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Die Wölfe der Parker-Insel

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, (1919.)

 

Die Wölfe der Parker-Insel.[1]

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Die Auswanderer.

Die beiden mächtigen Wagen, auf denen die Familie Balzer alle für die Gründung der neuen Niederlassung notwendigen Dinge mitsichführte, hatten gegen Mittag eines angenehm warmen Augusttages des Jahres 1905 den letzten der nur durch ein paar Räderspuren gekennzeichneten Weges verlassen, die hier an der Südgrenze des zu Kanada gehörenden Territoriums Athabaska den Eindruck eines bewohnten, kultivierten Landes leider nur vortäuschten.

Das an der Spitze des kleinen Zuges reitende Familienoberhaupt, der frühere deutsche Gutsbesitzer Karl Balzer, den allerlei unglückliche Umstände aus der Heimat vertrieben hatten, wandte sich jetzt an seinen jüngeren Sohn, einen kräftigen, etwa fünfzehnjährigen Knaben, der wie er im Sattel eines starkknochigen Braunen saß, und sagte mit ein wenig trübem Gesicht:

„Weiß der Himmel, was uns nun die Zukunft bringen mag! Wir sind jetzt ganz allein auf uns angewiesen. Von hier aus bis zum Murray-Fluß, an dem unser von der Regierung Kanadas uns zugewiesenes Ansiedlungsland liegt, gibt es keine menschliche Wohnstätte mehr, nicht einmal eine Faktorei der Hudsonbaikompagnie, die hier ja fast den ganzen Innenhandel mit Naturprodukten beherrscht, vielleicht nur noch ein paar Blockhäuser von Pelzjägern und Indianern, die aber selbst auf meiner genauen Karte unserer neuen Heimat nicht verzeichnet sind. Für uns heißt es nun also: Selbst ist der Mann! – Wir hätten es natürlich viel leichter gehabt, die Wegschwierigkeiten zu überwinden, wenn die beiden verdammten Rothäute uns nicht gestern abend unter Mitnahme von zwei Büchsen ausgerissen wären, da diese Chepewyans, deren Stamm mit zum großen Volke der Athabaska-Indianer gehört, in dieser Gegend zu Hause sind und uns Neulingen manchen wertvollen Rat hätten geben können.“

Otto Balzer, das jüngste der vier Kinder des deutschen Auswanderers, zeigte eine weit zuversichtlichere Miene als der Vater und erwiderte nun in seiner frischen, kecken Art:

„Wir können froh sein, daß wir die beiden Roten so billigen Kaufs losgeworden sind, meine ich. Sie hätten uns auch noch mehr stehlen können. Ein Glück, daß ich freiwillig bei den Pferden und dem Vieh gewacht hatte, Vater, sonst hätten die Burschen sicherlich noch etwas von den Tieren mitgehen heißen. Ich traute ihnen gleich nicht recht, als Du sie in der Stadt Viktoria am Saskatchewan mietetest. Sie betranken sich ja schon am ersten Tage unserer Reise so arg, daß wir sie in den Gerätewagen legen mußten. – Du hast ganz recht, Vater: Selbst ist der Mann! Wir drei, Du, Bruder Wilhelm und ich, werden uns schon durchschlagen! Sei doch froh, Vater, daß wir gerade hier nach Kanada gegangen sind, wo so vieles in dem Landschaftsbild uns an das deutsche Vaterland erinnert. Sieh nur dort die schönen Fichten, die Eichen und Ahornbäume! Mir ist’s, als grüßt uns durch sie die alte Heimat.“

Karl Balzers Gesicht hellte sich auf, als er in das gebräunte, heitere Antlitz seines Jüngsten schaute, dem man es deutlich anmerkte, wie sehr ihm dieses freie, ungebundene Leben als Mitglied eines Auswandererzuges gefiel, – weit mehr als die vielen lateinischen Regeln, die er noch vor einem halben Jahr als Tertianer in seinen nur zu abenteuerlustigen Kopf sich hatte eintrichtern müssen.

„Mein Junge, Du bist wirklich für uns mehr wert als ein landeskundiger Führer mit Deinem frischen Wagemut und Deiner glücklichen Art, bei schwerfälligeren Naturen alle Sorgen zu zerstreuen! Hast auch jetzt wieder Deinem Vater die allzu ernsten Gedanken über die nächste Zukunft verscheucht.“

Von rückwärts her erschallte jetzt die ärgerliche Stimme des älteren der Brüder, der die aus acht Rindern und zehn Schafen bestehende kleine Herde hinter den Wagen hertrieb.

Otto gab sofort seinem Pferde ein wenig die Sporen zu kosten und sprengte dem Bruder zu Hilfe, der schon wieder seine liebe Not mit dem widerspenstigen Bullen hatte, dessen Ausbrechergelüste durch keinerlei Mittel zu unterdrücken waren.

Auch jetzt hatte das störrische und ebenso angriffslustige Tier ganz plötzlich sich in Trab gesetzt und war einem links des Weges sich hinziehenden Tale zugelaufen, das ihn wahrscheinlich mit seinen frischgrünen Grasflächen zu dieser neuesten Extratour verlockt hatte.

Wilhelm Balzer, der in allem das Gegenstück des um drei Jahre jüngeren Bruders, nämlich für seine achtzehn Jahre körperlich sehr zurückgeblieben, dabei eine recht unpraktische, nur für die edlen Künste, besonders die Musik, begeisterte Natur war, ritt einen trägen, schwerfälligen Falben, auf dem sich selbst der schlechteste Sonntagsreiter durchaus sicher und behaglich gefühlt hätte.

Um dem eigensinnig dahintrabenden Bullen den Weg nach dem Tal abzuschneiden, hatte er sein Pferd, das Otto stets in seiner witzigen Art „Prärieschnecke“ zu nennen pflegte, den Ausreißer überholen lassen, warf es nun herum und feuerte dicht vor dem Bullen drei Revolverschüsse in die Erde, in der Hoffnung, dieser würde daraufhin schleunigst kehrtmachen.

Doch gerade das Gegenteil trat ein.

Das riesige, tückische Tier, eine Kreuzung des nordamerikanischen Büffels und des langgehörnten mexikanischen Rindes, verstand die Knallerei falsch, faßte sie als Herausforderung auf, senkte plötzlich den dicken Schädel und schoß nun im Galopp auf den Reiter zu, der eines solchen Angriffs nicht gewärtig und auch nicht erfahren genug, ihm auszuweichen, vor Schreck regungslos mit seinem Falben an derselben Stelle verharrte.

Hätte nicht die Prärieschnecke in diesem kritischen Moment mehr Geistesgegenwart als ihr Herr gezeigt, wäre dieser Zwischenfall wohl recht übel abgelaufen. Der Falbe sprang gerade noch zur Seite, bevor die langen Hörner ihn fassen konnten, erhielt trotzdem aber noch einen solchen Stoß von des Bullen Hinterleib gegen die Brust, daß er sich überschlug und Wilhelm halb unter sich begrub.

Otto hatte dem Bruder vergeblich ein warnendes: „Zur Seite ausbiegen!“ zugerufen, brachte nun sofort seinen Braunen zum Stehen, sprang ab und zog Wilhelm unter dem aus Faulheit wie betäubt daliegenden Falben hervor. Kaum hatte er aber gesehen, daß der Bruder ohne ernstlichere Verletzung davongekommen war, als er sich auch schon in den Sattel schwang und dem Bullen nachjagte, fest entschlossen, diesen niederzuschießen, um endlich den Belästigungen ein Ende zu machen, denen der Auswandererzug durch das störrische Vieh immer wieder ausgesetzt war. Zu diesem kurzhändigen Verfahren, den Bullen für alle Zeit loszuwerden, glaubte er sich um so eher berechtigt, als der Vater selbst schon geäußert hatte, er wolle den gefährlichen Störenfried lieber opfern, als durch ihn die Fortsetzung der Reise immer aufs neue für Stunden verzögern lassen.

Der Bulle schien zu ahnen, daß es sich für ihn jetzt um Sein oder Nichtsein handelte, raste in Karriere dahin und ließ des öfteren ein wütendes Schnauben hören.

Otto wollte trotz allem nochmals versuchen, die eigensinnige Bestie zur Vernunft zu bringen. Seine Büchse lag in einem der Wagen, und er hatte nur als Schußwaffe seinen schweren, langläufigen Revolver bei sich, den man auch stets im Besitz jener unter dem Namen Cowboys bekannten Viehhüter der großen Hazienden der westlichen Bundesstaaten der Union antrifft. Im vollen Jagen zog er nun aus zwei Revolverpatronen mit den Zähnen die Kugeln heraus und stopfte auf das lose in der Patronenhülse befindliche Pulver einen Pfropfen aus einem Fetzen seines an den Enden schon arg zerrissenen seidenen Halstuches.

