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Der Afghan-Teppich

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 42

 

Der Afghan-Teppich.

 

1. Kapitel.

Wir befanden uns jetzt wieder auf der Rückreise nach Berlin. Nur drei Tage hatten wir in der berühmten Kanalstadt Suez die Gastfreundschaft Hauptmann Mac Leans vom Kamelreiterkorps und seiner reizenden Gattin in Anspruch genommen. Dann entdeckte Harald in einer bereits vier Wochen alten deutschen Zeitung, und zwar im Berliner Anzeiger, einen längeren Artikel über einen Teppichdiebstahl, der ihn sofort veranlaßte, bis Genua Plätze auf einem Dampfer zu belegen.

Hauptmann Mac Lean, seine Frau und ich hatten den Artikel gleichfalls gelesen. Wir drei begriffen nicht, was Harst an diesem gewöhnlichen Diebstahl so Besonderes fand. Auf unsere Fragen erwiderte er lediglich: „Ich vermute dahinter ein Verbrechen ganz seltener Art. Gewiß, ich kann mich irren. Jedenfalls will ich den Fall nachprüfen. Irre ich mich wirklich, so wird sich meine Mutter über das Wiedersehen fraglos mehr freuen als andere Leute in Berlin, denen ich sodann einige Aufmerksamkeit schenken will.“

Dabei tippte er mit dem Finger auf eine andere Notiz in derselben Zeitung. Und diese Notiz war überschrieben:

Wieder ein Überfall durch den geheimnisvollen Straßenräuber.

Auf meine Frage, was ihm denn bei dem Teppichdiebstahl so merkwürdig erscheine, meinte er nur:

„Die Begleitumstände sind’s. Sie deuten geradezu auf Ereignisse hin, die sozusagen unter der Oberfläche, also unsichtbar für die große Menge, sich abgespielt haben.“

Damit mußten wir uns begnügen. Harst versprach jedoch Frau Mac Lean, ihr zu schreiben, ob seine Vermutungen hinsichtlich des gestohlenen Afghan-Teppichs richtig gewesen seien.

Am 2. Oktober trafen wir in Berlin ein und fuhren sofort nach der Blücherstraße 10 in Schmargendorf (Berliner Vorort), wo Haralds Mutter seit langen Jahren wohnte und wo auch wir beiden Globetrotter unser behagliches Heim hatten.

Wir waren abends gegen 7 Uhr angelangt. Nach dem Abendbrot zogen wir uns in Haralds Arbeitszimmer zurück, sehr zum Entsetzen Frau Auguste Harsts, die mit kläglich-komischem Seufzer meinte: „Ich wünschte, Du wärest Jurist geblieben, Harald. Dann hätte ich mehr von Dir und brauchte Deinetwegen nicht dauernd in Angst zu schweben.“ –

Harald saß nun im Klubsessel und rauchte behaglich eine seiner geliebten Mirakulum-Zigaretten, sah dabei die Berliner Abendblätter durch, die wir auf dem Anhalter Bahnhof gekauft hatten. Ich rauchte mit demselben Behagen eine leichte Brasil-Zigarre, hatte die Beine weit ausgestreckt und überflog nochmals jene Notiz über den Teppichdiebstahl, der nun bereits genau vier Wochen zurücklag. Harst hatte diesen neuen Fall, der ja erst ein „Fall“ für uns werden sollte, während der Reise mit keiner Silbe erwähnt. So macht er es stets. Bevor eine Sache nicht spruchreif ist, hüllt er sich in Schweigen.

Der Artikel lautete folgendermaßen:

50 000 Mark Belohnung. Wir machen unsere Leser auf die im Inseratenteil befindliche Anzeige mit derselben Überschrift aufmerksam. Es dürfte nicht oft vorkommen, daß jemand für die Wiederbeschaffung eines Afghan-Teppichs eine so hohe Belohnung aussetzt. Der Teppich ist in der gestrigen Nacht, also in der Nacht vom 1. zum 2. September gestohlen worden, und zwar aus der Villa des Rentiers Martin Mazinbatry, Berlin-Friedenau, Spohnholzstraße 203. Der Verlust wurde heute früh von Herrn Mazinbatry selbst bemerkt. Der Teppich hatte in seiner Bibliothek gelegen, und zwar unter dem großen Mitteltisch. Der oder die Diebe sind, wie die Polizei bereits festgestellt hat, durch den Garten und den Hintereingang in die kleine Villa eingedrungen, die mit der Vorderfront dicht an der Straße steht. Den sehr bissigen Wolfshund haben sie vorher vergiftet. Das Tier lag dicht am hinteren Teile des hohen Eisenzaunes im Gebüsch. Fraglos wußten die Diebe auf dem Grundstück und im Hause sehr gut Bescheid. Sie sind dann offenbar gestört worden, da sie dem Geldspind, das gleichfalls in der Bibliothek steht, nur wenig angetan haben. Dieser Stahlschrank, obwohl älterer Konstruktion, hätte den Bohrern der Diebe fraglos viele Stunden Widerstand geleistet. Nur in der Nähe des mittleren Schlosses sind Spuren von Gewaltanwendung zu bemerken. Unerklärlich ist, wie die Diebe dann mit dem großen Teppich (Größe 3½ mal 4) unbemerkt entkommen sind, da sie den Weg durch das anstoßende Grundstück der Parallelstraße genommen haben. – Herr Mazinbatry hat unserem W. K.-Mitarbeiter erklärt, daß der Afghan für ihn ein wertvolles Andenken an seine Orientreisen darstellt. Die ausgesetzte Belohnung dürfte wohl auch den Eifer der jetzt in Berlin so zahlreichen Privatdetektivs derart anspornen, daß die Diebe baldigst hinter Schloß und Riegel sitzen werden.

So weit der Artikel im Berliner Anzeiger.

Ich muß noch erwähnen, daß die 50 000 Mark, wie wir schon in Suez aus anderen deutschen Blättern festgestellt hatten, bisher von niemandem beansprucht werden konnten. Der Afghan war bisher nicht wiedergefunden worden.

Der Leser wird sich selbst sagen, daß diese Notiz alles in allem wenig Merkwürdiges enthielt. Es ist daher auch verständlich, wie begierig ich war, von Harst Näheres über seine Vermutungen hinsichtlich der Nebenereignisse dieses Diebstahls zu hören. Ich glaubte, jetzt abermals dieserhalb mich an ihn wenden zu können, und zwar vielleicht mit besserem Erfolg als bisher. Ich legte die Zeitung auf den Tisch und schaute zu Harald hinüber, begegnete seinem ernsten Blick und bemerkte auf seiner Stirn jene drei tiefen Falten, die bei ihm entweder tiefes Nachdenken oder aber großen Ärger andeuten.

„Wir haben Pech, mein Alter,“ sagte er und hielt mir die Zeitung hin, die er gerade in der Hand gehabt hatte. „Lies nur. Dort oben steht’s. Mac Leans müssen geplaudert haben, und irgend ein Reporter hat die Nachricht nach London depeschiert, von wo aus sie in die Berliner Blätter gelangt ist.“

Ich las – daß Harald Harst und sein Privatsekretär und Freund Max Schraut von Suez nach Berlin gereist seien, um nach dem gestohlenen Afghan des Herrn Mazinbatry zu suchen.

„Ja, schade!“ meinte Harald, als ich die Zeitung sinken ließ. „Nun sind die Diebe gewarnt, und daher werden wir –“

Er schwieg und lauschte.

