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Das Teekästchen

 

 

Walther Kabel

 

Das Teekästchen[1]

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Olga Orstra langweilte sich. Und wenn sie sich langweilte, merkte sie stets, daß sie nervös war, übernervös. Dann befiel sie eine seltsame Unruhe, dann wanderten ihre Gedanken krause Pfade, dann sprang sie meist aus dem Sessel auf, klingelte nach der Zofe, machte sich mit deren Hilfe zum Ausgehen fertig, nahm einen dichten Schleier vor das Gesicht und einen längst aus der Mode gekommenen Pelzmantel um und schlenderte unerkannt und unbeachtet durch die Straßen des Berliner Westens.

So auch heute, am 20. Oktober nachmittags fünf Uhr. Jetzt blieb sie vor dem Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts auf dem Kurfürstendamm stehen und betrachtete die Auslagen.

Sie war eifrige Sammlerin von chinesischen Raritäten. Olga Orstra lächelte unter ihrem Schleier.

Gestern noch hatte Gerd Blendel diese Sammelwut bespöttelt, gestern mittag, als es bei ihr bereits beschlossene Sache war, die Beziehungen zu ihm zu lösen, die ja doch recht oberflächlicher Art waren und ihrem Rufe trotzdem schon geschadet hatten.

Abends hatte Gerd dann ihren Brief erhalten – den Abschiedsbrief. Er hatte daraufhin nichts mehr unternommen, hatte gar nicht versucht, sie umzustimmen.

Olga Orstra lächelte zufrieden und doch so müde.

Ihre Augen hafteten auf einem jener chinesischen Teekästchen mit doppeltem Zinkeinsatz, wie man sie heute in besserer Arbeit nur noch selten in den Läden vorfindet.

Kurz entschlossen trat sie ein.

Der Geschäftsinhaber war allein im Laden. Als Olga Orstra, ohne ihren Namen zu nennen, das Kästchen zu sehen wünschte, drückte er auf einen Knopf und rief so seine Buchhalterin herbei. Er war ein vorsichtiger Mann. Es wurde jetzt so sehr viel gestohlen, selbst durch das eleganteste Publikum. Das brachten die Zeiten so mit sich.

Olga Orstra besichtigte das Kästchen mit Sachkunde. Es war echt und wohl über hundert Jahre alt. Es hatte den üblichen Zinkeinsatz mit zwei Abteilungen und zwei Deckeln.

Als Olga nach dem Preise fragte, trat ein Herr von der Straße ein, der offenbar ein Ausländer, Rumäne, Bulgare oder dergleichen war. –

Der Preis entsprach den Zeitverhältnissen: 25 000 Mark. Olga gefiel das Kästchen. Sie bot 20 000.

Da – halb hinter ihr wie ein Hauch die Stimme des schwarzbärtigen Balkangesichts:

„Kaufen Sie es nicht! Es bringt Unglück!“

Olga geriet nie außer Fassung. Sie tat, als hätte sie diese merkwürdige Warnung gar nicht gehört. Sie drehte sich auch nicht um, sondern erklärte dem Geschäftsinhaber, der wortreich beteuerte, mit dem Preise nicht heruntergehen zu können:

„Gut, ich kaufe es. Ich möchte Sie allein sprechen.“

Im Privatkontor Herrn Samuel Kalischers hob sie den Schleier und sagte: „Ich bin Olga Orstra. Ich werde Ihnen morgen das Geld überweisen lassen.“

Kalischer dienerte. „Bitte, wie es Ihnen paßt, gnädiges Fräulein. Ich darf den Kasten nach Ihrer Wohnung senden?“

„Packen Sie ihn ein. Ich nehme ihn mit. Noch eine Frage: von wem kauften Sie ihn? Gestern stand er noch nicht im Schaufenster. Sie brauchen nicht verlegen zu werden. Ich weiß, daß Sie mit dreihundert Prozent Gewinn arbeiten.“

Kalischer lächelte erleichtert.

„Von einer Dame aus Potsdam, gnädiges Fräulein,“ erwiderte er. „Von einer Baronesse Krettger, der Tochter einer Generalswitwe.“

„Danke. Packen Sie den Kasten also ein.“

Die beiden kehrten in den Laden zurück. Olga war doch etwas gespannt, ob der Fremde, dem sie nicht einen Blick geschenkt hatte, noch da sein würde.

Der Laden war leer. Nur die Buchhalterin stand an der Ladentür und blickte auf den Kurfürstendamm hinaus.

„Hat der Herr etwas gekauft?“ fragte Olga das junge Mädchen.

„Nein, meine Dame.“

„Sie wissen, was der Herr mir zuraunte?“ flüsterte Olga.

Das Mädchen nickte und sagte: „Es stand noch ein zweiter Herr draußen am Fenster. Sie machten sich Zeichen und gingen dann gemeinsam den Kurfürstendamm hinab.“

„Nach welcher Richtung?“

„Gedächtniskirche.“

„Ich danke Ihnen –“

Herr Kalischer kam mit dem Kästchen nach vorn.

Olga überlegte. „Ich möchte Sie nochmals allein sprechen,“ bat sie dann.

Als sie im Privatkontor waren, verlangte Olga, Herr Kalischer möge ihr statt des Kästchens eine etwa gleich große Zigarrenkiste einpacken. „Das Teekästchen lasse ich hier. Es ist besser so, glaube ich. Ich muß jetzt leider so oft in Detektivstücken mitwirken, daß ich mir mit der Zeit so etwas wie eine argwöhnische Beobachtungsgabe angeeignet habe.“ Dann erzählte sie Kalischer von der Warnung und den beiden Fremden.

„Hm,“ meinte der welterfahrene kleine Herr, „Sie haben ganz recht. Besser ist besser.“

Olga lachte. Sie freute sich über das Abenteuer. „Wenn man mir die Zigarrenkiste entreißt, schadet es nichts. Ihr Fräulein mag mir das Kästchen sofort nach Hause bringen. Der Weg erfordert nur fünf Minuten.“

„Gern, gnädiges Fräulein.“

Mit der eingehüllten Zigarrenkiste im Arm verließ Olga den Laden.

Sie war neugierig, ob ihr wirklich etwas zustoßen würde, ob man versuchen würde, ihr das Paket zu entreißen.

Sie schritt langsam durch die Straßen, bog in die Giesecke-Straße ein.

Sie achtete auf alles. Sie hörte, daß ein Auto ihr folgte, anhielt, weiterfuhr, wieder halt machte, abermals eine Strecke fuhr.

Sie schaute sich nicht um. Nein, sie wollte nur bereit sein! Sie hielt ihr geöffnetes Parfümflacon in der Rechten.

Die stille Giesecke-Straße war recht menschenleer.

Ah – das Auto fuhr schärfer, fuhr dicht am Bürgersteig offenbar.

Dann – Olga Orstra erhielt einen leichten Stoß. Jemand riß ihr das Paket aus dem Arm.

Aber sie hatte damit gerechnet, schnellte herum.

Das Flacon spritzte seinen Inhalt über den Rücken des hellen Herbstulsters.

Der Herr sprang in das geschlossene Auto, das in schärfstem Tempo davonsauste.

Olga lachte halblaut hinterdrein. So war es doch ein Abenteuer geworden! Das mußte sie unbedingt Werner-Karl Abel erzählen; das war so etwas für dessen Sensations- und Stoffhunger. Der gute Werner-Karl behauptete ja stets, seine Phantasie sei pleite und mit seiner Schriftstellerei ginge es bergab.

Sie hatte bald ihr Haus erreicht, einen eleganten Mietspalast. Vor der Tür überlegte sie, ob sie nicht der Buchhalterin entgegengehen sollte.

Sie tat es, schritt wieder die Giesecke-Straße hinab, bog in die Querstraße ein.

Vor ihr ein kleiner Menschenauflauf.

Olga Orstra erschrak. Eine dumpfe Ahnung sagte ihr, daß der Buchhalterin etwas zugestoßen sei.

Sie eilte rascher vorwärts, drängte sich durch den Kreis der Gaffer hindurch, die ein Schupo-Wachtmeister vergeblich zurückscheuchen wollte.

Auf dem Bürgersteig lag die Buchhalterin auf dem Rücken mit zur Seite gepreßtem Hut – mit starrem, gebrochenem Blick.

Olga Orstra stockte der Herzschlag.

Ein Gedanke sprang jäh in ihrem Hirn auf: „Du bist schuld, daß sie starb!“

Dann suchte sie ihre Fassung zurückzugewinnen und trat neben den Beamten, flüsterte ihm zu:

„Ich kenne das Mädchen –“

Ein Polizeiauto kam angerast. Kriminalbeamte sprangen heraus. Die Neugierigen wurden verscheucht. Nur Olga Orstra durfte neben Kommissar Warpler stehen bleiben.

 

2. Kapitel.

Der Schriftsteller Werner-Karl Abel kam am selben Abend gegen sieben Uhr von seinem gewohnten Spaziergang zurück, stieg in dem uralten Hause in der Plauener Straße in Potsdam die Treppe empor, hörte wie immer hinter sich das Klappern der Krallen seines Wolfshundes Tell auf den ausgetretenen unbeläuferten Stufen.

Das Haus hatte nur ein Stockwerk und eine Mansarde. Hier wohnte Werner-Karl Abel seit zwei Jahren in den drei Mansardenstuben.

Er schloß die kleine Flurtür auf, schloß wieder ab, hängte Mantel, Hut und Stock an die Flurgarderobe und ging in sein modern eingerichtetes, behaglich warmes Arbeitszimmer.

Kaum hatte er hier die Schreibtischlampe eingeschaltet, als das Telephon anschlug. Er lehnte sich gegen den Schreibtisch, nahm den Hörer ab.

„Hier Werner-Karl Abel. – Ah, Sie sind’s Olga. Ihre Stimme klingt so aufgeregt. – Wie?! Ein Mord – Ihretwegen –?! – Helene Berting heißt das Mädchen –?“

Sein bartloses Gesicht, das stets etwas bleich aussah und in dem die tiefen Schmißnarben wie dunkle Furchen lagen, veränderte sich jäh.

„Weiter, Olga, weiter!“ drängte er. „Ah – verstehe! Sie wollen persönlich – Gut, kommen Sie, Olga. Schlagen Sie sich aber die törichten Gedanken aus dem Kopf, daß Sie das arme Mädel auf dem Gewissen hätten. – Um 7 Uhr dreißig geht ein Stadtbahnzug vom Zoologischen Garten ab. Dann sind Sie um halb neun hier in Potsdam. Ich hole Sie vom Bahnhof ab. Wiedersehen! Und – keine unnötigen Gedanken, liebe Freundin –“

Er legte den Hörer auf die Stützen und nahm im Schreibsessel Platz, vertauschte mechanisch den Kneifer gegen die Hornbrille und kraute zerstreut Tell den Kopf, der sich dicht neben ihn gesetzt hatte.

Also einer Baronin Krettger hatte das Teekästchen gehört. Sie sollte hier in Potsdam wohnen.

Er griff nach dem Adreßbuch.

Ah – richtig –: Krettger, Anna, Freifrau, verwitwete Generalin nebst Tochter Mara, Große Weinmeisterstraße 109.

„Tell, Du wirst auf Dein Abendbrot noch etwas warten müssen,“ sagte er dann, machte sich wieder zum Ausgehen fertig und verließ das Haus.

Gegen halb acht stand er vor der hölzernen Mauerpforte des Villengrundstücks Nr. 109 und zog an dem altehrwürdigen Glockengriff.

Nach einer Weile im Garten Hundegebell, das sich rasch der Pforte näherte.

Dann eine Frauenstimme, melodisch, aber energisch:

„Sie wünschen?“

In der Pforte war ein kleines Guckloch. Werner-Karl sah dahinter ein Auge schimmern.

„Mein Name ist Abel. Ich bin Schriftsteller und wohne hier in Potsdam. Könnte ich die Frau Baronin sprechen?!“

„In welcher Angelegenheit?“

„Des Teekästchens wegen.“

Werner-Karl hörte etwas wie einen Laut der Überraschung hinter der Tür.

„Was ist’s denn mit dem Teekästchen?“ fragte die Stimme merklich ablehnend.

„Das kann ich leider so im kurzem nicht mitteilen. Jedenfalls – es ist geraubt worden.“

Stille hinter der Tür. Dann:

„Ich bedauere, mein Herr. Meine Mutter empfängt abends niemand.“ – Das klang unendlich hochmütig.

„Auch dann nicht, gnädiges Fräulein, wenn jemand des Kästchens wegen ermordet wurde?“ fragte er nun.

Ein leiser Aufschrei. Der Hund knurrte.

„Nein, auch dann nicht, falls Sie nicht gerade Beamter sind,“ kam die Antwort – vielleicht noch eisiger, noch hochmütiger.

„Beamter bin ich nicht, nur Kriminalschriftsteller, der die Dame kennt, die das Kästchen von dem Händler gekauft hatte.“

„Oh – das interessiert uns nicht. Sie entschuldigen – ich muß ins Haus zurückkehren –“

Schritte raschelten im welken Laub hinter der Mauer. Abel ging langsam den Weg zurück, machte mit einem Male kehrt und schlenderte auf der anderen Straßenseite der Villa wieder zu, blieb stehen, reckte sich hoch und sah nun das alte, weiße Haus dort zwischen entblätterten und herbstlich verfärbten Bäumen auf einer Terrasse liegen.

Und – er sah weiter, wie plötzlich alle Fenster des Erdgeschosses hell wurden, wie die Schatten zweier Frauengestalten über die Vorhänge huschten, wie die Tür der Terrasse geöffnet wurde.

Dann erloschen die Fenster wieder.

Aber im Dämmerlicht des mondhellen Abends erkannte er eine schlanke Frau, die etwas im linken Arm hatte und mit der Rechten einen Spaten trug, einen großen Gartenspaten.

Gleich darauf hatte er sich halb auf die Holzpforte geschwungen und stellte fest, daß die Frau dort hinter den Büschen ein Loch grub und daß eine Dogge ihr dabei Gesellschaft leistete. –

Der Stadtbahnzug lief in den Potsdamer Bahnhof ein. Olga Orstra hatte die ganze Fahrt über wie betäubt in der Ecke gelehnt und fühlte sich jetzt erst, als sie ausgestiegen war und nach kurzer Umschau Werner-Karl Abel bemerkt hatte, etwas weniger bedrückt.

Er legte sanft ihren Arm in den seinen. So schritten sie dem Ausgang zu.

Olga Orstra schmiegte sich halb an ihn. „Oh, lieber Werner-Karl, nun fühle ich mich wirklich geborgen, ganz geborgen,“ flüsterte sie hinter dem dichten Schleier. Sie sah nicht, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß, wie er einen Moment die Lippen ganz fest zusammenpreßte.

Nun gingen sie außen an den Bahnhofsgebäuden entlang, und Olga begann zu erzählen. Sie tat es ruhig und überlegt. Sie hatte wieder einen Halt gefunden, sie spürte, daß die trüben Gedanken immer mehr zerflatterten und daß von Minute zu Minute ihr inneres Gleichgewicht mehr und mehr sich einstellte. Sie war wieder dieselbe Olga Orstra, die im Laden Samuel Kalischers mit so kühlem[2] Abwägen aller Umstände das leere Kistchen sich hatte einwickeln lassen und mitgenommen hatte.

Werner-Karl blieb stumm.

„Die Polizei hat von Kalischer und mir eine Beschreibung des Herrn verlangt, der nach mir den Laden betrat,“ sagte Olga nun. „Weder Kalischer noch ich hatten ihn jedoch so eingehend gemustert, daß diese Beschreibung über oberflächliche Allgemeinheiten hinausgehen konnte.“

Da fragte Abel sinnend:

„Und das Parfüm, das Sie dem Manne auf den Ulster gossen? Was war es für ein Parfüm?“

„Das von mir stets benutzte, eine Mischung von Safranor und Divinia.“

„Und das Auto?“

Sie überschritten gerade den Wilhelm-Platz.

„Es hatte eine dunkle Farbe. Die Nummer erkannte ich nicht, wenigstens nicht deutlich. Es kann eine Drei und eine Null in der Zahl gewesen sein.“

„Was sagte der Arzt zu der tödlichen Wunde?“

„Ein Dolchstoß – gerade ins Herz, der mit sehr großer Kraft geführt wurde,“ erwiderte sie leiser, erschauerte und drängte sich näher an ihn heran.

„Hat denn niemand den Todesschrei gehört? Helene Berting wird doch ohne Zweifel aufgeschrien haben, als der Täter sie niederstach. War denn niemand in der Nähe?“

„Doch. Der Portier eines Hauses schräg gegenüber hat den Täter davonlaufen sehen. Aber er behauptet, Helene Berting sei ohne jeden Laut umgesunken.“

„Und wie beschrieb er den Mann? Sah er ein Auto in der Nähe?“

„Er konnte nichts hierüber angeben, da er im Hausflur gestanden und die Türscheiben geputzt hatte. Erst der flüchtende Täter machte ihn argwöhnisch. Dann bemerkte er das arme Mädchen dicht bei der Laterne auf dem Bürgersteig liegend.“

Abel schob die Haustür auf. Sie waren angelangt.

Im Arbeitszimmer brannten noch die drei Deckenflammen der Krone. Olga Orstra hatte im Flur abgelegt und war ins Arbeitszimmer gegangen. Sie kannte Werner-Karls Wohnung ganz genau. Tell, der Wolfshund, hatte sie schweifwedelnd willkommen geheißen.

Plötzlich blieb sie vor dem Mitteltisch stehen. Ihre Augen hafteten wie gebannt auf einem schwarz lackierten, überreich mit feinster chinesischer Goldarbeit eingelegten Kästchen.