Nun befand er sich vor dem Bullen, galoppierte noch einige dreißig Meter weiter, riß den Braunen dann herum und empfing das heranstürmende Tier mit gellendem Geschrei.

Der Bulle schien taub zu sein. Da hob Otto den rechten Arm, drängte sein Pferd ein wenig zur Seite und feuerte dem Ausreißer beide Pulverladungen in die Weichteile des Maules.

Der Bulle hatte auf die beiden Schüsse hin einen Satz seitwärts getan, war stehengeblieben und musterte jetzt den menschlichen Feind mit tückischen Augen.

Urplötzlich setzte er sich dann in Bewegung, raste auf Otto zu, der jetzt absichtlich die Flucht ergriff, um seinen vierbeinigen Verfolger durch List wieder in die Nähe der Wagen zurückzubringen.

Inzwischen war er aber längst bei dieser Hetze in das grüne Tal gelangt, wollte nun zunächst den Bullen durch einen Umweg ermüden und hielt auf das andere Ende der langgestreckten Bodensenkung zu, deren Ränder teilweise felsig waren und in der auch hier und da kleine Felspartien zu Tage traten.

Der riesige Angreifer, durch die schmerzenden Verletzungen seines Maules noch mehr gereizt, bewies jetzt jedoch, daß er es trotz seines massigen Körpers an Schnelligkeit mit einem Pferde recht gut aufnahm. Immer dichter hörte Otto das brummende Schnauben des Bullen hinter sich. Da gab er seinem Braunen die Sporen. Er tat’s nicht gern. Nur selten nahm er zu den scharfen Sporenrädchen seine Zuflucht, und dies auch nur in schonendster Weise, da das lebhafte Pferd einer solchen Aufmunterung kaum bedurfte.

Der Braune streckte sich ganz lang, als er den Schmerz in den Weichen spürte. Er mochte ahnen, daß jetzt Gefahr im Verzuge wäre. Noch nie hatte das brave Tier derart seine Kräfte angestrengt wie jetzt. In wenigen Sekunden war Otto aus dem Bereich des hinter ihm drein keuchenden Verfolgers, lenkte den Braunen kurz um ein paar mit verkrüppelten Kiefern bestandene Felsen herum, zog die Zügel an und ließ ihn in elegantem Sprung auf einen der oben abgeplatteten Felstrümmer setzen, wo er sofort aus dem Sattel glitt, sich umwandte und den Feind mit schußfertigem Revolver erwartete.

Doch – der Bulle erschien nicht. Da schlich Otto schnell nach der anderen Seite des Felsens hin, schaute nach der rachsüchtigen Bestie aus und – ja, er traute seinen Augen nicht! – sah sie keine zehn Meter entfernt friedlich grasen.

Bevor er sich jedoch darüber klar geworden, was in aller Welt den vierbeinigen Gegner zu dieser plötzlichen Friedfertigkeit gebracht haben könnte, fühlte er sich mit einem Male von hinten von zwei kräftigen Armen umschlungen, während ihm gleichzeitig eine rauhe Stimme in miserablem Englisch ins Ohr brüllte:

„Still gehalten! Keinen Widerstand, oder Du bekommst ein Messer zu kosten! Hier ist Ato Matu, die schwarze Krähe, und auch mein Bruder Sikatou, der graue Wolf, hält sein Beil zum Schlage bereit!“

Ato Matu – Sikatou – das waren ja die beiden diebischen Rothäute vom Stamme der Chepewyans, die der Vater als Führer und Farmarbeiter gemietet gehabt hatte! – Blitzschnell überlegte der Knabe sich weiter, daß die beiden offenbar den Wagen heimlich gefolgt waren, um Gelegenheit zu einem neuen Diebstahl oder sonst einem Schurkenstreich zu finden.

Der erste Schreck war schnell vorüber. Helle Wut packte jetzt den kräftigen Jungen. Mit diesen dem Trunk ergebenen Roten wollte er schon fertig werden! Freilich – zunächst hieß es, sich in das Unabänderliche fügen! Denn man konnte ja nicht wissen, ob die Halunken nicht vielleicht ihre Drohung wahrmachten und wirklich mit dem Messer zustießen.

Otto verhielt sich daher ganz regungslos, ließ sich Revolver und Messer abnehmen und auch die Arme nach hinten auf dem Rücken zusammendrücken.

Dann jedoch – er wußte ja, daß die beiden Chepewyans ihn nun fesseln würden! – machte er ganz unversehens einen Satz nach vorwärts, kam auch wirklich frei und sprang durch die Zweige der Krüppelkiefern hindurch auf den Grasboden des Tales hinab, stolperte, fiel – und spürte auch sofort die Last eines menschlichen Körpers auf seinem Rücken, hatte dann das Empfinden, als würde ihm eine glühende Eisenspitze zwischen die Rippen gebohrt, merkte, wie seine Sinne schwanden, vernahm noch den scharfen Knall einer Büchse und – verlor völlig das Bewußtsein.

 

2. Kapitel.

Der rote Trapper.

An demselben Tage, als die deutschen Auswanderer abermals durch den störrischen Bullen in sehr unerwünschter Weise aufgehalten wurden, näherte sich ebenfalls um die Mittagstunde jenem Tale, in dem Otto Balzer nachher von den beiden Rothäuten überfallen wurde, von Norden her im Trab ein einzelner Reiter, dessen hochbeiniges Maultier bereits recht bedenkliche Spuren starker Ermüdung zeigte und doch von seinem Herrn immer wieder durch freundliche Zurufe zur Hergabe der letzten Kräfte angefeuert wurde.

Dieser Reiter, ein kleiner, sehniger Mann mit rotem Bart und rotem Kopfhaar, trug einen Wildlederanzug, einen durchlöcherten Filzhut und als Waffen eine Doppelbüchse, zwei Revolver, ein langes Jagdmesser und ein indianisches Wurfbeil mit sehr zierlich gearbeitetem Stiel. Die dicke, bläulich schimmernde Knollennase, die über einem Munde von allzu anspruchsvoller Breite lag, erregte sofort den Verdacht, daß ihr Besitzer geistige Getränke mehr als Quellwasser schätzte.

Der Reiter spähte immer wieder nach allen Seiten aus, während er, einem Waldrande folgend, dem Tale zutrabte. Sein Maultier stolperte oft, sowohl vor Ermattung als auch deshalb, weil ihm um die Hufe Stücke einer gestreiften Pferdedecke gebunden waren, die nur den Zweck haben konnten, jede Fährte tunlichst zu vermeiden.

Nun lenkte der Rotbart in das Tal ein, nun zog er plötzlich die Zügel an, drückte sein Maultier dann hastig zwischen ein paar Büsche, sprang ab und raunte ihm zu, als ob er mit einem menschlichen Wesen spräche:

„Lotte, da vor uns krauchen zwei rote Lumpenhunde durch das Gras! Wette, die Schufte führen Böses im Schilde. Will mal nachsehn, was. Bleib’ hier stehen, Lotte, und rühr’ Dich nicht vom Fleck.“

Er benutzte die deutsche Sprache zu dieser kurzen Erklärung, und kerndeutsch war nun auch der Ausruf, der ihm über die Lippen schlüpfte, als er vorsichtig durch das Gebüsch nach den beiden Rothäuten ausspähte.

„Schockschwerebrett – ein Junge, verfolgt von einem Rindvieh! – Meine Nase soll sofort weiß wie Schnee werden, wenn die Roten es nicht auf den kleinen Burschen da vorn abgesehen haben! – Ah – jetzt biegt er um die Felsen herum! Ein feiner Sprung! – Schade, die weitere Beobachtung ist mir versperrt! Also näher heran!“ –

So fügte es das Schicksal, daß der einsame Reiter gerade dazukam als Ato Matu dem Knaben von hinten das Messer in die Rippen stieß.

Ato Matus Strafe folgte sofort. Ein Knall – und er brach mit einer Kugel im Schädel zusammen. Sikatou aber schlüpfte wie eine Schlange in einen Buschstreifen hinein und entging so der ihm zugedachten zweiten Kugel.

Der Rotbart, der bereits auf ihn angelegt hatte, ließ die Büchse wieder sinken, brummte vor sich hin: „Sparen wir die Patrone! Es genügt, daß der eine ausgelöscht worden ist.“

Dann bemühte er sich um den Verwundeten. Nach einer Weile nahm er ihn in die Arme, hob ihn in den Sattel des Braunen, der inzwischen von selbst von der Plattform des Felsens herabgesprungen war, und brachte ihn nach dem Gebüsch hin, wo das Maultier regungslos auf seinen Herrn gewartet hatte.

