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Die Todgeweihten

 

 

Walther Kabel

 

Die Todgeweihten

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Waldesfrieden, rauschende Tannen umgaben die kleine Villa. Nach Norden zu blinkte durch rotbraune, hochragende Kiefernstämme der Spiegel der Havel, rötlich schimmernd im Lichte der versinkenden Sonne. Halb war sie schon von der im Westen tief am Horizont drohenden, schwarzen Wolkenbank verschlungen. Ein Unwetter zog auf, vielleicht das erste Gewitter dieses Jahres 1922.

An der Gitterpforte der Villa, durch den gemauerten Pfeiler verdeckt, lehnte ein überschlankes junges Mädchen, gekleidet in ein fließendes Gewand aus dunkelblauer Seide, eine Art Morgenrock, mit reicher Garnierung aus echten, elfenbeinfarbenen Spitzen.

In diesen tiefgründigen, melancholischen Augen schimmerte es wie von geheimem Sehnen. Die schwellenden Lippen des blaßroten Mundes waren wie von stillen Wünschen halb geöffnet. Eine überschlanke, wohlgepflegte Hand, an der kostbare Ringe ganze Farbenbündel aufblitzen ließen, hatte die Eisenspitze eines der Gitterstäbe leicht umfaßt.

Von rechts her, wo die neue Straße eine der älteren kreuzte, erklang das gleichmäßige Surren eines fast lautlos arbeitenden Automotors, kam näher und näher. Helena Twordza hatte ein geschultes Gehör. Ihre Hand glitt von der Eisenspitze herab, ihre zarte Gestalt barg sich in dem Winkel zwischen Mauerpfeiler und dem des Briefkastens wegen etwa ein Meter breit mit Eisenblech innen belegten hohen Gitterzaun.

Der geschlossene Kraftwagen ihres Oheims Anton Markberg hielt vor der Pforte.

Markberg, groß, hager und bartlos, mit einem Gesicht wie ein römischer Gladiator und Augen wie ein Neuyorker Börsenmakler – die nie die wahren Empfindungen verrieten, sondern stets wie eingefroren vor innerer Gefühllosigkeit zu sein schienen, dieser neue Besitzer der Villa Seeblick stieg elastisch aus und warf einen raschen Blick ringsum.

Dann sagte er zu dem kleinen, stämmigen Chauffeur mit dem buschigen Schnurrbart:

„Um zehn Uhr, Manfred. Heute muß das halbe Dutzend vollzählig sein. Um halb zehn kette die Hunde los.“

Der Chauffeur nickte nur. –

Helena hatte jedes Wort verstanden. Ihr Atem ging hastiger.

Wieder also etwas Neues, Unbegreifliches: der Onkel duzte auch Manfred Engel, den Chauffeur, wenn sie sich unbelauscht glaubten!

Sie verließ den schützenden Winkel, duckte sich zusammen, richtete sich auf und tat, als wäre sie soeben um die Fliedersträucher gebogen.

Jede Heuchelei war ihr noch vor einem halben Jahre zuwider gewesen. Seit sie hier in die Villa Seeblick im vorigen Herbst eingezogen war, eine mittellose Waise, kaum genesen in der reinen Schneeluft der Schweiz von tückischem Lungenleiden, war sie eine andere geworden.

„Guten Abend, Onkel. Heute so früh daheim?“ begrüßte sie den einzigen Bruder ihrer Mutter mit gut gespielter Unbefangenheit.

Er reichte ihr die Hand. „Wie geht’s, Lena?“

„Danke. Man gewöhnt sich an die Einsamkeit.“ Und sie dachte an die weiße Villa am Ende der Uferstraße.

„Ja, es tat mir leid, Lena, mit Dir heute früh nicht wie sonst frühstücken zu können. Ich fuhr bereits gegen sieben Uhr nach Berlin hinein.“ Er sagte es etwas wärmeren Tones. Aber für Helena klang doch die Unwahrhaftigkeit deutlich hindurch. Sie wußte ja: das Auto war heute um dreiviertel sieben leer davongefahren, nachdem es kurze Zeit vor der Pforte gehalten hatte. Lena hatte hinter den Vorhängen am Fenster gestanden. Und dann hatte ihr der Diener Roderich Abner nachher dieselbe Lüge aufgetischt, wie jetzt dieser Mann, den sie Onkel anreden mußte und der ihr in den letzten Monaten immer mehr ein Fremder geworden, weil sie Stück für Stück die seltsamen, widerspruchsvollen Eigenheiten seiner Lebensführung enthüllt hatte, so, wie man bei häufigerem Zuschauen jedesmal einen der Tricks eines Zauberkünstlers entdeckt.

Anton Markberg fügte ohne Übergang hinzu, indem er nach Westen zeigte:

„Es gibt ein Gewitter. Es liegt eine unangenehme Schwere in der Luft.“ Er gähnte verstohlen. „Ich bin müde und abgespannt, will gleich nach Tisch zu Bett gehen.“

„Du lügst wieder!“ dachte Lena. „Die sechs kommen heute hier ja wieder zusammen: Du selbst, Roderich Abner, Manfred Engel, unser Koch Gisbert Balk und die beiden – Weiber!“ –

Es war jetzt acht Uhr. Es gab an diesem schwülen 28. Mai keine Abenddämmerung. Die finstere Wolke überspannte schnell den ganzen Himmel. Sie wurde zusehends dunkler, dichter, als ob ihr häßliches Grau sich zusammenpreßte und ein tiefes Schwarz erzeugte.

Markberg und Lena saßen im Speisezimmer am reich gedeckten Tisch sich gegenüber. Roderich bediente wie stets mit katzenhafter Geräuschlosigkeit und Gelenkigkeit.

Markberg füllte die Rotweingläser aus der frisch entkorkten Flasche. Schon griff er nach seinem Glase, rief da plötzlich:

„Roderich, bringen Sie mir ein großes Glas Malaga. Ich will fest und traumlos schlafen. Nehmen Sie das Glas Rotwein weg. Der süßliche Geruch ist mir zuwider – heute!“

Der Diener in seiner blau und weiß gestreiften Leinenjacke tauchte im Lichtkreis der unter gelbem Seidenschirm über dem Tische glühenden Birnen auf und wechselte die Gläser, stellte eine Flasche Malaga vor seinen Herrn hin.

Lena entging nichts. Zum neunten Mal seit dem vergangenen Herbst verschmähte Markberg den sonst von ihm so sehr bevorzugten Rotwein. Und neun Mal hatte Lena also abends bei Tisch ihr Rotweinglas geleert, während er ein feurigeres Getränk genossen hatte. Und neun Mal – das war Lena erst kurz nach Neujahr aufgefallen – war sie an diesen Abenden von einer unnatürlichen Müdigkeit frühzeitig in ihr Zimmer gescheucht worden, wo sie dann in einen bleiernen Schlaf verfiel, aus dem sie erst am späten Vormittag erwachte. –

„Dein Wohl, Lena!“ – Markberg trank ihr zu.

Sie führte das Glas an den Mund, überwand den Widerwillen und trank ebenfalls, trank scheinbar, tat das, was sie noch gestern in ihrem kleinen Salon wieder ausprobiert hatte, führte die Serviette zum Munde, schien die Lippen abzutupfen und ließ den Schluck Wein in das zusammengeknüllte Leinen rinnen.

Kurz vor halb zehn sagten sie sich gute Nacht.

Lena stieg die Treppe empor. Ihre beiden Zimmer lagen im Oberstock nach der Straße hinaus.

Die weinbeschmutzte Serviette hatte sie geschickt auf dem Schoße gegen eine andere vertauscht. Roderich würde also nicht argwöhnisch werden, zumal sie an diesem zehnten Abend, wo man ihr den schlaftrunkvergifteten Wein gereicht hatte, sich genau so benehmen würde wie an den neun vorausgegangenen.

Lena lag im Bett, nur halb ausgekleidet, nur lose mit der Steppdecke zugedeckt. Die flache, gelbliche Steinschale, an drei dicken Seidenschnüren von der Mitte der Zimmerdecke herabhängend, leuchtete matt und geheimnisvoll wie der heilige Gral und beschien das zarte, schmale Mädchenantlitz und die unter dem kostbaren Frisiermantel knospende, langsam atmende Brust.

Lena lauschte mit angespannten Sinnen.

Was würde sich ereignen? Würde jemand in ihre Zimmer schleichen und sich überzeugen, ob sie auch wirklich schliefe?

Draußen im Garten bellten die drei mächtigen Wolfshunde, drei Tiere, unbändig, wild, nur mit Pferdefleisch genährt, nur von dem Chauffeur bedient, dem allein sie gehorchten.

Kein Dieb hätte sich über den Zaun getraut. Die Hunde waren durch Giftbrocken nicht zu beseitigen, nahmen nichts von Fremden an.

Sie lauschte.

Sie sah nicht, daß die Stuckrosette an der Zimmerdecke sich gedreht hatte, daß die Ornamente einen Sehschlitz verbargen, hinter dem ein Paar Augen lauerten.

Die Rosette schob sich geräuschlos in die frühere Lage zurück.

 

2. Kapitel.

Auf dem schweren, reichgeschnitzten Diplomatenschreibtisch, an dem Anton Markberg saß, lag eine auseinandergefaltete Berliner Abendzeitung.

Roderich stand neben Markberg, die Zigarette in der Hand, die Beine übereinander gelegt. Die Schreibtischplatte stützte ihn. Sein längliches fahles Gesicht war finster wie der Gewitterhimmel draußen.

„Ich habe längst vor ihr gewarnt,“ sagte er fast schroff. „Sie ist von Euch anderen unterschätzt worden. Daß sie heute am Torweg lauschte und dann jetzt die weinfeuchte Serviette verbrannt hat, beweist, daß sie als Spionin immer kühner wird.“

Markberg, eine Zigarre im Mundwinkel, erwiderte nur undeutlich:

„Ich mußte ihr ein Heim bieten. Sie ist meine einzige Verwandte. Eine starke Erkältung wird genügen, sie wieder für die Schweiz reif zu machen.“

„Und heute?“

Markberg überlegte. Seine hellgrauen Augen ruhten auf der Photographie eines üppigen, blendend schönen Weibes in kostbarem Bronzerahmen vor ihm auf dem Schreibtisch.

„Wie spät ist es?“ fragte er dann.

„Halb zehn.“

„Das reicht aus –! In zwanzig Minuten wird Lena die Villa verlassen haben.“

Das Gewitter war näher gekommen. Ein krachender Donner rollte über den Wald hin. Dann ein rasch anschwellendes Rauschen herabströmender Regenmassen. Man hörte, wie das Wasser die Rinne hinabschoß.

Markberg sprach weiter.

Roderichs Gesicht hellte sich auf. „Wird geschehen!“ nickte er. „Ich brauche nur den Ofen in meinem Zimmer zu verstopfen und etwas Zugluft zu machen. Dann ist der obere Flur im Moment voller Rauch.“

Er verließ das halbdunkle Herrenzimmer.

Markberg erhob sich, stützte sich auf den Schreibtisch.

„Nur Dein Werkzeug!“ murmelte er und starrte das Bild an. „Dein Sklave, Du Unersättliche, Du fleischgewordene Herrschsucht! Wir alle Deine Sklaven, demütig sich beugend vor Deiner alles überragenden satanischen Intelligenz!“

Roderich Abner hatte sich den Koch Gisbert Balk, einen pockennarbigen Menschen von abschreckender Magerkeit, zu Hilfe geholt. Lautlos huschten sie hierhin und dorthin. Ihr Eifer galt der teuflischen Komödie, der Lena nicht entgehen sollte.

Lena vernahm die rascher aufeinander folgenden Donnerschläge, das Prasseln des Regens gegen die Außenwand ihres Schlafzimmers und sonst nichts.

Dann eine neue elektrische Entladung, der ein Knall im Hause folgte, als hätte es eingeschlagen.

Lena öffnete die Augen.

Die Steinschale schwankte hin und her. Auf dem Frisiertisch klirrte noch ein Glas in verhallenden Schwingungen nach.

Minuten jetzt Stille.

Nun Rufen, Schreien im Treppenhause.

Jemand hämmerte gegen ihre Tür.

„Lena – Lena – aufwachen! Das Haus brennt!“

Markbergs Stimme.

Lena vergaß alles – sprang empor – eilte zur Tür, schloß auf.

Qualm schlug ihr entgegen.

Zwei Arme hoben sie auf.

„Es brennt!“ keuchte Markberg.

Und tappte sich durch die stinkenden Rauchnebel der Treppe zu.

Sie hustete – hustete, bis ihr die Tränen den Blick verdunkelten.

Endlos langsam waren Markbergs tappende Schritte.

Nun die Treppe hinab – durch die Hintertür in den Garten.

Die Hunde waren verschwunden.

Durch die Seitenpforte auf den Waldpfad – das Ufer hinab zur Havel – in eisigem Regen.

Markberg stolperte, fiel.

Lenas Kopf schlug gegen einen Baumstumpf.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie in der kleinen Kajüte der Jacht ihres Onkels, die hier am Bootssteg vertäut war.

Sie lag auf dem Wandsofa, zitterte vor Frost. Die Deckenlampe brannte, und Markberg stand mit einem Aluminiumbecher in der Hand neben Lena.

„Trink’!“ sagte er kurz. „Du holst Dir sonst den Tod.“

Sie trank. Es war irgend ein süßer, schwerer Likör.

„Ich hole Dir andere Kleider und ein paar Decken,“ hastete Markberg hervor. „Ich bin sofort wieder zurück. Man wird des Brandes mit Hilfe des Gartenschlauches hoffentlich Herr werden –“

Er zauderte noch – wartete.

Eine traumhafte, wohlige Müdigkeit ließ Lenas Gedanken ziellos verdämmern. Sie schloß die Augen. Im nächsten Moment war sie eingeschlafen.

Anton Markberg blickte scheu auf sie herab. Das Gewissen meldete sich.

Dann ein Zusammenpressen der Lippen, ein geflüstertes Wort, als wenn er die Schuld auf einen anderen abwälzte, – nochmals derselbe Namen, begleitet von einem Achselzucken:

„Liane!“

Er löschte die Lampe aus, verschloß die Kajüte, verließ die kleine Segeljacht und schritt der Villa Seeblick wieder zu.

 

3. Kapitel.

Ein Mann in einem dunkelbraunen Gummimantel, den Kragen hochgeschlagen, die braune weiche Mütze tief ins Gesicht gezogen, löste sich aus dem Dunkel der Uferböschung, in die er schattengleich über die nassen Deckplanken und den schlüpfrigen Steg zurückgeglitten war, als das Deckfenster der Jacht, bisher wie ein rötlicher Strich, wieder in Finsternis erloschen war.

Der Mann folgte Markberg bis zur Waldpforte, eilte dann im Bogen um die Villa herum auf die finstere Straße, barg sich hinter den regengepeitschten Büschen und sah die blendenden Augen eines Autos näher und näher gleiten, hörte das Gittertor kreischen, das Auto im Garten verschwinden.

Weiter huschte er, auf die andere Villa zu, die da weiß und friedlich soeben wie ein Momentbild im Lichtschein des Blitzes am Ende der Straße auf dem Hügel aufleuchtete und wieder in die Dunkelheit zurückversank. Triefend vor Nässe trat er in das Zimmer John Smitlepps.

Der junge Engländer, Sekretär der englischen Botschaft in Berlin, seit vier Monaten Eigentümer dieser idyllischen Besitzung, schaute von seinem Buche auf.

„Etwas Neues?“ fragte er in fließendem Deutsch.

Otto von Holky schob die Mütze aus dem regenfeuchten Gesicht.

„Meine Reisetasche her – schnell!“

Smitlepp wurde lebendig, schloß einen Schrank auf.

„Bitte. – Was ist denn geschehen?“

„Kommen Sie mit,“ sagte Holky nur und nahm ein Lederetui aus der Reisetasche. „Fragen können Sie später.“

Er steckte ein Fläschchen in den Mantel.

Smitlepp war schon im Flur am Garderobenständer, zog den Lodenmantel über.

Der Privatdetektiv Otto von Holky stand unter der Flurlampe und schob den Patronenrahmen in seine Liliputrepetierpistole zurück.

„Bleiben Sie hinter mir,“ befahl er.

Auf Umwegen erreichten sie den Bootssteg.

„Warten!“ flüsterte Holky. Die Finsternis verschluckte ihn.

John Smitlepp, einziger Erbe von Nathanael Smitlepp, Tuchfabrik in Manchester, Milliardär seit dem Kriege, hatte fünf Minuten Zeit, sich nochmals all das zu vergegenwärtigen, was ihn dazu bewogen hatte, den ehemaligen deutschen Kavallerieoberleutnant vor zwei Monaten als Gast in seine Villa aufzunehmen.