„Mein Gott!“ stieß sie hervor und griff nach Abels Arm. „Das – das ist ja das – das Unglückskästchen!“

„Nein, Olga. Das dürfte nur ein ähnliches Kästchen sein,“ sagte der Schriftsteller leise. „Ich habe mir dieses Kästchen – geliehen, freilich ohne die Genehmigung der Eigentümer.“

Sie hatte ihm ihr pikantes Köpfchen zugedreht. Sie blickte ihn unsicher an, denn sie wußte ja, daß Werner-Karl so sehr selten einen Scherz machte, und glaubte doch nicht recht an die Ernsthaftigkeit seiner letzten Sätze.

Er nickte ihr zu und meinte: „Ich werde Ihnen das erklären, während wir diesen bescheidenen Delikatessen zusprechen, Olga.“ Er deutete auf den gedeckten achteckigen Tisch vor dem Ledersofa. „Setzen Sie sich. Sie haben, wie ich Sie kenne, seit drei Uhr nichts mehr genossen. Auch ich bin noch vor dem Abendbrot.“ Er zündete den Spiritus unter dem Teekessel an und wandte sich dann halb nach Olga Orstra um.

Sie stand und hielt jetzt das Kästchen in der Hand, schlug den Deckel auf und schüttelte verwirrt den Kopf.

„Es ist dasselbe Kästchen,“ sagte sie leise wie zu sich selbst. „Genau dasselbe Kästchen, ganz genau! Ich begreife das nicht! Woher haben Sie es, Werner-Karl?“

Er ging auf diese Frage nicht ein. „Nehmen Sie Platz, Olga. Bevor Sie nicht mindestens zwei dieser Brötchen, ein paar Happen italienischen Salat und drei Scheiben Schinken gegessen haben, bin ich für derartige Fragen taub.“

Seufzend ließ sie sich in den Klubsessel nieder, lächelte aber dabei und meinte: „Machen Sie mir ein paar Brötchen zurecht. Ich will gehorsam sein.“

Sie lehnte sich weit zurück und beobachtete ihn still.

Vor einem Jahre hatte sie ihn kennengelernt, weil er an die Triton-Film-Gesellschaft ein Filmmanuskript verkauft hatte und dann bei den Aufnahmen selbst Regisseur spielte. Sie hatte damals die Hauptrolle gehabt, und er war nicht gerade zart mit ihr umgesprungen. Er verlangte so viel seelische Vertiefung der Rolle, daß sie wiederholt in ärgerlichem Aufbegehren erklärte, das sei doch nichts für die große Masse des Durchschnittspublikums. Aber er hatte seinen Willen durchgedrückt, und allmählich war auch sie zu der Einsicht gelangt, man müsse endlich mit der althergebrachten oberflächlichen Behandlung der Charaktere brechen, wenn man den Film auf eine künstlerische Höhe bringen wolle. Jedenfalls, sie gab nach! Und gerade weil sie es aus der Überzeugung heraus tat, daß Werner-Karl Abel in allem recht hätte, weil er außerdem ohne jedes Zeichen von Erregung seinen Willen durchzusetzen verstand, imponierte er ihr. Er war der erste Mann, der ihr imponierte. Und so kam’s denn, daß sie Freunde wurden. Sie war ihm ja in vielem ähnlich. Auch sie wußte meist, was sie wollte, meist – nicht immer.

Nun begann sie zu essen. Er saß neben ihr und sprach über seinen neuen Film, den er gerade in Arbeit hatte. Ihre Blicke schweiften immer wieder nach dem altchinesischen Teekästchen auf dem Mitteltischs zurück.

Dann sagte sie unvermittelt:

„Sie verlangen zu viel von mir! – Woher haben Sie das Kästchen also? Ich bin bereits beim dritten Brötchen.“

„Ich habe es mit den Händen aus einem frisch gegrabenen und mit welkem Laub bestreuten Loch in einem Vorgarten herausgebuddelt. Es war in Papier und in eine alte Wachstuchdecke eingehüllt. Nun ist das Loch leer, und die Baronesse Krettger ahnt nicht, daß Werner-Karl Abel das Kästchen holte.“ – Er berichtete dann Einzelheiten über seinen Versuch, die Baronin von Krettger zu sprechen, und über den Argwohn, daß die Baronesse etwas im Garten versteckt haben könnte, das zu dem Morde an Helene Berting irgendwie in Beziehung stehen mochte.

 

3. Kapitel.

Olga Orstra hatte aufmerksam zugehört. Sie nahm etwas Rum in den Tee, zerrührte den Zucker mit bedächtigen Bewegungen und fragte dann:

„Weshalb kann es nicht dasselbe Kästchen sein, das ich nachmittags gegen fünf Uhr kaufte? – Sie waren gegen drei Viertel acht vor der Krettgerschen Villa. Also kann doch in der Zwischenzeit das Kästchen sehr gut von Berlin nach Potsdam geschafft worden sein?!“

„Gewiß. Die Möglichkeit gebe ich zu. Aber es spricht zu vieles gegen die Annahme, der Mörder, der zugleich der Dieb des Kästchens war, könnte mit der Baronin unter einer Decke stecken. Ich habe mich bei einem Bekannten hier nach den beiden Damen erkundigt. Es geht ihnen pekuniär schlecht. Sie können die Villa kaum mehr halten. Sie verkaufen dauernd Kunstgegenstände. Aber – sie unterstützen trotzdem noch ganz insgeheim Bedürftigere, und ihre ganzen Lebensanschauungen sind derart streng und übervornehm, daß man einen solchen Verdacht der Mitwisserschaft so gut wie ganz ausschalten muß – nicht völlig, denn das wäre ein Fehler. Ich bin ja nur Theoretiker auf kriminalistischem Gebiet, Olga, aber das eine weiß ich doch aus der Praxis: man soll nie eine Person aus dem Bereich einer Untersuchung ausscheiden, bevor die Schuldlosigkeit dieser Person nicht zweifelsfrei erwiesen ist. Nur wer alle beargwöhnt, die zu einem Verbrechen in auch noch so loser Beziehung stehen, wird den einen finden, der es verübte. Wenn ich also sage: „Es ist nicht dasselbe Kästchen, es gibt zwei davon!“ so gilt das mit der Einschränkung: „Es kann auch dasselbe Kästchen sein,“ ich glaube es jedoch nicht, bis ich das Gegenteil festgestellt habe.“

Olga Orstra trank wieder einen Schluck Tee und meinte dann, indem sie sich tiefer in den weichen Sessel einschmiegte:

„Weshalb vergrub die Baronesse das Kästchen?! Ich finde die Tatsache, daß sie es verschwinden lassen wollte, nachdem Sie den Mord vor ihr an der Pforte erwähnt hatten, recht belastend.“

„Gestatten Sie, Olga: wenn mich jemand beobachtet hätte, wie ich das Kästchen ausgrub und mitnahm, würde der Betreffende mich fraglos für einen Dieb gehalten haben, nicht wahr?! Und – bin ich ein Dieb?! Nein! Der, der mich beobachtet hätte, wäre mithin zu ganz falschen Schlüssen gelangt. Das Beobachtete hätte ihn getäuscht. Genau so kann die Handlungsweise der Baronesse Gründe gehabt haben, die für uns vollkommen in Dunkel gehüllt sind – vorläufig!“

„Also ein Geheimnis?“

„Ohne Zweifel, liebe Freundin. – Ich darf nun wohl den Tisch abräumen. Nachher trinken wir ein Glas Rotwein, wenn es Ihnen recht ist.“

Olga stand auf und stellte die Teller auf das Tablett. „Jetzt bin ich hier Hausfrau,“ lächelte sie. „Sie bleiben artig sitzen. Ich möchte Sie auch mal so etwas verwöhnen. Sie verdienen es, Werner-Karl.“

Er schwieg und lehnte sich in die Sofaecke zurück.

Olga schaltete erst das Licht im Flur und in der Küche ein, bevor sie das Tablett hinaustrug.

Als sie den Flur entlangschritt, glaubte sie draußen auf dem Dachgarten, dessen Zugang das türähnliche Flurfenster bildete, ein Geräusch zu hören.

Erst als Olga den Tisch völlig abgeräumt hatte und Werner-Karl nun die Zigaretten, Aschbecher und Rotweingläser zurechtstellte, teilte sie ihm mit, was sie erlauscht zu haben glaubte.

Sein Gesicht wurde nachdenklich. Dann sagte er mit gedämpfter Stimme:

„Nehmen Sie das Tischtuch, Olga, und stäuben Sie es zum Flurfenster aus. Lassen Sie nachher den einen Fensterflügel offen. Wir wollen die Probe aufs Exempel machen.“

„Was heißt das?“

„Daß Sie jetzt nicht fragen sollen!“

Da gehorchte sie. Als sie zu ihm zurückkehrte war sie etwas erregt.

Ihre Hand zitterte leicht, als sie die Zigarette aus dem silbernen Kasten nahm.

„Wir werden jetzt eine halbe Stunde spazieren gehen,“ sagte Abel. „Wir müssen, falls meine Vermutung zutrifft, ihr die Sache erleichtern.“

Olga rief sofort leise: „Der Baronesse etwa?! Denken Sie, die Baronesse könnte hier einsteigen wollen?! Wie wäre das mit der strengen, übervornehmen Lebensauffassung in Einklang zu bringen?!“

„Durchaus, Olga. Die Baronesse, erklärte mein eingeweihter Bekannter, sei sehr energisch. Wenn sie mich nun doch gesehen hätte, wie ich das Kästchen mitnahm, würde sie nur ihr Eigentum zurückholen wollen.“

Er war an den Tisch getreten und hatte das Kästchen in die Hand genommen, klappte den Deckel auf, entfernte innen die beiden nur lose ausgelegten, aber genau passenden Deckel des Zinneinsatzes und schüttelte das Kästchen kräftig, indem er es dicht vor das eine Ohr hielt.

„Da klappert etwas ganz schwach,“ sagte er und stellte es wieder hin. „Suchen wir, Olga! Diese chinesischen Kästchen enthalten häufig Geheimfächer, die so tadellos eingearbeitet sind, daß man sie schwer findet.“

Abel besichtigte den Deckel von allen Seiten. Innen hatte dieser eine Verzierung aus eingefügten silbernen Stäbchen, die eine Pagode, einen Buddhatempel mit fünf Schirmdächern darstellte.

Abels Zeigefinger fuhr über die Pagode hin. Der Fingernagel glitt die Stäbchen entlang.

„Hier – dieser ist beweglich,“ rief er ganz leise. „Dieser, der die Treppe vorstellt. Da – er läßt sich an dieser Seite tiefer eindrücken. Ah –!“

Es hatte einen feinen metallischen Klang gegeben, und die ganze Pagode war, nur unten an einem unsichtbaren Scharnier befestigt, hochgeklappt.

In der kantigen Öffnung darunter lag ein in chinesisches Seidenpapier gehüllter kleiner Gegenstand.

Olga hatte ihn schon herausgenommen, entfaltete das Seidenpapier.

Und – in Olga Orstras Hand lag nun ein dunkelgrüner viereckiger Smaragd von fast Streichholzschachtelgröße, – ein Smaragd von so wundervollem Feuer und so tadelloser Reinheit, daß die Filmdiva und der Schriftsteller wirklich wie gebannt den Edelstein anstarrten.

Dann hatte Abel sich rasch gefaßt, nahm den Stein und das Seidenpapier, schob beides in die Tasche, drückte die Pagode wieder in die alte Lage zurück und sagte:

„Gehen wir!“

Das Teekästchen ließ er auf den Mitteltisch stehen.

Als er im Flur Olga in den Abendmantel half, meinte er – und die Worte waren für den Dachgarten bestimmt:

„Ich werde mit nach Berlin kommen, Olga. Ich möchte den Kriminalkommissar Warpler sprechen. Tell nehme ich mit. Er hat sich jetzt die Ungezogenheit angewöhnt, zu heulen, wenn ich länger ausbleibe. Außerdem hat er noch Anspruch auf seinen Abendspaziergang.“

Abel schloß die Flurtür ab, schaltete seine Taschenlampe ein und leuchtete Olga die Treppen hinab. Auch die Haustür versperrte er sorgfältig und sagte dann zu der Schauspielerin, die den Schleier über das Gesicht zog:

„Man kann von der Seitenstraße aus durch die meist offene Toreinfahrt eines Möbeltransportgeschäfts unschwer den Dachgarten erreichen. Ein anderer Weg dorthin ist für jemand, der dunkle Absichten hat, unmöglich.“

„Und die Baronesse wird sich zu derartigem verstehen können?!“ meinte Olga zweifelnd.

„Wir werden sehr bald Bescheid wissen,“ erwiderte Werner-Karl recht zuversichtlich. „Nehmen Sie Tell jetzt an die Leine, und gehen Sie dort auf dem Bassinplatz vor der Kirche auf und ab. Hier ist die Toreinfahrt. Ich werde hier warten.“

Olga Orstra schritt mit Tell weiter. Abel schlich durch die Toreinfahrt auf den langgestreckten Hof der Firma Göllner. Ganz hinten spannten gerade Arbeiter die Pferde eines Möbelwagens aus und trugen aus dem Wagen Decken in einen Schuppen. Eine an der Stallmauer angebrachte große elektrische Lampe spendete ihnen das nötige Licht.

Hier vorn, wo Werner-Karl sich nun hinter einen anderen Möbelwagen drückte, war es dunkel.

Es waren noch keine drei Minuten vergangen, als er wirklich eine Gestalt wahrnahm, die sich über die Mauer schwang und sich in den Hof hinabfallen ließ.

Bevor die Gestalt sich wieder aufgerichtet hatte, war Abel schon mit vier langen Sätzen neben ihr, packte zu, entriß dem jungen Menschen den schweren Rucksack und sagte:

„Sie werden alles Aufsehen vermeiden wollen, Baronesse. Eine Flucht ist unmöglich. Fräulein Orstra wartet mit meinem Hunde an der Straße.“

Er sah jetzt, daß der junge Mensch ein schmieriges, halb geschwärztes Gesicht wie ein Heizer nach stundenlanger Arbeit hatte und einen sehr schäbigen Anzug trug.

Der junge Mensch war vor Schreck gegen die Mauer zurückgetaumelt. Er lachte jetzt bitter auf, als er mit einer Stimme, die niemals die eines Weibes sein konnte, erwiderte:

„Wat reden Sie da von Baronesse?! Ick ’ne Baronesse! Ick wünschte, ick wär’s! Nu bringen Se mir man uff de Wache. Schadet nischt. Dann muß mir der Staat verpflejen! Is noch immer besser als Hunger!“

Werner-Karl überwand die Enttäuschung schnell. Es war nicht die Baronesse. Wer war es dann also?! Wirklich ein gewöhnlicher Einbrecher?!

„Kommen Sie mit,“ sagte er zu dem Manne. „Ich muß Sie erst mal unter der Laterne mir ansehen.“

Der Dieb dachte nicht an Flucht. Mit den Händen in den Hosentaschen schlurfte er auf seinen zerrissenen, mit Bindfaden oben umwickelten Schnürschuhen neben Abel her, der den Rucksack über den Arm gehängt hatte. Olga Orstra stand vor der Kirche unter der Ecklaterne.

„Wer sind Sie?“ fragte Abel nicht unfreundlich.

Schweigen. Der Strolch stierte zu Boden.

Ein Zufall war’s, daß ein Wachtmeister der Schutzpolizei gerade angeschlendert kam. Werner-Karl verwünschte diesen Zufall. Nun mußte die Sache einen anderen Gang gehen, als Abel es gewollt hatte.

Der Beamte blieb stehen, fragte allerlei, und Abel mußte antworten. Aber er sagte nur das, was hier unumgänglich nötig war: daß Fräulein Orstra ein Geräusch auf dem Dachgarten gehört und daß er daher angenommen hätte, es wolle jemand bei ihm einbrechen. – Von dem Kästchen schwieg er vorläufig.

So trat man denn den Weg nach der Wache in der Spandauerstraße an.

Hier war jedoch aus dem Strolch kein Wort herauszubringen. Der Rucksack wurde geöffnet. Er enthielt einen silbernen Zigarettenkasten, zwei kleine Bronzestatuen, einen Anzug und drei Oberhemden, alles Sachen, die Abel gehörten. Der Zigarettenkasten war noch gefüllt.

Das Protokoll war sehr bald aufgenommen. Der Dieb sprach kein Wort, wurde nach dem Polizeigefängnis transportiert und verharrte auch hier bei seinem finsteren Schweigen. Da er in seinen Taschen außer einem kleinen Stemmeisen und einem mit Teer beschmierten Lappen nichts bei sich trug, wurde er als „Unbekannt“ in eine Zelle eingesperrt. –

Als Olga und Werner-Karl die Wohnung wieder betraten, fanden sie das Teekästchen genau auf derselben Stelle vor. In den Zimmern war nicht viel von einem Einbruch zu merken. Nur ein paar Schranktüren waren geöffnet und einige Sachen lagen auf dem Fußboden umhergestreut.

Bisher hatten die beiden über den Diebstahl noch nicht ungestört sprechen können. Jetzt, als Olga die herausgerissene Wäsche wieder in den Schrank legte und Abel ihr die Sachen zureichte, sagte sie plötzlich:

„Auch ich habe etwas Besonderes bemerkt. Es stand ein zweiter Mann Schmiere. Ich wurde erst auf ihn aufmerksam, als Sie mit dem Andern sich näherten. Da ging der erste rasch über den Bassinplatz davon.“

„Ah – und wie sah er aus?“ fragte Abel gespannt.