Nachdem er nun auch Ottos Reitpferd die Hufe umwickelt hatte, verschwand er, den Braunen am Zügel nehmend und den noch immer ohnmächtigen Jungen stützend, damit dieser nicht aus dem Sattel herabglitt, in dem Walde, der sich östlich des Tales in endlose Weite fortsetzte. –

Als der wackere deutsche Junge nach vierzehntägigem schweren Wundfieber endlich wieder mit bewußtem Blick seine Umgebung musterte, glaubte er zuerst, sein fieberglühendes Hirn gaukele ihm dieses Bild lediglich vor – diese enge Schlucht, umgeben von hochragenden düsteren Tannen, diesen kleinen, rauschenden Wasserfall dort rechts und diese kleine Blockhütte, neben der er auf einem Lager von weichen Fellen ruhte, während zu seiner Linken wieder sein Brauner und ein hochbeiniges, kräftiges Maultier das saftige Gras des Schluchtbodens abrupften.

Der Knabe dachte jetzt unwillkürlich an irgend eine Indianergeschichte, die er einst gelesen hatte und in der ein ähnlicher Felsenkessel als Schlupfwinkel weißer Buschklepper beschrieben war.

Sehr bald schlief er wieder ein. Als er dann erwachte, fühlte er sich schon stark genug, sich aufzurichten und nunmehr mit ruhiger Sachlichkeit alles ringsum zu prüfen. Jetzt erinnerte er sich auch dunkel, in letzter Zeit ein von einem roten Haarwald umrahmtes Gesicht wiederholt in lichteren Augenblicken bemerkt zu haben, das stets mit sorgender Miene sich über ihn gebeugt hatte. Jetzt stellte er weiter fest, daß die Sonne nur noch einen Teil der einen Schluchtwand beschien und erkannte an der rötlichen Färbung der einen Seite des Himmels, daß der Abend nahte. Nun verspürte er auch deutlich in seiner Brust ein leises Stechen, sah seine abgezehrten Hände und reimte sich schnell zusammen, daß er sehr, sehr lange schwerkrank danieder gelegen haben müsse.

Während nun in seiner Erinnerung die letzten ihm noch gegenwärtigen Erlebnisse – die Verfolgung durch den Bullen und der Überfall durch die beiden Rothäute – immer deutlicher hervortraten, hörte er in der Blockhütte ein Geräusch, wandte den Kopf und erblickte sehr bald den rotbärtigen Mann, der, wie er sich schnell klarmachte, sein Retter geworden.

Gleich darauf saß dieser neben ihm und reichte ihm einen mit warmer Fleischbrühe gefüllten Zinkbecher.

„Trink’, mein Junge! Das tut besser als ne ganze Apotheke,“ meinte der Fremde gutmütig.

Otto horchte hoch auf. Deutsche Worte – seine Muttersprache! Welche Freude! – Er wollte etwas erwidern, doch der Rotbärtige erklärte bereits sehr nachdrücklich, Otto dürfe vorläufig auf keinen Fall die beschädigte Lunge irgendwie anstrengen.

Erst am nächsten Tage erzählte der Bewohner der Blockhütte dem Knaben dann, was mit ihm inzwischen vorgegangen war.

„Daß Du nicht allein hier in der Wildnis herumstrolchtest, konnte ich mir schon denken, mein Junge,“ sagte er unter anderem. „Leider hatte ich aber selbst damals vor zwei Wochen eine Horde verdammter Schlingel hinter mir, die es auf Barbroß’ Leben – Barbroß, das ist nämlich hier mein Name – abgesehen hatten. Es waren ihrer acht, die mich auslöschen oder doch jedenfalls fangen wollten, und daher konnte ich mich nicht damit aufhalten, Deine Leute zu suchen, die wir später schon noch finden werden. Ich nahm Dich also mit hier nach meinem Fuchsloch, wo nicht so leicht jemand den alten Barbroß aufstöbern wird, es müßte denn gerad’ einer von den Rothäuten sein, die noch nicht von der Kultur sich allen Spürsinn haben ablecken lassen, und die sind sehr selten geworden im schönen Kanada. – So, mein Junge, das wären so die Hauptsachen. – Ich selbst bin Deutscher, geborener Brandenburger, und seit einigen dreißig Jahren hier im Lande, erst als Maschinist in einem großen Sägewerk unten im Südosten am Ontario-See, dann als Trapper aus Liebe zu der friedlichen Einsamkeit der endlosen Wälder und weiten Prärien, – denn auch letztere gibt’s in Mittelkanada zur Genüge. Was zwischen meiner Maschinisten- und Trapperzeit liegt, darüber spreche ich nicht gern. Es sind böse Erinnerungen für mich. – Wenn Du morgen ebenso gesunden Hunger wie heute gezeigt hast, darfst Du mir ebenfalls von Dir so einiges berichten. Bin gespannt, was ich hören werde.“

Nun – der Hunger war sehr gesund, und so erfuhr Barbroß denn auch von dem kleinen Landsmann alles Nötige über die Eltern, das Unglück des Vaters in der Heimat und über die beabsichtigte Niederlassung am Murray-Flusse südlich von Fort Mac Murrah.

Als Otto diesen Flußnamen nannte, schaute der Trapper überrascht auf, sagte aber nichts weiter.

Otto fragte nun den Rotbart, ob dieser ihn nicht bald zu den Eltern geleiten wollte. Barbroß schüttelte sehr energisch den Kopf und meinte, davon könnte vorläufig nicht die Rede sein; erst müßte Otto sich vollständig erholt haben; und das würde noch Wochen dauern.

An einem der nächsten Tage wieder bat der Junge seinen Retter dann um eine Erklärung für den merkwürdigen Trappernamen Barbroß, worauf der Pelzjäger erwiderte, Barbroß sei nichts anderes als eine Verstümmelung von Barbarossa, die von den Trappern herrühre, mit denen er häufiger zusammengekommen war. – Wie er in Wahrheit hieß, verschwieg er. Otto sollte ihn nur kurz auch Barbroß anreden, das sei ihm am liebsten, meinte er. –

Abermals vergingen nun vierzehn Tage, in denen der Junge sehr oft allein war und reichlich Zeit hatte, sich in der engen Schlucht und in der mit Fellen halb angefüllten Hütte gehörig zu langweilen, aber auch sich zu erholen. Barbroß war häufig abwesend und brachte dann stets frische Felle mit von kleinem Raubzeug, das er in Fallen gefangen hatte. Mit der Büchse wagte er nicht zu jagen, da er, wie er Otto erklärte, noch immer die Nachstellungen jener Banditen fürchte, die es aus besonderen Gründen gerade auf ihn abgesehen hätten. Deshalb verließ er auch stets nur nachts diesen Schlupfwinkel und lehnte Ottos wiederholte Bitten, ihn doch einmal mitzunehmen, immer mit der Begründung ab, diese Jagdausflüge wären zu anstrengend und zu gefährlich. Gerade letzteres aber reizte die Abenteuerlust des Jungen derart, daß er sich vornahm, Barbroß den Beweis zu liefern, wie überflüssig dessen Ängstlichkeit und Rücksichtnahme wären. Er beschloß dem Trapper heimlich zu folgen und ihm dann nachher mitzuteilen, daß er stets in seiner Nähe gewesen sei.

Sein Vorhaben gelangte ihm zunächst auch über Erwarten gut. Barbroß ahnte nicht, daß eine schlanke, geschmeidige Gestalt hinter ihm blieb, als er in der mondhellen Nacht dem versteckten Ausgang der Schlucht zuschritt.

Dieser Ausgang wurde durch eine Höhle gebildet, die sich wie ein Tunnel durch die linke Felswand der Schlucht in einer Länge von etwa fünfzig Meter hindurchzog und draußen vor einem sogenannten Windbruch endete, das heißt einem Haufen übereinander gestürzter, durch einen Orkan umgeknickter Stämme, durch die Barbroß eine Gasse mit der Axt gebahnt hatte, wobei er aber so vorgegangen war, daß es für einen Unkundigen ganz unmöglich blieb, in diesem wirren Durcheinander von Stämmen, Ästen und Zweigen den Zugang zu einer Höhle zu vermuten.

Otto, der am Tage schon einmal diesen Weg durch die Schluchtwand ohne Barbroß’ Wissen zurückgelegt hatte, fiel es nicht allzu schwer, auch in dieser Finsternis dem Trapper, der eine Harzfackel angezündet hatte, dicht auf den Fersen zu bleiben. Außerhalb des Windbruches war dies schon mit weit größeren Schwierigkeiten verknüpft, da das Gelände sich hier ziemlich steil abwärts senkte und mit dichtem Wald bedeckt war. Jedenfalls hätte Otto dieses nächtliche Unternehmen nie gewagt, wenn er nicht bereits seine früheren Körperkräfte inzwischen völlig wieder zurückerlangt hätte.