„Du – ein Auto ist soeben vor unserem Hause vorgefahren,“ flüsterte er. „Ich wittere eine Überraschung. Geh’ doch mal und sieh’ wer der späte Gast ist.“

Nun – der Gast war eine blasse, schlanke Dame, die sich in der Haustür nochmals umdrehte und die Straße entlangspähte.

„Ich fürchte Verfolger,“ sagte sie hastig zu mir. „Oh, ich freue mich ja so sehr, daß ich Herrn Harst antreffe –“

Sie machte einen recht verängstigten und scheuen Eindruck, diese hübsche, zarte Blondine. Ich war ja an solche Klienten schon gewöhnt, die mit allen Zeichen höchster Angst bei uns erschienen und allerlei von Verfolgern fabelten. Meistenteils existierten diese Verfolger nur in der überreizten Phantasie der Betreffenden. Hier aber schien doch etwas Berechtigtes daran zu sein, denn auch ich gewahrte jetzt ein zweites Auto, das offenbar dem der Dame nachgefahren war, nun jedoch wendete und sehr schnell verschwand.

„Ah – also doch!“ meinte die Blondine seufzend. „Man bewacht mich tatsächlich auf Schritt und Tritt. Mein Gott, wenn ich nur eine Ahnung hätte, wie all das zusammenhängt.“

Ich schloß die Haustür und führte die Dame in Harsts Arbeitszimmer.

Er bot ihr einen der Klubsessel an. Wir nahmen wieder Platz.

„Mein Name ist Lossen,“ begann die Blonde mit der ruhigen Sicherheit der Dame von Welt. „Gerda Lossen, Herr Harst. Ich bin –“

„– vermutlich die Gattin des Hauptmanns a. D. und jetzigen Privatdetektivs Axel Lossen,“ vollendete Harald.

Sie nickte nur.

„Ich kenne Ihren Herrn Gemahl persönlich, gnädige Frau,“ erklärte Harst weiter. „Er ist Mitglied des Universum-Klubs, dem auch ich angehöre, ohne freilich das Klubhaus häufiger besuchen zu können. Dazu habe ich keine Zeit, seit ich Kollege Ihres Mannes geworden bin, – Kollege aus Liebhaberei, Liebhaberdetektiv. Sie haben in einer der heutigen Abendzeitungen gelesen, daß ich nach Berlin unterwegs bin, gnädige Frau. Da sind Sie sofort zu mir geeilt. Mithin muß ich annehmen, daß Ihrem Gemahl etwas zugestoßen ist. Ihr Blick verrät ernste Kümmernisse.“

„Sie haben recht, Herr Harst. Mein Mann hat seit Wochen nichts mehr von sich hören lassen. Ich fürchte, er –“

Sie unterbrach sich. „Ich will übersichtlicher das Nötige vortragen,“ fügte sie hinzu. „Sonst werden Sie ungeduldig, Herr Harst, und denken, die Frau eines Privatdetektivs könnte wohl gelernt haben, eine Sache etwas logischer zu schildern. – Mein Mann ist seit vier Jahren in seinem jetzigen Beruf tätig. Vor einem Jahr vergrößerte er seine Detektei. Wichtige Fälle erledigte er aber stets selbst. Vor zwei Monaten erhielt er einen Auftrag, den er mit einer solchen Diskretion behandelte, daß er selbst mir davon nichts anvertraute. Es war eine Frau, die ihm den Auftrag erteilt hatte. Axel empfing sie stets spät abends, ließ sie selbst ein und verriegelte immer die Tür, wenn sie bei ihm war.“

Frau Lossen wurde leicht verlegen und schaute zu Boden.

„Nicht wahr – dieses Geheimnisvolle erregte Ihre Eifersucht,“ meinte Harst zwanglos. „Wir wollen ganz offen zueinander sein, gnädige Frau. Sie wissen, in unserem Metier kommt es auf die geringste Kleinigkeit an.“

„Ja – ganz offen!“ sagte die Blonde da mit freiem Blick. „Ich habe einmal gelauscht, Herr Harst. Ich liebe Axel. Und – die Frau war jung und schön, wie ich trotz des dichten Schleiers feststellen konnte, als sie einmal von mir eingelassen wurde.“

„Nun gut. Und – was erlauschten Sie?“

„Daß es sich um eine Erbschaftssache handelte, Herr Harst. Da schämte ich mich meines Mißtrauens.“

„Erbschaftssache? – Bitte um Einzelheiten –“

„Damit kann ich nicht dienen. Ich verstand ja nur geringe Brocken des Gesprächs. – Hm – nur etwas war merkwürdig dabei, – besser, ein einzelnes Wort. Es wurde häufiger von der Frau genannt: Bestie!“

„So – also „Bestie“. Wie sprach die Frau das Wort aus, – im Tone des Hasses?“

„Ja, Herr Harst, – des Hasses und des Abscheus.“

„Bitte weiter –“

„Dieser Auftrag nahm Axels freie Zeit vollständig in Anspruch. Am 31. August erklärte er mir, daß er für mehrere Tage verreisen müsse. Er betonte, seine Abwesenheit könne vielleicht auch länger dauern. Er verabschiedete sich am 31. August abends gegen neun Uhr von mir –“

„Was nahm er mit?“ fiel Harst ein.

„Einen kleinen, braunen Leinwandkoffer, der aber nur die nötigen Requisiten zum Auftreten als ärmlicher, älterer Mann enthalten haben kann, wie ich inzwischen festgestellt habe. Von Axels Reiseziel war mir nichts bekannt. Seit jenem Abend habe ich Axel nicht wiedergesehen und auch keinerlei Nachricht von ihm erhalten. Ich bin daher seinetwegen sehr in Sorge, zumal ich seit etwa zehn Tagen bemerkt habe, daß mir andauernd jemand nachschleicht, sobald ich nur das Haus verlasse. Wir wohnen Potsdamerstraße 325, 1. Etage. Dort befindet sich auch die Detektei Lossen.“

„Wer sind die Leute, die Sie beobachten, gnädige Frau? Sind es mehrere? Tragen Sie Verkleidung?“

„Ich behaupte, es sind ein Mann und ein Weib, die sich gegenseitig ablösen und die in allerhand Masken auftreten.“ – Frau Lossen erwähnte jetzt auch das Auto, das dem ihren gefolgt war.

„Mehr können Sie nicht angeben?“ fragte Harst darauf. „Besinnen Sie sich recht genau. Vielleicht fällt Ihnen noch eine Kleinigkeit ein.“

„Nein, Herr Harst. Es kann mir nichts mehr einfallen. Das, was ich Ihnen mitteilen wollte und konnte, habe ich mir ja auf der Herfahrt genügend überlegt.“

Harald bat Frau Lossen, ihm zu gestatten, daß er sich eine Zigarette anzünde.

„Ich möchte die Angelegenheit sofort in Angriff nehmen,“ fügte er hinzu. „Nur bei einer Zigarette habe ich leidlich gute Einfälle –“

„Oh – bitte sehr, Herr Harst. Ich rauche selbst,“ beeilte sich Frau Lossen zu erklären. – Sie rauchte denn auch tatsächlich eine Zigarette. Ich glaube, sie war die erste Dame, der Harald eine seiner Mirakulum anbot.

Harald lehnte mit halb geschlossenen Augen in seinem Sessel. Seine Blicke waren nach oben auf die mittlere Lampe der elektrischen Krone gerichtet.

Frau Lossen und ich saßen ebenso regunglos[1] da. Im Zimmer war nur ein regelmäßiges Geräusch zu hören: das würdevolle, langsame Ticken der großen Standuhr, deren runde Pendelscheibe aus Messing bei jedem Ausschwingen an einer bestimmten Stelle matt aufleuchtete.