„Jedenfalls war er sehr anständig angezogen, hatte einen hellgrauen Filzhut auf, einen grauen Ulster an und gelbe Stiefel. Das Gesicht konnte ich nicht sehen. Er hatte den Hut tief nach vorn gedrückt und den Ulsterkragen hochgeschlagen. Jedenfalls – es war ein bärtiges Gesicht.“

„Die Größe?“

„Mittelgroß, Figur schlank.“

„Wo stand der Mann?“

„Hinter einem der Bäume des Bassinplatzes. Ich kam wie gesagt leider zu spät auf den Gedanken, daß er zu dem Diebe gehören könnte. Außerdem wollte ich auch vor dem Beamten lieber schweigen, Werner-Karl, da ich nicht wußte, ob es Ihnen recht wäre, daß ich –“

Abel nickte. „Ja, es war besser so, Olga.“

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Die Baronesse hat den Strolch bestochen?“ fragte sie schnell. „Nicht wahr, auch Sie haben diesen Verdacht?“

„Nein, Olga. – Sie denken daran, der Andere sei die Baronesse gewesen. Das glaube ich nicht.“

„Weil der Dieb das Kästchen stehen ließ?! Oh, er kann nur den Smaragd haben holen sollen. Als er das Kästchen leer fand, ließ er es eben hier.“

„Wie hat die Baronesse so schnell einen Strolch herbekommen, der für Geld für ein immerhin gefährliches Unternehmen zu haben war?!“ sagte Abel, indem er den Kleiderschrank schloß. „Und – wie durfte sie sich einem wildfremden Menschen so weit anvertrauen?! Nein, Olga, Sie sind ja der Wahrheit ziemlich nahe, ziemlich! Nicht ganz. Der Strolch ist eben gar kein Strolch. Es ist ein Mann, der die Baronin Krettger und die Baronesse sehr genau kennt und der lediglich als Vagabund herausgeputzt war.“

„Unmöglich!“

„Wenn Sie sich seine Hände auf der Polizeiwache schärfer angesehen hätten, würden Sie bemerkt haben, daß es trotz des augenblicklichen Schmutzes gepflegte Hände waren. Unter den spitz geschnittenen Nägeln saßen pechschwarze Trauerränder, gewiß. Aber all das war Mache, war – Kunstschmutz, war Maske.“

Olga Orstra schritt wieder in das Herrenzimmer hinüber und nahm im Klubsessel Platz. Abel hob das chinesische Kästchen empor und klappte den Deckel auf, fügte dem letzten Satz hinzu:

„Der angebliche Strolch, behaupte ich, ist ein gebildeter Mensch. Was er tat, tat er freiwillig, ohne Bestechung. Und der Andere war ein Bekannter von ihm. Woher sollte die Baronesse einen falschen Bart so rasch zur Verfügung gehabt haben?! Nein, Olga, der Bart weist auf jemand anders hin, und –“

Er hatte die Pagode auf der Unterseite des Deckels herausschnellen lassen.

„Was bedeutet das nun wieder?!“ rief er. „Da – das Geheimfach ist nicht mehr leer! Dies ist die Spitze der Klinge eines schmalen Dolchmessers! Ein etwa sechs Zentimeter langes Stück! Und – frisch geronnenes Blut klebt daran!“

Olga war aufgesprungen. Ihr Gesicht hatte sich verfärbt.

„Mein Gott – Blut, Blut!“ flüsterte sie scheu. „Ob – ob es etwa ein Stück der Waffe ist, mit der Helene Berting getötet wurde?!“

Dann – schlug das Telephon an.

 

4. Kapitel.

Kriminalkommissar Hugo Warpler war mit demselben Zuge nach Potsdam hinausgefahren, den auch Olga Orstra benutzt hatte. Er hatte sogar im Nebenabteil gesessen, und beim Aussteigen war er dann auf sie aufmerksam geworden, da sie noch denselben Mantel und Hut trug, wie bei ihrer Vernehmung am Nachmittag.

Warpler wollte hier die Baronin Krettger aufsuchen. Es war ihm jetzt aber ganz interessant, die als so unnahbar bekannte Olga Orstra hier mit diesem Herrn zu beobachten. Er folgte ihnen, da er ohnedies dadurch keinen Umweg machte. Nachdem das Paar dann das Haus Plauenerstraße 34 betreten hatte, eilte er weiter der Großen Weinmeisterstraße zu.

Genau wie vor einer Stunde war es abermals die Baronesse, die zur Mauerpforte kam und fragte, wer draußen sei. Wieder knurrte die große Tigerdogge dumpf – genau wie sie es getan, als Abel Einlaß begehrt hatte.

Nur – jetzt wurde geöffnet. Warpler war Beamter.

Warpler wurde in einen altmodischen Salon geführt. Dann erschien die Baronin Krettger in einem hochgeschlossenen braunen Seidenkleide, dessen Machart vor zwanzig Jahren modern gewesen sein mochte.

Die Baronin trug ein Lorgnon an langer goldener Kette und war eine jener Frauen, die scheinbar nie jung gewesen sein können. Hager, über mittelgroß, sich sehr gerade haltend, hatte sie eines jener verschlossenen, nichtssagenden Gesichter, auf denen außer hochmütiger Kälte nichts anderes wahrnehmbar ist.

Warpler begann mit einer kurzen Schilderung des Mordes und der Begleitumstände. Die Baronin erklärte sehr bald, daß vor etwa einer Stunde bereits ein Herr namens Abel, ein Schriftsteller, an der Pforte geläutet habe und sie, die Baronin, sprechen wollte, indem er andeutete, das Teekästchen hinge mit einem in Berlin verübten Morde zusammen.

„Wir sind über dieses Verbrechen also schon unterrichtet, Herr Kommissar,“ fügte sie hinzu.

Warpler war aufs höchste interessiert. „Sie haben den Herrn persönlich gesprochen, Frau Baronin?“ fragte er hastig.

Eine kurze, kaum merkliche Handbewegung. „Ich? Nein, Herr Kommissar. Meine Tochter hat ihm an der Pforte erklärt, daß ich Fremde nicht empfinge. Daraufhin ist der Herr umgekehrt.“

Warpler war enttäuscht. „Abel hieß er?“ meinte er nachdenklich. „Schriftsteller Abel? Ob es der Filmautor Abel sein mag?“

Die Baronin erwiderte nichts. Steif und wie die verkörperte eisigste Zurückhaltung saß sie da.

Hugo Warpler dachte: „Wenn diese Frau etwas verheimlichen will, wird keine Macht der Welt ihr die Zunge lösen.“ Und laut sagte er: „Frau Baronin, die Ermordung der Buchhalterin Helene Berting und der Raub des Kästchens – beides hängt ja innig miteinander zusammen – würde für die Polizei leichter zu erklären sein, wenn Sie mir mitteilen könnten, ob bereits hier bei[3] Ihnen von Fremden Versuche gemacht worden sind, das Kästchen zu stehlen. Ist dem so?“

„Nein.“ Hart und klar erklang dieses Nein. „Wir haben niemals etwas von derartigen Versuchen bemerkt. Um es gleich zu sagen: die Not der Zeit zwang uns, das Kästchen zu verkaufen. – Haben Sie sonst noch Fragen zu stellen, Herr Kommissar?“

Warpler erhob sich. Die Baronin rief ihre Tochter herbei. Baronesse Mara von Krettger geleitete den Kommissar schweigend bis zur Pforte. Er hatte im Salon ihr Gesicht nun auch genauer gesehen und war überrascht gewesen von dieser Schönheit eines wie versteinerten Mädchenantlitzes.

Erst an der Pforte wandte er sich mit der Frage an sie, ob ihr der Schriftsteller Abel bekannt sei.

„Nur durch einige Romane,“ erklärte die Baronesse, indem sie die Pforte aufschloß. „Er wohnt jedenfalls hier in Potsdam. Gute Nacht, Herr Kriminalkommissar.“ –

Warpler saß eine Viertelstunde später im Residenz-Restaurant und ließ sich, nachdem er Essen bestellt hatte, das Adreßbuch geben. – Ah – da hatte er den Abel schon! Also Plauenerstraße 34! Und die Telephonnummer 1801!

Er rief Abel nun vom Restaurant aus an. Es meldete sich jedoch niemand in Abels Wohnung. Nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte, wanderte er die Plauenerstraße hinab. Vor Nr. 34 machte er halt.

„Das ist doch dasselbe Haus, in dem die Orstra mit dem Herrn verschwand!“ schoß es dem Kommissar durch den Kopf. „Sollte der Herr etwa Werner-Karl Abel gewesen sein?! Nun, das wollen wir sehr bald feststellen. Der Herr hatte Schmisse, war bartlos und trug Kneifer ohne Fassung. Vielleicht kennt man Abel im Residenz-Restaurant!“

Ja – man kannte ihn dort sogar sehr genau.

Warpler rief Abel jetzt zum zweiten Male an, und nun meldete der Schriftsteller sich.

„Könnte ich Sie sofort in einer dringenden Angelegenheit sprechen?“ fragte der Kommissar. „Vielleicht in Ihrer Wohnung? Sie müßten dann schon so liebenswürdig sein und mir die Haustür aufschließen.“

„Bitte, sehr gern –“ – Dann war das Gespräch zu Ende, und in der Mansardenwohnung wandte sich Werner-Karl an Olga Orstra und sagte: „Was nun?! Wir müssen uns schnell entscheiden, ob wir unsere Geheimnisse Warpler preisgeben wollen. Ich halte es für sehr bedenklich, von dem zweiten Kästchen zu schweigen, zumal dieser Messerspitze wegen, die wir hier soeben gefunden haben und die –“

Er sprach nicht weiter, sondern lauschte nach dem Fenster zu.

„Das ist Barmuths Pfiff,“ meinte er und öffnete den einen Fensterflügel.

Unten vor dem Hause auf dem Fahrdamm stand wirklich Egon Barmuth und rief Abel zu: „Laß mich ein! Sofort! Wirf mir den Schlüssel herunter!“

„Ich komme selbst,“ entgegnete Abel, schloß das Fenster und sagte zu Olga: „Es ist derselbe Bekannte, der mir über die Baronesse Auskunft gab, ein Bankbeamter Egon Barmuth. Wir essen häufig im Residenz-Restaurant gemeinsam Mittag. Ich gehe die Haustür öffnen –“

„Halt!“ rief Olga leise. „Werner-Karl, ich setze mich nebenan ins Eßzimmer. Fertigen Sie den Herrn schnell ab. – Und der Kommissar?“

„Ich denke, ich teile ihm alles mit. Er wird ebenfalls sofort erscheinen. – Würden Sie nicht lieber ins Schlafzimmer gehen, Olga? Dann könnte ich Warpler ins Eßzimmer bitten, bis Barmuth wieder fort ist.“

Olga errötete leicht, nickte und holte Mantel, Hut und Schirm und verschwand im Schlafzimmer, nachdem sie das chinesische Kästchen in das Büfett gestellt hatte. Abel eilte die Treppen hinab. Kaum hatte er aufgeschlossen, als Barmuth ihn in den dunklen Flur zurückdrängte.

„Abel, ich beschwöre Dich,“ stieß er hervor, „sage Warpler nichts von dem zweiten Kästchen! Mache nicht zwei Menschen unglücklich! Ich flehe Dich an: Schweige! Ich will Dir nachher alles erklären.“

Werner-Karl sagte nur: „Du gibst mir viel zu raten auf! Geh’ und setze Dich in mein Eßzimmer. Verhalte Dich dort ganz still. Warpler muß jede Sekunde hier sein!“

Egon Barmuth stürmte die Treppe hinan.

Abel fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Toll – toll!“ dachte er. „Nun auch noch Barmuth. Man wird sich in dieser Teekästchen-Geschichte bald gar nicht mehr zurechtfinden können!“

Er trat auf den Bürgersteig hinaus. Da nahte schon eine hohe, breitschultrige Gestalt.

„Mein Name ist Warpler –“

„Abel. – Bitte, Herr Kriminalkommissar, gehen Sie nur voran. Hier ist meine Taschenlampe. Ich schließe nur wieder ab.“

Oben im Arbeitszimmer sagte Warpler dann, nachdem er im Klubsessel Platz genommen hatte:

„Ich habe in Berlin gehört, daß Sie mit der Filmdiva Olga Orstra befreundet sein sollen, Herr Abel –“

Aha – er will erst mal auf den Strauch schlagen! dachte Abel und erklärte kühl: „Ich bin allerdings mit Fräulein Orstra befreundet. Sie kam heute gegen halb neun zu mir und hat mir alles über das Teekästchen und den Mord berichtet, nachdem sie mich schon gegen sieben Uhr telephonisch von ihrem Besuch verständigt hatte. Nach diesem Telephongespräch war ich, ohne vorgelassen zu werden, bei der Baronin Krettger. Ich bin in der Hauptsache Kriminalschriftsteller, Herr Kommissar, und Olga Orstra wollte mit mir den Fall durchsprechen.“

Hugo Warpler konnte seine Enttäuschung nur schwer verbergen. Also auch Abel war eine Niete! Er hatte es eigentlich schon befürchtet.

„Wenn ich Sie recht verstehe, Herr Abel,“ meinte er nun, „wollten Sie den Fall selbst so ein wenig untersuchen.“

„Ja. Deshalb ging ich ja auch nach der Großen Weinmeisterstraße 109.“

„Trösten Sie sich, Herr Abel, auch ich habe dort nichts erfahren. Sie nahmen doch ebenfalls an, die Baronin könnte des Kästchens wegen schon belästigt worden sein – durch Diebe – irgendwie.“

„Ja, das nahm ich allerdings an.“

„Die Baronin verneinte diese meine Frage sehr bestimmt. – Ist Fräulein Orstra schon nach Berlin zurückgekehrt? Ich hätte sie gern noch einiges gefragt.“

„Sie ist noch hier. Ich werde sie holen, Herr Kommissar.“

Er erhob sich und ging ins Schlafzimmer. Es war dunkel, und Olga war nicht hier. Abel betrat das Speisezimmer, einen schmalen, einfenstrigen Raum.

Auch dunkel. Auch leer!

Wo in aller Welt waren Olga und Barmuth geblieben?

Er suchte im Flur, in der Küche. Dann aber stellte er fest, daß die Flurtür nur eingeklinkt war und daß der zweite Hausschlüssel vom Schlüsselbrett fehlte.

Sollten Olga und Barmuth sich zusammen entfernt haben? Weshalb aber – weshalb?!

Jedenfalls: sie waren nicht mehr in der Wohnung.

Abel kehrte zu Warpler zurück. „Es tut mir leid, Herr Kommissar,“ sagte er leicht erregt. „Fräulein Orstra hat sich bereits entfernt. Sie hat den zweiten Hausschlüssel mitgenommen. Sie mag geglaubt haben, wir hätten längere Zeit miteinander zu sprechen. Offen gestanden, ich begreife selbst nicht recht, weshalb sie sich in dieser Weise davongeschlichen hat.“

Warpler wurde argwöhnisch, ließ sich jedoch nichts merken und verabschiedete sich. Abel brachte ihn die Treppen hinab. Vor der Haustür noch ein Händedruck, und Warpler eilte – angeblich – nach dem Bahnhof. In Wahrheit begab er sich zur Polizeidirektion und bat, nachdem er sich legitimiert hatte, das Haus Plauenerstraße 34 sofort beobachten und den dort wohnenden Schriftsteller Abel überwachen zu lassen.

Es war jetzt elf Uhr nachts.

 

5. Kapitel.

Hier in der Polizeidirektion hörte Warpler dann auch von dem bei Abel verübten Diebstahl. Der Kriminalbeamte vom Nachtdienst, der es ihm erzählte, war selbst verwundert, daß der Schriftsteller den Diebstahl Warpler gegenüber so gar nicht erwähnt hatte.

Warpler, trotz der Massigkeit seiner Figur eine elegante Erscheinung und dazu einer der klügsten Köpfe unter den Berliner Kommissaren, lächelte ein wenig: „Er wird schon seine Gründe gehabt haben. – Kann ich den Strolch einmal sehen, der sich so vollkommen ausschweigt?“

Der Unbekannte wurde vorgeführt.

Warpler trat ganz nahe an ihn heran, musterte ihn eine Weile und verlangte dann lauwarmes Wasser, Seife und einen Schwamm.

Der Gefangene mußte sich gründlich die Hände und das Gesicht waschen. Erst hatte er sich geweigert. Dann gehorchte er wortlos. Auch seine Weigerung war nur schweigende Nichtbeachtung des Befehls, sich zu säubern, gewesen.

„Einen Kamm!“ sagte Warpler nun. Und zu dem Diebe: „Sie werden sich Ihr Haar scheiteln, wie Sie es sonst stets trugen. Vorwärts!“

Der gewaschene und gekämmte Strolch machte bereits einen ganz anderen Eindruck.

Warpler nickte denn auch zufrieden.

Im selben Moment betrat ein Schutzpolizeiwachtmeister das Dienstzimmer.

„Ein Herr Egon Barmuth ist draußen,“ meldete er.

Da öffnete sich die Tür schon wieder und Egon Barmuth erschien, rief angstvoll:

„Ich bleibe nicht draußen! Das Weib ist dicht hinter mir! Sie führt irgend etwas im Schilde!“ – Er lief dicht an dem Gefangenen vorüber in die entfernteste Ecke neben der zweiten Tür. „Schließen Sie die Tür dort zu!“ flehte er. „Tun Sie es bitte! Das Weib hat fraglos einen Revolver bei sich!“

Und zum dritten Male flog die Tür nach dem Korridor auf. Auf der Schwelle stand Olga Orstra mit hochgeschlagenem Schleier.

Barmuth kreischte förmlich vor Angst:

„Da ist sie! Da ist sie!“

Dann ein Satz, und er war am Lichtschalter, drehte den kleinen Hebel.