Nachdem der Wald in eine wellenförmige Prärie übergegangen war, aus der zahlreiche Buschinseln und auch recht ansehnliche Felspartien hervorragten, konnte Otto die Entfernung zwischen sich und Barbroß vergrößern, ohne fürchten zu müssen, ihn aus den Augen zu verlieren.

Der Pelzjäger durchwatete jetzt einen vielleicht fünf Meter breiten Bach und verschwand dann zwischen den Felsen einer im Mondlicht doppelt malerisch wirkenden Gruppe von riesigen Steinblöcken, zwischen denen schlanke Tannen und ein paar Eichen ihre Stämme hoch in die Luft reckten.

Als Otto nun gerade gleichfalls den Bach durchschreiten wollte, bemerkte er plötzlich, wie sich aus dem hohen Grase am anderen Ufer zwei Gestalten aufrichteten, die nun hinter Barbroß dreinhuschten.

Sofort duckte er sich ganz tief zwischen ein paar einzelne Sträucher und wartete, bis auch die beiden Männer, die dem Trapper doch offenbar hier aufgelauert hatten, zwischen den Felsen untergetaucht waren.

Dann erst schlich er, nun mit verdoppelter Vorsicht, weiter, erreichte auch glücklich die Steinkolosse und schlüpfte zwischen diesen hindurch, bis er zu seinem Erstaunen vor sich abermals denselben Bach erblickte, der sich hier nach mannigfachen Windungen durch die Felsen schlängelte und sehr bald einen kleinen, von Felsstücken und Tannen eng eingefaßten See bildete.

Der Mond beleuchtete gerade die Stelle, wo der bescheidene Wasserlauf in diesen See einmündete, beleuchtete auch deutlich die sehnige Figur des Trappers, der dicht am Ufer auf seine Büchse gelehnt scheinbar in tiefem Sinnen dastand. Dann bückte Barbroß sich, als wollte er irgend etwas aus dem Grase aufheben. In diesem Augenblick sah Otto, daß hinter Barbroß der Oberkörper eines Mannes über den Spitzen der Gräser erschien, daß dieser Mann den rechten Arm jetzt nach hinten bog und eine kreisförmige Bewegung über dem Kopfe beschrieb.

Blitzartig durchzuckte den Knaben der Gedanke, der Unbekannte würde einen Lasso nach dem Pelzjäger schleudern. Gewiß: der Lasso war bei dieser doch recht schwachen nächtlichen Beleuchtung nicht zu sehen. Aber – die Armbewegungen des Mannes ließen sich kaum anders deuten.

Und ebenso blitzartig sagte sich Otto auch, daß es nur ein Mittel gäbe, Barbroß vor diesem heimtückischen Angriff zu bewahren: einen lauten Warnungsruf!

Schon hatte er den Mund geöffnet, schon schwebte sozusagen der Ton bereits halb auf seinen Lippen, als sich etwas ganz Unvorhergesehenes ereignete.

Der Trapper, der sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte, tat urplötzlich einen Sprung zur Seite, schnellte sich gleichzeitig herum, riß die Büchse hoch und feuerte. Der Lassowerfer brach mit einem Schrei zusammen. Da hatte Barbroß auch bereits mit einem weiteren Satze das Ufer des kleinen Sees erreicht, wo eine Strecke weit dichtes Röhricht wucherte, beugte sich nun tief herab und nahm eine Körperhaltung an, als schiebe er ein dort verborgenes Boot mit aller Kraft durch das Schilf ins offene Wasser.

Der Pelzjäger ahnte nicht, daß er es mit zwei Gegnern zu tun gehabt hatte, die ihm gleich nahe gewesen waren und von denen er doch nur erst den einen unschädlich gemacht hatte.

Otto jedoch sah voraus, was nun folgen würde. Und wirklich! Unweit der Stelle, wo der Lassowerfer umgesunken war, tauchte jetzt der zweite Mann auf, hob ganz gemächlich seine Büchse und zielte auf den mit dem Rücken nach ihm hin gebückt Dastehenden.

Der Knabe, dessen großer amerikanischer Revolver damals in jenem Tale von Barbroß dem erschossenen Indianer wieder abgenommen worden war, riß jetzt diese Waffe heraus, schlug auf den fremden Angreifer an und feuerte, als er nur erst ungefähr das Ziel vor Kimme und Korn hatte.

Kaum war der Feuerstrahl aus der Mündung des Revolvers aufgeblitzt, als auch schon ein zweiter Knall die nächtliche Stille verriß, dem sofort ein gellender Schrei folgte, ausgestoßen von dem Fremden, der nun langsam vornüber ins Gras fiel.

Barbroß hatte sich sofort auf die Schüsse hin niedergeworfen. Da meldete Otto sich, rief laut dem Alten zu:

„Hier Otto Balzer! Es steckte noch ein zweiter Kerl im Grase! Ich habe ihn getroffen!“

„Sofort her zu mir – sofort!“ brüllte Barbroß zurück. „Beine in die Hand, Junge! Denn dann sind noch mehr von den Lumpenhunden in der Nähe! Im Bogen herum um die Stelle, wo die Schufte liegen, Otto! Nur schnell!“

Otto hatte sich schon in Trab gesetzt. In wenigen Minuten war er neben dem Alten, der ihn jetzt halb in das Rindenkanu hineinstieß, das er bereits flott gemacht hatte. Er watete noch bis zum Leib in das Wasser, schob das kleine Boot vor sich her und verstand sich dann geschickt in den schwankenden Nachen hineinzuziehen, wo er sofort ein kurzes Ruder mit breitem Blatt ergriff und mit einer Gewandtheit, die auf lange Übung schließen ließ, das Kanu nach der Abflußstelle des Baches am anderen Ufer des Sees hinübertrieb, während er gleichzeitig den Knaben anwies, den abgeschossenen Lauf seiner Büchse wieder laden und nach allen Seiten scharf auszulugen.

 

3. Kapitel.

Auf der Parker-Insel.

Der Abfluß des Baches war bedeutend breiter als der Zufluß und zu beiden Seiten von hohem Röhricht eingefaßt, so daß nur eine etwa vier Meter breite offene Fahrrinne frei blieb. In dieser schoß nun das Kanu fast geräuschlos dahin. Barbroß hatte inzwischen seinem kleinen Gefährten zugeraunt, jedes laute Wort zu vermeiden und sich nur von Zeit zu Zeit im Boot aufzurichten, um die bewaldeten Ufer schnell nach etwaigen Verfolgern mit den Augen abzusuchen.

Otto tat, wie ihm befohlen, konnte jedoch zunächst nichts Auffälliges entdecken. Dann aber glaubte er an dem vom Mondlicht nicht getroffenen linken Ufer im Schatten der Bäume ein paar Gestalten zu erkennen, die er für Reiter hielt.

Als er diese Beobachtung dem Alten mitteilte, meinte der in seiner trockenen Art:

„Wird schon so sein. Also links sind die Schufte. Sehr gut das. Sieh doch zur Sicherheit einmal nach, ob nicht auch vielleicht auf dem rechten Ufer etwas Verdächtiges sich bewegt.“

Otto meldete sehr bald, daß rechts alles frei wäre; er könnte auch nicht das Geringste wahrnehmen, was darauf hindeutete, daß die Verfolger sich geteilt und beide Ufer besetzt hätten.

Barbroß nickte befriedigt, trieb das Kanu jetzt nach links ganz dicht an das Röhricht heran und begann dann rückwärts zu rudern, bis er an eine Stelle kam, wo Schilf und Wasserrohr von beiden Ufern sich so nahe rückten, daß hier ein förmlicher Engpaß entstanden war, den man soeben erst passiert hatte und den der Trapper nun dazu benutzte, mit ein paar besonders kräftigen Ruderschlägen das kleine Rindenboot in dem Röhricht des rechten Ufers verschwinden zu lassen.

Kaum hatten sich die hohen Rohrstengel hinter dem Kanu wieder zusammengeschlossen, als Barbroß dem Knaben befahl, mit dem Messer nach dem Ufer hin eine Gasse für das Boot zu schneiden.

„Kappe die Stengel ganz dicht über dem Wasser,“ raunte er ihm zu. „Aber ohne Geräusch und ohne das Rohr auffällig zu bewegen. Du darfst nie vergessen, daß wir es hier offenbar mit denselben Kerlen zu tun haben, die schon damals hinter mir her waren und daß diese hier in der Wildnis genau so gut zu Hause sind wie ich, das heißt, daß sie scharfe Augen haben und alle Kniffe und Schliche eines guten Trappers kennen, wenn’s auch nur gemeine Banditen sind.“

Er half dann Otto bei der beschwerlichen und zeitraubenden Arbeit, die er nur hin und wieder unterbrach, um durch das Rohr nach dem linken, dunklen Ufer hinüberzuspähen.

Nach etwa zehn Minuten flüsterte er dem Jungen dann zu, daß drüben vier Reiter entlangkämen.