Diese Stille wirkte mit der Zeit geradezu einschläfernd. Meine Zigarre war ausgegangen. Mit trägen Gedanken überlegte ich mir, was Axel Lossen wohl zugestoßen sein könnte. Hin und wieder blinzelte ich zu seiner Gattin hinüber, die mit gesenktem Kopf vor sich auf den Teppich hinabstarrte.

Dann gewahrte ich, einmal auf Harst schauend, in seinen Zügen jene seltsame Veränderung, die mir so wohl vertraut ist. Sein schmales, von der Tropensonne gebräuntes, bartloses Gesicht zeigte jetzt den Ausdruck aufs Höchste gespannter Energie. Die Backenknochen traten schärfer hervor; das Antlitz erschien noch schmaler; die Stirnfalten hatten sich noch vertieft; die auf der Sessellehne ruhenden Hände waren zu Fäusten zusammengekrampft.

Was nur konnte die Veränderung hervorgerufen haben?! Hatte Haralds nie müder Geist irgend etwas entdeckt, wodurch das Verschwinden unseres Berufskollegen …

 

2. Kapitel.

Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht.

Harst war urplötzlich hochgeschnellt. Sein Sessel stand links vom Tische der Wand am nächsten. Und an dieser Wand hing eine reichhaltige Sammlung von allerhand Waffen, deren Mittelpunkt ein wundervoll gearbeiteter eiserner Schild aus der Ritterzeit bildete.

Blitzartig hatte er den Schild herabgerissen, hatte mit einem zweiten Satz sich vor die erschrocken hochfahrende Frau Lossen gestellt und deren Oberkörper durch den fast 1¼ Meter hohen Schild nach den Fenstern zu geschützt, indem er sich gleichzeitig in die Knie sinken ließ, um selbst gedeckt zu sein.

Auch ich hatte bereits Haralds Absicht durchschaut, ebenso die Gefahr, die von draußen drohte. Mein Sessel befand sich der in den Flur führenden Tür ganz nahe. Neben dieser war der elektrische Schalter angebracht. Mit einem wahren Akrobatensprung erreichte ich den Schalter.

Das Licht erlosch.

In demselben Augenblick vernahm ich kurz hintereinander zwei klatschende Geräusche. Ich besann mich keine Sekunde, riß die Tür auf, lief durch den Flur zur Haustür, entfernte die Sicherheitskette und sprang die wenigen Stufen in den Vorgarten hinab.

Der Schein der Straßenlaternen genügte, um hier alles genau zu erkennen. Der Vorgarten war leer. Aber drüben auf der Straße jagte ein Radler in Windeseile davon. Es war ein Mann, der tief gebückt wie ein Rennfahrer auf der Maschine hockte. Er trug eine helle Sportmütze. Das war alles, was ich von ihm wahrnehmen konnte.

„Wieder so eine verdammte Luftpistole amerikanischen Systems mit starker Durchschlagskraft,“ sagte eine Stimme neben mir.

Es war Harald.

Er winkte mir. Wir traten an das linke der beiden Fenster des Arbeitszimmers. Diese Fenster lagen etwa anderthalb Meter über dem Erdboden. Die Mauer darunter hatte einen Vorsprung, auf dem ein Mensch recht gut stehen konnte.

Harald deutete auf ein paar frische Erdklumpen auf diesem Vorsprung. „Da hat der Mensch gestanden. Mit der Linken hat er sich am Fensterblech festgehalten. Die Vorhänge drinnen schließen nicht ganz. Ich hörte, wie Frau Lossens Verfolger – denn es handelt sich hier fraglos um ein Attentat gegen sie – sich auf den Mauerabsatz schwang. Ich sagte mir, daß der Betreffende nicht lediglich um zu horchen hierher gekommen sei. Ich saß gerade so, daß ich den Spalt in den Vorhängen gegen den Laternenschein der Straße sich abzeichnen sah. So konnte ich auch feststellen, daß der Mann eine Waffe in der Rechten hielt, und daß er sich weit zurückbog, um zielen zu können.“

Harald hob den Arm und zeigte auf zwei Löcher dicht am Rande der unteren rechten Scheibe.

„Das Glas ist kaum gesplittert. Beweis genug für die Durchschlagskraft der Kugeln, die nun in meinem Arbeitszimmer in der Wand sitzen. Zweimal feuerte der Schuft. Er hoffte Frau Lossens Stirn zu treffen, die ich wohl nicht genügend durch den Schild deckte. – Du siehst mein Alter, dieser späte Besuch hat uns wirklich einige Überraschung gebracht. Die Afghan-Teppich-Geschichte wird immer interessanter.“

Ich wandte mich hastig vollends um, schaute ihn erstaunt an.

„Afghan-Teppich?! Was hat Axel Lossens Verschwinden mit diesem Diebstahl zu tun?!“

„Still jetzt,“ meinte er nur. „Gehen wir zu Frau Lossen zurück.“ –

Harald schaltete das Licht wieder ein. Unser Gast lehnte ganz kraftlos und leichenblaß im Sessel.

„Mein Gott, was – was war das soeben?“ fragte die blonde Frau stammelnd.

Harald rückte seinen Sessel dicht neben den ihren.

„Gnädige Frau,“ sagte er ernst. „Das war ein Attentat. Man wollte Sie beseitigen. Sie sehen also, daß wir hier mit sehr rücksichtslosen Gegnern kämpfen. Ich bitte Sie nun um folgendes. Sie müssen mir Ihren Seidenmantel und Hut überlassen. Eine blonde Damenperücke besitze ich. Ich will versuchen, Frau Lossen zu spielen. Mein Freund Schraut wird nach einer Stunde ein Auto holen. In diesem Auto werden anscheinend Sie dann heimfahren. Geben Sie mir bitte Ihre Haus- und Wohnungsschlüssel. – Haben Sie Bedienung, gnädige Frau?“

„Ja, eine Köchin. Sie ist bereits sieben Jahre bei uns und sehr treu. Ich werde Ihnen für Minna einen Brief schreiben, Herr Harst, – als Ausweis.“

„Sehr gut. Bitte – tun Sie es sofort. Sie selbst bleiben für diese Nacht hier bei meiner Mutter. Das Fremdenzimmer oben ist sehr bald in Ordnung gebracht. Ich werde meine Mutter sogleich benachrichtigen.“

Frau Lossen war mit allem einverstanden.

Eine Viertelstunde drauf waren wir wieder allein. Harald hatte jetzt die Stabjalousien im Arbeitszimmer herabgelassen und die Vorhänge dicht geschlossen. Er ging langsam im Zimmer auf und ab.

„Die arme Frau wird nicht viel schlafen in dieser Nacht, fürchte ich. Kein Wunder das!“ sagte er leise und blieb vor meinem Sessel stehen. „Nun, meine Mutter wird sie wohl etwas beruhigen, hoffe ich. Mutter kann das sehr gut. Wenn sie weiß, daß ich jemandem helfen will, hält sie alles schon für eingerenkt. Sie wird mein Loblied in höchsten Tönen singen und der blonden Frau Mut machen.“

Ich hielt noch die beiden abgeplatteten Bleikugeln in der Hand, die Harald soeben aus der Wand herausgezogen hatte.

„Wie hängt denn Lossens Verschwinden mit –“

Harald ließ mich nicht aussprechen.

„Die einzige Verbindung zwischen dem Afghan und Lossen ist das Datum und der Beruf,“ unterbrach er mich. „Lossen verreiste am 31. August. Der Teppich aber wurde in der Nacht vom 1. zum 2. September gestohlen. Und – Lossen ist Detektiv!“

Ich schaute Harald ganz verständnislos an.