Dunkelheit. – Und nun Olga Orstras gereizte Stimme:

„Der Herr ist übergeschnappt!“

Warplers und des Wachtmeisters Taschenlampen flammten auf. Warpler drängte Barmuth vom Lichtschalter weg und ließ die beiden Birnen wieder aufflammen.

Olga Orstra trat auf den Kommissar zu.

„Der Herr dort glaubt sich von mir verfolgt,“ stieß sie hervor. „Er hat nicht ganz unrecht. Ich war bei Herrn Abel und öffnete mir dann selbst die Haustür mit dem zweiten Hausschlüssel. Als ich dies tat, merkte ich, daß jemand von außen ebenfalls einen Schlüssel in das Schlüsselloch eingeführt hatte, nun aber sein Vorhaben aufgab. Draußen sah ich diesen Herrn, der sich eiligst entfernte. Weil nun doch heute bei Herrn Abel schon einmal eingebrochen worden ist, wurde ich argwöhnisch und wollte –“

„Ja!“ schrie Egon Barmuth dazwischen, „ja, Sie sind mir auf Schritt und Tritt gefolgt, haben mich durch die Straßen gehetzt, bis ich hier Schutz suchte. Ich bin ein Bekannter Werner-Karl Abels. Ich wollte zu ihm. Ich versuchte, ob mein Hausschlüssel paßte. Das ist alles. Telephonieren Sie bitte an Abel. Er wird mich legitimieren. Ich bin Beamter der hiesigen Depositenkasse der Deutschen Bank. – Die Dame da hat mich übergeschnappt genannt. Das lasse ich mir nicht gefallen! Das ist eine Beleidigung! Hier sind Papiere, die ebenfalls beweisen, daß ich Egon Barmuth bin!“

Olga Orstra entschuldigte sich bei Barmuth. „Verzeihen Sie,“ meinte sie mit reizender Offenheit. „Sie hielten mich für weiß Gott was. Als Sie sogar ganz laut riefen, ich wollte Sie erschießen – oder dergleichen, wurde auch ich erregt, was begreiflich ist. Nochmals, Herr Barmuth, verzeihen Sie mir.“

Gleich darauf verließen Olga Orstra und Barmuth gemeinsam die Polizeidirektion.

Schweigend schritten sie die einsamen Straßen entlang. Dann flüsterte Barmuth tief aufatmend:

„Geglückt – geglückt! Ich hätte nicht geglaubt, daß ich so vorzüglich Komödie spielen könnte!“

Olga lachte leise. „Die Liebe kann alles, Herr Barmuth.“

„Scheint, so!“ meinte er gut gelaunt. „Sie wollen jetzt also nach dem Bahnhof, Fräulein Orstra. Ich begleite Sie bis an den Zug. Dann kann ich nachher doch Werner-Karl mit gutem Gewissen berichten, daß Sie gut verpackt nach Berlin unterwegs sind.“

Sie näherten sich dem Bahnhof. Vor ihnen ging ein Herr, der es durchaus nicht eilig hatte. Je näher sie ihm kamen, desto schärfer schaute Olga hin.

„Das ist Abel,“ sagte sie dann leise.

Sie hatten ihn erreicht, drängten sich jeder an eine Seite und riefen gleichzeitig: „Guten Abend, Freund Werner-Karl!“

Abel war so in seine Gedanken vertieft gewesen, daß er ordentlich zusammenschrak.

„Wo kommt Ihr denn her?!“ fragte er etwas ärgerlich.

„Das ist eine lange Geschichte,“ meinte Olga und hängte sich in seinen Arm ein. „Das erzähle ich Ihnen später, Werner-Karl. Oder Herr Barmuth wird es tun. Wollten Sie noch nach Berlin hinein?“

„Ja. – Sag’ mal Egon, was hast Du denn eigentlich mit dem Teekästchen zu schaffen. Was sollte Deine merkwürdige Bitte im Flur, Warpler gegenüber das Kästchen nicht zu erwähnen?! Und – zwei Menschen sollte ich nicht unglücklich machen?! Wen denn?!“

Barmuth, ein hübscher jüngerer Mann von sehr elegantem Äußeren, erwiderte verlegen:

„Laß Dir das von Fräulein Orstra erzählen. Es ist ein ganzer Roman. Du wirst staunen. – Gute Nacht, – ich will kehrtmachen. Nur eine Frage noch, Abel. Hast Du den Smaragd und das Stück Seidenpapier bei Dir?“

„Allerdings –“

„Gib mir beides und auch Deine Schlüssel, Werner-Karl. Ich muß das Teekästchen aus dem Büfett mitnehmen.“

Abel schaute ihn scharf an. „Ah, mir geht ein Licht auf, Egon. Du kennst die Baronesse, und –“

„Ja – ja! Fräulein Olga erzählt Dir das schon.“

Abel gab ihm die Schlüssel. „Tell kennt Dich ja. Rufe ihn erst an, bevor Du eintrittst. Hier ist der Smaragd und das Seidenpapier. Gute Nacht –“

Barmuth ging der Stadt wieder zu, und Olga und Werner-Karl bestiegen den Stadtbahnzug nach Berlin. –

Kriminalkommissar Warpler hatte einem der Beamten einen Wink gegeben, Olga Orstra und Barmuth zu folgen. Ein unbestimmter Argwohn war nämlich plötzlich in ihm aufgestiegen, als das schnell versöhnte Paar sich mit einem so merkwürdigen Lächeln die Hand gedrückt hatte.

Nach einer Viertelstunde erschien der Beamte.

Warpler schüttelte den Kopf. „Unglaublich – unglaublich!“ meinte er, als er dessen Meldung entgegengenommen hatte. „Also Abel und die Orstra sind nach Berlin gefahren, und Barmuth ist jetzt in Abels Wohnung?“

Er senkte einen Moment den Kopf und dachte nach.

„Schnell – ein Fahrrad her!“ rief er dann.

Nun sauste er die Plauenerstraße entlang. In der Türnische des Hauses, das Nr. 34 gegenüberlag, stand ein Mann mit hochgeschlagenem Mantelkragen. Warpler trat auf ihn zu.

„Ist Barmuth schon wieder weggegangen?“ fragte er hastig.

„Nein, Herr Kommissar –“

Egon Barmuth erschien, hatte das eingehüllte Teekästchen unter dem Arm. Ahnungslos, daß Abels Haus beobachtet wurde und daß er selbst nun Warpler hinter sich hatte, eilte er über den Bassinplatz der Moltkestraße zu und befand sich zehn Minuten drauf vor der Mauerpforte des alten Krettgerschen Grundstücks.

Er läutete. Es dauerte gut fünf Minuten, bis Mara in Begleitung der Dogge den Gartenweg entlangkam. Warpler hatte diese Zeit vollauf genügt, durch den Nachbargarten sich bis an die Mauer des Krettgerschen Besitzes zu schleichen und sich hier zwischen halb entlaubten Sträuchern zusammenzuducken.

Der Kommissar wurde so Zeuge, wie Egon Barmuth die Baronesse leidenschaftlich an sich zog, wie er sie küßte und wie Barmuth von dem stolzen Mädchen nicht weniger leidenschaftlich wiedergeküßt wurde.

Dann eilte Mara ins Haus und kehrte mit einem Spaten zurück.

Die Baronesse und Egon vergruben das Teekästchen aufs neue an anderer Stelle. Dann verabschiedete Barmuth sich. Mara hielt ihn lange umschlungen und verschwand nun mit der Dogge im Hause.

Warpler vermutete bereits, was dort soeben vergraben worden war. Aber wie all das zusammenhing, begriff er nicht. Er wartete eine geraume Weile. Dann kroch er der betreffenden Stelle in den Büschen zu und begann mit den Händen zu graben.

So eifrig buddelte er, daß er, der Übervorsichtige, hier sich überrumpeln ließ. Ein Mann, noch gewandter als er, hatte sich lautlos hinter ihn geschlichen, hob nun den rechten Arm und ließ einen schweren Stein auf Warplers Hinterkopf niederschmettern.

Der Mann mit dem schwarzen Spitzbart bückte sich, schob den Körper zur Seite und holte das Kästchen aus dem Erdloche hervor, füllte das Loch wieder, streute trockene Blätter darüber und reichte das Kästchen über die Mauer einem anderen Manne zu.

Dann schleppte er Warpler bis an die Mauer. Ein geschlossenes Auto kam langsam angefahren. Zwei Männer hoben einen anscheinend Betrunkenen hinein. Der Kraftwagen glitt weiter.

 

6. Kapitel.

Der Kriminalbeamte Fritz Dröger, dem Warpler das Rad übergeben hatte, fuhr nach der Polizeidirektion zurück. Warpler hatte ihm ja gesagt, die Beobachtung des Hauses sei vorläufig nicht mehr nötig.

In der Polizeidirektion erzählten ihm die Kollegen, was sich hier vorhin abgespielt hatte: wie Barmuth, der Bankbeamte, aus Angst vor der Film-Orstra hierher geflüchtet sei, und daß die Orstra und Werner-Karl Abel nach Berlin gefahren seien, ferner, daß Warpler die Maske des Strolches durchschaut habe.

Dröger lehnte am warmen Kachelofen und stellte viele Fragen. Seine beiden Kollegen wurden aufmerksam.

„Der Barmuth hatte also das Licht hier ausgeschaltet?“ sagte er sinnend. „Hm – das Ganze riecht sehr nach bestellter Arbeit. Und Warpler, glaube ich, hat dasselbe geargwöhnt.“

„Bestellte Arbeit?! Wie meinst Du das, Dröger?“

„Ich meine, daß Barmuth dem Strolch ganz gut im Dunkeln etwas zugesteckt haben kann – einen Zettel, oder – eine Feile, eine Stahlsäge. Unsere Arrestantenzellen sind nicht gerade ausbruchssicher für schwere Jungen.“

„Donnerwetter!“ riefen die Kollegen wie aus einem Munde. „Das wäre allerdings ein raffinierter Streich gewesen,“ fügte der eine hinzu. „Man müßte mal nachsehen, ob der Kerl etwa wirklich Auskneifgelüste hat.“

Dröger nickte. „Ja, das müssen wir –“

Die Zelle wurde geöffnet. Sie war leer. Das Fenstergitter war sauber herausgesägt.

Fritz Dröger sagte nun, immer in derselben bescheidenen Weise:

„Der Barmuth schlug mit dem Paket unter dem Arm die Richtung Bassinplatz ein. Ihr wißt, Warpler sucht hier den Mörder der Buchhalterin, der zugleich ein chinesisches Kästchen stahl. Das Paket Barmuths kann ein Kästchen gewesen sein. Wenn er nach Hause gewollt hätte, würde er die Brandenburgerstraße hinabgegangen sein, denn er wohnt in der Jägerstraße. Aber in der Großen Weinmeisterstraße wohnt die Dame, die das Kästchen an den Händler Kalischer verkauft hat, die Baronin Krettger. Es kann sein, daß Barmuth sich dorthin begab. Jedenfalls werde ich mal die Große Weinmeister entlangradeln. Auf Wiedersehen.“

So kam es, daß Fritz Dröger Barmuth am Anfang der Großen Weinmeisterstraße begegnete. Barmuth hatte das Kästchen nicht mehr bei sich. Er schritt sehr rasch dahin. Dröger blieb hinter ihm.

Der Bankbeamte betrat nachher das Haus Jägerstraße 61. Hier wohnte er. Aber – er betrat es nicht allein. Kein anderer als der „Strolch“ hatte in einem leeren, in der Nähe stehenden Gemüsewagen gelegen und schlüpfte zusammen mit Barmuth ins Haus.

Fritz Dröger lächelte. „Die beiden habe ich jetzt fest!“ dachte er und jagte auf seinem Rade davon, traf sehr bald einen Wachtmeister der Schutzpolizei und gab ihm die nötigen Anweisungen. Er selbst fuhr wieder nach der Großen Weinmeisterstraße, denn er wollte zusehen, ob er Warpler dort träfe, und ihm die Neuigkeiten sofort mitteilen.

Undeutlich beobachtete er im Näherkommen, wie dort vor ihm ein Herr in ein Auto gehoben wurde. Das Auto kam ihm nun entgegen. Dröger fuhr langsam, spähte in den Kraftwagen hinein, sah die zugezogenen Vorhänge, hielt an, sah, daß das Auto keine Nummer hatte, sprang wieder auf seine Maschine und konnte noch feststellen, wie das Auto die Richtung nach der Glienicker Brücke, also nach Berlin einschlug.

Fünf Minuten später wurde die Polizei in Wannsee, Nikolassee und die der anderen in Betracht kommenden Vororte telephonisch angewiesen, jenes Auto aufzuhalten.

In fieberhafter Spannung warteten die Beamten auf dem Potsdamer Präsidium nun auf die Meldung, daß der Fang geglückt sei.

Bald wurde dann auch Egon Barmuth eingeliefert. Der „Strolch“ mußte doch wohl noch rechtzeitig Unrat gewittert haben und war nicht mehr zu finden gewesen. Barmuth leugnete, diesen Unbekannten mit in seine Wohnung genommen zu haben. Als Dröger ihm auf den Kopf zusagte, er und Olga Orstra hätten dem Polizeigefangenen zur Flucht verholfen, ließ Barmuth wie mutlos den Kopf sinken und erklärte leise: „Ich verweigere die Aussage.“

So wurde er denn in eine Zelle gebracht. –

Keine Meldung traf ein. Das Auto ohne Nummer mit den geschlossenen Vorhängen blieb verschwunden. Ein Uhr morgens war es, als Dröger zu seinem inzwischen herbeigerufenen Vorgesetzten, dem Kommissar Penk, sagte: „Ich bleibe dabei, daß Herr Warpler in dem Auto verschleppt worden ist. Und weiter behaupte ich, daß Barmuth in der Krettgerschen Villa gewesen ist. Man müßte die Baronin sofort mal ins Gebet nehmen.“

„Gut, fahren wir hin, Dröger,“ meinte Penk eifrig. „Sie haben heute einen guten Riecher! Kommen Sie!“

Sie radelten nach der Großen Weinmeister. Sie läuteten. Erst nach reichlich zehn Minuten erschien eine alte Köchin an der Mauerpforte mit der Dogge am Halsband und ließ die Beamten ein, erklärte aber sofort, daß die beiden Damen vor einer halben Stunde etwa verreist seien. Wohin, wisse sie nicht.

Penk ließ daraufhin durch Dröger Verstärkung holen. Während dieser Zeit war Penk mit der Köchin an der Mauerpforte stehen geblieben. Die Alte, in ein großes Tuch gehüllt, verharrte in verbissenem Schweigen. Ihre Antworten waren kurz und wie von feindseliger Ablehnung durchtränkt gewesen. Sie hatte erklärt, sie habe in ihrem Stübchen hinten neben der Küche seit neun Uhr abends fest geschlafen. Sie sei die einzige Hausangestellte, die von der Baronin gehalten würde, und schon achtundzwanzig Jahre bei Krettgers im Dienst. Gegen ein Uhr sei die Baronesse zum Ausgehen angezogen in ihr Stübchen gekommen und habe ihr mitgeteilt, daß die Damen für ein paar Tage verreisen würden. Wohin sie reisen wollten, sei ihr nicht gesagt worden. Mehr wisse sie nicht. Jedenfalls sei sie jetzt mit dem Hunde allein in der Villa gewesen.

Dröger traf mit dem Rade an der Pforte wieder ein. Hinter ihm kamen vier andere Beamte, ebenfalls auf Zweirädern.

Penk schickte Dröger nach dem Bahnhof, damit er feststellte, ob gegen halb zwei ein Fernzug Potsdam passiert habe oder ob noch später einer einträfe.

Fritz Dröger, der bereits in Schweiß förmlich gebadet war, fragte auf dem Bahnhof die Schalterbeamten aus, ebenso die Beamten an der Sperre. Die beiden Damen waren nirgends bemerkt worden.

Er radelte nach der Großen Weinmeisterstraße zurück, wo Penk inzwischen Haus und Garten aufs sorgfältigste hatte durchsuchen lassen. So waren denn auch die beiden frisch gegrabenen Erdlöcher entdeckt worden. Beide waren zugeschüttet gewesen. Aber neben dem einen lag ein flacher, großer Stein, und Penk erkannte aus den Eindrücken im Boden, daß hier ein Mensch niedergeschlagen worden war und schwach geblutet hatte. Das konnte nur der Berliner Kollege Warpler gewesen sein.

Penk beriet sich mit Dröger. Im Salon der Villa wurde die grauhaarige Köchin Anna Minz nachmals gründlich verhört. Dröger fragte, mit wem die Damen Krettger hier in Potsdam verkehrten. Die Minz nannte eine Menge Namen, die Dröger sämtlich notierte. Dann mußte Anna Minz nachsehen, ob die Damen Koffer mitgenommen hätten. Es fehlten nur zwei Reisetaschen.

Penk begab sich in die Nachbarvilla und ließ sich mit dem Berliner Präsidium telephonisch verbinden. Krettgers hatten kein Telephon. Er meldete die Vorgänge und bat, Werner-Karl Abel und die Filmschauspielerin Olga Orstra sofort zu vernehmen und falls der Verdacht der Verschleierung des Tatbestandes vorläge, beide zu verhaften.

Dann blieben in der Villa zwei Beamte als Wache vorläufig zurück. Anna Minz wurde erklärt, daß sie die Villa nicht verlassen dürfe.

Penk und Dröger gingen langsam der Innenstadt zu. Penk kaute mißmutig an seiner Zigarre.

„Wer mag Warpler beseitigt haben?“ fragte er, um Drögers Meinung über diesen Punkt zu hören.