Liebte er Helena Twordza? War es nur Mitleid mit ihrer Einsamkeit? War es nur ein romantischer Zug von ihm gewesen, der ihn die Bewohner der kleinen Villa zunächst allein hatte beobachten lassen – in der planlosen, nur durch Zufallsspiel erfolgreichen Art und Weise eines Mannes, dem derartige Geschäfte ungewohnt und nur vom Reiz des Neuen umwoben sind?! Er hatte mit Helena noch kein Wort gewechselt, hatte sie nur ein paar mal aus nächster Nähe gesehen, sonst nur mit bewaffnetem Auge von den Bodenfenstern aus. Liebte er sie?! – Er wußte es nicht. – „Wie kann man lieben, ohne die Stimme des anderen Teils je gehört zu haben?!“ dachte er und drückte sich noch enger hinter den Stamm der Kiefer. „Vielleicht werde ich sie lieben lernen – vielleicht. Die Zukunft wird das klären.“ –

Holkys Gestalt tauchte auf.

„Alles sicher,“ meinte er leise. „Vorwärts! Eine solche Gelegenheit gibt es so bald nicht wieder.“

Sie standen vor der Kajüttreppe. Holky probierte den Dietrich im Türschloß. Metall schrammte auf Metall.

„Wie ein Einbrecher,“ sagte John anerkennend.

„Eine widerliche Kunst,“ erklärte Holky und zog die Tür auf.

Der Lichtfaden einer winzigen Batterielampe stahl sich in die schwarze Leere vor ihnen, blieb auf dem Gesicht Lenas ruhen.

„Da – völlig durchnäßt, vor Kälte zitternd selbst in der tiefen Betäubung,“ raunte Holky ingrimmig. „Und so hat er das Mädchen hier sich selbst überlassen! Begreifen Sie, Smitlepp, daß der Mensch alles tut – alles!“

Er reichte John die Taschenlampe, hob Lenas Kopf, entkorkte das mitgebrachte Fläschchen mit den Zähnen und träufelte der Schlafenden acht – zehn – vierzehn Tropfen zwischen die etwas geöffneten Lippen.

Das Mädchen hustete – schluckte – hustete wieder.

„Schließen Sie die Tür von innen ab,“ befahl Holky dem Milliardär. „Versuchen Sie es nur. Der Dietrich arbeitet leicht.“

Er ließ Lenas Kopf auf das Polster zurücksinken und zog einen der Wandschränke auf, einen zweiten. Hier lagen wollene Schlafdecken, eng gerollt, acht Stück.

Holky bedeckte Lena, drückte die weiche Wolle sorgsam eng an ihren Leib – sämtliche acht Decken.

Dann beobachtete er ihre Atemzüge.

„Sie wird gleich erwachen,“ meinte er. „Bleiben Sie dort im Dunkeln, Smitlepp, und ziehen Sie die Kognakflasche auf, die dort in dem Wandschrank steht.“

Lena schlug die Augen auf. Der dünne Lichtfaden glitt zur Seite.

„Fräulein Twordza,“ sagte Holky, „Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Ich bin Mr. Smitlepps Freund, den Sie ja schon öfters gesehen haben.“

Das junge Mädchen war noch zu schwach, sich aufzurichten. Die Gedanken arbeiteten träge. Die Erinnerung an die letzten Vorgänge mußte sie sich erst aus Einzelheiten zusammensetzen.

„Brennt die Villa?“ fragte sie dann. Und es war ganz natürlich, daß ihr Interesse jetzt dem stärksten der zuletzt empfangenen Eindrücke galt, und das waren Rauch und Flammenschein gewesen.

„Nein.“ Holky war erstaunt. Dann reimte er sich das Richtige zusammen.

„Frieren Sie sehr?“ meinte er besorgt.

„Ja!“ – Ihre Zähne schlugen klappernd aneinander.

Smitlepp gab ihm die Kognakflasche.

Sie schluckte tapfer, hüstelte.

„Genug!“ meinte Otto von Holky. „Werden Sie mir einige Fragen beantworten können? Wir haben nicht viel Zeit. Ich will Ihnen nur so viel erklären, daß Mr. Smitlepp, der dort auf dem anderen Wandsofa sitzt, mich beauftragt hat, einiges, was ihm an dem Leben und Treiben der Bewohner der Villa auffiel, auf Ziel und Zweck hin zu untersuchen.“

Lenas Augen konnten die Dunkelheit nicht durchdringen. Sie erkannte nur einen helleren Fleck und eine Gestalt mit verschwommenen Umrissen: Holkys Gesicht und Körper, – dann noch die Hand, die das winzige Lämpchen hielt.

„Ja,“ sagte sie rasch. „Ja. Fragen Sie nur!“

Holky fragte. Er erfuhr, wie Lena allmählich Argwohn gegen Markberg geschöpft hatte, daß die Dienerschaft, Chauffeur, Koch und der katzenhafte Roderich, mit ihrem Herrn und unter sich auf du und du standen, wenn sie sich allein wähnten.

Dann wurde auch Markbergs gelegentliche Abneigung gegen Rotwein und der Zweck dieser plötzlichen Vorliebe für ein anderes Getränk erwähnt, schließlich noch die heutigen Ereignisse. –

Eine Pause.

„Woher wissen Sie, Fräulein Twordza,“ fragte Holky wieder, „daß sich an diesen neun Abenden, an denen man Sie durch ein Schlafmittel ausgeschaltet hatte, zwei Damen in der Villa weilten?“

„Weil ich –“ – sie schämte sich etwas – „schon beim achten Male, und das war vor zwei Wochen, versucht hatte, den Rotwein wieder – wieder –“

„– Ich verstehe. Sie führten künstlich eine Magenentleerung herbei –“

„Ja. Ich schlief aber doch ein. Immerhin erwachte ich bereits gegen drei Uhr morgens, auch beim neunten Male, konnte ans Fenster eilen und so zwei Frauen ein geschlossenes Auto besteigen sehen –“

Holky überlegte.

„Würde es Ihnen große Überwindung kosten, noch länger in der Villa auszuharren?“ meinte er dann.

„Nein!“ Lena sagte es ganz ruhig. Das Glücksgefühl in ihrem Herzen machte sie mutig. Was konnte ihr jetzt noch geschehen, wo er sie beschützen würde?!

„Dann rate ich Ihnen folgendes,“ fuhr Holky fort. „Tun Sie nichts mehr, was die Leute auf den Gedanken bringen könnte, Sie wollten spionieren. Heucheln Sie weiter, zwingen Sie sich Ihrem Onkel gegenüber zu maßvoller Freundlichkeit, selbst wenn Sie nun von mir hören, daß Sie natürlich beobachtet worden sind, wie Sie die Serviette verbrannten, und daß der Blitzschlag in die Villa lediglich ein Trick war, Sie fortzuschaffen und Ihnen den süßen Likör einzuflößen. Ihr Onkel, auch darauf muß ich Sie aufmerksam machen, dürfte ein Doppelleben führen: als ehrbarer Vertreter der amerikanischen Seedampferlinie hier in Berlin und als – Verbrecher.“

Lena schauderte bei dem häßlichen Wort zusammen.

„Ich tue, was Sie wünschen, Herr – Herr –“

„Holky ist mein Name –“

Ah – Holky! – Sie war etwas enttäuscht. Holky klang so wenig romantisch.

„Dann noch eins, Fräulein Twordza. Wir müssen Sie jetzt verlassen. Decken Sie sich wieder gut zu. Wenn Markberg kommt, sagen Sie ihm, Ihnen wäre plötzlich übel geworden, Sie seien daher auf den Tisch gestiegen und hätten das Oberlichtfenster geöffnet und – Sie verstehen! – Markberg wird Ihnen glauben müssen. Dieser Regenguß wäscht alles weg. Die Wolldecken behaupten Sie, hätten Sie sich selbst hervorgesucht. Sie wissen ja Bescheid. – Nur die Kognakflasche darf nicht erwähnt werden. Ich werde sie ganz hinten im Schranke verstauen. – Ist Ihnen jetzt warm?“

„Ja – ja!“

„Das freut mich. – Sollten Sie zufällig etwas Wichtiges in der Villa beobachten, so schreiben Sie einen kurzen Bericht darüber auf einen Zettel und legen diesen Zettel zusammengefaltet in eine Zigarette. Sie rauchen ja. Diese Zigarette werfen Sie angeraucht weg, sobald Sie Mr. Smitlepp oder mir auf der Straße begegnen oder an der Villa Smitlepps vorübergehen und einen von uns bemerken.“

John Smitlepp trat jetzt hinzu.

„Wir werden für Ihre Sicherheit sorgen, Fräulein Twordza,“ sagte er herzlich.

Sie reichte ihm die Hand. „Ich danke Ihnen,“ meinte sie schlicht. „Ich stehe so ganz allein auf der Welt da. Es tut mir so wohl, zu wissen, daß ich nicht mehr all das mit mir herumtragen muß, ohne einen Vertrauten zu haben.“

„Gehen wir!“ drängte Holky. „Auf Wiedersehen, Fräulein.“

Dann war Lena allein.

John Smitlepp schlich hinter Holky durch den finsteren Wald. Das Gewitter war vorüber. Der Regen war zu feinem Sprühen geworden. Aber der Wind hatte aufgefrischt. Die Kiefern rauschten und knarrten, schüttelten den Rest von Nässe von ihren Nadeln.

Smitlepp dachte an Lenas weiche, süße Stimme. – „Ich werde sie lieben. Sie ist schön. Ich werde sie fortnehmen von diesem fragwürdigen Markberg und ihr ein Nestlein bauen, das ihrer wert ist –“

„Gehen Sie jetzt heim,“ flüsterte Holky da. „Ich werde noch einiges erledigen. Stellen Sie aber Ihr Rad von innen neben die Gartentür, damit ich es sofort zur Hand habe.“

Smitlepp fragte versonnen: „Wie gefällt sie Ihnen, Holky?“

„Sie ist eine Dame,“ war Holkys Antwort.

Der junge Milliardär und Diplomat hörte etwas wie eine Mahnung aus dem Satze heraus.

„Hm – ich könnte sie für den Rest ihres Lebens sicherstellen,“ meinte er wie entschuldigend. Er schätzte Lena eben ganz nach der Umgebung ein, in der sie lebte.

„Das werden Sie nicht nötig haben, glaube ich,“ sagte Holky leise und wie in gutmütigem Spott. „Auf Wiedersehen. Legen Sie sich nur zu Bett. Vielleicht bleibe ich bis zum Morgen auf den Beinen.“

Smitlepp war verstimmt. Er sann über Holkys letzten Satz lange nach. Ob Holky etwa[1] Absichten auf Lena hatte?! – Nein – ausgeschlossen! Holky kannte nichts als seinen Beruf, mied die Weiber, verhöhnte sie, schien sie insgesamt zu verachten, hatte wohl aus seiner Leutnantszeit reiche Erfahrungen hinter sich.

 

4. Kapitel.

Das Auto, welches Holky beobachtet hatte, war bis dicht vor den Seiteneingang der Villa gefahren.

Eine Frau lenkte es, eine zweite saß im Innern in den weichen Lederpolstern.

Manfred Engel, Markbergs Chauffeur, brachte den Kraftwagen in die hinter der Villa liegende Garage.

Die beiden Frauen huschten ins Haus, in den dunklen Flur. Die Tür des Herrenzimmers ging auf, und in der herausdringenden Lichtbahn erschien Anton Markberg. Seine Verbeugung vor der Autolenkerin fiel sehr tief aus. Eine gewisse Unterwürfigkeit lag darin.

Die Marchesa Liane Rastavarri warf ihren Ledermantel ihrer Zofe zu, streifte den rechten Wildlederhandschuh ab und reichte Markberg die Hand zum Kuß.

In dem Herrenzimmer standen noch der Koch Gisbert Balk und Roderich Abner. Auch ihnen spendete das marmorblasse Gesicht des verführerischen Weibes ein huldvolles Lächeln, auch ihnen gestattete sie, gierige Lippen auf einen von schwülem Wohlgeruch duftenden Handrücken zu pressen.

Die Zofe der Marchesa hatte das Zimmer verlassen.

Ihre Herrin nahm in einem Klubsessel Platz. Jede ihrer Bewegungen war wie lockende Sünde. Aus dem tiefen Halsausschnitt des dunklen Gesellschaftskleides leuchtete der Ansatz der üppigen Büste, aus den langbewimperten, feuchtschillernden Augen leuchteten Verheißungen unfaßbarer Wonnen.

„Also geglückt!“ sagte sie nun und lächelte. „Ich bin zufrieden mit Euch!“

„Hier ist ein genauer Bericht,“ beeilte Markberg sich zu erklären und reichte ihr das Berliner Abendblatt vom Schreibtisch.

Liane las:

Einbruch in die Aktenkammer des Grundbuchamtes Mentzig. In der verflossenen Nacht haben Einbrecher in der feuerfesten Kammer des Amtsgerichts des märkischen Städtchens Mentzig wie die Vandalen gehaust. Die eiserne Tür wurde mit einem Sauerstoffgebläse bewältigt. Die Diebe hatten es auf die alten Grundbuchakten abgesehen, in denen sie wertvolle Briefmarken vermuteten. Selbst den Schrank, in dem die bei Gericht deponierten Testamente und ähnliche Urkunden aufbewahrt werden, durchwühlten sie, zerrissen einen Teil der Urkunden und haben auch, wie bereits festgestellt, gegen sechshundert alte Briefmarken erbeutet –“

Die Marchesa legte die Zeitung auf den Tisch.

„Köstlich naiv!“ meinte sie.

Manfred Engel, der Chauffeur, und seine Frau, die seit sieben Monaten Zofe bei der Marchesa war, traten ein.

„Dann können wir wohl beginnen,“ sagte Markberg, der die berückende Frau mit Blicken umschmeichelte, die Anbetung, Hingabe, – Sklaventum waren.

Auch die übrigen nahmen jetzt um den Tisch Platz.

Die Marchesa löste ihre Armbanduhr vom Handgelenk, öffnete die Deckel und zog aus dem leeren Innern einen Zettel hervor.

„Es handelt sich also wirklich um die drei Personen,“ begann sie. „Wir werden das Los entscheiden lassen. Markberg, schneiden Sie sechs gleiche Papierstücke zurecht. Auf drei schreiben Sie je einen der Namen –“

Markberg setzte sich an den Schreibtisch. Die Schere glitt durch einen Bogen Papier. Dann schrieb er auf das erste Los:

van Dymen.

Auf das zweite:

Helmer.

Auf das dritte:

Adomeit.

Die drei übrigen Lose ließ er leer.

Nachdem die Tinte mit dem Drücker getrocknet war, holte er eine breitbauchige Messingvase und tat die sechs Lose hinein, stellte die Vase auf den Mitteltisch.

Die Marchesa hatte sich eine Zigarette angezündet. Vor ihr lag der Zettel, den sie dem Uhrversteck entnommen hatte.

„Ihr wißt, worum es sich handelt,“ begann sie wieder. „Wer noch zurücktreten will, mag sich melden. Denn, wen das Los trifft, der muß – muß gehorchen!“

Stille – eine lautlose Stille folgte.

Die vier Männer schauten sich scheu an. Ob das längst erstorbene Gewissen bei ihnen wieder erwacht war? Ob sie im letzten Moment doch vor der Entscheidung zurückbebten, die ihnen eine gefährliche Mission, selbst ihnen neu, aufbürden konnte?

Die Marchesa nahm eine frische Zigarette aus dem goldenen Etui, nahm gleichzeitig eine Anzahl von Papierstreifen unbemerkt in die linke Hand, denen an Größe ähnlich, die soeben Markberg ohne Rücksicht auf Gleichmäßigkeit zurechtgeschnitten hatte.

Das Dirnengesicht der Zofe der Marchesa zeigte dieselbe Gleichgültigkeit wie das ihrer Herrin. Diese Anita Flemm, wie sie mit ihrem Mädchennamen geheißen hatte, war Lianes einzige wahre Vertraute, – auch ihre Sklavin, aber eine Sklavin aus selbstloser vergötternder Liebe. Sogar Manfred Engel, den stämmigen, so gewöhnlich aussehenden Chauffeur, hatte sie ohne Bedenken geheiratet, als die Marchesa es gewünscht hatte. Liane brauchte eben einen Spion in der Villa, der die drei anderen Männer überwachte.

Anita Engel saß neben dem Klubsessel ihrer Herrin auf einem geschnitzten Hocker. Sie war in alles eingeweiht, mußte nun sehr bald ihre Rolle hier ebenfalls spielen. Das Schweigen der vier Männer, ein beredtes Schweigen von bedrückender Länge, ließ in ihren stets etwas verschleierten und tief umschatteten Augen Spott und Geringschätzung aufglimmen. Ihr Blick glitt von einem zum andern und machte bei Manfred Engel, ihrem Gatten, halt. Aus Spott und Geringschätzung wurde jetzt Haß, jener grundlose Haß eines Weibes gegen den Mann, der sie anbetet und in seinen Zärtlichkeiten, plump und widrig, unersättlich ist wie ein Tier, ohne zu merken, daß das Weib in seinen Armen alle Qualen der Hölle durchmacht und den Schrei des Abscheus nur aus Rücksicht auf die Gebieterin, die Marchesa, unterdrückt.

Anton Markberg schüttelte als erster den lähmenden Bann von sich, den die Worte Lianes hervorgerufen hatten.

Sein Gesicht verlor den abwesenden Ausdruck.