„Die Halunken haben jetzt gemerkt, daß wir ihnen ein Schnippchen geschlagen haben und suchen uns. – Ah – verdammt noch mal! – da erscheinen noch drei von den Lumpen zu Pferde. Die Bande hat also Zuzug erhalten, seit ich den kleinen Strauß mit ihnen hatte und vor ihnen auskneifen mußte.“

Wieder nach einer Weile deutete Barbroß zum Himmel empor.

„Eine Wolke kommt dort langsam angesegelt,“ raunte er Otto zu. „Sie wird uns helfen, ihnen zu entwischen. Ich schätze, daß sie in vier Minuten den Mond für eine Weile verschlucken wird. Dann ist’s Zeit für uns, zu Fuß mit unserm Kanu den Wald zu gewinnen.“

Mit doppeltem Eifer wurde weiter an der Gasse in dem Röhricht gearbeitet. Jetzt hatten die Flüchtlinge die letzten Stengel beseitigt, warteten nun, bis die Wolke den Mond verdecken würde. Kaum war dies geschehen und nun auch das rechte, nahe Ufer in Dunkelheit gehüllt, als Barbroß das Kanu schnell durch die Binsen drückte, dann über Bord glitt und die letzten Schritte watete, während Otto erst dicht am Ufer gleichfalls das Boot verlassen mußte, das jetzt von den beiden Gefährten vorsichtig aus dem Wasser gehoben wurde, damit es nicht die Grasnarbe der Uferböschung niederdrücke.

„Vermeide es, mit den Hacken aufzutreten, Junge,“ flüsterte der Trapper. „Geh’ auf Spitzen. Diese Spuren sind dann nicht so leicht als menschliche Fährte zu erkennen. – So, nun hoch mit dem Kanu! Wir kippen’s um, daß wir uns jeder das eine Ende auf die Schultern legen können. Ich werde vorausgehen. – Los denn also! Es ist ja federleicht!“

So begann der fast halbstündige Marsch durch einen hügeligen Tannenwald, in dem Barbroß sehr gut Bescheid zu wissen schien. Kaum hatte man etwa hundert Meter zurückgelegt, als der Trapper dem Knaben leise zurief, man könne jetzt mit der vollen Sohle auftreten. Der trockene Waldboden hier nehme nur schwer Spuren an. Und abermals nach einer geraumen Strecke fragte Barbroß, ob Otto das Tragen des Kanus auch nicht zu beschwerlich wäre. – „Falls Du Stiche in der Lunge spürst, melde Dich sofort!“ fügte er dann hinzu, als Otto erklärt hatte, bisher merke er nichts von Ermüdung.

Der Wald lichtete sich jetzt. Wie Barbroß in der zwischen den Bäumen herrschenden Finsternis bis jetzt so sicher einen bequemen Weg gefunden hatte, war Otto ein Rätsel, da er selbst kaum die Hand vor Augen sehen konnte.

Nun wurde es heller ringsum. Die Tannen standen nur noch gruppenweise, und die Waldblößen nahmen immer mehr an Umfang zu. Dann vernahm der Junge ein fernes Brausen und Rauschen.

„Einer der vielen Wasserfälle des Parker-Flusses,“ rief ihm Barbroß zu. „Es ist der größte von allen. Schade, daß wir nicht Zeit haben, ihn uns am Tage anzusehen. Es ist ein grandioser Anblick. Die meisten Flüsse in Kanada haben zahlreiche solcher Fälle und sind daher immer nur streckenweise schiffbar.“

Das Rauschen verstärkte sich schnell zu einem donnernden Getöse. Dann bog Barbroß jedoch mehr nach links ab und betrat abermals einen dichten Waldstreifen. Gleich darauf befanden sich die beiden Kanuträger am Ufer eines etwa siebzig Meter breiten Wasserlaufes, der mit starker Strömung zwischen steinigen, von Buschwerk eingerahmten Ufern dahinfloß. Das Brausen war jetzt nur noch undeutlich zu hören und verschmolz fast in eins mit dem Wispern der vom Nachtwinde bewegten Blätter.

„Es ist dies also der Parker-Fluß, mein Junge, ein rechter Nebenfluß des Murray,“ meinte Barbroß, als sie das Boot wieder ins Wasser brachten.

„Murray,“ fragte Otto überrascht. „Murray? – Ich glaubte, dieser Fluß, in dessen Nähe mein Vater doch sein Ansiedlungsland zugewiesen erhalten hat, läge viel weiter nach Norden zu.“

Der Trapper schien diese Bemerkung überhört zu haben. Erst als das Kanu jetzt fast pfeilschnell mit der Strömung davonschoß, während Barbroß sich darauf beschränkte, es mit dem Ruder zu steuern, erklärte er mit einem Mal:

„Vielleicht tat ich nicht recht damit, mein Junge, Dir aus übergroßem Mißtrauen gegen die Menschen, sei es, wer es sei, nur halb in allem die Wahrheit gesagt, oder besser, so und so vieles verschwiegen zu haben. Inzwischen habe ich ja nun erkannt, daß Du ein braver Bursche bist, wenn Du auch in der heutigen Nacht mir doch fraglos nachgeschlichen bist. Nun – darüber will ich hinweggehen! Du hast mir das Leben gerettet. Das wiegt alles vollständig auf! Hättest Du den Lumpenkerl dort nicht mit dem Revolver niedergeknallt gerade als er selbst abdrücken wollte, so hätte ich jetzt eine Kugel im Leibe! Sie pfiff mir hart an der Brust vorüber. – Doch – über diese Dinge reden wir später genauer, wenn wir in Sicherheit sind.“

Der Mond verbarg sich sehr bald hinter den Baumkronen. Dunkelheit lagerte über dem Strome, der die Flüchtlinge eiligst nach Norden zu in vielfachen Windungen entführte.

Otto, der bei dem Marsch durch den Wald sehr heiß geworden war und dem das Wollhemd am Leibe klebte, begann leicht zu frösteln. Die Nächte jetzt anfangs Oktober waren hier schon recht kühl, wie ja überhaupt Kanada sich durch einen nur kurzen, warmen, oft sogar heißen Sommer und sehr strengen, kalten Winter auszeichnet.

Vor Müdigkeit verfiel der Junge dann in eine Art Halbschlaf. Zuweilen erwachte er, zitterte dann vor Kälte. Weißer Reif lag jetzt auf den Rändern und den beiden Bänken des kleinen Bootes. Barbroß rief Otto verschiedentlich an, erhielt jedoch keine Antwort. – „Mag er schlafen,“ dachte er. „Es wird für ihn eine zu große Anstrengung gewesen sein, dieses Schleppen des Kanus! Aber – es ließ sich nicht vermeiden.“

Plötzlich bemerkte der Trapper gerade voraus ein paar helle Schaumstreifen im Wasser. Ehe er noch den Bug hatte zur Seite drücken können, war das Unheil schon geschehen.

Das Kanu war auf einen Felsen aufgerannt, der mit seinen zackigen Spitzen bis dicht unter die Wasseroberfläche emporragte und der jene Schaumstreifen hervorgerufen hatte.

Ein starker Stoß erschütterte das leichte Fahrzeug. Dann saß es fest, während ein Stück des Felsens gerade in der Mitte den Boden durchbohrt hatte und es nun als sehr unerwünschter Anker festhielt.

Otto, der bisher vorn im Bug halb ausgestreckt gelegen hatte, war sofort munter geworden.

„Eine nette Bescherung!“ brummte der Trapper. „Junge, die Sache wird kitzlig für uns! Noch haben wir die Herren Wegelagerer zu dicht auf den Hacken, um viel Zeit vertrödeln zu können. Warte, ich springe ins Wasser und werde versuchen, das Kanu von dem verdammten Felsen freizumachen. Sobald es mir glückt, stopfst Du hier meine Jacke in das Loch und schöpfst dann das eindringende Wasser immer wieder mit Deinem Filzhut aus.“

Otto kletterte über die vordere Bank und langte nach des Trappers Jacke, die dieser ihm zureichte. Da packte ihn plötzlich ein Schwindel. Matt sank er über das Bankbrett hin. Gleichzeitig ging ihm ein eisiger Schüttelfrost durch den Körper. Seine Zähne klapperten hörbar aneinander, und so sehr er sich auch anstrengte, er vermochte sich nur halb wieder aufzurichten.