Dröger fuhr aus tiefem Sinnen hoch. „Ich weiß es nicht, Herr Kommissar. Auch ist jede Vermutung hier von vornherein zwecklos. Man stößt auf zu viele Widersprüche, wenn man etwas tiefer in die Geschehnisse eindringt. Nur eine Frage genügt, diesen Wirrwarr anzudeuten: Wer ist der Strolch, der bei Abel die Sachen stahl und dem nachher von Abels Freunden Barmuth und Olga Orstra auf so raffinierte Art eine Stahlsäge zugesteckt wurde, damit er schleunigst entweichen könne?“

Penk warf die Zigarre weg. „Sie haben recht, Dröger. Man kommt nicht an den Kern der Dinge heran. Nur eins, denke ich, steht fest: das chinesische Teekästchen ist der Faden, der den Berliner Mord mit diesen Geschehnissen verbindet.“

„Ohne Zweifel, Herr Kommissar. Wenn Sie gestatten, möchte ich mich jetzt daheim umziehen, denn ich bin völlig naß geschwitzt, und dann nochmals die Krettgersche Villa durchsuchen. Ich darf doch alle Behältnisse öffnen?“

„Natürlich dürfen Sie es, natürlich!“ nickte Penk. „Sie dürfen alles, Dröger. Wir wollen hier nicht allzu bedenklich sein. Nur immer fest zupacken.“

„Ja, ja –,“ meinte Dröger grübelnd. „Zupacken –! Und doch, ich habe so das Gefühl, als ob hier noch Tatsachen und besondere Verhältnisse mitsprechen, die den Dingen nachher ein ganz anderes Aussehen geben werden.“

 

7. Kapitel.

„O Werner-Karl, was ist das für eine Nacht!“ sagte Olga Orstra zu ihrem Freunde, als sie nebeneinander in einem sonst leeren Abteil zweiter Klasse saßen, und schmiegte sich ganz eng an ihn.

„Ich habe schon andere Nächte durchgemacht,“ meinte er gleichgültig. „Ich bin durch Menschenblut gewatet und hörte die Todesschreie meiner Mitmenschen – damals, als der Blutrausch die ganze Welt gepackt hatte. Alles jetzige Erleben ist gegen jene Zeit wie eine alberne Fratze, die uns das Schicksal schneidet. Nur –“

Da schwieg er. Dieses „Nur“ machte Olga neugierig.

„Sprechen Sie doch weiter, Werner-Karl,“ bat sie.

„Nein. An Ihnen ist es, zu reden.“

Sie suchte nach einem Anfang. Sie wollte sich recht kurz fassen.

„Also das war so –,“ begann sie dann, noch immer sich halb in ihren Gedanken mit seiner frauenfeindlichen Eigenart beschäftigend. „Egon Barmuth glaubte sich wohl im Schlafzimmer sicherer und kam dort hinein, obwohl Sie – Sie Brummbär ihm das Eßzimmer angewiesen hatten. Ich saß im Schlafzimmer im Dunkeln am Fenster. Barmuth bemerkte mich nicht sofort, ließ sich auf den Diwan nieder und sprach infolge seiner Erregung halblaut mit sich selbst. Ich verstand etwa folgendes: „Es ist zum Verrücktwerden! Nun sitzt Heinz im Gefängnis! Und mein eigener Freund hat meinen besten Freund verhaften lassen! Beinahe hätten sie auch mich erwischt. Die Orstra schaute mir nach und schien große Lust zu haben, mir den Tell nachzuschicken. Hätte ich mich nur nie damit einverstanden erklärt, daß Heinz diese wahnwitzige Idee in die Tat umsetzte! Aber gegenüber Maras Verzweiflung schmolzen ja alle meine Bedenken nur zu rasch dahin!“ – Aus diesem Selbstgespräch klangen so viel Trostlosigkeit und Mutlosigkeit hervor, daß ich sofort mit Barmuth tiefes Mitgefühl hatte, zumal mir ja durch seine Worte der Einbruch bei Ihnen, lieber Freund, in ein ganz anderes Licht gerückt worden war. Ich meldete mich also, und Barmuth fuhr mit einem leisen Schrei vom Diwan hoch. Mir gelang es dann, ihn zu einer offenen Aussprache mit mir zu bewegen.

Er berichtete folgendes:

Er hatte die Baronesse vor einem halben Jahr in seiner Eigenschaft als Bankbeamter kennengelernt und ihr einige Winke über bessere Anlage des kleinen Vermögens der Baronin gegeben.

Die Baronin hatte sich erst lange dagegen gesträubt, von den in der Villa aufgestapelten Raritäten etwas zu verkaufen. Dann erlaubte sie, daß Mara dies und jenes veräußerte. Inzwischen hatte Maras Verhältnis zu Egon Barmuth eine gewisse Wandlung erfahren. Barmuth hatte sie wiederholt auf der Straße begleitet und ihr schließlich vor drei Wochen seine Liebe gestanden. Mara bewies ihm durch ihr Verhalten, daß seine Gefühle von ihrer Seite ebenso leidenschaftlich erwidert würden. Anderseits bat sie ihn, die Verlobung vorerst vor jedermann geheim zu halten, da man die Baronin erst langsam vorbereiten müsse, die leider noch stark in Standesvorurteilen befangen sei.

So blieb denn die Verlobung zwischen den beiden ein Geheimnis. Nur zwei weitere Personen erfuhren davon: Krettgers alte Köchin und Barmuths intimster Freund, der in der Obststadt Werder an der Havel wohnende Kunstmaler und Sonderling Heinz Rovatti, ein menschenscheuer, weltfremder und doch vielseitiger Künstler –“

„Der „Strolch“!“ sagte Abel leise.

„Ja, der Strolch, der Dieb! – Hören Sie weiter Werner-Karl –“ – Sie rückte wieder näher an ihn heran. „Dieser Heinz Rovatti hatte gerade heute, oder besser gestern, denn Mitternacht ist ja vorüber, seit Monaten Barmuth wieder einmal besucht. Abends waren sie dann spazieren gegangen. Barmuth wollte dem Maler die Krettgersche Villa zeigen, natürlich nur von der Straße aus. Sie schritten langsam an der Villa vorüber und wollten gerade kehrt machen, als –“

„Ich bin schon im Bilde, Olga. Jedenfalls: sie beobachteten mich, wie ich zunächst Einlaß begehrte, wie ich mit der Baronesse sprach und wie ich nachher den Kasten holte. Sie werden mir dann nachgeschlichen sein und haben so festgestellt, daß dieser Dieb Werner-Karl Abel war, der das Teekästchen in seine Wohnung trug. Zunächst wußten sie nicht, daß es ein Teekästchen war. Erst als Barmuth und Rovatti wieder nach der Großen Weinmeister gegangen waren und dort mit Mara an der Pforte gesprochen hatten –“

„O – es muß das eine sehr bewegte Szene gewesen sein,“ fiel Olga ihm ins Wort. „Als Barmuth ihr erzählte, der Schriftsteller Abel habe etwas im Garten ausgegraben und mitgenommen, sank sie Barmuth halb ohnmächtig in die Arme –“

„Weshalb hatte sie das Kästchen vergraben?“

„Darüber sprach sie allerlei, was nicht recht klar schien. Nur eins wiederholte sie häufiger: daß es ihre Mutter das Leben kosten würde, wenn das Teekästchen nicht wieder herbeigeschafft und so versteckt werden könnte, daß die Polizei, die doch wegen des Mordes in Berlin fraglos die Baronin vernehmen und vielleicht gar die Villa durchsuchen würde, es nicht entdeckte. – Heinz Rovatti erbot sich da, es zu stehlen.“

„Dachte denn Barmuth gar nicht daran, sich mir anzuvertrauen?“

„Gewiß. Aber Mara wollte nicht, daß noch jemand in das Familiengeheimnis eingeweiht würde, womit sie eben auf das Teekästchen anspielte, von dem es wirklich zwei völlig gleiche Exemplare gab. So trennten sich die beiden Herren denn von der Baronesse, nachdem sie ihnen noch gesagt hatte, es genüge, wenn der Maler nur den im Deckel des Kästchens verborgenen Smaragd nebst der Umhüllung aus chinesischem Seidenpapier verschwinden ließe. Mara weihte die beiden auch in den Mechanismus des Geheimfaches ein.“

„Und Rovatti machte sich dann bei Barmuth die Strolchmaske zurecht – und fand den Edelstein und das chinesische Seidenpapier nicht mehr vor. Weshalb legte er das Stück blutige Dolchklinge hinein? Nur um den Tatbestand noch mehr zu verschleiern?“

„Ja, nur deshalb.“

„Das habe ich geahnt. – Und dann?“

„Dann wurde Rovatti von Ihnen festgenommen und verhaftet. Barmuth sah dies –“

„Gut. Und er kam dann zu mir, nachdem er Kommissar Warpler beobachtet hatte, wie dieser die Villa Krettger betrat.“

„Ja. Die Baronesse hat Barmuth mitgeteilt, was Warpler mit ihrer Mutter gesprochen hatte, und daß diese so unvorsichtig gewesen, zu erwähnen, der Schriftsteller Abel habe sie des Mordes in Berlin wegen bereits sprechen wollen. – So geschah es, daß Barmuth und ich uns in Ihrem Schlafzimmer trafen. Barmuth hatte Sie bitten wollen, ihm zu helfen, Rovatti zu befreien, den man kaum als Rovatti erkennen würde. Ich spürte da plötzlich wieder jene abenteuerliche Unruhe in mir, die mich auch so oft in Berlin durch die Straßen treibt. Der Plan, wie man Rovatti eine Stahlsäge zustecken könne, stammte von mir. Er mußte aber nachher geändert werden. Uns war zunächst die Hauptsache, in das Polizeigebäude hineinzugelangen, und zwar auf eine Weise, die nicht auffallen konnte –“

Sie schilderte nun die Szene im Dienstzimmer des Präsidiums, – wie Barmuth den Verfolgten gespielt und wie ein glücklicher Zufall es gefügt hätte, daß Warpler gerade Rovatti verhörte, so daß es nicht nötig war, auch den zweiten Teil ihres Planes auszuführen, nämlich Rovatti auf andere Art in das Dienstzimmer holen zu lassen.

„Und den Schwindel sollte Warpler nicht durchschaut haben?!“ meinte Abel ernst. „Liebe Freundin, ich fürchte, Sie werden es wegen versuchter Gefangenenbefreiung sehr bald mit der Polizei zu tun bekommen. Glückt Rovatti die Flucht, so sieht die Sache für Sie und Barmuth noch übler aus.“

Olga lachte. „O Werner-Karl, was sind Sie doch für ein nüchterner Gesell’! Gut, mag die Polizei mich beim Kragen packen, ich habe wenigstens einmal nicht bloß in einer Kinorolle etwas Gutes als Komödiantin geleistet!“

Abel schwieg. Und wieder schmiegte sie sich an ihn, schaute zu ihm auf und meinte:

„Sind Sie mir böse, Werner-Karl?“

„Ihnen und – mir selbst! Ich bin unzufrieden mit mir, Olga, sehr unzufrieden. Ich hätte Warpler alles mitteilen sollen. Die Dinge hätten dann einen anderen Lauf genommen. – Wissen Sie, was jetzt ohne Zweifel geschehen wird? Man wird Egon Barmuth verhaften, wird auf Rovatti Jagd machen, falls er bereits entwichen ist, und wird auch auf uns beide fahnden. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn wir beim Verlassen des Zuges verhaftet würden. Warpler muß den Schwindel im Dienstzimmer durchschaut haben – muß, oder er wäre nicht der berühmte Warpler. Kurz – wir alle sitzen jetzt ganz gehörig in der Patsche.“

Der Zug hielt in Wannsee, dem Seglereldorado. Die Gaslampe im Abteil brannte recht schlecht. Es war nur ein träumerisches Halbdunkel.

Die Tür des Abteils wurde geöffnet. Eine Dame stieg hastig ein. Sie war in einen hellen Herbstmantel gekleidet und tief verschleiert – wie Olga Orstra. Ihr Begleiter rief ihr noch zu:

„Komm’ morgen heraus und erkundige Dich. Du brauchst Dir aber keine Sorgen zu machen –“

Abel, der der offenen Tür am nächsten saß, wehte von dem Manne ein kräftiger Parfümduft entgegen.

Er hatte unwillkürlich hingeschaut. Es war ein eleganter Herr mit hagerem, bartlosem Gesicht und einer messerscharfen, großen, leicht gekrümmten Nase.

Dann – dann krallte Olga plötzlich ihre Finger um seinen Unterarm. Er hörte sie hinter dem Schleier keuchend atmen.

Der Herr warf die Tür zu. Die Dame, die ebenfalls stark parfümiert war, setzte sich an die andere Tür in die Polsterecke.

Der Zug ruckte an.

Und nun – nun Olgas Stimme, ganz leise, ganz verändert:

„Es – es war der Mann aus Kalischers Laden, der Mann, der mir die Warnung zuflüsterte. Ich habe die Stimme an dem etwas fremdländischen Akzent erkannt. Er war es bestimmt!“

Abel schoß es durch den Kopf: „Und der Mann roch nach Olgas Parfüm! Ja – es war Olgas Parfüm!“

Sein Hirn arbeitete blitzschnell.

Was sollte er tun? Sollte er die Notleine ziehen? Sollte er den Zug so zum Halten bringen? Sollte er die Verschleierte verhaften lassen und versuchen dem Manne zu folgen?

Nein! entschied er sich. All das wäre verkehrt gewesen. Es gab einen besseren Weg, diese Leute festzunehmen, einen sichereren!

„Still!“ flüsterte er zurück. „Sich nichts merken lassen, Olga, nichts! Am besten, wir tun, als schliefen wir.“

Die Station Grunewald war erreicht. Die Verschleierte erhob sich, stieg aus.

„Wir bleiben hinter ihr, einzeln!“ hastete Abel hervor.

Er ließ eine Weile die Tür geschlossen, öffnete sie dann erst wieder.

Die Verschleierte war schon an der Sperre.

Abel blieb dreißig Schritt zurück. In dem langen Bahntunnel blickte die Frau sich dreimal um. Es waren jedoch noch einige andere Fahrgäste hier ausgestiegen, und im Tunnel war es recht dunkel. Abel war überzeugt, daß die Frau ihn nicht bemerkt oder besser nicht wiedererkannt haben konnte.

Sie betrat nun den Schmuckplatz vor dem Bahnhof und bog dann links in die Trabenerstraße ein. Hier verschwand sie in einem der ersten Häuser rechts.

Abel war stehen geblieben. Er sah, daß die Fenster des Treppenhauses hell wurden, sah einen Schatten auf den Flurfenstern. Die Frau war nur bis ins erste Stockwerk emporgegangen.

Das Haus war groß und lag bis auf zwei Fenster im zweiten Stock völlig dunkel da. Nun aber wurden zwei Fenster in der ersten Etage hell. Und wieder erschien hier ein Schatten auf den geschlossenen Vorhängen.

Abel wußte genug. Die Frau wohnte hier.

Er winkte Olga heran. Sie schritten langsam an dem Hause vorüber. An einem Balkon des ersten Stocks war ein großes weißes Schild befestigt. Olga entzifferte:

Fremdenheim v. Rahe.

Dann gingen sie der Königsallee zu, um mit der Elektrischen nach Berlin hineinzufahren.

 

8. Kapitel.

„Weshalb sind Sie eigentlich mit nach Berlin gekommen?“ fragte Olga, nachdem sie Abel erzählt hatte, daß die Pension von Rahe als sehr teuer und sehr vornehm bekannt sei.

„Ihr Frauen seid doch merkwürdige Geschöpfe,“ meinte der Schriftsteller. „Olga Orstra flüchtet mit schweren Gewissensskrupeln zu mir, weil sie glaubt, Helene Berting wäre durch ihre Schuld gestorben. Nun ist Helene Berting ganz vergessen; nun dreht sich alles um das Familiengeheimnis der Krettgers. – Was ich in Berlin will? Sehr einfach: mich auch dort als Praktiker versuchen; als Detektiv würde ich sagen, wenn nicht die Bezeichnung Detektiv so sehr an Schauergeschichten erinnern würde.“

„Es gibt doch jetzt in Berlin für Sie nichts mehr zu tun, lieber Freund. Wir wissen ja, wo eine den Mördern nahestehende Person wohnt.“

Er antwortete nicht sofort, meinte dann in jener nüchtern-dozierenden Art, die er sich als Maske zur Verheimlichung seines wahren Wesenskerns angewöhnt hatte:

„Es mag ja sehr vieles dafür sprechen, daß die Leute, die Ihnen das wertlose Zigarrenkistchen entrissen, auch die Mörder Helene Bertings sind. Mindestens ebensoviel spricht aber auch dagegen. Bedenken Sie folgendes. Man entriß Ihnen das leere Kistchen, und der Dieb fuhr im Auto davon. Kaum fünf Minuten später finden Sie Helene Berting ermordet in der Querstraße vor.“

„Es können auch sieben bis acht Minuten gewesen sein,“ warf Olga ein.