„Diese Verbindung ist mir unklar,“ meinte ich. „Ich würde es begreifen, wenn Du gesagt hättest oder hättest sagen können: Am 31. August wurde der Afghan gestohlen, und am 1. oder 2. September verreiste der Detektiv Lossen, um sich die ausgesetzte Belohnung zu verdienen, diese 50 000 Mark –“

Harald griff nach einer Zigarette, zündete sie umständlich an, erklärte darauf:

„Du bist immer noch zu wenig sorgfältig, mein lieber Alter. Als ich in Suez die Berliner Zeitungen durchsah und den Artikel über den Teppichdiebstahl gefunden hatte, habe ich auch die späteren Nummern des Anzeigers sehr genau durchgesehen. Und in der Morgenausgabe vom 5. September entdeckte ich noch eine Notiz, die sich auf den Afghan und den Rentier Martin Mazinbatry bezog. Sie war nicht sehr lang. Aber – sie war für mich wertvoller als die erste Nachricht über den Teppichdiebstahl und die hohe Belohnung.“

„Ah – diese zweite Notiz hast Du mir also unterschlagen. Hätte ich sie wie Du gelesen, dann wäre mir wohl klar geworden, weshalb dieser Afghan Dich so stark interessierte.“

„Fraglos! – Bitte, hier ist sie. Ich habe sie mir ausgeschnitten.“ Er entnahm seiner Brieftasche ein kleines Blättchen und reichte es mir.

Ich las folgendes:

Der Afghan-Teppich des Rentiers Mazinbatry ist noch nicht gefunden. Mazinbatry glaubt, daß seine Frau, die ihn vor einiger Zeit unter Mitnahme kostbarer Juwelen böswillig und heimlich verlassen hat, mit den Dieben unter einer Decke steckt. Bekanntlich hat der Rentier gegen seine Gattin Strafantrag wegen Mordversuchs gestellt, da sie am Tage ihrer Flucht ihn durch vergifteten Wein töten wollte. Sie wird daher von der Staatsanwaltschaft steckbrieflich verfolgt. Diese Frau Leonie Mazinbatry, verwitwete Gruber, besitzt aus ihrer ersten Ehe eine Tochter, die unter einem Künstlernamen eine unserer besten Schauspielerinnen ist.

Ich hatte sehr langsam gelesen, hatte jedes Wort, jeden Satz sehr genau geprüft. Aber – auch jetzt blieb die Erleuchtung aus. Der Inhalt dieser zweiten Zeitungsnotiz brachte ja manches Neue, aber doch nichts, was mit dem Diebstahl direkt etwas zu tun hatte. Die Annahme, Mazinbatrys Gattin könnte mit den Dieben gemeinsame Sache gemacht haben, erschien mir wenig wahrscheinlich. Eine wegen Mordversuchs steckbrieflich verfolgte Frau wird nicht so töricht sein, sich mit Dieben einzulassen, und sich nicht der Gefahr aussetzen, die Behörde auf ihre Spur zu lenken, sofern eben bei dem geplanten Diebstahl einer der Täter ergriffen wird.

Ich reichte Harald das Blättchen, meinte achselzuckend:

„Die Geschichte ist für mich genau so dunkel wie vordem.“

„So –?! Schade! Dir fehlt es an Phantasie. Ein Detektiv ohne Phantasie ist wie ein Tiger ohne Zähne, mein Alter. – Doch – es wird Zeit! Ich werde mich jetzt in Frau Lossen verwandeln, und Du wirst ein Auto holen. Halte aber die Augen auf der Straße gut offen. Sobald Du mit dem Kraftwagen hier vorgefahren bist, läßt Du den Chauffeur warten. Du begleitest mich dann bis an das Auto – das heißt, die angebliche Frau Lossen. Bin ich davongefahren, begibst Du Dich durch den Gemüsegarten zur nächsten Autohaltestelle und von da nach der Spohnholzstraße in Friedenau. Hier muß das Auto dicht vor der Hauptstraße halten bleiben. Bezahle den Chauffeur reichlich im voraus, denn es können Stunden vergehen, bis ich eintreffe. Nimm unser gewöhnliches Handwerkszeug mit und beobachte die Villa Mazinbatrys. Ich werde unter die Damenkleider ein Strolchkostüm ziehen. Auch Du mußt Dich in ähnlicher Weise unkenntlich machen. So, das wäre alles.“–

Etwa zwanzig Minuten drauf brachte ich „Frau Lossen“ an das Auto, verabschiedete mich von ihr sehr höflich und schaute dem Kraftwagen eine Weile nach. Unsere Blücherstraße ist still und einsam. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Auch als ich das Auto geholt hatte, konnte ich nirgends eine verdächtige Gestalt wahrnehmen.

Und wieder eine halbe Stunde später drückte ich mich in der Spohnholzstraße in den Schatten des dicken Pfeilers einer Vorgartenpforte gegenüber der kleinen Villa des Rentiers.

Das Haus war alt und nur zweistöckig. Die Fenster, fünf oben, fünf unten, waren durch gelbe Vorhänge verhüllt. Der Eingang befand sich links an der Seitenwand. Das Gebäude war schmucklos und düster. In der Spohnholzstraße gibt es zahlreiche ähnliche Privatbesitze mit größeren Gärten.

Es war jetzt genau ½12. Von irgendwoher vernahm ich den blechernen Klang zweier Turmuhrschläge. Ich verglich meine Taschenuhr. Es stimmte: ein halb zwölf! – Ich rechnete damit, hier sehr lange warten zu müssen. Ich hatte mir für alle Fälle eine kurze Tabakspfeife mitgenommen; ich stopfte sie mir mit einem hellen Feinschnittabak[2] aus einer Papiertüte. Harst hatte mich längst gelehrt, eine Maske bis ins kleinste genau durchzuführen. Als abgerissener Strolch mußte ich Pfeife rauchen. Die Zigarre oder die Zigarette wären stilwidrig gewesen.

Die Spohnholzstraße ist mit alten, breitästigen Bäumen bestanden. Der Nachtwind trieb die abgefallenen Blätter raschelnd über den Fahrdamm und die Bürgersteige. Der Herbst meldete sich schon mit Macht. Die Luft war kühl und erfüllt von leicht modrigem Erdgeruch. Es hatte am Tage geregnet, und die feuchten Gärten dufteten nach totem Boden, toten Pflanzen und Blumen.

Ich hatte jetzt auch die beste Gelegenheit, mir all das nochmals in der Erinnerung aufzufrischen, was mit diesem Falle, den ich hier den Afghan-Teppich genannt habe, zusammenhing. Ich habe als Harsts Privatsekretär stets den Ehrgeiz besessen, seine Gedankenarbeit nach Möglichkeit zu durchschauen. Ich habe mich oft geradezu abgequält, ihm es an Scharfsinn gleichzutun.

So auch jetzt. – Für mich blieb die Hauptfrage: Was bildet den Zusammenhang zwischen dem Berufskollegen Axel Lossen und dem Teppichdiebstahl? – jedoch vollkommen dunkel. Wo nur waren hier die verbindenden Fäden?! Wo?!

Durch die Stille der Nacht näherten sich von der Hauptstraße her auf dem gegenüberliegenden Bürgersteige feste Schritte. Ich lugte hinter dem Pfeiler hervor. Der nächtliche Wanderer, der da, harmlos und halblaut ein Liedchen pfeifend, daherkam, war ein hochgewachsener Mann. In der Linken trug er eine kleine Handtasche, in der Rechten einen Spazierstock.