„Weshalb noch diese halbe Warnung, Liane?“ meinte er mit einer energischen Handbewegung, die seinen Gleichmut gegenüber jeder Gefahr andeuten sollte. „Beginnen wir! Wir Männer greifen zuerst in die Urne, nehmen jeder einen Zettel heraus. Dann Ihr beiden Frauen, falls nicht gerade drei von uns bereits die drei Namen herausgefischt haben.“

Die Marchesa nickte.

„Anita, gib mir die Urne – die Wahlurne –“ wandte sie sich an ihre Zofe. „Ich will die sechs Zettel erst durcheinanderschütteln –“

Als sie die Messingvase dann erfaßte, hielt sie sie etwas schräg, entzog den Männern die runde Öffnung und ließ die in der Hand verborgen gewesenen Zettel mit Taschenspielergeschicklichkeit hineinfallen.

Diese Zettel, achtzehn an der Zahl, trugen zu je sechs die Namen van Damen, Helmer und Adomeit, – scheinbar in Markbergs Handschrift. Mithin lagen jetzt in der Urne je sieben Zettel mit einem dieser Namen und drei unbeschriebene. Da die vier Männer zuerst einen Zettel herausnehmen sollten, war es bei der Überzahl der beschriebenen so gut wie ausgeschlossen, daß sie einen der leeren in die Finger bekamen.

Anderseits bestand freilich die Gefahr, daß zwei von ihnen Zettel mit dem gleichen Namen erwischten. Jedoch auch diese Möglichkeit hatte die Marchesa mit Anita genau erörtert.

Als Liane nun die Vase hin und her schüttelte, sagte Anita ganz unvermittelt:

„Es ist immerhin eine gewisse Feierlichkeit bei diesem Akt nötig. Wir haben die Frau Marchesa stets als unsere Herrin und Führerin respektiert. Ich schlage vor, daß, wer einen Zettel gezogen hat, ihn sofort ungelesen in der Hand zusammenknüllt und ihn der Frau Marchesa reicht, die ihn dann entfaltet und den Namen vorliest oder verkündet, ob der Zettel einer der unbeschriebenen ist.“

Niemand widersprach.

„Also nun dem Alphabet nach,“ meinte Liane, als auch diese Klippe glücklich umschifft war. – „Bitte – Roderich Abner!“

Der Diener erhob sich, trat zögernd näher, drehte den Kopf beiseite und griff in die Schicksalsvase hinein, preßte den Zettel in der Hand zusammen und gab ihn Liane.

Sie strich ihn auf dem Knie glatt, zeigte den anderen flüchtig, daß er beschrieben war und las vor:

„Helmer!“

Roderich zuckte die Achseln.

„Mir soll’s recht sein!“ Und er setzte sich wieder. Aber in seiner ganzen Haltung drückte sich doch eine gewisse Niedergeschlagenheit aus.

„Gisbert Balk!“ rief Liane leise, hielt die Urne wieder ganz hoch und ließ den Koch das Los ziehen.

Die Marchesa glättete auch diesen Zettel, hielt die beschriebene Seite einen Moment den Männern hin.

„Adomeit!“

verkündete sie dann.

Sie log. Auf dem Zettel stand „Helmer“ – wie auf dem ersten.

Als dritter kam Anitas Gatte Manfred Engel heran. Plump und schwerfällig schob er sich näher. Seine Bärentatze wühlte in den Zetteln herum. Er mußte fühlen, daß in der Urne nicht nur noch vier, sondern weit mehr Zettel vorhanden waren.

„Beeil’ Dich!“ sagte Anita schneidend. „Hast Du Angst?“ Da riß er eins der Papierblättchen heraus. Er hatte es ungeschickt gefaßt. Es flatterte Markberg auf den Schoß. Es flatterte so langsam, daß alle sahen, daß es – leer war!

Ein täppischer Zufall hatte den Kelch an ihm vorübergehen lassen.

„Leer!“ verkündete die Marchesa gleichmütig.

Anitas Augen brannten in ohnmächtigem Haß. Nun würde dieses Vieh sie weiter belästigen!

Markberg stand auf.

„Ich übernehme van Dymen freiwillig,“ erklärte er fest, und seine Blicke ruhten in verzehrender Leidenschaft auf Lianes schwellenden Lippen.

„Bravo!“ meinte die Marchesa. „Bravo! Ich hatte es von Dir nicht anders erwartet, mein starker Antonius!“

Sie warf die Papierblättchen in die Urne zurück.

„Verbrenne die Lose, Anita!“ befahl sie.

Und das Weib mit dem vor Enttäuschung überschäumenden Herzen verließ das Zimmer, um die Beweise einer groben Täuschung zu beseitigen.

 

5. Kapitel.

Markberg war mit ihr allein.

Stürzte ihr zu Füßen, preßte sie an sich – sinnlos vor Leidenschaft – ein blinder Narr.

Sie küßte ihn, log mit dem Stammeln der Liebe.

„Nun werden wir vielleicht für Wochen getrennt werden! Wie soll ich das überstehen?!“ –

Und eine halbe Stunde später ordnete die Marchesa vor dem Spiegel in Markbergs Schlafzimmer ihr zerzaustes Haar. Ihr Gesicht war unverändert.

Markberg saß auf dem fellbedeckten Diwan, noch zitternd im Nachrausch genossener Seligkeiten.

Liane bot ihm aus ihrem Etui eine Zigarette an, nahm selbst eine zwischen die kühlen Lippen.

„Wie Du nur stets diese stark parfümierten Zigaretten rauchen kannst, Liane!“ meinte er.

„Oh – sie beruhigen so wundervoll die Nerven!“ lächelte sie. „Das weißt Du ja. Man muß den Rauch nur ganz langsam in die Lunge einsaugen – so!“

Aber sie tat nur so. – Sie hütete sich. Diese Zigaretten vertrug selbst sie nicht.

Markberg fühlte bereits dieselbe wohlige Erschlaffung wie stets nach ein paar Zügen des parfümierten Tabaks.

Er hatte die Arme auf die Knie gestützt. Sein Kopf sank tiefer und tiefer.

Die glimmende Zigarette entglitt der machtlosen Hand. Und wie aus weiter Ferne nur noch vernahm er Lianes Stimme:

„Wenn Du müde bist, schlafe doch ein wenig –“

Und fühlte, wie sie ihn in das weiche Fell des Diwans drückte, fühlte, wie ihre Lippen die seinen streiften, lächelte beseligt – schlief ein – blinder Narr!

Die Marchesa schaute auf ihn herab.

„Erbärmliche Schwächlinge, deren Mannestum vor dem Liebesdunst des Weibes in nichts zerrinnt!“ flüsterte sie.

Und lächelte – schritt lächelnd hinaus, den Flur entlang zu Roderich Abners Zimmer.

Verließ auch diesen lächelnd, suchte den dritten ihrer Sklaven auf, den dritten Genarrten, holte Anita aus des Chauffeurs Garagenstübchen ab und befahl Manfred Engel, das Auto herauszubringen.

Der Kraftwagen stob in die schwüle Mainacht hinein. Anita saß neben ihrer Herrin hinter der schrägen, dicken Glasscheibe.

Liane, die Hände am Lenkrade, sog tief die harzduftende Luft ein, atmete rasch, wollte all das Widerwärtige gleichsam hinaushauchen in den endlosen Äther, das sie heute wieder auf sich genommen hatte.

Dann sagte sie laut und scharf:

„Das letzte Mal war’s! Morgen reisen sie ab!“

„Nur – nur das Vieh hat wieder Glück gehabt!“ stieß Anita keuchend hervor. „Ich ersticke vor Ekel! Lieber ein betrunkener, stinkender Bauernlümmel mit Kuhduft im Haar als dieser – dieser wehleidige Athlet!“

Die ersten Villen des Vorortes Schlachtensee tauchten auf.

„Du hättest ihm die Zigarette rechtzeitig spenden sollen!“ höhnte die Marchesa. „Vorher schon, mein Liebling! Er hielt sie noch zwischen den Lippen, als er das Auto herausbrachte für uns.“

„Oh – ihn wirft sie so leicht nicht um, ihn nicht! Und jetzt – jetzt ihn weiter dulden –! Das ist zuviel!“

„Du irrst, Anita. Auch wir reisen. Nach Italien – zum Schein, – an die oberitalienischen Seen!“

Anita jubelte auf.

„Mäßige Dich, mäßige Dich!“ warnte Liane ernst. „Du vergißt, daß Werkzeuge, die man nicht mehr braucht, zwecklos sind. Und – Nutzloses wirft man weg – für immer, daß es einem nie wieder unter die Augen kommt!“

Anita schwieg betroffen.

Neben ihr ein Lachen, halb verschlungen vom Rattern des Motors.

Dann: „Ich teile nur mit Dir, Liebling! Mit Dir ganz allein – ganz allein!“ –

Eine Viertelstunde später hielt das Auto vor einer Villa in der Harburgerstraße in Berlin-Friedenau.

Auf ein Hupensignal der Marchesa erschien ein verschlafener junger Chauffeur mit harmlosem Kindergesicht und brachte das Auto in die Garage. –

Manfred Engel hatte dem Kraftwagen lange nachgeschaut.

In allen Nerven vibrierte ihm noch die Erregung dieser flüchtigen Liebesstunde nach. Er hatte sich an den Torpfeiler gelehnt, hatte die verhängnisvolle Zigarette fast aufgeraucht.

„Verdammt – wieder diese Müdigkeit!“ brummte er und warf den Zigarettenstummel in den Straßengraben. „Verdammt – die Anita saugt einem das Mark aus den Knochen!“ Er gähnte. „Ich werde in die Falle kriechen! Fein, daß ich den leeren Zettel erwischte, sehr fein! Das – das wäre kein Geschäft für den Druck-Engel gewesen.“ – Er schloß das Tor, wandte sich der Villa zu. Sein Gang war noch schleppender, noch schwerer.

„Verdammt – ganz schwindlig wird mir immer nach den verfluchten Zigaretten! Aber – so wie heut war’s noch nie! Noch – nie!“

Er schwankte hin und her – taumelte weiter.

Unklar erinnerte er sich an seine Pflicht, die Hunde wieder loszuketten und die Seitentür der Villa zu verschließen. Er brachte die Energie dazu nicht mehr auf, torkelte in die Garage hinein, riß die Tür des Autos Anton Markbergs auf und fiel in die Polster, dachte, sich selbst beruhigend: „Nur etwas ausruhen hier – nur ein paar Minuten!“

Und – schlief ein! –

Otto von Holky hatte am Gitter gestanden und Manfred Engel scharf beobachtet.

„Betrunken!“ folgerte er, als er den unsicheren Gang wahrnahm.

Holky wartete.

„Der Kerl scheint in der Garage eingeschlafen zu sein,“ dachte er schließlich. „Die Hunde sind im Zwinger. Vielleicht hat die Bande ein Gelage gefeiert. Ob man’s versucht, mal ins Haus einzudringen?“

Er klappte den Mantelkragen herab, zog den Mantel aus, verbarg ihn. Unter dem Mantel kam das abgerissene Kostüm eines Pennbruders zum Vorschein. Holky faßte in die Tasche, befestigte den auf Draht gezogenen falschen Bart vor dem Gesicht und streifte eine fuchsige Perücke über, deren Haare ihm tief in die Stirn hingen. So überkletterte er den Gitterzaun, schlich im Bogen auf die Garage zu. –

Die Autotür war offen geblieben. Holky richtete sich auf, schob den Kopf näher, bis ihm der Atem des Chauffeurs ins Gesicht schlug. – Keine Spur von Alkoholdunst entquoll dem Munde des Schlafenden.

Merkwürdig! Woher dann der taumelnde Gang?!

In des ehemaligen Kavalleristen rasch arbeitendem Hirn reihte sich Gedanke an Gedanke: Helena Twordza hatte man hier durch Betäubungsmittel gerade dann, wenn die sechs sich versammelten, unschädlich gemacht! Ob auch den Chauffeur?

Holky wollte Gewißheit haben. Er berührte den Mann. Er wagte noch mehr: er legte ihm die Hand auf den unbedeckten Kopf.

Nichts!

Das war kein natürlicher Schlaf. Das war – Betäubung!

Er rüttelte ihn.

Nichts!

Dann schlich er wieder davon der Seitentür der Villa zu. Nur angelehnt. – Seltsam: die beiden Frauen waren vorhin hier herausgetreten. Weder Markberg noch der Diener hatte ihnen das Geleite bis an das Auto gegeben. Und – der Diener hätte doch diese Tür wieder versperrt, wenn er dazu imstande gewesen wäre! Er hatte sie nicht versperrt, fraglos nicht aus Nachlässigkeit. Also – also hatte es den Anschein, als ob auch dieser Roderich Abner den tiefen Schlaf eines Manfred Engel schlief – den Schlaf der Betäubung.

Holky lauschte in den Flur hinein – in die Dunkelheit.

Wartete wieder.

Einen Augenblick dann der Verdacht, die offene Tür könnte eine Falle sein. – Ebenso schnell schob er den unbegründeten Gedanken wieder von sich, überlegte aufs neue: Was konnte hier vorgegangen sein?

Er wollte es wissen. Er verließ sich darauf, daß niemand der Bewohner ihn als den eleganten Gast John Smitlepps wiedererkennen würde. Faßte man ihn ab, dann war er eben ein Dieb, ein gewöhnlicher Dieb, wurde vielleicht verhaftet und – würde bald wieder frei sein.

Er drückte die Tür weiter auf, schritt über den dicken Läufer hin mit vorgestreckten, tastenden Händen.

Hörte rechter Hand, wo er eine Tür fühlte, schnarchen.

Die Tür, nur eingeklinkt, bewegte sich.

Holky stand vor Roderich Abners Bett. Ein dünner Lichtfaden lief über das fahle Gesicht des Schläfers hin. Das kleine Zimmer war erfüllt von dem Geruch eines eigenartigen Parfüms.

„Das der Marchesa Liane Rastavarri!“ nickte Holky, der ihr schon zweimal bis zu ihrer Villa in Friedenau nachts gefolgt war, der schon dreimal in ihrer Wohnung, als Angestellter des Gaswerks, gewesen war.

Er sog Abners pfeifenden Atem ein.

„Kein Alkohol!“

Und versuchte wie bei dem Chauffeur, ob Schlaf oder Betäubung vorläge.

Wollte dann schon davonschleichen, als er auf dem Bettvorleger eine halbe, erloschene Zigarette entdeckte, die in den blauen dicken Stoff einen schwarzen Kreis gesengt hatte.

Er steckte sie zu sich.

Und – fand Anton Markberg im Schlafzimmer auf dem Diwan – auch betäubt – auch eine halbe Zigarette auf den Dielen.

Stieg die Treppe empor, suchte den vierten Mann, den mageren Koch Gisbert Balk.

Fand auch ihn.

„Unbegreiflich! Was bedeutete das?! Auch hier bei Balk das Parfüm der Marchesa!“

Holky glitt die Treppe hinab, war im Herrenzimmer.

Der dünne Lichtfaden lief hin und her, war so fein wie ein Kinderfinger und enthüllte doch alles den geübten Augen – alles.

Auch den zerknitterten Zettel unter dem Mitteltisch, den die Marchesa absichtlich liegen gelassen hatte, da er das Los war, das Gisbert Balk gezogen hatte.

„Adomeit“ stand darauf.

Holky schob ihn zu den Zigarettenresten in die Tasche.

Es war nicht viel, was er gefunden hatte. Aber er war zufrieden.

„Ein plumper Zufall kann mir hier doch noch Ungelegenheiten bereiten,“ sagte er sich und verließ die Villa, drückte die Tür des Seitenausgangs ins Schloß und war gleich darauf unten am Flußufer.

Lena schlief. Selbst das Kratzen und Schaben des Dietrichs im Schloß der Kajütentür weckte sie nicht, selbst der zarte Lichtschein nicht, der ihr Gesicht einen Moment umspielte.

Holky blieb minutenlang neben dem Wandsofa stehen.

„Vielleicht täuscht auch die Reinheit Deines Antlitzes,“ regte sich der Weiberverächter in ihm. „Ihr vom Tode Gezeichneten, die Ihr dort zwischen den Schneehäuptern der Alpen Genesung sucht, sollt Tigerinnen in der Liebe sein. Der drohende Tod reißt alle Schranken nieder. Wer weiß, wen auch Du schon geküßt hast – wie viele, Vergessen suchend, lechzend nach des Lebens heißesten Wonnen –“

Wieder glitt der kleine Lichtkegel über Lenas schmales Gesicht.

Lena lächelte. Kindlichkeit lag in diesem Lächeln, ein keusches Sehnen.

„Ich bin unverbesserlich!“ schalt Otto von Holky sich selbst. „Ich habe viel Lehrgeld bezahlt, sah während des vierjährigen Massenmordes in den Lazaretten unter weißen Schwesternhäubchen lasterhafte Züge, sah Mädchen aus sogenannten ersten Familien vom allgemeinen Blutrausch mit angesteckt werden und nachts in verschwiegene Zimmer schlüpfen, fand Dutzende, die um jeden Preis geheiratet sein wollten! Trotzdem: ich will gerade ihr nicht Unrecht tun! Vielleicht ist sie anders – besser – rein!“

Dann ging er. Und Smitlepps Auto jagte eine Viertelstunde später mit ihm gen Berlin, bis zur Potsdamer Brücke, bis zu dem Hause, neben dessen Tür auch ein Schild hing:

Otto von Holky,
Detektei.