„Nun gut. – Nahm das Auto die Richtung nach der Querstraße? Nein, denn es kam hinter Ihnen her und fuhr weiter, ohne zu wenden. Es entfernte sich also von der Querstraße.“

„Das ist richtig –“

„Als Sie die Ermordete sahen, waren seit dem tödlichen Messerstoß, also seit der Tat, doch bereits einige Minuten vergangen, denn es war bereits ein Polizeibeamter zur Stelle und eine Menge Neugieriger. Wenn wir nun nicht gerade annehmen wollen, daß außer den Leuten im Auto noch ein anderer zu ihnen Gehöriger auf das chinesische Teekästchen es abgesehen hatte, dann ist schwer zu glauben, einer der Autoinsassen sollte der Täter sein.“

„Sie haben recht,“ sagte Olga Orstra nachdenklich. „Das Auto würde sich wohl gehütet haben, umzukehren. Die Insassen müssen doch mit einer Verfolgung gerechnet haben.“

„Sehen Sie, Olga, wenn man sich diese Einzelheiten vor Augen hält, kommt man leicht zu folgendem Schluß: entweder wurde Helene Berting des Kästchens wegen von einem Komplicen der Autoinsassen ermordet oder von einer dritten Person aus anderen Motiven.“

„Aber diese dritte Person hat doch das Kästchen ebenfalls mitgenommen,“ wendete Olga lebhaft ein.

„Das schon. Vielleicht nahm der Betreffende es jedoch nur mit, um den Eindruck eines Raubanfalls hervorzurufen.“

„Das leuchtet ein.“

„War das Mädchen hübsch?“

„Ja. Es sah sogar sehr interessant aus, so der Typ der müden Blondinen mit einem Stich ins Abgeklärte.“

„Hübsche Mädchen erleben Romane,“ meinte Abel nachdenklich. „Wenn Helene Berting nun das Opfer eines Eifersuchtsdramas wurde, dann, Olga, dann brauchen Sie sich nicht weiter seelisch zu beunruhigen, dann wäre das Drama früher oder später auch ohne das Kästchen eingetreten.“

„Ja, das stimmt,“ nickte sie. „Und Sie wollen nun nachprüfen, ob so ein solches Eifersuchtsdrama vorliegen kann?“

„Das will ich. Sie haben ja daheim ein Adreßbuch, Olga. Ich werde mir Helene Bertings Adresse heraussuchen. Oder – störe ich?“

„Wie meinen Sie das?“

„Nun – Sie könnten Besuch haben, Olga. Es könnte Sie jemand erwarten.“

„Ah – Gerd Blendel, nicht wahr?!“ Sie lachte bitter auf. „Blendel hat meinem Ruf genug geschadet. Ich habe ihm den Laufpaß gegeben. Er rechnete wohl damit, durch Ausdauer die Festung schließlich doch einzunehmen. Er war ein geistvoller Gesellschafter und half mir, die müßigen Stunden auszufüllen. Aber – keine Nachtstunden!“ Dann ein ganz leises Schluchzen.

Da griff Werner-Karl nach ihrer Hand.

„Olga, ich habe Sie nicht verletzen wollen,“ sagte er innig.

„Sie – Sie haben viel mehr als das, lieber Freund,“ meinte sie traurig. „Aber – lassen wir das Thema fallen! Man hat mir schon so viel Liebschaften angedichtet, daß ich mich langsam daran gewöhnt haben sollte. Daß eine Filmschauspielerin, eine Waise, von Hause aus reich sein kann, so daß sie keine – Gönner nötig hat, glaubt ja doch niemand. Das Publikum liebt bei den Stars moralischen Schmutz. Das ist pikanter als die Wohlanständigkeit. Die große Masse wähnt, wer Kokotten und Ehefrauen von verwirrender Treulosigkeit spielt, müsse selbst eine – Dirne sein!“

Er preßte ihre Hand. „Olga, – ich –“

Sie unterbrach ihn. „Jetzt wollen Sie lügen, mein Freund; jetzt wollten Sie sagen, Sie hätten nie an meiner Wohlanständigkeit gezweifelt, während Sie in Wahrheit doch soeben noch gedacht haben, Gerd Blendel könnte „seine“ Olga in deren Wohnung nachts ein Uhr erwarten.“

So begaben sie sich in Olgas Wohnung hinauf. Die Adresse war bald gefunden:

Berting, Helene, Buchhalterin, Charlottenburg, Kantstraße 17 bei Sträuber.

Sie verließen das Haus wieder. Abel rief ein Auto an. Sie stiegen ein. Abel zog die Tür zu. Er hatte sie noch nicht ganz fest geschlossen, als ein anderes Auto vorübersauste, ein grauer, schlichter Wagen.

Abel beugte sich hinaus. Das graue Auto hielt vor Olgas Haus.

Er schloß die Tür, setzte sich neben Olga. „Die Polizei ist schon da,“ sagte er. „Zwei Minuten später, und wir säßen jetzt in einem Polizeiauto.“

Sie schmiegte sich unwillkürlich wieder an ihn.

„Wir werden uns nachher selbst stellen,“ meinte er. „Ich will nur noch das beweisen, was ich vermute.“

Ihre Nähe verwirrte ihn. Seine Stimme klang unsicher. Mit aller Gewalt beherrschte er sich.

Sie lehnte sich aufseufzend in die Wagenecke.

„Ich – ich hasse das Kästchen!“ entfuhr es ihr. „O – wie ich es hasse!“

„Das ist unrecht. Olga –“ – Er tastete nach ihrer Hand. „Vielleicht mußte Helene Berting sterben, um anderen den rechten Weg zu weisen.“

Sie zog ihre Hand schroff zurück.

„Ich verstehe Sie nicht, wünsche aber auch keine Aufklärung.“ –

Das Auto hielt vor Nr. 17 an. Abel hatte Glück. Der Portier war noch nicht schlafen gegangen. Die Kriminalpolizei war bereits zweimal da gewesen. Werner-Karl hörte von dem Portier so allerlei über Helene Berting. Sie wohnte hier im Gartenhause bei ihrer Tante, die sie völlig mit durchfütterte, betonte der Portier. Das alte Fräulein Sträuber müßte sonst verhungern. Nun hätte sie die Ernährerin durch Helene Bertings Tod verloren. Man hatte das alte Fräulein, das bei der Unglücksnachricht in Schreikrämpfe verfallen war, ins Krankenhaus bringen müssen. – Ja, Verehrer hatte Helene gehabt, eine ganze Menge. Sehr feine Herren darunter. Aber sie hatte sie wohl alle nur an der Nase herumgeführt. Ihr einziger ernsthafter Bewerber sei der Elektromonteur Halper, Erich Halper, gewesen. Den habe sie aber nicht leiden mögen. Nein, der sei ihr zu aufdringlich gewesen. Und am meisten habe sie sich darüber geärgert, daß er nun vor drei Wochen hier nach Nummer 17 ins Gartenhaus zu der Frau Fröhlich gezogen sei, vielleicht, um Helene zu überwachen.

„Ist Halper daheim?“ fragte Abel.

„Ich denke ja.“

„Haben Sie der Polizei gegenüber Halper erwähnt?“

„Nein. Weshalb?! Die Beamten fragten nach anderen Dingen.“

„Würden Sie mal mit ins Gartenhaus kommen? Ich möchte Erich Halper gern sprechen.“

„Warum nicht?! Diese Nacht kann man ja doch kein Auge mehr zutun.“ –

Abel läutete an der Flurtür der Witwe Fröhlich. Niemand öffnete. Er läutete nochmals. Nichts rührte sich.

„Er muß zu Hause sein,“ meinte der Portier. „Er wird wohl ’n sehr festen Schlaf haben. Ich werde mal den Reserveschlüssel holen, den die Fröhlich mir übergeben hat.“

Es stellte sich dann heraus, daß die Sicherheitskette nicht vorgelegt war. Abel und der Portier traten ein.

Der Portier klopfte an die zweite Tür rechts, klopfte stärker, legte die Hand auf den Drücker.

Abels Taschenlampe leuchtete in des Monteurs Zimmer hinein. Neben dem Waschtisch lag Erich Halper auf dem Rücken. In seiner Brust steckte ein Dolchmesser mit schwarzem Holzgriff.

Er war tot – ermordet ohne Zweifel.

Der Lichtkegel glitt weiter.

Auf der Tischkante stand mit aufgeschlagenem Deckel ein chinesisches Teekästchen.

Die Pagode mit den Schirmdächern hob sich auf der Innenseite des Deckels scharf ab. –

Der Portier lief schon die Treppen hinunter, um die Polizei telephonisch zu verständigen.

Abel nahm das Kästchen, ließ die Pagode durch den Druck auf das Stäbchen vorschnellen. Aber das Geheimfach darunter war leer.

Langsam stellte er das Kästchen wieder hin, langsam wandte er sich dem Toten zu.

„Wenn Du noch sprechen könntest, würdest Du uns vieles mitzuteilen haben,“ dachte er. „Auch Dir hat das Kästchen Unheil gebracht, nachdem die Liebe Dich zum Mörder werden ließ.“

Dann ging auch er von dannen, nachdem er die Wohnungstür verschlossen und den Schlüssel abgezogen hatte. Olga sah ihn kommen, beugte sich zum Fenster hinaus. Sein Gesicht, von der Straßenlaterne hell beschienen, war noch ernster als zuvor.

„Das Drama hat sich wirklich abgespielt,“ sagte er leise. „Die Polizei wird sofort hier sein. Es gibt jetzt nichts mehr zu verheimlichen.“

Olga stieg schnell aus. Ihre Hand griff nach der seinen.

„Werner-Karl, schützen Sie mich! Ich – ich habe noch nie mit der Polizei zu tun gehabt –“

Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht – ein liebes, gutes Lächeln.

„Ich bin ja Ihr Freund, Olga. Was Sie begangen haben, ist nicht so schlimm, mein Schuldkonto ist größer. Als Mann hätte ich mich nicht von Gefühlen leiten lassen sollen. Ich habe Warpler wichtige Dinge verheimlicht. Warpler wird nicht zart mit mir umspringen.“

 

9. Kapitel.

Die alte Köchin Anna Minz saß stumpfsinnig in der Küche der Krettgerschen Villa. Sie war nicht mehr schlafen gegangen.

Zu des alten Weibleins Füßen lag die Tigerdogge auf einem alten Fell.

Anna kraute dem prächtigen Tiere den Kopf und brummelte vor sich hin:

„Nun ist noch ein dritter gekommen! Sie tun gerade so, als ob wir was gestohlen hätten! Und dabei haben wir doch alle Mühe gehabt, aufzupassen, daß uns nichts gestohlen wurde. Das weißt Du am besten, Ajax! Wenn wir Dich nicht gehabt hätten, wäre –“

Da – der Hund richtete sich auf und knurrte.

Jemand hatte an die Küchentür geklopft, rief nun:

„Frau Minz, halten Sie bitte den Hund fest!“

Anna Minz tat es. „Kommen Sie nur –“

Sie hatte die Stimme erkannt. Das war der junge freundliche Beamte, der Dröger. Mit dem ließ sich reden.

Dröger trat ein. Ajax beruhigte sich. Dröger rückte gleichfalls einen Stuhl an den Herd und setzte sich.

„Kann ich nachher eine Tasse Kaffee bekommen, Anna?“ meinte er vertraulich. „Es ist scheußlich kalt draußen.“ Er rieb sich die Hände. „Unsereiner hat es auch nicht leicht. Ein Vergnügen ist’s wahrlich nicht, die Nachtruhe anderer zu stören und den Menschen Aufregungen zu bereiten.“

Die Alte nickte eifrig. „Glaub’ ich Ihnen, Herr Dröger. Mit den Aufregungen, da haben Sie ganz recht. Der Herr Kommissar denkt, ich hab’ ihn belogen. Und ich hab’ doch die reine Wahrheit gesagt. Wirklich, ich weiß nicht mehr, als ich sagte.“

„War denn die Baronesse sehr in Eile, als sie Sie weckte und Ihnen sagte, die Damen würden verreisen?“

„Oh – sie war ganz konfus, Herr Dröger. Sie redete allerlei, was ich gar nicht verstand, und alle Sätze nur halb.“

„Vor Erregung?“

„Natürlich, Herr Dröger. Sie zitterte ja am ganzen Körper.“

„Dann muß doch etwas vorgefallen sein, Anna. Umsonst zittert niemand.“

„Ich weiß es ja nicht. Ich lag ja im Bett.“

„Weshalb hat die Baronesse in ihrem Nachttisch einen geladenen Revolver liegen? Hatten Sie hier vor Einbrechern Angst?“

Die Alte stand auf, trat an den Herd und drehte die Gasflamme aus.

„Hm – jetzt hat jeder Angst, Herr Dröger,“ meinte sie ausweichend.

„Konnte die Baronesse denn schießen, Anna?“

„Die, unser Fräulein?! Und ob! Die hätte dem Weibe sicher –“

Sie hüstelte, klapperte mit dem Deckel des Emailletopfs.

„Der Kaffee ist heiß, Herr Dröger.“

Der Kriminalbeamte lächelte. – Aha – hier spielte ein Weib eine Rolle, auf das die Baronesse geschossen hätte, wenn es nötig gewesen wäre.

Anna Minz füllte zwei Tassen. „Wollen Sie auch ’n Stück Brot mit Schmalz haben? Belag gibt’s bei uns nie. Aber das Schmalz ist gut.“

„Mit dem Schmalz sind wohl auch die Türangeln eingefettet worden? Wer tat das?“

Anna wurde verlegen. „Die Baronesse. – Also, wie ist’s mit ’m Stück Brot?“

„Bitte, Anna. Ich habe immer Hunger. – Die Türen sollten also lautlos auf und zu gehen. Die Baronin war wohl nervös?“

Die Köchin stellte die Tassen auf den Herdrand. „Ja, die Frau Baronin war sogar sehr nervös.“

„Wohl der Frau wegen, für die der Revolver da war?“

Anna Minz’ träge Gedanken vermochten Fritz Drögers tastenden Sätzen, die wie gut verdeckte Fallgruben für ihr alterschwaches Hirn waren, nicht mehr zu folgen. Ihr fehlte die Fähigkeit, das bisher Gesprochene völlig zu überschauen und ihre Antworten danach einzurichten.

„Was wissen Sie von der Frau?“

„Eine ganze Menge weiß ich von ihr.“

„Wann war’s doch, als sie die Baronin zum letzten Mal besuchte?“

„Zum letzten Mal, Herr Dröger? War sie denn öfters hier?[4] Ich weiß nur von dem einen Mal.“

„Wann war das?“

„Hm –“ Sie setzte sich wieder und stippte eine Brotrinde in die schwarze Kunstbrühe. „Hm, das war – ja, das war gerade an meinem Geburtstag, am dritten September.“

„Abends, nicht wahr?“ Dröger fragte nicht etwa auf gut Glück. Nein, er dachte sich, eine so geheimnisvolle Persönlichkeit würde wohl nur abends gekommen sein.

„Ja, abends,“ nickte die Alte. Sie war mit ihren Gedanken noch immer bei Drögers Behauptung, daß die Frau häufiger da gewesen sein sollte. „Hm – ich kann gar nicht glauben, daß unser Fräulein das freche Weib öfters eingelassen haben soll,“ fügte sie brummelnd hinzu.

„Sie meinen, weil die Frau Baronin durch den Besuch des Weibes am dritten September so sehr aufgeregt wurde?“

„Woher wissen Sie auch das, Herr Dröger? – Ja, ja, es war schrecklich damals. Noch nie habe ich meine gute Baronin so – so gesehen! Nur gestern vormittag, da – da –“

Sie schob schnell die erweichte Brotrinde in den Mund.

Ihr war klar geworden, daß sie schon zu viel gesagt hatte.

„Ja, ja, Anna, die Baronesse hätte auch erst fragen sollen!“

Anna Minz’ harmloses Gemüt fühlte jetzt einen ehrfurchtsvollen Schauer vor der Allwissenheit dieses jungen Beamten.

„Ja, das hätte sie tun müssen!“ nickte die Köchin traurig. „Das stimmt. Aber sie konnte ja nicht ahnen, daß das Weib –“ – Sie zögerte. Aber sie sagte sich dann sofort, daß es ja doch keinen Zweck hätte, vor Dröger etwas verheimlichen zu wollen, und so fuhr sie denn fort:

„– daß das Weib der beiden Kästchen wegen gekommen war. Die Baronesse wußte ja nicht, was damals am dritten September abends zwischen ihrer Mutter, der Frau Baronin, und der – der Türkin verhandelt wurde. Nein, davon hatte die Frau Baronin nichts verraten.“

„Das Weib war doch aber keine Türkin, Anna.“

„Nein, aber sie war da unten bei den Türken zu Hause, sagte mir gestern das Fräulein.“

„Wohl nach ihrer Rückkehr aus Berlin, als sie das eine Teekästchen verkauft hatte.“

„Ja, und nachdem sie’s dann der Frau Baronin erzählt hatte und diese beinahe deswegen in Krämpfe verfallen war –“

„Wo wurden denn die Kästchen aufbewahrt, Anna?“

„Im Schlafzimmer der Baronesse, das doch neben dem der Baronin liegt. Die Verbindungstür stand immer offen. Die Kästchen standen unten im Kleiderschrank der Baronesse.“

„Schon immer? Auch vor dem dritten September?“

„Nein. Da standen sie im Arbeitszimmer des Herrn Generals unten im Gewehrschrank in einer Kiste.“

„Kann ich noch eine Tasse Kaffee bekommen? – So, danke, Anna. – Dann hatte die Baronin doch Angst, die Kästchen könnten von dem Weibe gestohlen werden, nicht wahr?“

„Ja, Herr Dröger –“ – Sie schien jetzt froh zu sein, daß sie jemand hatte, mit dem sie sich aussprechen konnte. „Gestern so gegen zwölf kam das Fräulein aus Berlin zurück. Ich war mit im Speisezimmer, als sie zu der Baronin sagte: „Mama, ich habe eins der Kästchen verkauft. Wir brauchten wieder so nötig Geld.““

Sie stellte die Tasse auf den Herd. Ihre Hände zitterten in Erinnerung an die furchtbare Szene.

