere Kisten und auf diesen ein eiserner Zylinder, in dem der Ingenieur sofort einen Sprengstoff vermutete.

Balldin klärte jetzt erst heute die anderen darüber auf, daß sich die Insel, wie er festgestellt hätte, nach Norden zu als schmale, felsige Halbinsel fortsetze, die dann nach Westen umbiege und auf die Gestade der Krim zulaufe.

„Ich vermute, daß in dieser Halbinsel ein natürlicher unterirdischer Gang in Gestalt eines weiten Höhlengebietes sich hinziehen wird“, sagte er noch. Dann steckte er das Stroh in Brand und eilte durch eine breite Felsöffnung hinab in das Unbekannte – in große Hohlräume, – immer weiter, weiter. –

Dann aus der Ferne, aus der Richtung des Turmes ein mächtiger Knall, ein Poltern und Krachen. –

„Der Turm dürfte nicht mehr vorhanden sein“, meinte Balldin leise.

Nach einem Marsche von einer halben Stunde traten die Flüchtlinge in einer Schlucht unweit der Meeresküste ans Tageslicht hinaus. Hier stand ein einfacher Wagen, zu dem ein Kutscher gehörte, der völlig stumm blieb. Nur einen Zettel gab er Balldin ab:

„Der Wagen rettet Euch!“

So kam es denn, daß unsere Flüchtlinge noch eine Wagenfahrt quer durch die Steppen der Krim als angenehme Abwechslung genossen, bevor sie im Hafen von Jalta einen Kutter bestiegen, der sie auf türkisches Gebiet hinüberbrachte. Während dieser Seereise lüftete Balldin nun auch endlich das Geheimnis des Turmes, so weit er dazu imstande war.

„Ich vermute, daß dort Falschmünzer und zwar Armenier am Werke gewesen sind. Sie haben sogar Maschinen besessen, alles aber in den letzten Tagen fortgeschafft.“ So sprach er.

Und Augustus der Kleine mit dem Kürbiskopf nickte dazu und meinte:

„Dasselbe vermute ich! Und es wird wohl so stimmen! – Mag dem sein, wie ihm wolle: Die Turmleute haben sich hochanständig uns gegenüber benommen! Es war doch richtig, sie ungeschoren zu lassen –“ – –

Wer diese Helfer waren, die den vier Deutschen den Weg nach der Türkei ebneten, haben diese nie erfahren.

Als sie längst schon in Deutschland wieder lebten, las Balldin in einer ausländischen Zeitung, daß Rußland jetzt von falschem Papiergeld geradezu überschwemmt sei.

„Vielleicht“, dachte er da, „vielleicht –!“

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin S. 14.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Orzinski“.
  2. In der Vorlage steht: „Ballin“.
  3. In der Vorlage sind drei Worte unleserlich. Text sinngemäß ergänzt.
  4. Flugzeug, siehe auch Wikipedia: Rumplertaube.