Barbroß merkte, wie es um den Jungen stand. Ein arger Schreck durchzuckte ihn. Er half Otto dann schnell auf den alten Platz im Bug zurück, fühlte ihm den Puls, schüttelte besorgt den Kopf und murmelte vor sich hin: „Ich alter Esel – den Jungen so zu überanstrengen! Natürlich ein Rückfall. Er hat bereits böses Fieber.“

Die Lage für die Flüchtlinge war jetzt höchst bedenklich. Ganz abgesehen davon, daß es Barbroß’ Absicht gewesen, bis zum Morgengrauen mindestens bis in den Murray-Fluß zu gelangen, wo man in einer nahen Faktorei der Hudson-Kompagnie[2] gastliche Aufnahme und volle Sicherheit gefunden hätte, mußte er sich nun sagen, daß es seine Pflicht wäre, dem Knaben schleunigst eine warme Unterkunftsmöglichkeit zu schaffen, wenn er ihn nicht der Gefahr einer schweren Erkältung und Lungenentzündung aussetzen wollte.

Langes Überlegen war nicht des alten Pelzjägers Sache. An eins der Ufer durfte er das Kanu, falls er es flott bekam, nicht steuern. Er hätte dort zu deutliche Spuren der Landung hervorgerufen und dann die Bande der Buschklepper bald wieder auf den Fersen gehabt. Er kannte nun eine kleine Insel, die seiner Schätzung nach keine 10 Minuten weiter stromabwärts mitten in dem sich dort seeartig verbreiternden Parker-Flusse[3] liegen mußte. Dort war man am besten vorläufig geborgen. Doch – wie bis dahin mit dem schwer beschädigten Kanu gelangen? – Es gab nur eine Möglichkeit! Er mußte, um das Boot zu erleichtern, hinterdrein schwimmen.

So legte er denn schnell seine Waffen ab, zog auch die derben Stiefel aus und schwang sich über Bord. Er hatte Glück. Der Felsen, der das Kanu festhielt, bot ihm genügend Platz zum Stehen, so daß er ohne besondere Mühe das Kanu hochheben und auch selbst seine Jacke in das Leck stopfen konnte. Diese Art der Abdichtung des Loches war natürlich nur ein ganz unzureichender Notbehelf, und als Barbroß nun hinter dem von der Strömung fortgerissenen Boote dreinschwamm, indem er sich an einem um die hintere Ruderbank geschlungenen Riemen festhielt, gewahrte er sehr bald, daß das Kanu immer tiefer sank, sich also rasch mit Wasser füllte.

Der von Fieberschauern geschüttelte Knabe lag in halber Bewußtlosigkeit vorn im Bug und merkte kaum, wie ihm das Wasser erst die Beine umspülte und nun allmählich höher und höher kroch.

Barbroß zerbrach sich vergebens den Kopf, wie er dieser neuen Gefahr, dem völligen Versacken des Kanus, begegnen könne. Da bemerkte er vor sich mitten im Flusse einen großen dunklen Fleck. Es konnte nur die Insel sein! Und bis dorthin würde das Boot sich schon noch über Wasser halten, hoffte er.

Es glückte ihm denn auch, das steinige Ufer des kleinen Eilandes zu erreichen. Geschwind schob er das Kanu weiter auf den Strand, stieg dann, bis auf die Knochen durchkältet, aus dem Wasser, hob den Knaben empor, legte ihn über die Schulter und drang in die Büsche ein, von denen die Südseite des Inselchens dicht bedeckt war. Sehr bald fand er zwischen dick bemoosten Felsen ein windgeschütztes Plätzchen, bettete den Fiebernden hier auf schnell losgerissenen Moospolstern und deckte ihn auch vorläufig mit Moos und Laub zu. Mit Hilfe seines Feuerzeuges hatte er auch schnell ein paar trockene Zweige angezündet, über denen er ohne Rücksicht auf seine eigene Gesundheit halbnackt dastehend seine Kleider und sein Unterzeug trocknete, die er dann dem Jungen überzog, nachdem er ihn mit Moos kräftig am ganzen Körper abgerieben hatte.

 

4. Kapitel.

Vierbeinige Feinde.

Früher als sonst war in diesem Jahre der Winter gekommen. Der erste stärkere Frost und Schneefall, der nach vier Wochen eintrat, fand unsere beiden Flüchtlinge noch immer auf der Parker-Insel, wie Barbroß das Eiland getauft hatte.

Otto Balzer war abermals recht bedenklich erkrankt und hatte volle vierzehn Tage nach der Landung auf dem Inselchen in schwerem Fieber daniedergelegen. Inzwischen hatte der Trapper an ihrem Schlupfwinkel auf der Südseite aus dünnen Tannenbäumen eine primitive Hütte erbaut, in der sie nun wie recht armselige Robinsons hausten, denn bis auf weiteres war ja an ein Verlassen des Eilandes deshalb nicht zu denken, weil der Knabe viel zu schwach war, einen längeren Fußmarsch zurückzulegen und weil man auch zu Wasser nicht die Flucht hätte fortsetzen können in Ermangelung eines geeigneten Fahrzeuges. Das Kanu war nämlich von der Strömung noch in derselben Nacht entführt worden, als es den Gefährten gelang, sich auf die Insel zu retten.

Der Trapper hatte sich und den Knaben bis jetzt lediglich durch Fischfang mit selbstgefertigten Angeln ernährt, obwohl er verschiedentlich Gelegenheit gehabt hätte, auf der bewaldeten Nordseite der Insel Wildtauben zu schießen. Er durfte es jedoch nicht wagen, von seiner Büchse Gebrauch zu machen, da er fürchtete, die Buschklepper anzulocken, die seiner Überzeugung nach mit größter Ausdauer nach ihm und dem Jungen suchen würden.

Nun hatte plötzlich der Winter mit Eis und Schnee das Inselchen und den Fluß völlig verändert. Dieser war zugefroren, und eine gleichmäßige, fast halbmeterhohe weiße Decke hüllte ringsum alles ein und verwandelte das Flußtal in eine glatte, langgestreckte Waldblöße. Als Barbroß morgens beim Verlassen der Hütte dieses neue Landschaftsbild gewahrte und dann auch feststellte, daß das Eis des Flusses ihn trug, kehrte er schnell zu dem noch schlummernden Knaben zurück und erklärte, er würde ihn jetzt für zwei Tage allein lassen, da er nach der Schlucht im Norden zurückkehren wolle, um sowohl sein Maultier und Ottos Pferd als auch Felle zu warmer Kleidung und andere notwendige Dinge zu holen. Er brach auch alsbald auf, nachdem er den Jungen noch genau angewiesen hatte, wie dieser sich hier in der Zwischenzeit verhalten solle, falls irgendwelche besondere Zwischenfälle sich ereigneten.

Otto wollte Barbroß noch bis an das Ufer der Insel begleiten, doch der Trapper warnte ihn ernstlich vor zu langem Aufenthalt in der Kälte draußen, die er auf gut acht Grad schätzte.

Der erste Tag des Alleinseins verging dem Knaben recht schnell. Das Feuer in der Hütte mußte er dauernd unterhalten. Barbroß hatte draußen einen großen Haufen trockener Äste aufgeschichtet, so daß an Brennholz kein Mangel war. In der Nacht wurde es noch kälter. Die Eisdecke des Flusses knallte berstend wie lauter Kanonendonner und weckte den einsamen Jungen mehrmals auf. Dann blies er schnell die niedergebrannte Glut wieder an, legte Holz nach und kroch wieder unter seine dicke Moosdecke. Gegen Morgen war’s, als er vom linken Ufer des Flusses ein mehrstimmiges, mißtönendes Heulen vernahm. Nicht umsonst hatte er sich schon vor der Abreise nach Kanada noch daheim in Deutschland über die Tier- und Pflanzenwelt der neuen Heimat genau unterrichtet. Es können nur Wölfe sein, die sich dort drüben melden, sagte er sich, ohne zu ahnen, daß gerade diese im Winter in großen Rudeln auftretenden und dann äußerst angriffslustigen und stets hungrigen Bestien ihm die schlimmsten und aufregendsten Stunden seines Lebens bereiten würden.

Er schlief bald wieder ein. Im Traum sah er sich mit seinen Eltern und Geschwistern wieder vereinigt. Dann aber gab’s für ihn ein wenig frohes Erwachen. Ein Geräusch an der starken, kleinen Tür, die in Bändern aus Weidenruten sich bewegte, machte ihn munter. Er lauschte. – Da war es wieder, dieses Scharren und Kratzen! Es konnte nur ein Tier sein, das sich Eingang in die Hütte verschaffen wollte. – Nein – mehrere Tiere! Denn dieses Knurren soeben kam aus den Kehlen einer ganzen Anzahl von zudringlichen Wölfen, – natürlich Wölfe, die wahrscheinlich auf Barbroß’ Spuren bis hierher gelangt waren und jetzt in der Hütte eine leichte Beute zu finden hofften. Kein Wunder, daß dem Jungen einen Moment das Blut in den Adern erstarrte! – Erst als er den Kolben seines Revolvers in seiner Hand spürte, wurde er wieder ruhiger.