„Oh – da hätten Sie die Frau Baronin sehen sollen, Herr Dröger!“ fuhr sie fort. „Sie packte das Fräulein am Arm, schüttelte sie und schrie: „Das ist mein Tod! Das ist mein Tod! Das überlebe ich nicht!“ Dann fiel sie auf einen Stuhl und wurde ganz weiß, und steif. Wir haben ihr Kognak eingeflößt, und als sie sich etwas erholt hatte, rannte sie wie – wie von Sinnen ins Schlafzimmer der Baronesse und riß das andere Kästchen aus dem Schrank, schüttelte es an ihrem Ohr hin und her und rief: „Gott sei Dank! Gott sei Dank! Das andere!“ Da fragte die Baronesse denn ganz erstaunt: „Das andere, Mama?! Sie sind doch beide völlig gleich!“ Und dann schickte mich die Baronin hinaus. Was sie nun mit dem Fräulein gesprochen hat, weiß ich nicht. Nachher kam die Baronesse aber ganz verweint hier in die Küche. Ich habe sie getröstet. Sie hat mir jedoch nichts mehr mitgeteilt, nur einmal entschlüpften ihr so die Worte: „Dieses Weib – dieses Weib! Da unten auf dem Balkan gibt es nur Verbrecher!“ – Ich wußte nicht, was Balkan bedeutet, und da erklärte mir das Fräulein, das sei so in der Nähe der Türkei. Deshalb habe ich das Weib Türkin genannt, Herr Dröger.“

Fritz Dröger blieb noch eine Viertelstunde. Er war jetzt überzeugt, daß Anna Minz tatsächlich nicht wußte, wohin die Damen gereist waren.

Dann kehrte er in die Polizeidirektion zurück und fand hier den Kommissar Penk am Telephon vor.

Penk winkte ihm zu, flüsterte hastig:

„Meldung aus Berlin. Man hat den Abel und die Orstra erwischt. Sie haben wichtige Einzelheiten ausgesagt. Der Strolch war ein Maler Heinz Rovatti aus Werder. Holen Sie den Barmuth. Wir können ihn entlassen –“

 

10. Kapitel.

Olga Orstra, Werner-Karl und Warplers Kollege Messerschmidt saßen in Frau Fröhlichs Wohnzimmer. Messerschmidt war eine andere Sorte Mensch als Warpler. Er sprach wenig. Was er sagte, klang stets wie gereizt, selbst der harmloseste Satz. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, hatte eine mächtige Glatze und um den Mund einen unsympathischen Zug wie festgefrorener Hohn.

Er ließ sich von Abel alles erzählen, machte sich Notizen und fragte nur hin und wieder nach Dingen, die mit der Sache selbst wenig zu tun hatten.

Nachdem Abel seinen Bericht, es war ja fast ein Schuldgeständnis, beendet hatte, sagte er nur:

„Ihre und Fräulein Orstras Handlungsweise läßt sich zur Not entschuldigen. Ich kann es verstehen, daß Sie als Kriminalschriftsteller selbst einmal das Genie praktisch erproben wollten, das Sie Ihren Helden, den findigen Detektiven, beilegen.“

Abel war angenehm überrascht. Dieser Messerschmidt ließ ja mit sich reden. Der wirkte nur äußerlich so abstoßend.

„Fräulein Orstra, Sie können sich nach Hause begeben,“ fügte der Kriminalkommissar hinzu. „Falls Sie, Herr Abel, mich nach der Trabenerstraße zum Pensionat von Rahe begleiten wollen, habe ich nichts dagegen. Schließlich sind Sie es ja doch gewesen, der uns auf die Spur jener Leute gebracht hat, die es auf das Teekästchen abgesehen hatten.“

Werner-Karl begleitete Olga auf die Straße und besorgte ein Auto.

Das Auto rollte davon. Messerschmidt kam Abel entgegen.

„Ich habe mir’s anders überlegt,“ meinte er. „Es ist besser, ich lasse das Pensionat nur beobachten. Die Dame dort wird ja vormittags ihre Genossen aufsuchen. Dann haben wir diese auch fest.“

Abel nickte. „Genau dasselbe hätte ich Ihnen vorgeschlagen, Herr Kommissar.“

„Ich werde jetzt nach Potsdam telephonieren. Dann fahren wir hinaus. Warpler ist ja noch immer nicht gefunden. Wer weiß, ob er noch lebt.“

Es war ein halb vier Uhr morgens geworden, als das Polizeiauto Messerschmidt, einen zweiten Beamten und Abel nach Potsdam trug. –

Inzwischen hatte Kommissar Penk sich von Barmuth, der jetzt nach Werner-Karl Abels Geständnis zur Aussage bereit war, recht genau die ganzen Vorgänge schildern lassen.

Barmuth betonte, daß er den Smaragd und das chinesische Seidenpapier in Abels Wohnung in das Geheimfach des Kästchens zurückgelegt habe. Wenn nachher also das Kästchen von den Leuten im Auto vielleicht Warpler, der es ausgegraben haben mochte, gewaltsam weggenommen worden sei, was man doch den Umständen nach vermuten müsse, dann seien die Autoleute jetzt auch im Besitz des Edelsteines, den er als Kenner auf mindestens acht bis zehn Millionen Mark schätzte, da ein derart großer und klarer Smaragd selten zu finden sei.

„Ja, und dieser Smaragd spielt hier die Hauptrolle,“ nickte Penk. „Seinetwegen ist jetzt in Berlin der Mörder der Buchhalterin Helene Berting ebenfalls ermordet worden, wahrscheinlich von denselben Leuten, die meinen Kollegen Warpler verschleppt und Fräulein Orstra das Kistchen geraubt haben.“

Fritz Dröger, der dieser Vernehmung, die ja mehr einer harmlosen Unterhaltung glich, beiwohnte, räusperte sich jetzt.

„Nun, lieber Dröger,“ meinte Penk, „Sie scheinen etwas sagen zu wollen.“

„Ja. Ich möchte Herrn Barmuth etwas fragen. Sie wissen jetzt, Herr Barmuth, daß die Köchin Anna so ziemlich alles, was sie von den Vorgängen in der Villa der Baronin kannte, mir anvertraut hat, teils unfreiwillig, teils freiwillig. Hat Ihre Braut Ihnen nun erzählt, was gestern mittag zwischen ihr und ihrer Mutter im Schlafzimmer der Baronesse verhandelt wurde, nachdem die Köchin hinausgeschickt worden war? Insbesondere, was die Baronin über jene „Türkin“ ihrer Tochter gegenüber geäußert hat? Hatte die Baronesse schon gestern mittag Kenntnis von dem Vorhandensein eines Geheimfachs in jedem der Kästchen und von dem Smaragd?“

Egon Barmuth blickte Penk offen an. „Sie haben ganz recht, Herr Kriminalkommissar. Ich darf keine Rücksichten mehr auf die Baronin und Mara nehmen. Mara hat mir also folgendes über die gestrige Unterredung mit ihrer Mutter in ihrem Schlafzimmer erzählt: – Die Baronin sagte zu ihr, daß die beiden Teekästchen ein Andenken an jene Zeit seien, wo sie mit ihrem Gatten, dem vor fünf Jahren verstorbenen Generalmajor von Krettger, in China geweilt hätte. Mara war dies nichts Neues. Es bildete freilich erst die Einleitung zu dem, was die Baronin nun mit noch stärker gedämpfter Stimme und in steigender Erregung ihr erzählte. Und dies war folgendes. In der Europäerkolonie in Peking hatte die Baronin mit einer anderen jung verheirateten Frau, der Gattin eines rumänischen Gesandtschaftsattachees, Freundschaft geschlossen. Die beiden Damen pilgerten nun sehr gern durch das Geschäftsviertel Pekings. Eines Tages fanden sie in einem Seitengäßchen einen Laden mit wundervollen chinesischen Antiquitäten. Sie traten ein und ließen sich allerlei zeigen. Der Ladeninhaber, ein alter Chinese, brachte schließlich auch die beiden Teekästchen zum Vorschein. Frau Radamasku, die Rumänin kaufte den einen Kasten, und die Baronin den andern. Da die Rumänin den ihren aber erst später ihrem Gatten zum Geburtstag schenken wollte, bat sie die Baronin, beide Kästchen vorläufig an sich zu nehmen. So wurden diese denn der Baronin zugeschickt. Ein paar Tage später gab es im Europäerviertel einen furchtbaren Skandal: Frau Radamasku war in einem Juweliergeschäft abgefaßt worden, wie sie verschiedene Edelsteine in ihrem Handtäschchen verschwinden ließ, und eine Haussuchung förderte dann bei der Rumänin ein ganzes Warenlager gestohlener Dinge zu Tage. Radamasku sorgte dafür, daß seine Gattin für unzurechnungsfähig erklärt und in Rumänien irgendwo für dauernd in einer Nervenheilanstalt interniert wurde. Die Baronin, die als beste Freundin der Radamasku gleichfalls polizeilich vernommen worden war, dachte gar nicht mehr an das zweite Teekästchen, das sie daheim in einen Schrank gestellt hatte, und so kam es, daß auch das zweite Kästchen in ihrem Besitze blieb. Erst nach Jahren nahm die Baronin das zweite, bisher noch eingewickelt gewesene Kästchen zur Hand und stellte durch einen Zufall fest, daß sich im Innern des Deckels etwas bewegte. Sie dachte auch sofort an ein Geheimfach, konnte aber den Mechanismus, wie es zu öffnen war, nicht entdecken.“

„Hm –!“ machte Dröger sehr gedehnt.

Barmuth ließ sich dadurch nicht stören. „Jedenfalls hat sie das Kästchen ihrem Gatten, dem General, nie gezeigt. Erst nach dessen Tode bekam Mara das zweite Kästchen einmal zufällig zu sehen. Damals verweigerte ihr die Mutter aber jede Angabe über die Herkunft dieses Duplikats des anderen Teekästchens. – Bei der Aussprache gestern erklärte die Baronin dann weiter, daß am dritten September kein anderer als Frau Radamasku die späte Besucherin gewesen sei. Die Rumänin, die sich für ihre Jahre noch auffallend jung erhalten hatte, beschuldigte die Baronin, das Kästchen damals absichtlich verschwiegen und somit gestohlen zu haben. Sie verlangte es zurück. Inzwischen waren aber der Baronin allerlei Zweifel aufgestiegen, ob sie wirklich Frau Radamasku vor sich hätte. Eine gewisse Ähnlichkeit war ja vorhanden. Anderseits schien es der Baronin, als ob diese Frau über die Ereignisse und gemeinsamen Erlebnisse in China sehr ungenügend unterrichtet war. Dieser Argwohn, es mit einer anderen Person zu tun zu haben, verstärkte sich infolge des ganzen Auftretens der Fremden. Die Baronin wies ihr also die Tür. Um das Weib loszuwerden, sagte sie ihr noch, sie habe das Teekästchen der Frau Radamasku vor Jahren verschenkt –“

Wieder ließ Dröger ein gedehntes „Hm!“ hören; auch Penk schüttelte zweifelnd den Kopf.

Barmuth hatte ohne Pause weitergesprochen. „Die Aufregung der Baronin über den Verkauf des einen Kästchens erklärte diese nun so, daß sie gefürchtet hätte, Mara könnte das Kästchen der Radamasku veräußert haben, welches sie nicht als ihr Eigentum betrachte. Dieses ihr nicht gehörige Kästchen sei an den Geräuschen im Deckel beim Schütteln zu erkennen. – Hiermit schloß diese Unterredung im Schlafzimmer, die, was ich hier hervorheben möchte, in manchen Punkten noch eingehender gewesen sein kann. Mara hat mir jedenfalls nur das Wichtigste mitgeteilt.“

„Herr Barmuth,“ sagte Penk nun, „wir als Kriminalbeamte mögen ja alle Dinge kritischer betrachten. Jedenfalls: die Baronin dürfte ihrer Tochter sehr vieles verschwiegen und noch mehr – erfunden haben. Nur eine Frage: wo ist die Begründung für die Angst der Baronin vor Einbrechern, die die Kästchen stehlen könnten?! – Wenn sie jenem Weibe die Tür gewiesen hat und die Person sich dies gefallen ließ, wenn weiter –“

Barmuth hatte eine kurze Handbewegung gemacht.

„Lassen Sie mich erst alles berichten, Herr Kommissar. Es gab ja noch eine zweite Unterredung zwischen Mutter und Tochter, und zwar gestern abend gegen halb acht Uhr, nachdem Abel meiner Braut an der Pforte zugerufen hatte, daß jemand des Teekästchens wegen ermordet worden sei. Als Mara hiernach die Villa wieder betrat und in großer Aufregung der Baronin Abels Worte wiederholte, sank Frau von Krettger wimmernd auf einen Sessel, sprang dann aber auf und rief: „Mara, das Kästchen muß verschwinden! Die Polizei wird kommen. – Wenn es gefunden wird, bin ich entehrt! Ich habe dem Weibe ja gesagt, ich hätte es verschenkt! Vergrabe es im Garten – sofort, ehe es zu spät ist!“ – Mara zögerte. Auch ihr erschien all dies plötzlich sehr merkwürdig; auch ihr kamen Zweifel an der vollen Aufrichtigkeit der Mutter. Sie deutete dies der Baronin an, und diese ergänzte nun ihre bisherigen Angaben über das Kästchen durch die – Geschichte des Smaragds –“

„Ah!“ machte Dröger. „Und auch diese Geschichte wird nur zum Teil den Tatsachen entsprochen haben.“

„Das weiß ich nicht, Herr Dröger,“ meinte Barmuth. „Mara hat Heinz Rovatti und mir an der Pforte hierüber folgendes in aller Eile mitgeteilt. – Frau Radamasku zeigte damals in Peking im Laden des Händlers der Baronin einen wundervollen Smaragd und flüsterte ihr zu, sie hätte ihn gestern ganz billig gekauft und wollte ihn nun im Geheimfach ihres Kästchens unterbringen. Der Händler hatte den Damen schon vorher das Geheimfach gezeigt.“

„Also räumte die Baronin Ihrer Braut gegenüber ein, hinsichtlich des Geheimfachs vorher die Unwahrheit gesagt zu haben, denn sie hatte ja behauptet, den Mechanismus nicht zu kennen,“ meinte Penk abermals kopfschüttelnd.

„Ja, Herr Kommissar – Die Radamasku legte dann den in ein Stück chinesisches Seidenpapier eingehüllten Smaragd in das Geheimfach, bevor sie das Kästchen der Baronin übergab. Und so wanderte denn auch der Smaragd später mit nach Europa und hier nach Potsdam.“

„Märchen – Märchen!“ murmelte Fritz Dröger.

„Vielleicht,“ sagte Barmuth achselzuckend. „Die Baronin ergänzte dann ihre Angaben von gestern noch weiter dahin, daß die angebliche Frau Radamasku am dritten September hauptsächlich die Rückgabe des Smaragds verlangt und daß sie, die Baronin, erklärt hätte, sie wüßte nichts von einem Stein, und das Kästchen sei verschenkt worden. Sie holte dann das Kästchen, zeigte Mara, wie die Pagode sich hochklappen ließe, und Mara sah nun auch den eingehüllten Stein in dem Geheimfach liegen. Da sie ahnte, daß nicht alles, was mit dem Smaragd zusammenhing, sich so verhielt, wie es ihre Mutter geschildert hatte, und da sie gegenüber der Verzweiflung und Angst der Baronin selbst die ruhige Überlegung verlor, vergrub sie dann wirklich das Kästchen, das nachher wieder in meine Hände gelangte, von Mara und mir abermals vergraben und von den Leuten im Auto geraubt wurde, die Herrn Warpler mit verschleppt haben.“

„Der Smaragd macht die Furcht der Baronin vor Einbrechern erklärlich,“ sprach Dröger sinnend vor sich hin. „Aber – von der Wahrheit sind wir trotzdem noch ein gut Stück entfernt, glaube ich. Wenn wir nur erst wüßten, wohin die beiden Damen sich gewandt haben. Und – weshalb verließen sie die Villa überhaupt? Vielleicht deswegen, weil Herr Rovatti nach seiner Flucht aus der Zelle heimlich Zeuge war, wie das Kästchen und Warpler von den Leuten im Auto, also den Genossen der angeblichen Radamasku, entführt wurden, und weil er den beiden Damen hiervon Mitteilung machte?! Ob die Baronin da nicht aus Angst vor der restlosen Aufdeckung ihrer Geheimnisse das Weite gesucht hat? Sie müssen hierüber doch etwas angeben können, Herr Barmuth, denn als Sie ohne das Kästchen aus der Großen Weinmeisterstraße zurückkehrten, schlüpfte Herr Rovatti mit Ihnen ins Haus.“

„Ich sagte ja schon, Herr Dröger, daß Rovatti nach seiner Flucht bei mir nur seine Kleider hastig überstreifte und erklärte, es sei besser, daß ich nichts davon wüßte, was inzwischen geschehen; dann brauchte ich, falls ich vernommen würde, nicht zu lügen. Jedenfalls: ich weiß tatsächlich nichts! Rovatti hat keine meiner Fragen beantwortet. Aber auch ich vermute, daß er Zeuge gewesen ist, was mit Warpler und dem Kästchen vorging, und daß er Mara dies mitgeteilt haben wird.“

„Dann – dann befinden sich die Damen bei Rovatti in Werder!“ erklärte Dröger sehr bestimmt. „Sobald die Herren aus Berlin hier sind, werden wir nach Werder fahren, schlage ich vor.“

„Bravo, Dröger!“ rief Penk. „Das tun wir!“

 

11. Kapitel.

Etwa anderthalb Stunden früher war ein Herr vor dem Potsdamer Bahnhof in der Lindenallee wartend auf und ab gegangen. An dieser Lindenallee befand sich gleichzeitig die Haltestelle der Taxameterautos.