 

6. Kapitel.

Holky weckte die beiden seiner Angestellten, die heute Nachtdienst hatten. Er beschäftigte außer den beiden Bürodamen vier Männer und zwei Frauen, alles aus dem Geleise geworfene Existenzen wie er selbst, alle ihm treu ergeben, erprobt, zuverlässig und begabt für diesen Beruf, der Romantik, Abwechslung und Aufregungen bietet und Energie, rasche Entschlußfähigkeit, klaren Blick, schauspielerisches Talent, Menschenkenntnis, Lebenserfahrung und jene logisch arbeitende Phantasie verlangt, die aus Kleinigkeiten Romane aufzubauen vermag.

Holky ging dann in sein Arbeitszimmer und sah die eingelaufene Post durch, erledigte Unterschriften, schrieb Notizen auf den Rand der Berichte seiner Leute und unterbrach seine Arbeit erst, als die beiden Angestellten eintraten, der eine fast ein Greis, der andere kaum zwanzig alt.

„Nehmen Sie Platz –“

Draußen dämmerte der junge Maitag herauf.

Holky drehte den Schreibsessel um.

„Die Sache Seeblick ist in ein neues Stadium getreten,“ begann er.

Der frühere Statist Lorenz Pau und der gewesene Student der Philosophie Max Birk hörten aufmerksam zu. Holky schilderte die Ereignisse dieser Nacht.

„In Markbergs Herrenzimmer lag auf dem Mitteltisch das Berliner Abendblatt. Der Artikel über den Einbruch in das Amtsgericht Mentzig war rot angestrichen. Die Ränder der Zeitung hatten noch den Duft des Parfüms dieser Marchesa dort bewahrt, wo sie das Blatt festgehalten hatte. Sie haben den Artikel gelesen?“

Pau und Birk nickten.

„Markberg ist nun, wie wir wissen, in der vorvergangenen Nacht zusammen mit dem Koch Balk und dem Chauffeur Engel von der Villa der Marchesa um elf Uhr abgefahren, aber nicht nach Nikolassee. Sein Auto tauchte erst um acht Uhr morgens in Friedenau wieder auf. Es war sehr schmutzig, wie Sie betonten, Pau.“

„Ja,“ nickte der alte Komödiant, „und nach Mentzig gelangt man per Auto in einer Stunde. Außerdem war vielleicht in dem Koffer, den die drei mitnahmen, das Sauerstoffgebläse.“

„Ganz recht. Nehmen wir also an, Markberg und die beiden anderen haben den Einbruch verübt. Sie stahlen alte Briefmarken aus den Aktenstücken.“

Der hübsche, schlanke Birk lächelte etwas.

Und Pau erklärte: „Burschen dieses Kalibers stehlen keine Briefmarken.“

„Bitte, holen Sie mal die Notizen, Birk,“ sagte Holky dann. „Vielleicht gibt ihr Vorleben uns einen Fingerzeig.“

Birk ging ins Nebenzimmer und kam mit einem blauen Aktendeckel zurück.

„Lesen Sie langsam vor,“ verlangte der Chef.

Birk las:

Anton Markberg, 43, evangelisch, geboren zu Stettin, Vater Kolonialwarenhändler, Vollgymnasium bis zum Einjährigen, Lehrling bei der Reederei Dippenfurt in Stettin, mit 20 Jahren geringfügige Unterschlagung, vom Vater gedeckt; nach Amerika, dort Agenturgeschäft, sehr zweifelhafter Ruf, während des Krieges wahrscheinlich Spion für England, 1919 März nach Berlin, Verkehr mit ausländischen Börsenschiebern, 1920 Vertreter der Dampfschiffahrtsgesellschaft wie noch jetzt, starke Verluste, Verhaftung wegen Getreideschiebung, Freilassung, 1921 August in Norderney Bekanntschaft mit der Marchesa, 1921 Oktober Käufer der Villa Seeblick, Ende Oktober Helena Twordza dort aufgenommen. – Energisch, leidlich klug, intime Beziehungen zur Marchesa.

Manfred Engel, Vorleben unbekannt, 1912 („Druck-Engel“!) wegen Falschmünzerei zwei Jahre Zuchthaus, 1914 nach Amerika, bei Markberg in Neuyork Schreiber. Mit ihm 1919 nach Berlin. Weiteres unbekannt. 1921 September Chauffeur bei Markberg. – Gutmütig, dumm, blindes Werkzeug Markbergs. Heirat mit Anita Flemm durch Markberg veranlaßt.

Roderich Abner, Vorleben unbekannt, 1920 aus Neuyork nach Berlin, gewerbsmäßiger Spieler, Verkehr mit Markberg sehr rege. 1921 Oktober als Diener bei ihm.

Gisbert Balk, wie Abner, 1920 in Berlin aufgetaucht, Verhaftung wegen Salvarsan-Schiebungen, Freilassung, dunkle Existenz, 1921 Oktober als „Koch“ zu Markberg.

Liane Marchesa Rastavarri, geborene Liane Gürtler, Vater in Berlin Kneipwirt, 28, mit 15 Statistin, mit 20 Halbweltdame in Monte Carlo, heiratet hier verarmten, 61 alten Marchese Rastavarri, mit 25 Witwe, 1920 in Berlin Spielsalon elegantester Aufmachung, 1921 mit Bankier Mandelheimer August nach Norderney, dort mit Markberg Bekanntschaft, wieder geheimen Spielsalon, viel Ausländer. – Verschwenderisch, ehrgeizig, herzlos, roh, raffiniert, glänzende Komödiantin. Sehr gefährlich.

Helena Twordza, Tochter der einzigen Schwester Markbergs, Frau Emma Twordza. Einziges Kind einer unglücklichen Ehe. Vater Joseph Twordza Juwelier in Hamburg. Beide Eltern tot. – 21 Jahre, mit 18 Tuberkulose, eigenes Vermögen, dreimal längere Zeit in Davos. Nach Tod der Mutter 1921 Oktober zu Markberg. – Bescheiden, anspruchslos, nichts Ungünstiges bekannt. Auskunft aus Davos sehr gut, ebenso aus Hamburg.“

Max Birk legte den Aktenbogen weg.

„Falschmünzerei, – „Druck-Engel“!“ sagte da Lorenz Pau. „Vielleicht stahlen sie Gerichtsformulare und stempelten sie auch sofort – für irgend einen großen Betrug, bei dem die Marchesa nach dem, was wir jetzt wissen, die Anstifterin sein dürfte.“

Holky hob den Kopf. „Pau, das ist ein Gedanke, den auch ich schon gehabt habe.“

Birk pflichtete bei: „Anders läßt der Einbruch sich kaum erklären.“

Dann wieder Schweigen.

Bis Holky sagte: „Wir müssen die Bande fortan aufs schärfste überwachen. Smitlepp wünscht Erweiterung des Beobachtungssystems. Geld soll keine Rolle spielen. – Auch Dräger und Dormann werden also von heute hinzugezogen. Sie, Pau, instruieren die beiden.“

„Wird geschehen, Herr von Holky!“

„Ich will noch ein paar Stunden schlafen.“ Er erhob sich. „Birk, Sie mieten ein Ruderboot und beobachten die Jacht. Ich will wissen, wann Fräulein Twordza von Markberg von der Jacht abgeholt wird und wie dies geschieht.“

Er faßte in die Tasche. „Hier sind übrigens die Zigarettenreste und der Zettel mit dem Namen „Adomeit“. Pau, Sie könnten den Zigarettentabak sofort prüfen, ob er chemische Zusätze enthält. Der Zettel kommt zu den Akten – Gute Nacht.“ –

Holky schlief bis elf Uhr.

Um elf Uhr vormittags rasselte das Telephon auf seinem Nachttisch. Im Nu war er munter, griff nach dem Hörer und meldete sich.

„Ah, Sie sind’s, Dormann. Etwas Neues?“

„Ja, sehr dringend. Pau hatte mich nach der Uferstraße, Sache Seeblick hinausgeschickt. Ich kam gerade noch zur Zeit. Drei reisen ab, der Villenbesitzer, der Koch und der Diener. Ich bin ihnen bis Berlin gefolgt. Zur Zeit sitzen sie mit ihren Koffern im Wartesaal des Bahnhofs Friedrichsstraße. Der Villenbesitzer besorgte aus dem Reisebüro dort drei Fahrkarten –“

„Seht gut, Dormann – Wohin?“

„Eine Karte dritter Klasse nach Swinemünde, eine dritter Klasse nach Königsberg, eine zweiter Klasse nach Amsterdam.“

Unwillkürlich fiel Holky da der Name Adomeit ein, ein typisch ostpreußischer Name. Und einer der drei schien nach Königsberg fahren zu wollen.

„Die drei wollen also doch offenbar getrennt verreisen, Herr Holky. Bitte Instruktion.“

„Ich schicke Ihnen sofort jemand mit Geld und einer Reisetasche, Dormann. Wo sind Sie zu treffen?“

„Wartesaal zweiter Klasse Friedrichstraße. Die drei haben Essen bestellt. Markberg ist außerdem vorhin ohne seinen Koffer im Mietauto davongefahren, wird aber wohl sehr bald zurücksein.“

„Sollte einer von ihnen mit seinem Koffer den Wartesaal verlassen, bevor mein Bote da ist, so bleiben Sie dem Koch auf den Fersen. Haben Sie für diesen Fall genügend Geld bei sich?“

„Ja – bis Swinemünde und Königsberg. Für Amsterdam nicht.“

„Markberg wird nach Amsterdam reisen. Den übernehme ich. Die Fahrkarte zweiter ist sicher für ihn. Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen. Schluß.“

Dann stellte er die Verbindung mit dem Büro her.

Die Buchhalterin Fräulein Grube meldete sich. Holky gab ihr kurze, klare Anweisungen: 20 000 Mark und Reisetasche, mit Auto nach Bahnhof Friedrichstraße! –

Er schlüpfte in die Kleider. Zum Rasieren war heute keine Zeit. Als er die Krawatte knotete, schlug das Telephon abermals an.

Es war Pau, der ehemalige Statist.

„Die Marchesa hat soeben mit der Anita die Villa Friedenau mit zwei Koffern verlassen, im eigenen Auto. Fuhren Potsdamer Bahnhof, schickten Auto weg. Anita blieb mit Koffern dort, Marchesa mit Taxauto nach Bahnhof Friedrichstraße. Befinde mich hier Wartesaal zweiter. Dormann sitzt am Nebentisch. Die drei Männer aus dem Seeblick ebenfalls noch hier. – Soll ich den Diener übernehmen?“

„Ja. Die Grube bringt Geld, muß gleich dort sein. Ich folge augenblicklich. Erwarten Sie mich vor dem Wartesaal.“ –

 

7. Kapitel.

In einem jener schmalbrüstigen, uralten Häuser des ältesten Viertels von Amsterdam, deren Vorderseite mit erblindeten Fenstern auf engere, holprige Gassen schaut, wo aus unzähligen Käsehandlungen säuerliche Düfte weithin die Luft verpesten, deren Rückseite sich in dem trüben Wasser eines der vielen Kanäle, Grachten genannt, widerspiegelt, war ein Teil des Bodenraumes durch Einfügen eines Riesenfensters in das nur wenig schräge Dach in ein Atelier umgewandelt worden. Hier hauste der Maler Jakob van Dymen, der seit Jahren notgedrungen die Kunst zum Handwerk degradiert hatte und stets dieselben sechs Motive malte: Amsterdamer lauschige Plätzchen, romantikumhaucht, von jedem Fremdenführer als sehenswert gerühmt. Tagsüber stand van Dymen bei schönem Wetter mit seiner Staffelei abwechselnd an einem dieser Plätze und lauerte auf einen reichen Amerikaner, Japaner oder sonstigen Valutaasiaten, der vielleicht Interesse an dem halbfertigen Bilde gewann und es nach der Vollendung kaufen wollte.

Van Dymens „Geschäft“ ging nicht schlecht, obwohl ihm in letzter Zeit ziemlich zahlreiche Konkurrenz die Preise verdarb. Kollegen waren hinter seinen Trick gekommen und schlachteten ihn noch raffinierter an anderen Plätzen aus.

Am 2. Juni vormittags hatte Dymen glücklich wieder einen Amerikaner erwischt, einen Mr. Allan Meercmount, der gleich zwei Bilder bestellt und hundert Dollar angezahlt hatte.

Heute am 3. Juni wollte dieser Meercmount sie abholen – abends acht Uhr, wie sie verabredet hatten.

Van Dymen hatte daher sein Atelier ein wenig aufgeräumt. Er als echter Bohemien liebte die Unordnung. Aber der Amerikaner sollte einen besseren Eindruck von seiner Behausung erhalten.

In dem kleinen Flur bimmelte die Zugglocke. Dymen zog die Leinenjacke über. Der Amerikaner konnte es noch nicht sein. Vielleicht war’s Antje.

Er ging und öffnete. Ein Fremder war’s.

„Holky,“ stellte er sich vor.

„Sie wünschen?“ fragte Dymen auf holländisch. Der Mann sah wie ein Händler oder dergleichen aus. Händler bezahlten Spottpreise und waren Dymens geschworene Feinde.

Der Graubart flüsterte: „Ich bin Detektiv, möchte nur einige Fragen an Sie richten.“

Dymen erschrak. Sollte etwa Meercmount ein fauler Kunde sein? Vielleicht mußte man gar die hundert Dollar Anzahlung wieder herausrücken!

„Bitte,“ sagte er zögernd.

Holky saß Dymen gegenüber.

„Sie erkennen mich natürlich nicht wieder,“ begann er.

„Nein!“ Dymen war ganz verwirrt. Dann fügte er hinzu: „Das Holländische macht Ihnen Schwierigkeiten. Ich glaube, Sie sind Deutscher. Sprechen wir also deutsch. Meine Mutter war eine Berlinerin.“

Holky war das nur lieb. „Dann sind wir halbe Landsleute, Herr van Dymen. Ich bin Berliner Privatdetektiv. Als Meercmount mit Ihnen gestern vormittag den Handel abschloß, stand ich als Tourist dabei.“

„Ah – der rotblonde Engländer?!“

„Derselbe. – Würden Sie wohl gestatten, Herr van Dymen, daß ich aus einem Versteck Sie und Meercmount belausche? Er wollte doch heute um acht Uhr die Bilder holen.“

Dymen wurde ärgerlich. „Herr Holky, das ist eine merkwürdige Zumutung!“ meinte er scharf.

Holky blieb unbewegt. „Diese Zumutung wird durch die Umstände gerechtfertigt. Wenn Sie mir in die Hand geloben, zu schweigen, will ich Ihnen einiges über Meercmount berichten.“

„Sie haben mein Wort –“

„Nun denn, Meercmount ist Berliner, heißt Markberg. Dieser Markberg und fünf andere Personen planen irgendein Verbrechen, wahrscheinlich einen ganz großzügigen Schwindel. Drei von dieser Gemeinschaft, nämlich Markberg, ein gewisser Roderich Abner und ein Gisbert Balk –“

„Alles unbekannte Namen,“ warf Dymen ein.

„– sind vor vier Tagen jeder mit anderem Ziel, von Berlin abgereist. Abner und Balk wieder werden von einer gewissen Marchesa Rastavarri und ihrer Zofe, gleichfalls Mitglieder dieser Bande, heimlich beobachtet. Die Marchesa fuhr im selben Zuge wie Balk nach Königsberg, und die Zofe Anita Engel mit Abner nach dem Seebad Swinemünde. Markberg aber reiste hier nach Amsterdam. Ich blieb hinter ihm. So stellte ich hier fest, daß er sich an Sie heranmachen wollte. Er beobachtete Ihr Haus, folgte Ihnen und kaufte die Bilder. – Bitte, damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben: hier ist mein Ausweis nebst Lichtbild. Ich sehe jetzt zwar anders aus, aber“ – er streifte den linken Ärmel hoch und legte eine[2] furchtbare Narbe am Unterarm frei – „dieses Andenken an den Weltkrieg finden Sie auf dem Ausweis als besonderes Kennzeichen vermerkt.“

„Ich zweifele nicht, daß Sie Herr von Holky sind,“ meinte Dymen etwas befangen und reichte ihm den Ausweis zurück. „Ich zweifle nur daran, daß ich ein lohnendes Objekt für Schwindler bin. Bei mir ist nichts zu holen, Herr von Holky.“

„Und doch ist Markberg nur Ihretwegen nach Amsterdam gekommen. Er hat sich hier nur um Sie bekümmert, nur. Begreifen Sie jetzt, daß ich gern mit anhören möchte, was Markberg von Ihnen eigentlich wünscht. Nicht umsonst lehnte er es ab, sich von Ihnen die Bilder in sein Hotel bringen zu lassen. Er wollte mit Ihnen hier allein sein, denke ich. Niemand, glaubt er, weiß, daß er zu Ihnen Beziehungen angeknüpft hat.“

Es lag wie eine Warnung in Holkys Worten.

Sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Dymen starrte Holky fragend an. Dann stotterte er:

„Ja – ja, bleiben Sie! Es ist mir nur lieb. Wir Künstler sind oft so unbeholfen dem harten Leben und den Menschen gegenüber.“ –

Mr. Allan Meercmount saß, den Hut ins Genick geschoben, in dem alten Sessel und entnahm einer dicken Brieftasche ein paar Banknoten.

Er war schon etwas vor acht erschienen, hatte Dymen mit einem Händedruck begrüßt und sofort gefragt, ob die Bilder fertig seien. Über die Hitze schimpfend nahm er Platz, besichtigte wortlos die Bilder und holte dann seine Brieftasche hervor.

Dymen lehnte vor ihm an dem ruppigen Eichentisch.

„Da – bitte, Mr. Dymen,“ meinte Markberg, der sich einen dunklen kurzen Bart sehr geschickt angeklebt hatte. „Zweihundert Dollar noch, wie vereinbart.“

Er schob die Brieftasche in den Rock zurück und langte in die Westentasche nach dem Zigarettenetui.

Jakob van Dymen nahm eine der Zigaretten. Markberg gab ihm Feuer.

„Ah – ein vorzüglicher Tabak,“ lobte der Maler nach den ersten Zügen ohne Übertreibung. Und dabei dachte er mit leiser Ironie an diesen Verbrechergreifer, diesen Detektiv, der jetzt dort hinter dem japanischen Wandschirm auf einem Kissen kniete. Holky hatte sich doch offenbar, was die Person dieses Markberg betraf, arg verhauen. Mochte Markberg dunkle Dinge treiben: von ihm, von Jakobus van Dymen wollte er nichts als die beiden Bilder.

„Ob Ihr Kognak dort ebenso gut ist?“ meinte der angebliche Amerikaner mit einem durstigen Spitzen der Lippen. „Sie wissen doch, Mr. van Dymen, daß bei Sonnenhitze ein Kognak die Eigenwärme des menschlichen Körpers herabsetzt –“

Dymen lachte heiter. Er verstand den Wink, holte die Flasche und zwei Likörkelche von der Anrichte und füllte die Gläser.

Markberg fuhr plötzlich mit dem Kopf herum und starrte durch das schräge Atelierfenster über die Dächerwogen hin.

„Hörten Sie!“ rief er. „Das war ein Hilferuf!“

Er eilte an das Fenster. Dymen folgte ihm.

Das Fenster ging auf die Gracht. Dymen konnte nur die eine Seite des Kanals überschauen. Dort unten war nur ein Kahn zu sehen. Ein Mann, die Tonpfeife im Munde, warf Aalschnüre aus.

Markberg war lautlos zum nahen Tisch zurückgeglitten, kehrte sofort zum Fenster zurück und meinte:

„Lassen Sie mich einmal hinabblicken. Es war ein Hilferuf!“

Dymen machte ihm Platz. „Sie haben sich wirklich geirrt,“ sprach er dicht hinter Markberg ins Freie hinaus. „Es werden Kinder gewesen sein.“

Der angebliche Amerikaner zog den Kopf zurück und schloß die Scheibe.

„Es scheint in der Tat so,“ lächelte er.

Dann ging er zum Tische, ergriff sein Likörglas.

Sie tranken.

„Nicht übel!“ meinte Markberg. „Ah – das tut wohl. Übrigens habe ich mir die Sache überlegt. Die Bilder sind doch noch nicht ganz trocken. Ich hole sie lieber morgen abend ab.“

Er nahm Hut und Stock. „Auf Wiedersehen, Mr. Dymen.“

Noch ein Händedruck und der Maler geleitete den Amerikaner bis auf den Vorboden.

Als er wieder das Atelier betrat, saß Holky in dem alten Armsessel und empfing ihn:

„Werfen Sie die Zigarette lieber weg!“

Dymen fuhr sich über die Stirn. Kalter Schweiß drang ihm plötzlich aus allen Poren.

„Sie haben recht, Herr von Holky.“ Er fiel halb in einen Korbstuhl. „Die Zigarette muß sehr schwer sein. Mir – mir ist ganz schwindlig geworden.“

„Die Zigarette ist präpariert, Herr van Dymen. Markbergs Verbündete, die Marchesa, benutzt sie ebenfalls, um Leute einzuschläfern. Trinken Sie noch einen Kognak.“

Dymen gehorchte. Er erholte sich langsam, atmete kräftiger.

Dann stieß er hervor: „Teufel, was wollte der Kerl eigentlich von mir? Ich hielt ihn für total harmlos.“

„Er wollte Sie nur ermorden,“ erwiderte Holky kalt. Dymen zuckte zusammen. „Sie – Sie scherzen!“

„Ich bin nie ernster als jetzt gewesen. Der Hilferuf sollte Ihre Aufmerksamkeit ablenken. Als Sie zum Fenster hinausschauten, trat Markberg an den Tisch zurück und entleerte eine winzige Glasröhre, die kaum fünfzehn Tropfen enthielt, in Ihren Kognakkelch. Dann ging die Komödie weiter. Daß ich ebenso schnell Ihr Glas dort in jenen Becher entleert, mit dem Taschentuche ausgetrocknet und wieder gefüllt hatte, bemerkten Sie beide nicht. So tranken Sie, Herr van Dymen, nachher unschädlichen, unvergifteten Kognak.“

Dymen glotzte Holky entgeistert an, stand schwerfällig auf und nahm den geschliffenen Becher von der türkischen Etagere.

Ja – es war Kognak darin!

Er stellte den Becher wieder hin, setzte sich.

„Aber – aber weshalb?! Weshalb nur?“ stammelte er. „Ich habe dem Manne doch nichts getan! Ich kenne ihn kaum –“

„Das Weshalb wird später enthüllt werden, Herr von Dymen. Ich möchte Sie nur noch auf folgendes aufmerksam machen. Markberg hat die Bilder absichtlich hier gelassen. Wenn man Sie morgen als Leiche aufgefunden hätte, würde man kaum auf ihn als den Giftmörder gekommen sein. Jedenfalls hätte man ihn nie entdeckt. Er wohnt gar nicht im Hotel Antwerpen, wie er Ihnen sagte, sondern in einem Privathotel. Er reist ohne Zweifel noch in dieser Nacht ab.“

Dymen sah ein, daß er hier dem Tode so nahe gewesen wie noch nie in seinem Leben. Er suchte nach Worten des Dankes für seinen Retter, doch Holky unterbrach ihn:

„Sie haben erkannt, daß Sie beseitigt werden sollten. Die Zigarette hätte Sie betäubt, und dann hätte das Gift ganze Arbeit gemacht. Ein leichter Tod wär’s gewesen. Sie leben – und das ist besser. Aber – Sie müssen sterben, zum Schein! Die Zeitungen müssen die Meldung bringen, daß Jakob van Dymen sich wahrscheinlich Schulden wegen selbst vergiftet hat. Lassen Sie mich nur machen. Ich werde alles so regeln, daß Sie wirklich für tot gelten.“

Er gab dem Maler noch genaue Verhaltungsmaßregeln. Dymen saß mit verlegenem Gesicht da.

„Das – das geht nicht, Herr von Holky,“ sagte er dann zögernd. „Ich – ich kenne ein Mädchen, das mich liebt und das, falls diese Nachricht ihr vor die Augen kommt, ohne daß sie vorher eingeweiht ist, vor Schmerz –“

Holky fiel ihm ins Wort.

„Das Mädchen heißt Antje Moogervaal und ist das einzige Kind des ebenso reichen wie angesehenen Reeders Moogervaal, der seine Antje niemals einem armen Künstler zur Frau geben würde. – Sie sehen, ich habe meine Zeit hier gut benutzt. Antje besuchte Sie gestern abend. Gut, ich werde sie von allem unterrichten. Sie wird schweigen und geduldig die Trennung auf sich nehmen.“

Jakob van Dymen empfand einen unheimlichen Respekt vor diesem kühlen Herrn von Holky der jetzt den Kognak aus dem Becher in ein Fläschchen füllte. „Ich will ihn untersuchen lassen,“ sagte er. „Wir müssen doch wissen, was für ein Gift es ist.“

Gleich darauf verabschiedete er sich von Dymen und nahm den Schlüssel der Flurtür mit, fuhr zur Polizei und hatte hier mit einem Kriminalinspektor eine längere Unterredung.

Dann begab er sich in das Privathotel „Buitenzoort“, wo auch Markberg wohnte, und erfuhr von der Besitzerin, daß Mr. Meercmount mit dem Nachtzuge abreisen würde.

Holky bezahlte also ebenfalls seine Rechnung (er hieß hier Otto Hykoley) und bestieg morgens ein Uhr denselben Zug.

 

8. Kapitel.

Der Volksschullehrer Hermann Helmer wanderte die Strandpromenade von Swinemünde nach dem benachbarten Seebade Ahlbeck zu entlang.

Er schritt wie immer würdevoll und gemessen dahin. Sein mageres, fahles Gesicht mit dem dünnen blonden Schnurrbart, dessen Enden ehrbar herabhingen, und den kurzsichtigen Augen hinter den blinkenden Gläsern der Nickelbrille verfinsterte sich, als ihm ein junges Paar entgegenkam, das sich eng umschlungen hielt.

Hermann Helmer war mit seinen dreißig Jahren ein sittenstrenger Eiferer gegen die zunehmende Leichtfertigkeit der neuen Zeit.

Hinter ihm kam ein Herr denselben Weg entlang, ein älterer Mann mit schütterem, grauem Bart, etwas spießbürgerlich gekleidet.

„Empörend!“ sagte der Herr ganz laut, als das Liebespaar mit glitzernden, lebensfrohen Augen vorüberging.

Helmer hörte es, wandte etwas den Kopf.

Da nickte der Fremde ihm zu.

„Nicht wahr, es ist doch geradezu ein Skandal, wie die heutige Jugend ihre unreinen Triebe aller Welt öffentlich zeigt!“

Das war Hermann Helmer aus dem Herzen gesprochen. Er blieb stehen. „Ja, Sie haben recht. Es ist empörend.“

So kamen sie ins Gespräch gingen gemeinsam weiter. Der Fremde stellte sich schließlich als Robert Abel, Rentner aus Frankfurt an der Oder, vor.

Abel war so recht ein Mann nach Helmers Geschmack: religiös, sittenstreng, naturliebend und begeisterter Botaniker. Er wohnte jetzt in Ahlbeck, wie er erzählte. Dort sei jetzt in der Vorsaison nur anständiges Publikum anzutreffen, keine Schieber mit halbnackt bekleideten sogenannten Damen.

Dann kamen sie auf die geliebte Pflanzenkunde und die Flora der hiesigen Gegend zu sprechen.

Abel sagte plötzlich:

„Herr Helmer, ich habe da gestern im Walde eine ganz seltene Abart des Nachtschattens an einem kleinen Tümpel gefunden. Die muß ich Ihnen zeigen. Biegen wir in den Wald ein.“

Sie verließen die Promenade und erklommen die Anhöhe, umweht von Kiefernduft, umrauscht von dem Brandungsgeräusch der nahen Ostsee.

Abel führte den Lehrer, sobald sie auf einen Weg stießen, stets in anderer Richtung weiter, behauptete stets:

„Ich werde mich hier doch wohl zurechtfinden. Ich bin ja schon das zehnte Jahr in Ahlbeck!“

Dann vor ihnen eine dichte Schonung, in die sich ein Pfad hineinschlängelte. Keinem Menschen waren sie bisher hier im Walde begegnet.

„Aha!“ triumphierte der Rentner. „Aha – in dieser Schonung liegt der Tümpel!“

Immer tiefer drangen sie in die hügelige Tannenschonung ein. Wildtauben gurrten, Eichelhäher flogen vor ihnen auf, ein rotbraunes Eichhörnchen schoß über den Pfad, der sich jetzt senkte und, wie die nahen Wipfel der Eichen erkennen ließen, in den Hochwald wieder einmündete.

„Sollte ich mich doch geirrt haben?“ meinte der Rentner und machte halt, ließ die Blicke umherschweifen und versenkte die rechte Hand in die Hosentasche, in der ein größerer, kantiger Gegenstand stecken mußte.

„Hm – es war etwas abseits vom Wege,“ fügte er hinzu. „Gehen Sie doch einmal dort rechts in die Dickung hinein, Herr Helmer, und halten Sie Umschau. Ich will hier nach links suchen.“

Helmer wandte sich um und bückte sich, um leichter den Ästen der engstehenden jungen Tannen zu entgehen.

Der Rentner stand noch auf demselben Fleck. Dann zog er rasch die Hand aus der Tasche.

Im selben Moment erschollen seewärts auf dem Pfade laute Stimmen.

Abels Revolver glitt in die Tasche zurück. Hastig folgte er Helmer und flüsterte:

„Zwei Herren kommen den Pfad entlang. Wir wollen uns nicht sehen lassen. Es scheinen Ausländer zu sein, – ich hasse diese Bande!“

Die beiden Herren hatten Abel und Helmer jedoch sehr bald entdeckt. Der eine fragte in gebrochenem Deutsch nach dem Rückweg nach Swinemünde.

Abel sagte ihnen Bescheid, ohne sich dem Pfade zu nähern. Langsam entfernten die Fremden sich.

„Mir ist die ganze Laune verdorben,“ meinte der Rentner. „Lassen wir das Suchen für heute. Wollen uns morgen dort oben am Anfang der Schonung wieder treffen, um fünf Uhr nachmittags, wenn es Ihnen recht ist.“

Abel kehrte dann nach Ahlbeck zurück, während Hermann Helmer, noch immer etwas erstaunt über des Rentners jähen Stimmungswechsel, in kurzem die ersten Häuser von Swinemünde und sein möbliertes Heim in der Gadebuschstraße bei der jungen Kriegswitwe Hermine Ohlig erreicht hatte.

Hermine stand in der Küche bei offener Tür und plättete Hermanns Vorhemden und Manschetten. Als sie ihren Mieter erblickte, schlug sie rasch die Tür zu, denn sie war nur im kurzen Unterrock.

Helmer lächelte etwas. – Ja – die Hermine! Die war noch vom alten Schlag. Die war noch scheu und rein wie ein junges Mädchen. Wie sie nur die Tür ins Schloß geknallt hatte! Nur des weißen Unterrockes wegen, der von den strammen Waden die untere Hälfte sehen ließ!

Helmer setzte sich an den Schreibtisch. Er wollte Hefte korrigieren, Rechenhefte.

Die Flurglocke mit ihrem gellenden Schrillen riß ihm den Gedankenfaden entzwei.

Hermine ging öffnen – im Unterrock.

Zwei Herren – elegant, nicht zu alt.

Sie lächelte. Dieses Lächeln war so ganz anders, wie Hermann Helmer sich Herminchen vorstellte, war lockende Sünde. Aber Hermine wußte eben, wie man einzig und allein Frau Helmer werden konnte. Sie war Weib, war schlau, war Komödiantin.

„Könnten wir Herrn Lehrer Helmer sprechen?“ fragte Holky, der erst heute früh in Swinemünde eingetroffen war, nachdem er festgestellt hatte, daß Markberg nunmehr in Nikolassee in der Villa Seeblick bleiben würde. –

Holky und sein Angestellter Max Birk wurden von Helmer mit kühler Ablehnung begrüßt. Er hatte ein Vorurteil gegen alle Leute, die hohe Stehkragen und Selbstbinder und gar noch moderne Krempelhosen trugen.

Immerhin forderte er sie zum Platznehmen auf.

Holky war durch Birk, der ja bereits sechs Tage hier weilte, über Helmers Charakter genau unterrichtet worden. Er mußte diesem verknöcherten Jugendverzieher gegenüber vorsichtig sein.

„Wir suchen Sie in einer ganz besonderen Angelegenheit auf, Herr Helmer,“ begann er leise, denn er traute der üppigen Person, die die Tür geöffnet hatte, wohl zu, daß sie draußen lauschte. „Kennen Sie Leute, die Markberg, Abner, Balk und Engel heißen?“

Hermann Helmer erwiderte gemessen: „Ich kenne einen Pfarrer namens Engel.“

Holky lächelte flüchtig. „Nein der scheidet aus. – Sie waren vor einer halben Stunde im Walde nach Ahlbeck zu mit einem Herrn zusammen, für den wir uns interessieren. Bevor ich fortfahre, prüfen Sie vielleicht unsere Legitimationen. Wir sind Berliner Privatdetektive.“

Helmers Mund klappte vor Staunen weit auf.

Detektive?! Was wollten die denn von ihm?! Er kannte diese Sorte Menschen nur aus Romanen her, die er nur las, damit er mit Recht über diese Art Afterliteratur loswettern konnte.

Die Ausweise prüfte er nur mit einem Blick, wappnete sich mit noch größerer Zurückhaltung und meinte:

„Ich begreife nicht, womit ich Ihnen dienen könnte, der sein Leben lang nie mit den Gerichten zu tun gehabt hat, der sich bemüht, alles Unreine von sich fernzuhalten.“

„Das Unreine und Schlechte trägt oft eine dichte Maske,“ erwiderte Holky vertraulich. „Herr Helmer, wie nannte sich der alte Herr, der Sie auf der Strandpromenade ansprach?“

Helmer platzte heraus: „Was geht Sie das an?!“

„Sehr viel – und Sie auch,“ erklärte Holky unverändert freundlich. „Dieser Mann ist nämlich ein gewisser Roderich Abner aus Nikolassee bei Berlin und dort Diener bei einem Menschen, der ein Verbrecher ist.“

Helmer lächelte jetzt seinerseits überlegen.