Nun schob er sich kriechend bis dicht an die Tür heran, lugte durch eine schmale Spalte hinaus. Und da sah er wirklich etwa fünfzehn der struppigen, gelbgrauen Bestien, die eilfertig vor der Hütte hin und her liefen und von denen einige den Schnee dort wegscharrten, wo der Trapper in einem Erdloch die gedörrten Fische aufbewahrte, während die kräftigsten Tiere sich einen Gang unter der Tür weg zu bahnen suchten.

Der Knabe zauderte eine Weile, ehe er sich dazu entschloß, ein paar der Bestien schnell hintereinander niederzuschießen, um so die anderen zu verscheuchen. Der Trapper hatte ihn zwar dringend ermahnt, die Schußwaffe nur im äußersten Notfalle zu gebrauchen, doch jetzt glaubte er mit gutem Recht sich ihrer bedienen zu dürfen.

Ganz leise schob er daher die beiden Holzriegel der nach innen schlagenden Tür zurück und öffnete sie etwa drei Finger breit, zielte kurz, feuerte vier Schüsse ab, von denen jeder ein Opfer forderte.

Mit wildem Aufheulen stob das Rudel auseinander, ließ die vier schwer getroffenen Bestien zurück, die umsonst sich mühten, wieder auf die Beine zu kommen, und in kurzem verendeten.

Der Anblick der toten Wölfe gab dem Knaben einen guten Gedanken ein. Er wollte sie abhäuten und versuchen, ob er die Felle nicht auf die ihm von Barbroß geschilderte Art und Weise schnell so weit gerben könne, um sich daraus eine Art Umhang anfertigen zu können.

Den Rest des Tages verbrachte er bei dieser Arbeit. Vom Ufer der Insel hatte er sich groben Sand geholt und scheuerte damit die Innenseite der Felle von allen Fleischteilchen frei, rieb sie dann mit Asche ein und ließ sie so bis zum nächsten Morgen liegen.

Die Nacht verlief ohne jede weitere Störung. Nur die Eisdecke des Flusses knallte und krachte wieder. Otto war bereits beim ersten Morgengrauen munter und nahm nach dem kargen Frühstück, das nur in zwei gedörrten Fischen bestand, sofort die Felle vor. Er wollte Barbroß womöglich mit dem fertigen Fellumhang überraschen. So verstrich auch dieser Tag. Kurz nach Sonnenuntergang begann ein unheimliches Wolfskonzert am linken Flußufer. Die Bestien heulten so laut, daß es klang, als bekämpften sie sich in großen Scharen gegenseitig. Dem Knaben wurde bei diesen schauerlichen Tönen doch recht bänglich zumute. Trotzdem legte er sich sehr bald zur Ruhe nieder und deckte sich jetzt auch mit den vier Fellen zu. Der Schlaf floh sein Lager. Mit offenen Augen lag der Knabe da und lauschte. – Er war todmüde, und immer wieder schloß er die Lider ganz fest, um den Schlaf herbeizuzwingen. Doch – es wollte nicht glücken. Stundenlang blieb er wach. Das Feuer brannte immer niedriger, und die Kälte in der Hütte nahm schnell zu. Wassertropfen fielen klatschend von den unregelmäßig behauenen Stämmen, deren Ritzen nur mit Moos verstopft waren, herab. Ein scharfer Wind strich das Flußtal entlang und umheulte die Insel in seltsamen Tönen, die sich mitunter zu einer nervenaufpeitschenden Sturmmusik steigerten.

Den Knaben begann zu frieren. Er erhob sich daher, schürte das Feuer an und setzte sich dicht daneben nieder, um schleunigst wieder warm zu werden.

Jetzt war der schaurige Chor der hungrigen Bestien verstummt. Nur der Wind rauschte noch draußen in den entlaubten Büschen und strich mit wilden Akkorden über die zackigen Felsen hinweg. Das klang nicht weniger unheimlich als vorhin die Stimmen der zottigen Gesellen, die sich jetzt entfernt zu haben schienen. – Otto sehnte inbrünstig den neuen Tag herbei. Er war gewiß kein Feigling, aber dieses Alleinsein hier in der engen Hütte und die draußen lauernden Gefahren, die ihm ja nicht lediglich von den vierbeinigen Feinden drohten, sondern auch von Seiten jener Buschklepper, die so hartnäckig hinter dem Trapper her waren, – all dies im Verein mit dem häßlichen Konzert der Wölfe und des nächtlichen Sturmes bedrückten ihn wie die Vorahnung kommenden Unheils. – Häufig sank ihm der Kopf im Halbschlaf tief auf die Brust. Dann schreckte er stets zusammen, wurde für eine Weile ganz munter und nahm sich immer wieder vor, jetzt sofort sein Lager aufzusuchen. Neben dem Feuer war es jedoch so behaglich warm, daß er es nicht fertigbekam, dieses angenehme Plätzchen zu verlassen.

Da – abermals neigte sich sein Kopf tiefer und tiefer; abermals schlief er im Sitzen ein.

Diesmal gab’s für ihn ein schreckliches Erwachen. Plötzlich schnellte er hoch, stieß einen Schrei des Entsetzens aus, taumelte zurück.

Das Feuer hatte durch einen Zufall den kleinen Holzvorrat neben der Tür erfaßt, hatte sich auch bis zur Lagerstatt des Jungen weitergefressen, und nun bildete das Innere der Hütte ein einziges Flammenmeer. Selbst Ottos Kleider waren bereits angesengt. Die Hitze benahm ihm den Atem. Erstarrt vor Schreck, unfähig sich zu rühren, stand er sekundenlang regungslos da. Dann ein Satz nach dem Eingang, ein Ruck, – und die kleine Tür flog auf, – ein Sprung – er war im Freien, mitten auf der runden, von Büschen und Felsen umgebenen Lichtung, aber auch – mitten in einem Rudel von Wölfen, die bei seinem unerwarteten Erscheinen scheu sich zur Seite gedrückt hatten.

Mit einem Blick übersah der Junge seine verzweifelte Lage. Nur die Flucht blieb ihm als einziger Rettungsweg übrig! Ohne Säumen begann er einen der Felsen zu erklimmen, den er schon vorher zweimal erklettert hatte, um nach dem Flusse hin Ausschau zu halten, weil Barbroß damals am Ufer der Insel geangelt und es für gut befunden hatte, daß Otto währenddessen den Fluß beobachtete.

Dies war jetzt des Knaben Glück, denn dort hinauf konnten ihm die Bestien nicht sofort folgen. Oben angelangt, überlegte er, ob er sich hier verteidigen solle. Sofort gab er diesen Gedanken wieder auf, als ein Blick nach rückwärts ihn belehrte, daß er es mit einem Rudel von gut dreißig Tieren zu tun hatte, von denen vorhin allerdings nur ein Teil sich vor der Hütte aufgehalten hatte, während die übrigen in den Büschen verborgen gewesen waren.

Schon setzten vier der größten Bestien zum Sprunge an und erreichten auch die unterste natürliche Stufe des Felsens. Da zauderte der Knabe nicht länger, glitt an der anderen Seite hinab und rannte nun mit weiten Sprüngen quer durch das kaum vierhundert Meter lange Inselchen dem Nordufer zu, wo der steinige Boden sich zu einem wildzerklüfteten Hügel auftürmte, der von hohen Tannen, Kiefern und Eichen eingefaßt war.

Otto Balzer lief um sein Leben, denn dicht hinter ihm kam das Rudel der Bestien mit offenen Rachen angekeucht. Ohne Besinnen sprang er nun, glücklich bei dem Hügel angelangt, von Felsstück zu Felsstück, von denen der Wind den losen Schnee längst weggefegt hatte. Dann versagten ihm ganz plötzlich die Kräfte. Seine Beine zitterten. Durch seinen Leib ging ein Beben. Wie gelähmt war er. Und stier schaute er nun, auf der flachen Spitze eines mächtigen Blockes stehend, den erbarmungslosen Feinden entgegen, sah sie geschickt den Hügel erklimmen, hörte ihr kurzes Aufheulen, glaubte schon den scharfen Raubtiergeruch ihrer Körper zu spüren.

Er gab sich verloren. Schlaff hingen ihm die Arme abwärts. Und halb irr schweiften nun seine Augen in die Runde.

 

5. Kapitel.

Im Schlupfwinkel der anderen Wölfe.

Da – ein förmlicher Ruck ging ihm durch den Körper. Seine Blicke fraßen sich fest an dem Astgewirr einer riesigen, uralten Eiche, die mit ihrer Krone bis dicht an den Felsblock sich heranreckte, auf dem der Knabe noch immer in völliger Erstarrung tatenlos verharrte.

Nun ein kurzer Anlauf – ein waghalsiger Sprung nach der Eiche hin, ein schweres Aufprallen mit dem Leibe gegen einen knorrigen Ast.