Aber – ich sah noch mehr. Diesem schlanken Herrn, der einen dunklen Jackenanzug anhatte, folgte im Schutze der Bäume, lautlos von Stamm zu Stamm huschend, eine zusammengekrümmte Gestalt, so ein echter Rowdy, die schmierige Schirmmütze auf einem Ohr, um den Hals ein grellbuntes Tuch geschlungen.

Diese katzenartig gewandten Bewegungen kannte ich. Das konnte nur Harald sein. Und sofort schoß mir auch die Frage durch den Kopf: Weshalb bleibt er so dicht hinter dem Herrn mit der Handtasche? – Ist dieser Herr etwa Martin Mazinbatry? überlegte ich mir weiter. Und: weshalb mußte ich denn überhaupt des Rentiers Villa überwachen? Weshalb?! – Dies hatte ich noch gar nicht nachgeprüft. Ich hatte lediglich getan, was Harst angeordnet hatte. Und dabei hätte ich mir doch eigentlich sofort sagen müssen: welchen Zweck kann eine Beobachtung der Villa haben, wenn diese Beobachtung sich nicht gerade gegen den Besitzer selbst richtet?

Inzwischen war der schlanke Herr aus dem Laternenlicht in den Schatten gelangt. Vor der Villa selbst[3] stand keine Straßenlaterne.

Jetzt nahm der Herr auch den Spazierstock in die Linke, faßte mit der Rechten in die Schlüsseltasche der Beinkleider. Ich hörte ein feines Klirren. Also hatte er nun einen Schlüsselbund in der Hand. Er ging auch langsamer. Sein Pfeifen war verstummt.

Seine Schritte hörten auf. Er stand vor der Gitterpforte des Vorgartens der Villa Mazinbatry.

Ah – also wirklich Mazinbatry!

Und – er ahnte nicht, daß Harald bereits hinter dem nächsten Baume verborgen war!

Was würde geschehen? Was beabsichtigte Harst?

Jetzt – jetzt sprang Harald vor, sprang dem Rentier, der soeben die Pforte aufgeschlossen hatte, mit solcher Gewalt gegen den Rücken, daß der Mann nach vorwärts in den Garten fiel.

Ich hörte des Überfallenen Wutschrei, hörte das Zuschlagen der Pforte, sah Harst mit der Handtasche davonjagen.

Ich zögerte nicht einen Moment, rannte hinter ihm drein. Ich sagte mir eben, daß ich fraglos gezwungen werden würde, mein Inkognito zu lüften, sobald der Rentier durch sein Geschrei die Nachbarschaft oder Vorübergehende alarmiert und man dann mich in meinem Strolchkostüm festgehalten hätte.

Ich rannte. Aber sehr bald fiel mir auf, daß Mazinbatry sich völlig ruhig verhielt. Außer dem einen halb unterdrückten Wutschrei hatte er sich in keiner Weise mehr gemeldet.

Harst ging jetzt im Schritt. Auch ich gab das Laufen auf. Dort hielt auch schon das Auto. Der Chauffeur war von mir schon unterrichtet worden, daß ich Privatdetektiv sei. Meinen Namen hatte ich natürlich verschwiegen.

Es war ein geschlossenes Auto. Ich rief dem Chauffeur zu: „Schnell – ankurbeln! Dann nach Bahnhof Schmargendorf!“

Der Mann ließ sich Zeit, kletterte gemächlich herab und begann den Motor anzuwerfen. Wir waren inzwischen eingestiegen, hatten uns nebeneinander auf die Rücksitze gesetzt, und Harst sagte, indem er tief Atem holte:

„So, das wäre geglückt –“

Der Motor begann zu rattern. Der Chauffeur nahm seinen Platz wieder ein, und der Kraftwagen ruckte an.

Da – im selben Moment wurde die linke Tür aufgerissen. Ein Mann schwang sich blitzschnell hinein, warf die Tür zu, hielt Harald gleichzeitig eine Pistole vor die Brust und sagte:

„Sie haben mich unterschätzt, Herr Harst. Sobald einer von Ihnen nur eine verdächtige Bewegung macht, drücke ich ab.“

Harald blieb zurückgelehnt sitzen und sagte gelassen:

„Mit wem haben wir das Vergnügen?“

Ein kurzes Auflachen. „Spielen Sie doch nicht Komödie, Herr Harst. Daß ich Martin Mazinbatry bin, wissen Sie so gut wie ich!“

Es stimmte: es war der schlanke Herr, dem Harst die Tasche entrissen hatte. – Der Chauffeur aber fuhr ahnungslos, was in seinem Kraftwagen sich abspielte, in raschem Tempo durch die nächtlichen Straßen.

 

3. Kapitel.

Harald lachte jetzt gleichfalls.

„Sie haben recht, Herr Mazinbatry. Weshalb wollen wir die Situation nicht klären?“ meinte er harmlos-gemütlich. „Stecken Sie doch die Pistole wieder weg. Sie kennen mich ja wohl genügend vom Hörensagen. Ich hätte Ihnen das Ding längst aus der Hand geschlagen, wenn ich gewollt hätte.“

„So?! Versuchen Sie es doch mal! – Aber lassen wir all die Redensarten. Wenn Sie mir versprechen, hier im Auto still zu sitzen und keinen Angriff auf mich zu unternehmen, verschwindet die Pistole.“

„Gern. Sie haben mein Wort für uns beide.“

„Danke.“ Mazinbatry schob die Waffe in die Tasche. Dann nahm er die Handtasche, die zwischen uns stand, öffnete sie und sagte:

„Da – es ist nichts darin als ein paar Einkaufe: hier ein Buch, eine Büchse Sardinen, eine Büchse Hummer und eine halbe Kiste Zigarren. Weshalb stahlen Sie also diese Tasche, Herr Harst? Und – was wollen Sie überhaupt von mir?“

Das Auto hatte an der Decke ein kleines Glühlämpchen. Mazinbatry log nicht: die Handtasche enthielt nur die von ihm aufgezählten Sachen, die er einzeln herausgenommen und uns dicht vor die Augen gehalten hatte. Seine Worte trieften dabei förmlich vor überlegenem Hohn.

Er ließ die Tasche halb offen und stellte sie wieder zwischen uns.

„Bitte – was wollen Sie also von mir, Herr Harst?!“ wiederholte er jetzt fast befehlend. „Ich werde Sie beide jedenfalls nicht schonen, davon können Sie überzeugt sein. Sie haben mich beraubt, haben mir einen rohen Stoß versetzt und sollen für dieses unerhörte Vorgehen gegen einen anständigen Bürger büßen. Wir werden zur Polizei fahren, und dort werde ich meine Aussagen zu Protokoll geben.“

„Womit ich durchaus einverstanden bin,“ nickte Harst.

Mazinbatry hatte seine Zigarrentasche hervorgeholt und steckte sich eine Zigarre in den Mund. Er nahm dann ein Feuerzeug aus der Westentasche und drehte das Stahlrädchen. Der Docht wollte jedoch nicht brennen.

Harald meinte jetzt:

„Wir fahren nach dem Bahnhof Schmargendorf, Herr Mazinbatry. Vielleicht öffnen Sie das kleine Fenster und rufen dem Chauffeur zu, daß er die nächste Polizeiwache als Ziel wählt.“

Mazinbatry hantierte noch mit dem Feuerzeug herum und schwieg.