„Das kann wohl nicht stimmen,“ sagte er. „Der Herr ist Rentner und heißt Abel.“

„Abner – Abel!“ sprach Holky vor sich hin. „Abel hatte einen Revolver in der Tasche, und wenn wir beide nicht aufgepaßt hätten, wären Sie jetzt – eine Leiche, Herr Helmer.“

Helmer lachte laut auf. „Wie im Kriminalroman!“ höhnte er erhaben. „Meine Herren, meine Zeit ist wirklich zu kostbar, als daß ich mir hier von Ihnen Märchen auftischen lassen könnte. Ich bin Lehrer, und als solcher Menschenkenner. Ich weiß, daß Herr Abel ein harmloser Kurgast aus Ahlbeck ist, der dort –“

„– unter dem Namen Abel nicht wohnt,“ fiel Holky ihm ins Wort, „sondern hier in Swinemünde als Robert Albrich im Parkhotel.“

Helmer erhob sich. „Entschuldigen Sie,“ sagte er eisig. „Ich habe noch zweiundvierzig Rechenarbeiten meiner Schüler zu korrigieren. Das ist mir wichtiger als Ihre Personenverwechslungen.“

Holky blieb sitzen. „Wir waren die beiden Ausländer, Herr Helmer, die Sie nach dem Wege fragten – dort in der Schonung. Ich selbst habe also gesehen, daß dieser Abel den Revolver schon in der Hand hatte, um Sie hinterrücks zu erschießen. Sie schweben in Lebensgefahr – mein Wort darauf!“

Helmer zuckte die Achseln. „Wir Menschen schweben stets in Lebensgefahr. Wenn es Gott gefällt, stürzt ein Haus ein und begräbt uns, oder ein Baum knickt um und –“

Holky verlor die Geduld.

„Herr, glauben Sie denn, wir würden Sie mit Dingen schrecken, die nur unserer Phantasie entsprungen sind,“ unterbrach er den starrköpfigen Salbaderer. „[Herr, dan]ken[3] Sie Gott, daß wir Sie ständig bewachen, nachdem mein Kollege Birk herausgemerkt hatte, wem Abners Reise hierher galt! Ihnen – nur Ihnen!“

Hermann Helmer liebte Leute von so selbstbewußtem Auftreten, wie Holky es besaß, durchaus nicht. Seine Abneigung gegen diese beiden Herren wuchs.

Er ging zum Schreibtisch und legte die Linke auf den Stoß Hefte.

„Dies ist meine Arbeit! Ich habe Pflichten. Bitte berauben Sie mich nicht länger –“

Holky sprang auf, riß eine Zeitung aus der Tasche.

„Da – lesen Sie, Sie – Sie Tor!“ entfuhr es ihm. „Lesen Sie!“

Helmer ließ sich leicht einschüchtern. Er nahm die Zeitung. Da war ein Artikel mit Bleistift umrandet:

Rätselhafter Mord. Wir erhalten aus Amsterdam die Meldung, daß der Selbstmord des Malers Jakob van Dymen durch die Ermittlungen der dortigen Polizei ein völlig anderes Aussehen gewonnen hat. Die anfängliche Annahme, van Dymens habe sich selbst durch Gift getötet, ist durch verschiedene Einzelheiten unhaltbar geworden. Es liegt zweifellos Mord vor. Über den Täter hat man bisher nichts ermittelt. Wir werden später auf dieses Verbrechen, dem einzelne Umstände ein ganz besonderes Gepräge geben, nochmals zurückkommen.

Helmer hatte sich wieder gefaßt. Der Artikel war ihm sehr gleichgültig. Er dachte nur noch an dieses Detektivs Unverschämtheit, ihn, einen Lehrer, Tor zu nennen – Tor!

Holky war neben ihn getreten.

„Herr Helmer, dieser van Dymen sollte das erste Opfer einer Verbrecherbande werden,“ sagte er eindringlich. „Ich rettete ihn –“ – Er erzählte die Vorgänge in van Dymens Atelier und fügte hinzu: „Nun sollen Sie beseitigt werden! Es ist so!“

„Aber – weshalb denn?“ stotterte Helmer, von plötzlicher Angst gepackt.

„Das wissen wir nicht – noch nicht! Tatsache ist: dieser angebliche Abel wohnt hier im Parkhotel. Wir werden es Ihnen beweisen. Er selbst wird wieder von einem anderen Mitglied der Bande, einem Weibe, überwacht, die in der Verkleidung einer älteren Dame dem Parkhotel gegenüber in der Pension Mandelsloh abgestiegen ist. Abends werden wir Ihnen Ihren neuen, harmlosen Bekannten Abel an der Tafel des Hotels zeigen. Sie können ja den Hotelbesitzer Gutknecht dann fragen, ob der Herr nicht dort als Robert Albrich logiert.“

Helmer wurde gegenüber dieser Sicherheit Holkys noch kleinmütiger.

„Setzen wir uns,“ sagte er befangen.

„Endlich!“ seufzte Holky tief auf. „Endlich nehmen Sie Vernunft an! Sie machen uns die Sache verdammt schwer. Nun hören Sie genau zu. Sie sind ein sittenstrenger Mensch. Mithin haben Sie auch die Pflicht, uns zu helfen, diese Mördergemeinschaft entlarven zu helfen. Erzählen Sie uns, was Sie heute mit „Abel“ gesprochen haben – alles!“

Helmer tat es.

„Und den plumpen Schwindel haben Sie nicht durchschaut!“ meinte Holky dann. „Sie haben nicht gemerkt, daß er Sie nur nach einer abgelegenen Stelle des Waldes locken wollte! – Herr Helmer, sind Ihnen jetzt die Augen aufgegangen?“

„Ja –“

„Gut so! Weiter. Der Revolver Abners – er hat nur den einen mit – wird von heute Nacht an nur Patronen mit unschädlichen Kugeln enthalten, mit bleifarben angepinselten Filzpfropfen. Das besorgen wir schon. Wenn Abel-Abner-Albrich also morgen nachmittag Sie erschießen will, wird es Ihnen nichts schaden. Er wird sicherlich auf Ihren Hinterkopf zielen. Mag er. Beweisen Sie, daß Sie ein Mann sind. Sie haben nichts zu befürchten. Lassen Sie sich Abel gegenüber nicht etwa anmerken, daß Sie inzwischen Ihre Menschenkenntnis erweitert haben. Abel hat außer den sechs Patronen, die die Trommel seiner Waffe enthält, keine weiteren bei sich. Er ahnt nicht im geringsten, daß wir ihn ständig beobachten. Er tut keinen Schritt, von dem wir nichts wissen. Er wird nie auf den Gedanken kommen, daß sein Revolver unschädlich gemacht worden ist.“

Helmer war bleich, voller Angst.

„Sie verlangen zu viel,“ flüsterte er scheu. „Ich – ich soll stillhalten, wenn – wenn jemand – Nein, nein, ich bin kein Schauspieler! Ich habe meine Nerven nicht genug in der Gewalt. Ich würde alles verderben.“

„Dann – trinken Sie sich vorher Mut an!“ meinte Holky als letzten Versuch, diesen Menschenkenner für seinen Plan zu gewinnen.

Helmer sann vor sich hin

„Ich – ich trinke ja nichts,“ wehrte er ab.

Birk machte Holky ein Zeichen: er sollte kein Wort mehr verschwenden. Es sei ja doch nutzlos.

Da erklärte Hermann Helmer ganz von selbst:

„Ich werde mir’s bis morgen überlegen. Vielleicht – vielleicht tue ich’s. Sie würden mich dazu ja auch kaum überreden, wenn Gefahr dabei wäre.“

„Und Sie versprechen, keinem Menschen gegenüber auch nur eine Silbe von dieser Unterredung mitzuteilen?“

„Mein Ehrenwort darauf –“

Am folgenden Nachmittag schoß der Rentner Abel in derselben Schonung den Lehrer von hinten nieder. Helmer fiel lautlos auf das Gesicht, regte sich nicht mehr. Abel-Abner war sofort nach dem Schuß entflohen.

Am folgenden Morgen gab es in Swinemünde zwei aufregende Ereignisse: Hermann Helmer war verschwunden, seit dem vergangenen Nachmittag, spurlos verschwunden, wie das dortige Blatt abends berichtete, und zweitens war im Parkhotel ein Gast namens Robert Albrich in seinem Bett um acht Uhr tot aufgefunden worden – ermordet durch Chloroform, durch eine zu starke Betäubung.

Als Holky von diesem Morde um neun Uhr durch den Kellner des Pensionats Mandelsloh, wo er und Birk als Amerikaner wohnten, Kenntnis erhielt, ging er in Birks Zimmer.

„Denken Sie, Birk,“ sagte er ernst, „nun hat die Anita den Abner ins Jenseits befördert. Damit konnten wir freilich nicht rechnen!“

 

9. Kapitel.

Frieda Adomeit langweilte sich. In dem Handschuhgeschäft, wo sie seit drei Jahren Verkäuferin war, fanden sich Kauflustige immer seltener ein. Die Handschuhe waren zu teuer geworden.

Sie war hier bei Adam Gwenzeff am Paradeplatz die einzige Verkäuferin. Gwenzeff behielt sie nur, weil sie hübsch war und Herren tadellos bediente – auch mit Blicken, Lächeln und durchbrochenen oder tief ausgeschnittenen Blusen, die bewiesen, daß Friedas Büste weder Watte noch steifleinene Hohlhalbkugeln waren. Das hübsche, frische, dreiundzwanzigjährige Friedchen saß hinter dem Ladentisch und gähnte. Selbst der Anni Wohte-Roman[4] interessierte sie nicht mehr. Das war ja alles Quatsch. Solche Menschen gab es gar nicht. Friedchen kannte die Menschen, besonders die Männer. Diese Roman-Männer waren Hampelmänner.[5]

Es war jetzt vier Uhr nachmittags. Noch drei Stunden – drei endlose Stunden! Um sieben Uhr erst Ladenschluß. Dann erst würde sie den netten Engländer wiedersehen, der ihr seit acht Tagen den Hof machte, Blumen spendete, Bonbonnieren und heute vormittag sogar einen süßen Brillantring.

Gott ja – schön war dieser Engländer nicht! So mager, und sein Bart so struppig. Aber Geld mußte er wie Heu haben. Das blieb die Hauptsache. –

Ah – ein Käufer! Ein Herr! Schick war der! Monokel, Spitzbart.

Friedchen lächelte süß.

„Womit kann ich dienen?“ flötete sie und beugte sich weit vor. Sie trug heute eine halsfreie Bluse.

Der Herr zog einen der Schemel an den Tisch und setzte sich.

„Ein Paar Wildlederne, braun,“ erwiderte er.

Frieda Adomeit legte ihm die teuersten vor. Er hatte rasch seine Wahl getroffen, bezahlte, blieb aber sitzen.

„Noch einen Wunsch?“ fragte Friedchen und beugte sich noch tiefer. Der Herr gefiel ihr.

„Mehrere,“ erklärte Holky und lächelte zurück. „Zunächst mal eine Frage. Sie waren doch gestern, Sonntag nachmittag, mit dem Engländer Godwyn Balnay in Kranz an der See? Wie gefällt Balnay Ihnen, Fräulein Adomeit?“

Friedchen war starr.

„Sie kennen meinen Namen?“ rief sie. „Sind Sie ein Bekannter Balnays?“

„Ja – das heißt, nur in gewissem Sinne.“

Er legte einen Ausweis mit Lichtbild vor sie hin.

„Bitte – das bin ich!“ meinte er.

Frieda entfuhr ein: „Herr Gott – Detektiv! – Nun begreife ich: der Balnay hat etwas ausgefressen!“

„Ja – und er wird noch mehr ausfressen, will auch – Sie verschlingen! – Scherz beiseite, Fräulein Adomeit: der Mann heißt Gisbert Balk und ist Koch bei einem Herrn Anton Markberg, der in Nikolassee bei Berlin eine Villa hat.“

„Na – und weiter?“

Holky erzählte: von van Dymens und Helmers angeblichem Tode, von den beiden Mordbuben Markberg und Abner, ohne die Namen der beiden ersteren zu nennen.

Frieda Adomeit lehnte ganz entsetzt am Verkaufstisch. Sie war helle. Sie verstand sofort.

„Wie – und nun soll der Balk mich umbringen?“ fragte sie stockend.

„Ohne Zweifel soll er das. Die Bande scheint unter sich gelost zu haben, wer die Mordtaten ausführen sollte. Ich fand einen Zettel mit dem Namen Adomeit. Mein Angestellter Dormann ist Balk dann von Berlin aus gefolgt. Balk wieder wird hier von einem anderen Mitglied der Bande überwacht, einer Marchesa Liane Rastavarri, der wieder mein Angestellter Pau nachreiste.“

„Ach nee – eine Marchesa!“ meinte Frieda. „Das ist doch so viel wie Fürstin. Natürlich ist’s gar keine echte Marchesa.“

„Doch, sie ist echt. Freilich nur, was den Adelstitel betrifft. Geboren ist sie in Berlin als Kneipwirtstochter.“

„Wohl mit ’m Namen Kulicke oder Bumke!“ witzelte Frieda, die „die Lebensgefahr“ schon wieder vergessen hatte.

„Nein – geborene Gürtler –“

„Etwa Lina Gürtler?“

Holkys Kopf schnellte hoch. – Ah – dieses Mädel war das erste der Opfer, das ein Mitglied der Bande zu kennen schien.

„Ja – Lina Gürtler! – Ihnen bekannt?“

„Und ob – aber nur vom Hörensagen. Meine Mutter war Linas Tante. Wir sind also Kusinen.“

Holky holte tief Atem. Er merkte, daß jetzt endlich etwas Licht in diese geheimnisvolle Reihe von Verbrechen kommen würde. Das Motiv des Ganzen, der Endzweck würden vielleicht enthüllt werden.

„Ihre Mutter war also eine geborene Gürtler?“ fragte er zur Sicherheit nochmals.

„Ja.“

Holky überlegte.

„Kennen Sie einen Holländer van Dymen?“ setzte er das Verhör fort.

„Das ist wohl der Maler, der vergiftet werden sollte? – Nein, der ist mir ganz unbekannt.“

Holky war bitter enttäuscht.

„Der Lehrer heißt Helmer, der scheinbar erschossen wurde,“ erklärte er weiter. „Hermann Helmer.“

Friedchen schüttelte den Kopf.

„Lehrer kenne ich keinen einzigen. Nur einen Assessor Doktor Helmer.“ Sie errötete etwas.

Holky zog die Stirn kraus. – Wieder nichts! Was sollte man damit anfangen, daß Frieda Adomeit eine Kusine der Marchesa war?! – Das Tatmotiv blieb verborgen. Da konnte man grübeln und grübeln, konnte hundert Möglichkeiten erwägen. Sie alle hatten kein Fundament, schwebten haltlos in der Luft!

Nirgends eine Verbindung zu dem Einbruch in das Amtsgerichtsgebäude von Mentzig. Und diese Verbindung war fraglos da. Dieser Einbruch und diese Mordpläne hingen eng zusammen. Davon war sowohl Holky als auch sein ganzer Mitarbeiterstab überzeugt. Inzwischen hatte er ja bereits genügend Beweise für die Ausführung der Plünderung der Aktenkammer durch Markberg und Genossen gefunden. Was half das alles?! Das Motiv – das Motiv! Es blieb im Dunkeln.

Ja – wenn van Dymen und Helmer gleichfalls zu der Marchesa in einem verwandtschaftlichen Verhältnis gestanden hätten! Wenn dies der Fall gewesen wäre, dann würde Holky wieder gehofft haben, dann hätten sich aus dieser einen Tatsache andere ableiten lassen. So aber: kein Fundament – nichts – nichts!

Holky saß ganz still auf dem Schemel und blickte versonnen durch die Glasscheibe der Ladentür auf den Paradeplatz hinaus, auf das von freundlichem Grün umgebene Kantdenkmal vor der alten Universität und auf die buntbemützten Studenten, die soeben in langer Reihe auf dem Bürgersteig vorüber bummelten.

Wie – wie nur konnte er an das Tatmotiv herankommen – wie nur?! Da war eine Villa in Nikolassee mit geheimnisvollen Menschen, da war die Marchesa mit ihrer Zofe, da waren zwei Mordversuche, ein Mord, ein Einbruch und etwas Ähnliches wie ein Mordversuch: die betäubte, vom Regen durchweichte, vor Kälte in der Jachtkajüte zitternde Lena Twordza, eine kaum Genesene, der eine Erkältung den Tod hätte bringen können. – Übergenug Material also! Und doch: in alledem kein fester Punkt, alles gleichsam in Bewegung! –

Frieda Adomeit schaute den eleganten Detektiv mit einem Gemisch von Koketterie, Sensationshunger und ganz leiser Angst unverwandt an. Ihr war jetzt klar geworden, daß sie eine interessante Persönlichkeit sei, daß sie mitten in einem Kriminalroman als Beteiligte stünde.