Otto Balzer hing über diesem Ast minutenlang wie eine leblose Masse. Dann kam er wieder zu sich. Die Erkenntnis, daß er vorläufig gerettet sei, verlieh ihm schnell die nötige Kraft, auf dem Ast abwärts bis zum Stamm zu rutschen. Dann stieg er mit aller Vorsicht tiefer, suchte eine Astgabelung, wo er bequem sitzen konnte und auch vor dem Winde leidlich geschützt war.

Doch – schon wieder streikten seine Nerven! Feurige Räder blitzten vor seinen Augen auf, alles um ihn her drehte sich in wahnsinniger Eile, seine Hände verloren die Fähigkeit, sich um die Äste zu klammern, lösten sich von der rauhen Rinde.

Mit einer letzten übermenschlichen Anstrengung umarmte er den mächtigen Stamm, wollte sich auf einen der untersten Äste in den Reitsitz hinabgleiten lassen.

Plötzlich war’s, als ob das Holz der Astgabel, die seinen Füßen eben noch als Stützpunkt gedient hatte, nachgäbe und als ob ein Schlund sich unter ihm öffnete. Er sank tiefer und tiefer, stieß mit dem Kinn hart auf, bekam dann aber etwas zu packen, klammerte sich daran fest, fand auch mit den Knien irgendwo Halt und hing nun in nachtschwarzer Finsternis in – ja, es konnte nur das Innere des Baumes sein! – in der hohlen Eiche, sammelte langsam seine Gedanken, merkte, daß seine Hände das runde Holz einer Leitersprosse umspannt hatten und suchte jetzt auch mit den Füßen eine tiefere Sprosse zu finden – fand sie auch, kletterte bedächtig hinab und stand gleich darauf auf festem Boden.

Wo? – Das konnte er erst feststellen, als er seine Zündholzbüchse hervorgeholt und ein Hölzchen angerieben hatte. Der schwache Lichtschein genügte jedoch vollauf, dicht vor ihm eine grobgearbeitete Holzkiste wahrnehmen zu können, auf deren Deckel eine Laterne stand. Gleich darauf hatte er diese angezündet, leuchtete nun umher und erkannte zu seinem ungläubigen Erstaunen, daß er in eine Höhle gelangt war, zu der der Stamm der uralten Eiche den einzigen Zugang zu bilden schien. Diese Höhle war nur klein, maß kaum vier Meter im Quadrat etwa und war so niedrig, daß ein Erwachsener darin gerade noch aufrecht stehen konnte.

Noch größer wurde des Jungen Verwunderung, als sein Blick nun über ganze Stöße der wertvollsten Tierfelle hinglitt, als er an der anderen Seite wieder eine Art Herd entdeckte, daneben ein paar Säcke, Blechgefäße, Krüge und anderes.

Hier unten war’s angenehm warm. Die Luft war trocken und nur von dem üblen Geruch der erst halb gegerbten Felle verschlechtert. Kaum hatte der kleine Abenteurer dann in einer der Blechbüchsen Pakete mit Hartbrot gefunden, als er sich sofort heißhungrig darüber hermachte. Während er aß, überlegte er, daß er hier ohne Zweifel in einen jener geheimen Schlupfwinkel geraten war, wie ihn die Pelzjäger anzulegen pflegen, um ihre Jagdbeute aufzuhäufen, bis sie genug Felle beisammen haben, deren Menge dann einen Transport nach der nächsten Faktorei verlohnt. Auch Barbroß besaß ja in Gestalt jener weit südlich gelegenen Schlucht ein solches Warenversteck, und der Trapper hatte ihm auch erzählt, daß nur die sogenannten „freien“ Pelzjäger, das heißt die, die nicht im Dienste der Hudson-Kompagnie stehen, sich derartige Verstecke schaffen, die sie selbst ihren besten Freunden nicht verraten.

Nachdem er sich dann gesättigt hatte, streckte er sich lang auf ein Lager aus, das in einer Ecke hinter einem förmlichen Wall von Pelzballen für ihn schon aus Decken und einem moosgefüllten Kopfkissen vorbereitet zu sein schien. Frohgemut löschte er die Laterne aus und war auch in kurzem eingeschlummert. Wie lange er fest wie ein Toter geschlafen hatte, wußte er nicht. Eine laute Männerstimme weckte ihn, die irgend jemandem anrief:

„Binde dem Halunken jetzt wieder die Füße, Harry! Und dann wirf ihn dort in die Ecke! Mach’ hurtig, wir müssen wieder hinaus und nachsehn, wo der Junge steckt, der nach dem Brande der Hütte nicht weit gekommen sein kann.“

Otto hatte im Augenblick sich unter den Decken hervorgeschält und kroch nun ebenso schnell hinter ein paar Fellballen, drückte sich dicht an die Felswand der Höhle und harrte atemlos auf das, was sich nun ereignen würde, da er jeden Moment fürchtete, die beiden Männer würden hier Spuren seiner Anwesenheit entdecken und nach ihm suchen. Zum Glück hatten sie’s aber so eilig, daß sie gleich darauf die Leiter wieder emporkletterten, nachdem sie die Laterne ausgeblasen hatten.

Den Knaben hatte sofort bei der Erwähnung des Gefangenen ein ganz besonderer Gedanke durchzuckt: „Barbroß ist vielleicht dieser „Halunke“, dem die Füße wieder gefesselt werden sollten!“

Jetzt strich er ein Streichholz an, näherte sich dem auf dem Boden neben dem Herde gebunden Daliegenden.

Der ließ ein überraschtes „Junge – Du hier?!“ hören, bewies dadurch, daß Otto ganz richtig vermutet hatte.

Selten hat es wohl zwischen zwei treuen Gefährten ein so freudiges Wiedersehen gegeben wie dieses! Kaum hatte Barbroß dann Arme und Füße frei, als er auch sofort fliegenden Atems erzählte, wie dieselben Wegelagerer, die ihn nur deshalb in ihre Gewalt bekommen wollten, um ihm durch brutale Folterungen nähere Angaben über eine von ihm entdeckte Goldader zu erpressen, ihm auf dem Rückwege von der Schlucht einen Hinterhalt gelegt hätten und wie er zwei von den Kerlen zwar noch hatte niederschießen können, dann aber von den übrigen doch überwältigt worden wäre. – Nun wußte Otto endlich auch, was die seltsamen Andeutungen des Trappers zu bedeuten gehabt hatten und kannte nun ebenso den Grund dieser erbitterten Feindschaft zwischen den Banditen und Barbroß. Eine Goldader! Deshalb also diese hartnäckigen Nachstellungen! –

Eine Durchsuchung der Höhle förderte jetzt auch mehrere Büchsen und Revolver nebst Munition zu Tage. Dann wollte Barbroß allein nach oben, um mit den noch lebenden fünf Banditen endgültig abzurechnen. Doch der Knabe bat so lange, bis der Trapper ihn mitnahm.

Draußen schien die Sonne hell vom klaren, winterlichen Himmel herab, tauchte die weite Schneelandschaft in eine blendende Überfülle von Licht und – ließ die beiden Freunde sofort von der Krone der Eiche aus ein seltsames Gefährt erkennen, das mit prallen Segeln windschnell das Flußtal entlangkam.

Es war ein großer Segelschlitten, wie er in Kanada nicht nur zu Fahrten auf dem Eise, sondern auch zu winterlichen Reisen über die verschneiten Ebenen benutzt wird.

In dem Schlittenkasten, der ähnlich wie ein Boot gebaut war und auf vier breiten Holzkufen ruhte, saßen drei in Pelze gehüllte Männer. Oben an der Mastspitze aber flatterte ein buntes Fähnchen – das der Hudson-Kompagnie.

Barbroß feuerte einen Revolverschuß ab. Der Schlitten glitt alsbald der Insel zu, und gleich darauf begrüßte der rote Trapper die ihm gut bekannten drei Angestellten der Hudson-Kompagnie, die von der Faktorei am Murray aus einen Jagdausflug unternommen hatten. –

Die Wegelagerer waren leider spurlos verschwunden. Dafür wurde aber ihr geheimes Versteck, das nur gestohlene Dinge enthielt, völlig ausgeräumt.

Noch am selben Abend erreichte der Segelschlitten mit seinen nunmehr fünf Insassen die Faktorei. Und weitere drei Tage später trafen Barbroß und Otto wohlbehalten auf der neugegründeten Farm der deutschen Auswanderer ein, wo ihr Erscheinen allgemeinen Jubel hervorrief.

 

Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. Fehlenden Bindestrich ergänzt.
  2. „Hudson-Kompagnie“ / „Hudsonkompagnie“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich innerhalb dieser Fortsetzungsgeschichte (Heft 114–116) auf „Hudson-Kompagnie“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „Parker-Flüsse“.