Ich hatte mir den Rentier jetzt in Ruhe angesehen. Er hatte ein schmales, sehr faltiges und ganz bartloses, blasses Gesicht, dazu ein Paar große, offenbar hellgraue, tief in dem Kopfe liegende Augen. Das Gesicht wirkte als Ganzes nicht gerade unsympathisch. Nur der Mund mit den dicken Wulstlippen und die breite Kinnpartie riefen den Eindruck eines brutalen Charakters hervor. Das Alter dieses Mannes war schwer zu schätzen. Er konnte ebenso gut fünfzig wie fünfunddreißig Jahre sein. –

Ich schaute zu, wie er immer wieder das Rädchen des Feuerzeuges drehte, und dachte dabei: „Du wirst auf der Polizeiwache schon klein werden! Harald hat ja sicher gegen Dich Trümpfe im Spiel, von denen Du nichts ahnst!“

Ach – ich kam mir damals so ganz als Sieger vor, obwohl ich doch in diesem Afghan-Problem noch so vollständig im Dunkeln umhertappte – so ganz als Sieger, und vermutete ebensowenig wie Harst, daß wir es hier mit einem Gegner zu tun hatten, der alles in den Schatten stellte, was wir bisher von verbrecherischer Intelligenz kannten.

Ich schaute immer noch auf Mazinbatrys Hände, die sich mit dem Feuerzeug beschäftigten.

Seltsam: diese Hände, die so weiß und schmal waren und so glänzend lackierte, spitz geschnittene Nägel hatten, diese Hände schienen plötzlich ins Riesenhafte zu wachsen, nahmen ganz ungeheuerliche Dimensionen an. Außerdem schienen sie auch in allen Farben zu leuchten.

Was war das?! Träumte ich?! Woher plötzlich diese Verzerrung alles dessen, was ich sah?! Denn – als ich jetzt Mazinbatry in das teuflisch grinsende Gesicht blickte, erschien es mir wie ein Kolossalgemälde, in schreiendsten Farben ausgeführt.

Nur das eine erkannte ich ganz deutlich: der Mensch lachte uns höhnisch an!

Was war das?! Träumte ich wirklich?! Was beeinflußte mit einem Male meine Sehnerven und mein Hirn derart, daß ich wahre Spukgebilde vor mir sah?!

Dann fühlte ich, wie mir die Augenlider schwerer und schwerer wurden. Mit aller Energie versuchte ich jetzt, den Kopf nach Harst hinzuwenden. Es gelang mir nicht. Die Lider, alle Glieder, der ganze Leib schienen aus Bleimassen zu bestehen. Rote und grüne Sternchen stobten in Massen vor mir auf. Das war das letzte.

Ich verlor das Bewußtsein. –

Und erwachte auf – einem mit Zinkblech benagelten Seziertisch in einem fensterlosen Kellerraum, war mit Riemen auf dem Tische festgeschnallt.

Über mir brannte an der weißgetünchten Decke eine große Karbidlampe mit Spiegelschirm. Ich kam nur allmählich zu mir, erfaßte nur nach und nach das, was mit mir geschehen.

Ich war nackt, völlig nackt. Und neben dem Tische stand Mazinbatry und hielt ein blitzendes Operationsmesser in der Hand.

„Ah, auch schon munter, Herr Schraut,“ redete er mich an. „Sie haben etwas sehr viel von meiner famosen Gasmischung geschluckt. Herr Harst ist schon eine volle Stunde bei Besinnung, obwohl er mir gegenüber noch immer den Bewußtlosen vorzutäuschen sucht. Er vergißt nur, daß ich Arzt bin, wenn ich mich als Arzt auch nicht mehr betätigen darf. Ja – die Behörden! Verrückte Gesellschaft! Behaupten, Martin Mazinbatry hätte aus krankhafter Operationswut viele Patienten umgebracht! Blöde Narren alles! Sie hatten mich sogar ein Jahr in eine Irrenanstalt eingesperrt. Aber die Kollegen dort sahen bald ein, daß ich durchaus normal war. Doch – wozu diese Erinnerungen auffrischen?! – Ich habe Sie soeben untersucht, Herr Schraut. Sie ahnen wohl gar nicht, daß Sie an Magenkrebs leiden? Ja – es ist so. Auch Herr Harst ist „Krebser“ – leider! Bei ihm sieht’s schlimmer damit aus. Es handelt sich um Darmkrebs. Der ist operativ schwerer zu beseitigen als Ihr Magenkrebs, Herr Schraut –“

Ich war jetzt völlig munter. Kein Wunder! Dieser Mazinbatry war fraglos ein Verrückter! Und ganz sicher wollte er uns operieren! – Oder – war all das, was er soeben gesprochen hatte, nur Hohn?! War es blutige Ironie?! Wollte er uns unsere Wehrlosigkeit nur so recht eindringlich vor Augen führen?!

Da – Haralds Stimme! Und die wirkte wie die Befreiung von einem gräßlichen Alpdrücken.

„Herr Mazinbatry – einen Augenblick –“

Ich wandte den Kopf nach links. Kaum drei Schritt entfernt stand ein zweiter Tisch. Und dort lag Harald.

Auch Mazinbatry hatte sich umgedreht.

„Sie wünschen, Herr Harst?“

„Ich bitte Sie, uns zu erklären, wie wir hierher gekommen sind. Oder besser: mir zu bestätigen, daß folgende Vermutungen zutreffen. Sie hatten in der Handtasche in der einen Büchse, sicherlich der angeblichen Hummerbüchse, ein Gasgemenge vorbereitet gehabt. Dieses Gas ließen Sie ausströmen. Den Verschluß öffneten Sie, als Sie uns den Inhalt der Handtasche zeigten. Das Gasgemenge war geruchlos[4]. Wir verloren das Bewußtsein. Sie werden dann den Chauffeur gleichfalls irgendwie betäubt haben, ließen ihn irgendwo zurück und fuhren uns nach Ihrer Villa, brachten uns in diesen verborgenen Keller, schafften das Auto wieder weg und – gewannen so vorläufig die Partie. Die Zigarre, die Sie im Munde hatten, war so etwas Ähnliches wie eine Gasmaske und bewahrte Sie vor den Wirkungen des Gases.“

Mazinbatry verbeugte sich.

„Sie haben richtig vermutet – bis auf einen Punkt. Sie befinden sich nicht in meiner Villa.“

„Sondern?“

„– sondern in meiner zweiten Behausung. Wo diese liegt, ist gleichgültig.“

„Allerdings. – Sie wollen uns beide jetzt, wenn ich mich nicht irre, operieren, Herr Mazinbatry?“

„Gewiß. Das will ich. Und zwar ohne Narkose. Sie sind beide „Krebser“. Ihr Fall ist der gefährlichere, Herr Harst.“

Ah – dies war jetzt offenbarer Hohn! Dies war nichts als ein höhnisch umschriebenes Todesurteil! – Nein – dieser Schurke war nicht geisteskrank. Aber – suchte er etwa den Anschein zu erwecken, daß er es sei?! – Was sollte das aber dann?! Er hatte uns doch in seiner Gewalt!