Nur zwei Kraftwagen hatte der Herr noch vorgefunden. Sie hofften auf Fahrgäste, die mit dem letzten Stadtbahnzuge aus Berlin eintreffen könnten. Eins dieser Autos hatte der Herr jedoch belegt und dem Chauffeur fünfhundert Mark angezahlt, nachdem dieser erklärt hatte, sein Benzinvorrat reiche gerade noch bis Werder. Dorthin wollte der Herr, der den Kragen seines Ulsters hochgeschlagen und den Hut tief ins Gesicht gedrückt hatte.

Der Herr war Heinz Rovatti, der Maler und Sonderling, der Menschenverächter und – welcher Widerspruch! – der weichherzigste, hilfsbereiteste Freund.

Dann tauchten zwei Frauengestalten auf, beide in lange Mäntel gehüllt, beide tief verschleiert. Die eine trug zwei Reisetaschen.

Rovatti eilte ihnen entgegen. „Bitte, das erste Auto, Frau Baronin,“ flüsterte er.

„Steigen Sie und Mara zuerst ein,“ sagte Frau von Krettger kurz.

Rovatti verbeugte sich und nahm Mara die Reisetaschen ab. Die Baronesse stieg ein. Rovatti setzte sich auf den Rücksitz.

Die Baronin war an den Chauffeur herangetreten, der den Motor ankurbelte.

„Wir haben es uns anders überlegt,“ erklärte sie in ihrer bestimmten Art. „Fahren Sie nach Wannsee und halten sie unterhalb des Restaurants Schultheiß auf der Straße.“

Dann nahm auch sie im Wagen Platz.

Rovatti hätte gern gefragt, was die Baronin mit dem Chauffeur noch zu verhandeln gehabt hatte. Er wagte es aber nicht. Seitdem diese Frau durch ihn gehört hatte, daß man Warpler niedergeschlagen und das Kästchen und den Bewußtlosen im Auto entführt hatte, war sie völlig verändert. Eine geradezu unheimliche Ruhe wirkte jetzt bei ihr vielleicht noch stärker als ihre bisherige angstvolle Zerfahrenheit.

Auch jetzt lehnte sie wortlos in der Ecke des geschlossenen Autos – wortlos und regungslos.

Woran mochte sie denken? Was mochte in ihr vorgehen? Inwieweit war das, was sie über den Smaragd und das Teekästchen der Rumänin erzählt hatte, Wahrheit?! – So grübelte Heinz Rovatti vor sich hin. Er glaubte nicht, daß die Baronin in allem sich an die Wahrheit gehalten hatte; er ahnte, daß hier vieles entstellt und verheimlicht worden war.

Die Fenster des Autos beschlugen. Rovatti konnte nicht sehen, welchen Weg der Kraftwagen einschlug. Er achtete auch nicht weiter darauf.

Als das Auto über die Glienicker Brücke rollte, wurde Rovatti doch aufmerksam. Er säuberte die eine Scheibe und schaute hinaus.

Straßenlaternen huschten vorüber. Villen mit Vorgärten.

Er richtete sich auf, sagte hastig zu den Damen:

„Der Chauffeur fährt ja falsch! Wir sind in Babelsberg.“

Die Baronin erwiderte: „Wir fahren nach Wannsee, aufs meinen Befehl!“

„Aber weshalb denn, Mama?“ rief die Baronesse etwas unwillig.

„Weil ich dort noch etwas zu erledigen habe. – Herr Rovatti wird diese Eigenmächtigkeit entschuldigen.“

Rovatti schwieg, verbeugte sich nur, was die Baronin in dem dunklen Wagen kaum sehen konnte.

Das Auto fuhr weiter. Die drei Insassen waren wieder verstummt. Es war eine ungemütliche Fahrt, bei der selbst Heinz Rovattis Nerven allmählich sich meldeten.

Was hatte die Baronin vor? Was wollte sie in Wannsee? Ob sie etwa von vornherein die Absicht gehabt hatte, in Wannsee etwas zu – erledigen? Was nur – was?!

Dann hielt der Kraftwagen.

„Gib mir meine Reisetasche, Mara,“ sagte die Baronin kurz. „Aber die richtige bitte, nicht Deine. Ich werde hier aussteigen. Bin ich in zehn Minuten nicht zurück, so fahren Sie bitte mit Mara allein nach Werder, lieber Herr Rovatti. Ich komme nach.“

„Aber Mama. Es ist doch –“

„Mara, es bleibt bei dem, was ich wünsche,“ fiel die Baronin ihr ins Wort. Ihre ganze Art duldete auch jetzt keinen Widerspruch.

Sie stieg aus, besichtigte vor dem Autoscheinwerfer noch die Reisetasche und rief Rovatti zu, der auch ausgestiegen war: „Ich darf wohl darauf rechnen, daß Sie meine Wünsche respektieren! Auf Wiedersehen!“

Sie ging ohne Eile weiter die steile Straße hinan.

Rovatti beugte den Oberkörper in das Auto.

Mara weinte fassungslos.

„Ich werde Ihrer Mutter heimlich folgen, Baronesse,“ sagte er leise. „Beruhigen Sie sich doch!“ Er griff nach ihrer Hand und drückte sie fest.

Dann gab er dem Chauffeur schnell noch einen Tausendmarkschein. „Sie warten hier, bis ich wiederkomme!“

Der Mann schüttelte den Kopf und brummte etwas vor sich hin. Diese Fuhre kam ihm sehr verdächtig vor. Man tat gut, die Augen offen zu halten. Heutzutage passierte ja so allerlei. –

Rovatti lief die Treppe zum Garten des Schultheiß empor und dann durch den Garten und die Anlagen dem Bahnhof zu.

So erreichte er, daß er vor der Baronin am Bahnhof anlangte. Er blieb hinter einem Baume stehen. Sie bog jetzt nach links ab, nach Nikolassee. Dann machte sie plötzlich halt und blickte sich um. Rovatti hatte sich wieder hinter einen Baum gedrückt.

Die Baronin blieb abermals stehen und beleuchtete mit ihrer Taschenlampe ein Straßenschild.

Dann stellte sie ihre Reisetasche auf den Bürgersteig, öffnete sie und nahm irgendein Heft heraus, das sie zu einem großen Bogen entfaltete.

„Es ist ein Plan von Nikolassee,“ sagte Rovatti sich. „Sie will sich orientieren. Sie findet sich im Dunkeln nicht zurecht.“

Und in diese Gedanken mengte sich ein anderer: „Ob sie etwa die Leute aufsuchen will, die das Kästchen raubten und Warpler verschleppten? Ob sie also weiß, wo diese Leute wohnen?“

Rovatti bekam jetzt einen Schreck: die Baronin kehrte um, nachdem sie den Plan wieder in die Tasche gelegt hatte.

Er klemmte sich auf der anderen Seite hinter einen sauber aufgetürmten Haufen Mauersteine. Frau von Krettger schien jetzt jedoch nicht mehr zu fürchten, daß ihr jemand folgte. Sie ging schneller und gleichsam zielbewußter.

Dann tauchte vor ihr ein patrouillierender Polizeibeamter auf.

Rovatti war gespannt, wie sie sich jetzt benehmen würde. Seltsam: sie sprach den Beamten an, verhandelte minutenlang mit ihm, bis der Mann die Hand an die Mütze legte und dann sehr rasch davoneilte.

Wieder machte die Baronin kehrt; wieder beleuchtete sie ein Straßenschild, schlug jetzt eine andere Richtung ein.

Rovatti war bald wieder hinter ihr. Dieses Abenteuer regte ihn immer mehr auf.

Nun eine neuere, nur teilweise bebaute Straße. Große eingezäunte Waldstücke lagen zwischen den einzelnen Villen, meist kleineren Einfamilienhäusern. Rovatti mußte, um nicht bemerkt zu werden, weiter zurückbleiben. Aber desto schärfer beobachtete er die nur undeutlich erkennbare Gestalt der Baronin.

Jetzt blieb sie wieder stehen. Dann verschwand sie nach links. Sie mußte den Vorgarten einer Villa oder den hier nicht eingezäunten Wald betreten haben. – Doch wohl den Wald, überlegte Rovatti. Die Gartentür würde ja geschlossen sein. – Auch er betrat den Kiefernwald, glitt lautlos weiter. Durch die Bäume schimmerte Licht. Es kam aus den Fenstern einer kleinen Holzvilla. Und jetzt sah er auch die Baronin, die an dem Lattenzaun tief gebückt dastand. Sie richtete sich wieder auf, begann mühsam den Zaun zu überklettern.

Rovatti schlich noch näher. Der Garten der Holzvilla war kahl und ungepflegt. Das Haus mußte ganz neu sein. Die Baronin stand jetzt unter einem der beiden erleuchteten Fenster, über deren Vorhänge zuweilen die Schatten männlicher Gestalten hinglitten.

Rovatti hatte den Zaun an derselben Stelle erreicht, wo die Baronin ihn überstiegen hatte. Sein Fuß stieß an einen weichen Gegenstand. Es war die Reisetasche. Wahrscheinlich hatte die Baronin ihr wieder irgend etwas entnommen.

Was aber – was?! – Sie starrte noch immer zu den Fenstern empor. Dann umschritt sie die kleine Villa, entschwand Rovattis Blicken. Im Nu war auch er über den Zaun hinüber, folgte ihr. Sie war an der Hinterseite des Hauses auf einen Holzstoß geklettert und – ja – was tat sie da?!

Ein schmales Fenster lag über dem Holzstoß. Und – sie hatte es wohl nur angelehnt gefunden, denn sie stieg hinein, kniete jetzt auf dem Fensterbrett, tauchte in der Dunkelheit unter.

Rovatti wußte von Barmuth, daß die Baronin stets eine leidenschaftliche Jägerin und brillante Reiterin gewesen, daß sie bis vor kurzem noch eifrig Tennis gespielt und weite Fußwanderungen unternommen hatte. Sie war noch geschmeidig und kräftig. Das bewies sie hier zur Genüge. Aber – war das dieselbe verängstigte Dame, die aus Furcht vor Einbrechern keinen Schlaf gefunden hatte? Was nur hatte dieser seltsamen Frau jetzt plötzlich die frühere Energie wiedergegeben?!

Rovatti wartete drei Minuten. Dann schwang auch er sich durch dasselbe Fenster hinein, strich ein Zündholz an und sah sich in einem Badezimmer, dessen Tür nur angelehnt war. Er blies das Zündholz rasch wieder aus und schlüpfte durch die Tür in den läuferbelegten Flur.

Der Flur machte eine Biegung. Hinter der Biegung war es heller. Dort mußte eine Tür mit matten Glasscheiben sich befinden, die Tür jenes erleuchteten Zimmers. Als er nun drei Schritte nach vorwärts getan hatte, bemerkte er gerade noch, wie die Baronin durch diese Flügeltür rasch das Zimmer betrat. Sie ließ die Tür offen, und Rovatti hörte drinnen einen doppelten Ausruf – Männerstimmen.

Dann der Baronin harte, helle Stimme:

„Bleiben Sie sitzen! Oder – bei Gott! – ich drücke ab! Dieser Revolver hat mich bei meinen einsamen Spaziergängen stets begleitet –“

Ein Mann lachte schneidend auf. „Ah – so sind Sie doch gekommen, Baronin! Sie bringen wohl den Smaragd, wie wir es verlangt hatten, den berühmten grünen Stein aus dem Brustschild des Buddhabildes der Pagode Kü-Lung-San! Den Stein, den Sie einst stahlen! – Schade, die Frist ist um. Wir hatten Ihnen sechs Wochen Zeit gelassen, sich die Sache zu überlegen, wie wir Ihnen nach Madja Radamaskus Besuch geschrieben hatten. Die sechs Wochen waren vorgestern verstrichen.“

„Lügner!“ sagte die Baronin verächtlich. „Lügner und Mörder! Ihr wißt recht gut, daß Madja Radamasku die Diebin war und daß meine einzige Schuld darin besteht, daß ich Madja in Peking nicht verriet, als ihre anderen Verfehlungen an den Tag kamen. Das Weib, das Ihr zu mir geschickt hattet, kann nur Madjas jüngere Schwester sein, die schon mit fünfzehn Jahren mit ihrem Reitlehrer auf und davon ging. Madja mag ihr, vielleicht in ihrer Sterbestunde, das Geheimnis des Teekästchens anvertraut haben. All das ist ja auch gleichgültig. Jedenfalls: Ihr habt den Stein jetzt geraubt, Ihr habt einen Beamten niedergeschlagen, habt ihn im Auto mitgenommen. Ich fürchte Euch und Eure Drohungen nicht mehr. Was ich tat, tat ich damals aus Liebe zu der unseligen Freundin! Die Welt mag diese meine Schuld jetzt erfahren. Ich werde auch das Urteil der Welt zu tragen wissen! Mein Kleinmut ist dahin. Ich war wochenlang feige, erbärmlich feige. Ich bin es nicht mehr. Und meine Rache für all die schlaflosen Nächte wird die sein, daß ich Euch beide der Polizei übergebe! Das Haus hier ist umstellt –“

Rovatti hielt sich bereit, der Baronin zu Hilfe zu kommen. Er begriff nicht, wie sie es wagen konnte, allein mit den beiden Verbrechern sich einzulassen. Dann fiel ihm ein, daß sie ja vorhin mit dem Beamten auf der Straße gesprochen hatte und daß dieser sehr eilig in eine Seitenstraße eingebogen war.

Diese Vermutung traf zu.

Plötzlich klirrte im Zimmer eine Fensterscheibe.

Rovatti trat schnell ein.

Zwei Beamte stiegen durch das Fenster.

„Ah – also doch, Herr Rovatti!“ sagte die Baronin nur. Die beiden eleganten Verbrecher, der mit der Hakennase und ein älterer Grauhaariger, bekamen Handschellen angelegt. Der Revolver der Baronin hielt sie in Schach. Sie wagten keinen Widerstand.

Im Nebenzimmer lag Warpler gefesselt und geknebelt, aber bei Bewußtsein, auf einem Diwan. Das Teekästchen und der Smaragd wurden in einem der bereits fertig gepackten Koffer der beiden Rumänen gefunden, die die Holzvilla auf drei Monate nebst einem Auto gemietet hatten.

Warpler telephonierte dann an die Potsdamer Polizei, daß er sich bereits auf freiem Fuß befände. Diese Meldung traf gerade ein, als die Beamten und Werner-Karl Abel nach Werder hatten fahren wollen. –

Baronesse Mara mußte recht lange auf ihrer Mutter und Rovattis Rückkehr warten. Dafür erlebte sie dann aber auch die Freude, daß die beiden den Kommissar Warpler mitbrachten, der trotz seines verbundenen Kopfes in bester Laune war. Sie fuhren nun gemeinsam nach Potsdam zurück. Die Baronin sprach auch jetzt kein Wort. Sie hatte ihre Pflicht getan, nachdem sie eingesehen hatte, daß das Schicksal doch seinen Lauf nahm und die Wahrheit an den Tag kommen mußte.

Aber ihre stolze Seele war jetzt aufs tiefste gedemütigt worden. Sie wußte, daß die Welt ihre Feigheit hart verurteilen würde. Hätte sie den Erpressern gegenüber sofort so gehandelt, wie sie es der Allgemeinheit schuldig gewesen, die ein Recht darauf hatte, daß derartige Kreaturen schleunigst unschädlich gemacht werden, dann würde nicht ein ganzer Kreis von Menschen mit in diese Dinge hineingezogen worden sein, dann wäre nicht Lüge auf Lüge gehäuft und nicht ein Menschenleben vernichtet worden, das Leben eines von krankhafter Eifersucht Geplagten, der in einer Stunde unseligen Liebeswahnsinns zur Waffe gegriffen und ein blühendes junges Weib niedergestoßen hatte, um dann selbst ein Opfer jener Schurken zu werden, die ihn beobachtet und ihm das Teekästchen wieder abgenommen hatten, das er doch nur aufgehoben hatte, um seine Tat als räuberischen Überfall hinzustellen. –

Warpler hatte ganz recht, als er nachher zu seinem Kollegen Messerschmidt sagte: „Diese Baronin ist alles in allem ein unbegreiflicher Charakter. Viel Sympathie wird sie nirgends finden. Indes – es muß auch solche Menschen geben, die so ganz aus der Schablone des Alltäglichen herausfallen. Ich glaube aber, Barmuth wird es mit ihr als Schwiegermutter nicht eben schwer haben. Sie ist jetzt ein entwurzelter Stamm. Sie hat die innere Festigkeit verloren. Für sie vielleicht sogar zum Glück!“ –

Mittags zwölf Uhr fand sich Werner-Karl Abel bei Olga Orstra ein. Er hatte ihr drei wunderbare rote Rosen mitgebracht, gab ihr die Hand und sagte schlicht:

„Lassen Sie die Blumen für mich sprechen, Olga. Ich weiß jetzt, daß meine Liebe nicht mit den Schatten früherer Herzenserlebnisse zu kämpfen hat. Das Weib, das meine Lebensgefährtin werden sollte, mußte mir ganz und mir allein gehören. Darf ich Ihnen jetzt den Satz mit „Nur“ beenden? – Er sollte lauten: „Nur ein Erleben wünsche ich mir noch, und das sind Sie, Olga!““

Da breitete sie die Arme aus, lehnte sich an seine Brust, preßte ihn an sich:

„Endlich, Du Lieber, – endlich!“

 

Ende.

 

 

Anmerkungen:

  1. Auf der Titelseite heißt die Geschichte „Das Theekästchen“.
  2. In der Vorlage steht: „kühlen“.
  3. In der Vorlage steht: „bein“.
  4. In der Vorlage steht hier ein Punkt statt einem Fragezeichen.