Sie war gespannt, was er ihr weiter mitzuteilen hätte. Sein Schweigen währte für ihre Ungeduld nur allzu lange. Deshalb fragte sie unvermittelt:

„Was soll ich denn nun eigentlich tun, Herr von Holky?“

Holkys Gedanken waren gerade wieder bei der Tatsache der Verwandtschaft dieses üppigen, lebenshungrigen Handschuhmädels mit Liane, geb. Gürtler, angelangt.

Er überhörte ihre Frage, meinte mit geistesabwesendem Blick zu ihr empor:

„Lina Gürtler hat schon frühzeitig das Elternhaus verlassen. Wissen Sie genaueres über ihr Vorleben?“

„Nein, nur daß der Onkel Gürtler, der auch längst tot ist, sie verstoßen hat. Lina war sein einziges Kind. Sie hat ihn und die Tante ins Grab gebracht.“ Dann fügte sie zaghaft hinzu:

„Soll – soll ich denn nun auch zum Schein sterben?“

Holky gab es auf, dem Motiv jetzt nachzuspüren. Er nickte Frieda Adomeit ernst zu.

„Ja, wenn Sie den Mut dazu haben!“ erklärte er. „Sie müssen natürlich, sobald Sie mit dem angeblichen Godwyn Balnay zusammen sind, sehr vorsichtig sein. Sie wissen, wie diese Schurken vorgehen: Gift, Revolver, und dabei sorgen sie dafür, daß die Person des Täters schwer zu fassen ist. Balnay wohnt hier im Hotel Krone am Schloß. Ihnen wird er –“

„Mir hat er das Ostsee-Hotel am Bahnhof angegeben,“ warf sie ein.

„Ja – sie arbeiten stets nach demselben Rezept. In der Krone wohnt er als Amerikaner John Burnes. Wann treffen Sie sich wieder mit ihm?“

„Heute abend nach Geschäftsschluß. Er hat Karten für das Operettentheater besorgt, Logenplätze.“

„Was wird gegeben?“

„Der grüne Star.“

„Mit der Kinoszene im zweiten Akt. Da wird das Theater völlig verdunkelt. – Sehr gefährlich!“ murmelt Holky. „Und Logenplätze! Vielleicht hat er eine ganze Loge genommen. Dann – dann könnte er –“ – Er führte den Satz nicht zu Ende.

Friedchen fühlte einen Eiseshauch jäher Angst. Holky bemerkte, daß sie blaß geworden war.

Er streckte ihr die Hand hin. „Wir lassen weder die Marchesa, die hier im Zentral-Hotel als würdige Matrone bürgerlichen Namens wohnt, noch Balk auch nur einen Moment unbeobachtet. Außer mir sind jetzt noch drei meiner Leute hier, darunter ein Fräulein Heller, eine sehr geschickte Detektivin. Sie haben keinen Grund, sich irgendwie ängstigen zu müssen. Ich werde Ihnen heute abend in der Theatergarderobe einen Zettel zustecken lassen. Lesen Sie ihn sofort. Jedenfalls, Fräulein Adomeit: halten Sie die Augen offen.“

Er wollte noch etwas hinzufügen. Ein jüngerer Mann, einfach und solide gekleidet, hatte den Laden betreten. Friedchen wurde flammend rot.

„Da bin ich wieder, Fräulein,“ sagte der Mann strahlend. „Gleich vom Bahnhof kam ich hierher.“ Er gab ihr die Hand. Er strahlte. „Habe ein schönes Stück Geld mit der Lichtanlage beim Grafen Ruckerheim verdient, Fräulein Frieda, habe auch zwei neue große Aufträge bekommen. Noch heute kaufe ich das Haus, wo der Laden frei ist. Dann wird ein Installationsgeschäft eingerichtet, das sich sehen lassen kann –“

Holky nahm das Handschuhpäckchen und verließ nach kurzem Gruß das Geschäft.

Friedchen hatte also einen ernsthaften Bewerber! Holky lächelte – wurde rasch wieder ernst. –

In seinem Pensionat fand er einen Brief von der Heller vor, der soeben erst abgegeben war.

„B. hat vorhin Konfekt, Kognakkirschen gekauft, die sich leicht anders füllen lassen. Also Vorsicht. Die Kognakkirschen sind sicher für die A. bestimmt. Pau läßt noch bestellen, daß B. gestern eine ganze Loge im Operettentheater belegt hat, Loge Nr. 1, dicht an der Bühne, für heute abend. – H.“

Holky setzte sich an den Schreibtisch und schrieb folgenden Zettel:

„B. wird Ihnen in der Loge Kognakkirschen anbieten. Die beifolgenden können Sie getrost essen. Die von ihm stammenden verbergen Sie geschickt in Ihrem Handtäschchen. Im zweiten Akt täuschen Sie eine Ohnmacht vor. Sie werden dann in ein Krankenhaus geschafft werden. Ich setzte mich mit der hiesigen Kriminalpolizei in Verbindung. Wenn B. aus der Loge sich entfernt nach Ihrem Ohnmachtsanfall, ohne sich weiter um Sie zu kümmern, ist mein Verdacht begründet. Benehmen Sie sich geschickt.“

Holky besorgte dann Kognakkirschen, fuhr zum Polizeipräsidium am Kranzer Bahnhof hinaus und nachher zum Operettentheater.

Um sechs Uhr traf er sich mit Pau und gab die nötigen Befehle für den Abend aus. –

Die Morgenzeitungen Königsbergs brachten dann die kurze Notiz, daß die Verkäuferin Frieda Adomeit im Operettentheater am vergangenen Abend plötzlich verschieden sei. Die Todesursache könnte erst durch die Sektion festgestellt werden, die vom Gericht bereits angeordnet sei.

Zu derselben Zeit, als die Königsberger beim ersten Frühstück auf diese Weise Frieda Adomeits Tod, für die meisten ein sehr gleichgültiges Begebnis, erfuhren, saß die „Tote“ tief verschleiert neben der Heller im D-Zuge nach Berlin.

Im selben Zuge reisten auch Balk, die Marchesa, Holky, Pau und Dormann. Sie überwachten die Marchesa aufs schärfste. Holky fürchtete, es könnte Balk ebenso ergehen wie Roderich Abner in Swinemünde: der Lohn für Frieda Adomeits „Beseitigung“ könnte die Ermordung des Täters sein! Und das wollte er um jeden Preis verhüten! –

Der Zug lief jetzt bei prächtigstem Sonnenschein in den Marienburger Bahnhof ein. Dort ragte die Marienburg hoch und wuchtig über uralte Burgmauern und Gräben hinweg, ein Wahrzeichen des Deutschtums, deutscher Kulturarbeit. Und – hinter Marienburg begann die neue polnische Grenze.

Alle Reisenden standen an den Fenstern. Manche deutsche Männerfaust ballte sich.

In einem Wagen 2. und 1. Klasse plötzlich laute Rufe.

Schaffner eilten herbei.

In dem Waschraum für Männer war soeben ein Reisender mit einer frischen Stichwunde im Herzen aufgefunden worden. Er lebte noch, verschied aber, als man ihn kaum auf eine Tragbahre gebettet hatte.

Pau stand neben Holky auf dem Bahnsteig, sagte leise: „Ein unheimliches Weib! Sie hat den Moment gut benutzt, als auch wir der deutschen Ritterburg unseren stillen Gruß entboten.“

Holky blieb stumm. Seine Lippen preßten sich nur fester zusammen.

 

10. Kapitel.

Markberg und Lena saßen im Speisezimmer der Villa Seeblick beim Abendbrot. Manfred Engel bediente.

Markberg war seit seiner Rückkehr aus Amsterdam sehr schweigsam. Er wurde das Gefühl nicht los, daß sich über seinem und seiner Verbündeten Häuptern eine Gewitterwolke zusammenballte. Er spürte vorerst nur etwas wie Gewitterschwüle. Aber – sie war da, lastete auf ihm und lähmte ihn.

Er traute Lena nicht mehr. Er traute ihr besonders seit jenem Morgen nicht mehr, als er sie friedlich unter Wolldecken in der Jachtkajüte schlafend vorgefunden hatte. Nicht einmal die leichteste Erkältung hatte sie sich damals in jener Nacht geholt. Und – wie gleichgültig sie sich nach den Folgen des Blitzschlages erkundigt und die angekohlte Bodentreppe betrachtet hatte! Er haßte sie jetzt förmlich. Er verfluchte den Tag, da er sie in Rücksicht auf seine Verwandtschaft mit ihr in sein Haus aufgenommen hatte. Er sah in ihr sein Verhängnis.

Haß und Liebe rührten seine niedrige Seele auf. Er verzehrte sich in leidenschaftlicher Sehnsucht nach Liane, die mit Anita nach Mentone am Gardasee gereist war. Nicht eine Zeile hatte er von ihr erhalten. Weilte sie wirklich in Mentone?! Immer wieder stiegen Zweifel in ihm auf.

Finster vor sich hinbrütend saß er am Tisch. Zuweilen schaute er nach Lena hinüber. Sie sah frisch und leicht gebräunt aus. Täglich ruderte sie jetzt ein paar Stunden, mitunter in Gesellschaft John Smitlepps, der inzwischen Markberg einen nachbarlichen Besuch gemacht hatte.

Markbergs Mißtrauen hatte zunächst in ihm einen Spion gewittert. Aber er ließ diesen Argwohn bald fallen. Smitlepp war ja tatsächlich Botschaftssekretär.

„Es hat an der Gartenpforte geläutet. Ich gehe mal nachsehen,“ sagte der kleine Athlet Engel da.

Markberg schaute auf, versank wieder in seine Grübeleien.

Vor drei Tagen hatte er in Berliner Zeitungen die Notiz vom Tode Roderich Abners in Swinemünde gefunden, dicht unter der von dem noch immer unaufgeklärten Verschwinden des Lehrers Helmer.

Abner tot! Wer hatte ihn mit Chloroform ermordet, – wer?! – Abner hatte ihm am nächsten gestanden. Abner war der intelligenteste seiner Freunde und Genossen aus der Neuyorker Zeit. Nun – tot! Tot! Wer war der Mörder?!

Engel kehrte mit einer Depesche zurück.

Markberg las:

Bin zehn Uhr bei Dir. Lia.

Von Liane – aus Dresden! – Sein Antlitz leuchtete auf.

Das Blut schoß ihm zu Kopf. Sein Herz hämmerte.

Noch zwei Stunden! – Bis dahin mußte Lena blind und taub gemacht sein! Aber wie – wie nur?!

Er blickte sie an. Sie aß mit gutem Appetit – sorglos, heiter. Sie hatte ja Grund dazu: nachmittags war sie mit Holky auf dem Großen Wannsee zusammengetroffen, auch er im Ruderboot. Er hatte sie durch Smitlepp dorthin bestellt.

Markberg haßte seine Nichte mehr denn je. Er beneidete sie um ihr reines Gewissen. Er selbst – Giftmörder! Und – durch wen? durch das Weib, das er anbetete, durch Liane! – Und weshalb: der Milliarden wegen, die dort herrenlos lagerten – in Zürich, im sicheren Banktresor – Milliarden!

Früher hatte ihn der Gedanke an diesen unermeßlichen Reichtum berauscht. Heute – heute kroch ihm immer wieder eisige, ungewisse Angst ins Herz. Er war nicht mehr derselbe Markberg, der sich in Liane damals beim ersten Sehen in Norderney verliebt hatte, dem sie dann enthüllte, was als dunkler Plan ihr seit langem vorschwebte. Er erst hatte diesem Plane Form und Inhalt gegeben, denn er verfügte über die nötigen Helfershelfer, verschwiegen, erprobt. Man hatte sich Zeit gelassen mit den Vorbereitungen und Nachforschungen, mit dem Beobachten der drei Todgeweihten, mit dem Ausspüren ihrer Gewohnheiten, ihrer Lebensverhältnisse. Man war überaus vorsichtig in allem gewesen.

Und doch: nur Lena war argwöhnisch geworden – nur sie! Sie war der Störenfried, sie war zu fürchten!

Oh – wie er sie haßte! Dieser Haß quoll in ihm hoch wie eine häßliche Dunstwolke.

Wie war ihr nur beizukommen?! Wie konnte man sie für immer entfernen? –

Lena erhob sich. „Ich will noch ein wenig segeln, Onkel,“ sagte sie. „Der Wind hat aufgefrischt.“

Sie schritt hinaus, kühl, sicher, rein.

Die Tür schnappte ins Schloß.

Markberg winkte Engel.

„Du,“ flüsterte er. „Liane und Anita sind unterwegs nach Berlin.“

Engel wich Markbergs Blick aus.

„Freust Du Dich denn gar nicht auf Deine Anita?“

„Nein!“ Das war wie ein Faustschlag. „Nein! Endlich muß die Wahrheit heraus! Anton, diese beiden Weiber betrügen uns!“

Pause. Noch leiser:

„Anton, damals, als wir gelost hatten, damals hat Anita mir wieder eine der Zigaretten aufgedrängt. Und da – da wurde mir wieder so wirr im Kopf. Im Auto bin ich eingeschlafen. Erwachte – fand Euch drei ebenfalls schlafen. Und bei Balk und Abner im Zimmer roch’s nach – Liane!“

Markberg suchte ungläubig zu lächeln.

„Du – Du meinst also, daß –“

„Ich habe bei Balk auf dem Kopfkissen eine Haarspange Lianes gefunden. Genügt Dir das?“

Markberg sprang auf.

Hinter ihm krachte der Eichenstuhl auf die Dielen.

Er griff sich an die Stirn.

„Zigarette – Zigarette,“ murmelte, er. „Ja – sie bot mir stets eine an, und stets schlief ich –“

Engel zog eine Zeitung aus der Tasche.

„Da – lies mal!“ sagte er dumpf.

Markberg riß ihm das Blatt aus der Hand.

Königsberg. Die Sektion der Leiche der Verkäuferin Frieda Adomeit hat ergeben, daß das Mädchen durch Zyankali vergiftet worden ist.

„Nun drei Notizen weiter unten, Anton –“

Und Markberg fand folgendes:

„Der im Waschraum des D-Zuges Königsberg-Berlin aufgefundene Tote, der einen falschen Bart und eine Perücke trug, dürfte derselbe Mann sein, der als Täter für den Giftmord an der Verkäuferin Frieda Adomeit in Betracht kommt –“

Die Zeitung flatterte zu Boden. Markberg stierte Engel wild an.

„Balk!“ keuchte er. „Auch Balk tot! Erst Abner, nun Balk!“

„Und – jetzt wir beide, Anton! Jetzt sind wir an der Reihe! Merkst Du was: die Reise nach Mentone ging nach Swinemünde und Königsberg!“ – Er fletschte die Zähne vor Ingrimm. „Also heute treffen sie hier ein! Mögen sie nur kommen. Wir werden schlau sein, Anton. Wir spielen die verliebten Kater, passen aber gut auf. Jedenfalls: ich lasse mich von dieser Anita nicht umbringen – ich nicht! Könnte ihr so passen, mit Liane allein die Milliarden zu teilen!“ Er lachte gurgelnd.

Markberg hatte sich mit beiden Fäusten auf den Tisch gestützt. Ihm perlte der Schweiß über die Stirn. Seine Lippen zuckten.

„Manfred, ich – ich war nur ein Schwindler und Betrüger. Jetzt bin ich – Mörder! Mörder! Durch eine – Hure zum Morde angestiftet, durch sie in einen Milliardenrausch versetzt! – Manfred, ich danke Dir. Du hast mich sehend gemacht!“

Seine Erregung ließ nach.

„Milliarden- und Sinnenrausch, blinde Werkzeuge eines weiblichen Satans und ihrer Gehilfin, – Todgeweihte, Manfred! Ja, das sind auch wir!“

Engel hob die riesigen Boxerfäuste.

„Noch nicht, Anton, noch lange nicht Todgeweihte! Wir kennen die Gefahr jetzt. Wir werden den beiden mit gleicher Münze heimzahlen. Uns allein wird das Geld gehören. Noch brauchen sie uns. Mancherlei ist noch zu erledigen –“

So standen sie nebeneinander und berieten.

 

11. Kapitel.

Lena war zum Schwedischen Pavillon gesegelt. Das leichte Boot hatte sie in schneller Fahrt an ihr Ziel getragen. Sie kettete es fest und blickte nochmals über den belebten See zurück. Niemand war ihr gefolgt.

Sie schritt durch den Garten dem Restaurant zu. In einem der Weinzimmer saß eine größere Gesellschaft von zwei Damen und mehreren Herren zusammen.

Als Holky Lena erblickte, eilte er ihr entgegen. Sie drückten sich kräftig die Hand. Lenas Augen leuchteten.

„Markberg hat vor einer Viertelstunde eine Depesche erhalten,“ flüsterte sie hastig.

„Wir wissen es schon, Fräulein Lena, kennen auch den Inhalt. – Kommen Sie, ich werde Sie mit der Tafelrunde bekannt machen.“

Da waren die drei Todgeweihten: van Dymen, Helmer, Frieda Adomeit. Da waren Holkys Truppen: Pau, Birk, Dormann, die Heller. Da war der Berliner Kriminalkommissar Tegtläuter, der berühmte Fritz Tegtläuter. Und auch John Smitlepp begrüßte nun Lena mit jener Förmlichkeit, die er angesichts der Tatsache, daß er bei Lena nichts zu hoffen hatte, nunmehr für angebracht hielt. Smitlepp grollte Lena nicht, obwohl er ja in den letzten Tagen deutlich herausgefühlt, daß sie Holky ihr reines Herz zugewandt hatte.