„Mit einem Wort: Sie wollen uns ermorden!“ meinte Harald nun. „Sie sind früher Arzt gewesen. Das weiß ich. Ich arbeitete hier in Berlin noch als Assessor an der Staatsanwaltschaft, als der praktische Arzt Mazinbatry vor den Geschworenen stand – wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang, begangen durch fehlerhafte Operationen. Die Geschworenen sprachen ihn frei, aber man steckte ihn ins Irrenhaus. Der Prozeß erregte damals großes Aufsehen –“

Mazinbatry verneigte sich übertrieben tief. „Meine Hochachtung! Ihr Gedächtnis ist gut, Herr Harst.“

„Freilich! Ich weiß auch, daß Sie damals, um dem Zuchthause zu entgehen, Geistesstörung simuliert haben. Auch jetzt wollen Sie den Morden an uns ein Mäntelchen umhängen. Weshalb sind Sie so feige, nicht offen einzugestehen, daß Sie uns beseitigen wollen, weil Sie uns fürchten?“

„Ah – eine kühne Sprache für einen nackten Menschen, der auf einen Seziertisch geschnallt ist!“ lachte Mazinbatry belustigt. „Sie nennen mich feige. Sie irren. Ich will Sie wirklich operieren. Natürlich werden Sie dabei eingehen – exitus sagt man als Arzt, exitus unvermeidlich. Und exitus heißt Ausgang, Tod. – Ob ich Sie fürchte?! – Hm – ich will ehrlich sein. Ja – ich fürchte Sie! Sie haben gestern abend den Besuch einer Dame gehabt, die – na sagen wir – die mir etwas unbequem ist.“

„Der Teppich-Geschichte wegen,“ warf Harald ein.

„Teppich-Geschichte?! – Ach so, Sie denken an meinen schönen Afghan! Richtig, in der Zeitung stand ja, Sie wollten hier in Berlin nach dem Teppich suchen. Sehr liebenswürdig, Herr Harst! Ich hätte mich darüber auch sehr gefreut, wenn nur eben nicht Frau Lossen so töricht gewesen wäre, sofort zu Ihnen zu laufen. Nun steht die Sache für Sie beide faul – oberfaul! Sie sind Zeugen gewesen, als ich die Lossen durch die beiden Schüsse einzuschüchtern suchte. Man könnte diese Schüsse als Mordversuch auslegen. Dadurch hätte ich Weiterungen. Es ist deshalb sicherer, Sie beide verschwinden spurlos. Die Lossen ahnt ja nicht, wer es ist, der sie ständig belauert. Ich war’s. Bald als Mann, bald als Weib, und stets verschieden aussehend. Ja – es gibt auch noch außer Ihnen recht gute Verkleidungskünstler. Und – da die Lossen nichts ahnt, darf ich es getrost wagen, Sie verschwinden zu lassen.“

„Wie Sie schon den Detektiv Axel Lossen verschwinden ließen, Herr Mazinbatry,“ warf Harald abermals ein.

„So?! Bitte – beweisen Sie mir das!“

„Oh – seien Sie doch nicht albern! Wofür halten Sie mich eigentlich! Denken Sie, ich kann mir nicht zusammenreimen, daß Axel Lossen mit Ihnen irgend etwas vorgehabt hat und daß Sie ihn beseitigt haben?! Frau Lossen erzählte mir von einem geheimnisvollen Auftrag, den ihr Gatte durch eine stets tief verschleierte Dame erhalten hätte und über den er nicht einmal mit ihr, seiner Frau, sprach. Ich wette, diese Verschleierte hat Lossen auf Sie gehetzt und –“

Mazinbatry hatte eine kurze Handbewegung gemacht.

„Genug, Herr Harst. Ich merke, Sie wollen mich ausholen. – Lossen lebt. Das mag Ihnen genügen. Aber – auch er wird sterben, wie Sie beide. – Ich muß Sie jetzt verlassen. Ich will mich auch Frau Lossens versichern. Daß Sie es waren, der in Frau Lossens Mantel und Hut in das Auto stieg, sah ich sofort. Ich lag nämlich hinter den Fliederbüschen Ihres Vorgartens links am Zaune, Herr Harst. Frau Lossen wird wohl jetzt gegen Morgen aus Ihrem Hause sich in ihr eigenes Heim zurückbegeben. Da wird sich mir schon eine Gelegenheit bieten, mich ihrer zu bemächtigen. Mir ist nichts unmöglich. An Erfindungsgabe übertreffe ich selbst Ihren Gegner Warbatty.“

Er besichtigte nochmals die Riemen, die uns an den Seziertischen festhielten. Es waren im ganzen fünfzehn für jeden von uns: je drei für die Beine und Arme, und drei für den Rumpf. – Die Riemen hatten Schnallen und waren ganz neu. Einige zog er schärfer an. Dann schob er uns Knebel in den Mund und befestigte sie durch Bindfaden so, daß wir sie nicht mit der Zunge herausstoßen konnten.

„Auf Wiedersehen, meine Herren!“ Er verbeugte sich mit ironischer Höflichkeit. „Wenn ich hier wieder erscheine, hat Ihr letztes Stündlein geschlagen.“

Er verließ den Kellerraum durch eine schmale, niedere Tür. Wir hörten ein Schloß einschnappen. Dann wurde es völlig still.

Eine Weile lag ich regungslos. Ich vermutete, daß Mazinbatry uns von draußen beobachten würde. Auch Harald regte sich nicht.

Ich hatte Zeit genug, unsere Lage nach allen Richtungen hin zu überdenken. Ich zweifelte nicht daran, daß Mazinbatry seine Drohung wahrmachen und uns töten würde, falls – es so weit überhaupt kam.

Ob ich Angst empfand? – Nein, nicht im geringsten! Und dies aus dem sehr einfachen Grunde, weil ich mir bereits vorhin einen Rettungsweg zurechtgelegt hatte. Die Idee war einfach, geradezu selbstverständlich. Ihr Gelingen hing lediglich davon ab, ob die Seziertische am Boden festgeschraubt waren. Das nahm ich jedoch nicht an. Der Boden war mit Zement ausgegossen. Weshalb sollte Mazinbatry sich die Mühe gemacht haben, die Tische in der Zementschicht zu befestigen?

Da – Harst hatte leise gehüstelt. Ich wandte den Kopf. Harald nickte mir zu. Unsere Köpfe lagen auf weichen Unterlagen etwas erhöht.

Ich nickte ebenfalls, warf dann meinen Körper mit einem Ruck nach links.

Der Tisch rührte sich nicht.

Nochmals – nochmals versuchte ich es. Stets ohne Erfolg. Ein eisiger Schreck durchzuckte mich da: der Tisch war zweifellos am Boden befestigt! Und ich hatte gehofft, das schmale Ding nach links umkippen zu können! Hätte Harst dasselbe getan, dann mußten wir fast Leib an Leib zu liegen kommen; dann hätten wir, da wir von den an den Seiten des Körpers lang ausgestreckten und so an den Tisch angeschnallten Armen immerhin die Hände bewegen konnten, die Riemen an den Handgelenken uns gegenseitig vielleicht lösen können!

Vielleicht! – Es blieb ein Vielleicht! Es wurde die größte Enttäuschung, die ich je erlebte.

Harald runzelte jetzt die Stirn und schüttelte den Kopf. Das hieß: „Laß diese zwecklosen Versuche!“

Aber gleichzeitig sah ich auch etwas anderes. Und zwar, daß Harst mit der rechten, für mich sichtbaren Hand andauernd eine Kreisbewegung ausführte, so etwa, als ob er mit der flach auf dem Zinkblech aufliegenden Hand etwas zerreiben wollte.

Wozu das?! – Ich beobachtete ihn weiter. Er hielt die Hand nicht einen Moment still. Ich schaute ihn fragend an. Er nickte mehrmals, und die Hand bewegte sich noch schneller.

Ich sann nach. Dann kam ich auf das Richtige: Mazinbatry hatte die Riemen durch in die Tischplatte gebohrte Löcher hindurchgeleitet. Und die oberen Ränder dieser Löcher mußten, da sie durch das Zinkblech gingen, sehr scharfkantig sein!

Harst versuchte also, an diesen scharfen Kanten die Lederriemen durchzureiben! Das war’s!