Auf dem Tische standen Gläser, Weinflaschen, Teller, Kompottschalen, Servierschüsseln. All das sah so harmlos aus: eine Gesellschaft von Ausflüglern, die soupiert hatte – nichts weiter scheinbar.

Holky hatte Lena an das obere Ende des Tisches geführt und nahm hier neben ihr Platz. Der berühmte Tegtläuter saß an ihrer rechten Seite.

„Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Fräulein Twordza,“ sagte der Kriminalkommissar sofort. „Ohne Ihre Beobachtungen wären wir nie auf die Villa Seeblick aufmerksam geworden. Herr von Holky wünschte nun durchaus, daß wir von einer Verhaftung der vier noch lebenden Mitglieder dieser Verbrechergemeinschaft vorläufig noch Abstand nehmen sollten. Mein Vorgesetzter hat hiervon nichts wissen wollen. Wir werden also noch heute zupacken.“

„Leider!“ meinte Holky. „Ich fürchte, Sie werden insofern eine Enttäuschung erleben, als die vier niemals gestehen dürften, was sie eigentlich vorhatten. Das Motiv wird in Dunkel gehüllt bleiben. Das ist dann halbe Arbeit.“

Links von Holky saßen Friedchen Adomeit und Jakob van Dymen. Während Tegtläuter jetzt Lena gegenüber das Verlangen der Polizei, die Verbrecher schleunigst hinter Schloß und Riegel zu bringen, zu rechtfertigen suchte, horchte Holky mit halbem Ohr auf die Unterhaltung zwischen der Adomeit und dem Maler hin.

Plötzlich nannte van Dymen den Namen Gürtler. Es mußte in besonderem Zusammenhang geschehen sein, denn Frieda Adomeit rief leise:

„Dann war sie also zweimal verheiratet?“

„Ja, zuerst mit einem Amerikaner, dann nach kurzer Ehe mit dem Schiffskapitän van Dymen.“

Holkys Kopf fuhr nach links.

„Verzeihung,“ meinte er, „um Ihre Mutter handelt es sich, Herr van Dymen?“

„Ja. Wir, Fräulein Adomeit und ich haben soeben festgestellt, daß wir Base und Vetter sind. Meine Mutter war die Schwester der Mutter Fräulein Adomeits, eine geborene Gürtler.“

Holky schwieg. In seinem Kopf war ein förmlicher Aufruhr entstanden. – Also war hier abermals eine Verwandtschaft festgestellt. Sollte nicht auch Helmer mit zu dieser weitverzweigten Verwandtschaft gehören?

Holky hatte ihm gegenüber den Namen Gürtler bisher nicht erwähnt. Er wollte es jetzt nachholen, stand auf und nahm den Lehrer, der durch den Aufenthalt in Berlin und durch das dauernde Beisammensein mit dem genußhungrigen, leichtlebigen Holländer bereits sein steifleinenes Wesen etwas abgestreift hatte, beiseite.

„Eine Frage, Herr Helmer. War Ihre Mutter vielleicht eine geborene Gürtler?“ meinte er leise.

Helmer wurde rot. „Ja – hm – ja. Das stimmt.“

Holky merkte, daß hier irgend etwas nicht stimmte.

„Hatte es mit der Ehe Ihrer Eltern etwas besonderes auf sich? Bitte – sprechen Sie ganz offen. Es ist von größter Wichtigkeit, daß ich diese Dinge genau kenne.“

„Es kostet mich einige Überwindung, meine Familienverhältnisse zu erwähnen, Herr von Holky,“ erklärte Helmer widerwillig. „Anderseits sehe ich ein, daß ich nicht schweigen darf. Mein Vater war Seemann, Steuermann auf einem Dreimaster. Er verheiratete sich zuerst mit einer kränklichen Verwandten, die sehr bald starb. Dann lernte er auf einer Seereise in New Orleans in Amerika meine Mutter, die Tochter eines deutschen Auswanderers namens Hermann Gürtler, Minna, kennen und schloß mit ihr die Ehe vor dem deutschen Konsul in New Orleans. Hermann Gürtler besaß dort eine kleine Bootswerft. Mein Vater gab seinen Seemannsberuf auf und arbeitete mit auf der Werft. Noch vor meiner Geburt erregte jedoch das Betragen meiner Mutter derart seinen Unwillen – sie war sehr gefallsüchtig und kokettierte auch mit anderen Männern, daß er New Orleans verließ und wieder zur See ging. Ein halbes Jahr darauf erfuhr er, daß meine Mutter an einer Gelbfieber-Epidemie sechs Wochen nach meiner Geburt verstorben war. Er holte mich aus dem Hause meines Großvaters ab und nahm mich mit nach Deutschland. Später wurde er in Swinemünde Seelotse.“

Holky dachte eine Weile nach. Dann rief er Frieda Adomeit ebenfalls herbei.

„Sind Sie über die Verwandten Ihrer Mutter genauer unterrichtet?“ fragte er. „Insbesondere über die Kinder Ihres Großvaters Hermann Gürtler?“

„So ziemlich, Herr von Holky.“ Friedchen hatte Wein getrunken und war noch gesprächiger als sonst. „Der Großvater Hermann hatte zuerst das Restaurant in der Borsigstraße in Berlin. Im ganzen waren fünf Kinder da, zwei Söhne und drei Töchter. Vor etwa fünfunddreißig Jahren wanderte er nach New Orleans aus. Nur der älteste Sohn, Linas Vater, blieb in Berlin und übernahm später das bis dahin verpachtete Restaurant. Meine Mutter, Auguste mit Namen, war dreimal verheiratet. Die dritte Ehe schloß sie mit meinem Vater, der Steward auf einem Passagierdampfer war. Ich bin ihr einziges Kind. – Von diesen Verwandten haben wir nur wenig gehört. Die Schwestern und der ältere Bruder meiner Mutter starben frühzeitig, und der jüngere Bruder ist verschollen.“

„Halt, – wie hieß er?“

„Friedrich Franz Otto Gürtler.“

„Wissen Sie, wo die Familie Gürtler herstammt? Waren es Berliner? Oder zog erst Ihr Großvater Hermann nach Berlin?“

„Ja. Die Gürtlers waren ursprünglich Bauernhofbesitzer in der Nähe von Mentzig, einem kleinen Städtchen in –“

Sie hielt inne. „Was haben Sie, Herr von Holky! Sie machen ein so komisches Gesicht,“ sagte sie dann erstaunt.

„Was ich habe? Das Motiv habe ich gefunden! Aber das bleibt unter uns!“

Holkys Augen leuchteten. Die drei kehrten an den Tisch zurück.

Eine Viertelstunde später begleitete Holky Lena nach dem Segelboot hinab, kettete es los und reichte ihr dann die Hand.

„Tun Sie also genau, was ich Ihnen geraten habe,“ sagte er innig. „Dann wird man Ihnen nichts anhaben können!“

Er reichte ihr ein kleines Päckchen.

Das Segelboot glitt von dannen. Holky winkte Lena noch lange zu.

Seine Augen schienen zu träumen. Ein seltenes Lächeln umspielte seinen Mund.

Dann hinter ihm John Smitlepps Stimme:

„Ich glaube, lieber Holky, Sie haben Ihre Weiberverachtung begraben. – Wissen Sie, dieses Mädel würde auch ich heiraten. Aber sie nimmt mich ja nicht!“ Er machte ein drollig-verzweifeltes Gesicht und faßte Holky unter, zog ihn die Stufen zur ersten Terrasse empor und fügte hinzu: „Ihnen gönne ich sie, Holky! Nur Ihnen!“

 

12. Kapitel.

Lena betrat den Garten der Villa Seeblick durch die Seitenpforte. Es war jetzt ¼10. Im Westen strahlte der Abendhimmel in wunderbarem Rot-Violett. Ein paar Wölkchen hingen im Äther wie rosige Farbenkleckse.

Lena schritt die Obstbaumallee entlang bis zum Ende des Gartens. Sie hatte sich vorher argwöhnisch umgeschaut. Sie handelte genau nach Holkys Weisung. Aus dem Paket hatte sie ein Stückchen Kaninchenfell, das an einen Bindfaden gebunden war, herausgenommen und zog es nun an dem Bindfaden hinter sich her bis zum letzten Obstbaum, warf es dann über den ersten Ast, und die Schnur wand sie um den Stamm.

Sie wußte nicht, daß das Stückchen Fell mit der frischen Witterung einer läufigen Hündin eingerieben war und daß Holky auf diese Weise die Wolfshunde hier am Ende des Gartens festhalten wollte. Die Tiere würden den Baum belagern, würden für nichts anderes Interesse haben. Hierauf konnte sich Holky verlassen.

Dann betrat Lena die Villa und ging in das Herrenzimmer, wo Markberg im Schreibsessel vor Lianes Photographie saß.

Lena schien er plötzlich um Jahre gealtert zu sein. Er wandte schwerfällig den Kopf.

„Ich wollte Dir gute Nacht sagen,“ erklärte sie kühl. „Ich habe sehr starkes Kopfweh. Gib mir doch bitte eins meiner Pulver, aber eines von denen, die auch Morphium enthalten. Ich möchte morgen früh recht frisch sein. Smitlepp will sein neues Motorboot erproben und mich mitnehmen.“

Er holte das Schächtelchen mit den Pulvern aus seinem Schlafzimmer, reichte es ihr und schaute sie seltsam ernst, fast traurig an. Sein Haß war zerflattert, seit er wußte, wem zu Liebe er zum Mörder geworden und wer ihn moralisch selbst so tief hinabgezerrt hatte, daß er Lena auf so schändliche Weise hatte loswerden wollen.

„Wir sind uns fremd geworden, Lena,“ sagte er weich. Wie alle Verbrecher neigte auch er in gewissen Momenten zur Rührseligkeit. „Hast Du irgend etwas gegen mich? Sprich Dich doch aus –“

Lena erwiderte kurz: „Ein andermal. Gute Nacht.“ – Auch heute gab sie ihm nicht die Hand. Sie hatte es in den letzten Tagen immer mehr vermieden. Heute graute ihr vor diesem Manne, der ihr nach dem Leben getrachtet hatte. Sie war ihm durch nichts verpflichtet.

Sie besaß eigenes Vermögen und trug zu den Kosten des Haushalts ihren Teil bei.

Langsam verließ sie das Zimmer. Sie fühlte, daß Markberg ihr nachschaute. –

Zehn Uhr. – Engel stand wartend vor dem bereits weit geöffneten Torweg. – Die Marchesa, stets pünktlich, traf auch wenige Minuten nach zehn in ihrem Auto wieder ein. Wieder lenkte sie es selbst. Im Innern saß Anita.

Der Kraftwagen hielt vor dem Seiteneingang. Die Frauen schlüpften rasch ins Haus. Manfred Engel brachte das Auto in die Garage und ließ die Hunde frei. Als er in den Flur kam, als er die Tür hinter sich verschlossen hatte, flog Anita mit einem Jubelruf auf ihn zu, umschlang ihn, küßte ihn.

Er stand da, starr und steif. Ekel quoll in ihm hoch.

Anita zog ihn in Roderichs Zimmer, schaltete das Licht ein. – Neue Küsse – widerliche Komödie!

Engel war klug. Ihr durfte seine Kälte nicht auffallen.

„Ich fühle mich krank,“ meinte er. „Seit Mittag habe ich hier Stiche –“ – Er deutete auf seinen mächtigen Brustkasten.

Sofort war Anita ganz Teilnahme und Sorge. „Ich hole Dir ein Glas Wein – warte!“

Wein – Wein – vielleicht Gift! – Engel krampfte die Hände zusammen.

Anita kam.

„Da – trink’, Fredi! Es wird Dir gut tun –“ – Sie streichelte ihm die Wangen.

Seine Augen ruhten starr auf dem Tablett, auf dem vollen Glase. Rubinrot funkelte der Wein.

„Trink’ Du erst, Anita! Wir teilen!“ sagte er heiser und belauerte ihr Gesicht.

Ah – blaß – plötzlich blaß.

„Ich – ich mag keinen Rotwein, Fredi!“

Da faßte er das Glas.

„Trink!“ – Pause. – „Trink’, oder – oder ich mache es mit Dir ebenso, wie Du’s mit Roderich Abner gemacht hast!“

Anita zitterte.

Eine kurze Handbewegung Engels, und der Wein flog ihr in die verzerrte Dirnenfratze.

Dann ein Sprung, ein schwacher Schrei. Engels Bärentatzen umkrallten ihren Hals. Er warf sie auf das Bett, warf sich über sie.

Der Kampf war kurz. Anita blieb leblos auf dem zerwühlten Bett liegen. –

Im Herrenzimmer hatte es zwischen Liane und Markberg eine ähnliche Begrüßung gegeben, nur daß Markberg besser zu heucheln verstand. Außerdem hatte auch Lianes stürmische Zärtlichkeit seinen Widerwillen und sein Mißtrauen etwas abgeschwächt.

Sie saßen jetzt auf dem Klubsofa eng aneinandergeschmiegt.

Die Tür hatte sich lautlos geöffnet.

Engel war leise eingetreten, stand still, beobachtete die beiden. Dann lachte er auf. Es war ein schrilles, wahnwitziges Gelächter, das auf Liane und Markberg wie ein Schwertstreich wirkte. Sie fuhren empor.

„Küßt Euch nur!“ Engels Anblick war furchtbar. Er glich einem dem Irrenhause Entsprungenen. „Küßt Euch nur! Anita hat – hat ausgeküßt! Ich habe sie erwürgt.“ Er hob die Athletenkrallen. „Hiermit erwürgt, weil sie mich vergiften wollte! – Hörst Du, Anton, vergiften! Nun sind wir nur noch drei, die sich die Milliarden Friedrich Gürtlers zu teilen brauchen!“

– Im dunkeln Flur hinter der offen gebliebenen Tür waren zwei Gestalten aufgetaucht: Holky und Tegtläuter.

„– Die drei Erben haben wir kaltgemacht, die sich auf keinen der Zeitungsaufrufe gemeldet haben! Das Testament haben wir aus dem Gerichtsgewahrsam in Mentzig gestohlen und verbrannt, weil darin die schöne Marchesa ihres noch schöneren Lebenswandels wegen ausdrücklich enterbt war. Nun erbst Du doch, Liane! Du bist ja die letzte geborene Gürtler! Die drei anderen sind – futsch!“ Er lachte noch schriller.

Liane flüsterte Markberg etwas zu:

„Hier – rasch, mein Revolver! Schieß’! Er ist wahnsinnig geworden! Schieß’, damit wir –“

Markberg schlug ihre Hand beiseite. Der Sinnentaumel war verflogen.

„Nein – niemals!“ rief er und trat rasch hinter dem Tische hervor. „Ein Mord ist übergenug für mein Gewissen! – Liane, auch Du hast gemordet, Du nahmst mir den einzigen Freund – durch Anita. Du hast mit eigener Hand Gisbert Balk beseitigt. Das – das ist zu viel Blut des elenden Geldes wegen!“

Liane lächelte.

„Was redest Du da von Gewissen Anton?! Kindereien sind das!“ – Sie spielte mit dem blanken kleinen Revolver.

Tegtläuters Signalpfeife schrillte im Flur. Fensterscheiben klirrten. Leute drangen ins Zimmer.

Die Marchesa hatte rasch die Waffe gehoben. Ein dünner Knall.

Sie sank auf das Sofa zurück. Aus dem kleinen Loch in der Schläfe rann ein dünner Blutfaden über das entfärbte Gesicht.

– – – – – – – –

Friedrich Gürtlers Reichtümer fielen den drei Todgeweihten zu. Van Dymen heiratete sehr bald Antje.

Und Frieda Adomeit einen Baron Güllenstamm, einen Baron von Habenichts. Sie wollte durchaus Baronin werden. Es entsprach ihrem ganzen Charakter. Hermann Helmer wird wohl Junggeselle bleiben. Er ist nach Berlin gezogen, spielt Rentner und gibt sich die redlichste Mühe, einen Lebemann vorzutäuschen. Holky und Lena sind als junges Ehepaar sehr glücklich, wie vorauszusehen war. Die Villa Seeblick gehört jetzt einem Herrn Raffke, und Markberg und Engel dürften nach einigen Jahren das Zuchthaus als für immer gebessert verlassen.

 

Ende.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht „etwas“.
  2. In der Vorlage steht „ein“.
  3. Etwa eine viertel Textzeile ist hier unleserlich. Text sinngemäß ergänzt.
  4. Anny Wohte, 1858–1919, Unterhaltungsschriftstellerin. Siehe auch Wikipedia: Anny Wothe.
  5. Hier zeigt sich die Kritik Kabels an der Unterhaltungsschriftstellerei der vorigen Generation, deren Prototyp für ihn Anny Wohte ist. Im Geist der „Neuen Sachlichkeit“ verlangt Kabel auch hier Realismus.