 

4. Kapitel.

Als ich nun mit meinen Händen dieselben Bewegungen zu machen begann, wobei ich nur sehr wenig Spielraum hatte, zwinkerte Harald mir befriedigt zu.

Endlose Stunden schienen dahinzuschleichen. Ich schwitzte längst vor Anstrengung. Ich mußte des öfteren mich ausruhen. Aber: ich merkte, daß der Riemen, der mein rechtes Handgelenk umspannte, sich allmählich weitete.

Und dann – ein Ruck! Ich hatte diese Hand frei!

Der nächste Riemen lag um das Ellenbogengelenk. Trotzdem konnte ich den Arm jetzt so weit krümmen, daß ich die dritte Fessel dieses Armes an der Schulter und die um Brust und Leib zu lösen vermochte. Das Herausziehen des rechten Unterarmes aus dem Ellbogenriemen war nun eine Kleinigkeit.

Ich hatte den Arm frei.

Gleich darauf erhoben wir uns von den scheußlichen Tischen. In einer Ecke lagen unsere Kleider. Wir zogen uns schnell an. Wir fanden in unseren Taschen alles, was wir brauchten. Und am meisten brauchten wir unsere Clement-Repetierpistolen.

„So – nun mag er nur zurückkommen,“ meinte Harst und untersuchte die Tür, die innen mit Blech benagelt war. „Hm – ich finde kein Guckloch. Nur ein Schlüsselloch hat sie. Verstopfen wir dieses. Dann kann Mazinbatry nicht hineinschauen. – So, und jetzt wollen wir uns hier näher umsehen. Dort der große Schrank erregt meinen Verdacht. Er ist verschlossen. Brechen wir die Tür auf. Da liegt ja ein kleines Beil, mein Alter –“

Die Türen des Schrankes flogen auf.

Und – was fanden wir darin?! Axel Lossen, den Detektiv, zum Skelett abgemagert, auf einem – Teppich liegend, einem Afghan-Teppich!

Lossen war gefesselt. – Und wie war er gefesselt!

Nur die Phantasie eines vertierten Scheusals konnte eine solche Art der Wehrlosmachung eines Menschen ersinnen!

Er lag auf einem Afghan-Teppich, wenigstens mit dem Rücken. Arme und Beine aber waren durch Drähte nach oben gereckt. Im Munde hatte er einen Knebel. Die Handgelenke waren durch die Drähte zerschunden, stellenweise vereitert und unförmig geschwollen.

Ein wüster Bart bedeckte Kinn und Wangen des Unglücklichen. Das Kopfhaar war seit Wochen nicht gekämmt. Das entsetzlich magere, leichenähnliche Gesicht starrte vor Schmutz. Und in den Augen dieses Ärmsten lag ein Ausdruck von Verzweiflung und Mutlosigkeit, der an Irrsinn grenzte.

Wir befreiten ihn. Als wir die Drähte von den Haken oben in der Decke des Schrankes lösten, als die hochgereckten Gliedmaßen auf den Teppich herabsanken, stieß Lossen ein fast tierisches Schmerzgebrüll aus. Dann fiel er in Ohnmacht.

„Bestie!“ murmelte ich unwillkürlich. Und dieses Wort galt Martin Mazinbatry.

„Ja – Bestie!“ wiederholte Harald mit besonderer Betonung.

Ich wurde aufmerksam. Eine undeutliche Erinnerung kam mir. – Bestie – Bestie?! – Ich hatte diesen Ausdruck doch letztens noch in besonderem Zusammenhang gehört –?!

„Tragen wir ihn auf dem Teppich auf einen der Tische,“ meinte Harst.

Es geschah. – Dann durchsuchte Harald ein hohes Gestell, auf dem allerlei Gläser und Flaschen standen. Er fand auch eine Flasche mit reinem Alkohol und eine zweite mit destilliertem Wasser. Wir mischten beides und reinigten die Wunden Axel Lossens. Er kam dabei nicht zu sich. Er lag wie ein Toter da. Der Puls war sehr schwach.

„Hoffentlich stirbt er nicht vor Entkräftung,“ meinte Harald mit verbissener Wut, die sich gegen den entmenschten früheren Arzt richtete. „Dieses Scheusal von Mazinbatry muß mit dieser Tortur etwas besonderes bezweckt haben. Jedenfalls müssen wir schleunigst hier heraus.“

Er nahm abermals das Beil. Unter seinen kräftigen Hieben war die starke Tür dieses Raumes sehr bald aufgesprengt.

Wir gelangten so in einen kleinen Vorraum von quadratischer Form. Aber – hier war von einem Ausgang keine Spur! Nur glatte Mauern, weißgetüncht; nur eine weißgetünchte Decke über uns und Zementfußboden unter unseren Füßen.

Wir leuchteten die Wände mit unseren elektrischen Taschenlaternen ab. Harst entdeckte dann die überaus schlau angelegte Geheimtür. Sie befand sich an der linken Seite des für die Tür nach dem größeren Raume hin offen gelassenen dickwandigen Mauerdurchbruchs und bestand aus einem dicken Eichenbrett, dem fugenähnliche Vertiefungen und Kalkanstrich das Aussehen einer Ziegelmauer verliehen.

Hinter dieser Geheimtür gab es einen kurzen, engen Gang, der dort, wo er in den Hauptkeller mündete, durch eine ähnliche Tür verschlossen war. – Wir gelangten nun bald bis an die Kellertreppe. Wir sahen, daß durch die vergitterten Kellerfenster helles Tageslicht hereinströmte. Unsere Uhren zeigten auf ¼10.

Die Tür der Kellertreppe war nur eingeklinkt. Wir befanden uns nun in einem Flur, in dem vier Türen mündeten. Ganz unerwartet öffnete sich eine dieser Türen. Wir sahen uns einem grauhaarigen Weiblein mit runzligem Gesicht gegenüber.

Die Alte fuhr bei unserem Anblick entsetzt zurück.

„Guten Morgen,“ sagte Harald höflich. „Dies ist doch die Villa Herrn Mazinbatrys, nicht wahr?“

„Ja – ja,“ stotterte die Frau. „Wie – wie sind Sie beide denn ins Haus gelangt?“

„Das ist vorläufig Nebensache. Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“

Schwupp – flog die Tür ins Schloß. Drinnen wurde ein Riegel vorgeschoben.

Harald schaute an sich herab. „Hm – wir haben nicht an unsere Kostüme gedacht. Wir sind Strolche, – das sieht man.“ Er lächelte ganz wenig. „Mazinbatry hat uns also belogen. Es ist doch seine Villa in der Spohnholzstraße,“ fügte er hinzu. „Ich dachte es mir. Er konnte Axel Lossen von hier kaum anderswohin geschafft haben.“

Er versuchte dann, ob eine der anderen Türen sich öffnen ließ. Wir hatten uns jetzt hier schon genügend orientiert. Es war der Hinterflur der Villa. Und die ins Freie führende Tür, in deren Schloß der Schlüssel steckte, brachte uns dann in den Garten. Wir gingen um das Haus herum. Hier im Vorgarten trafen wir abermals mit der alten Frau zusammen. Sie kam von der Gartenpforte her. Auf der Straße stand ein Paketwagen der Post. Der Kutscher und der Austräger schienen von der Alten um Hilfe gebeten worden zu sein. Als die Frau uns erblickte, kreischte sie sofort los:

„Da sind sie – da sind sie!“

Dann rannte sie wieder auf die Straße.

Die beiden Beamten aber hatten offenbar nicht viel Lust, mit uns anzubinden. Der Ältere brüllte jetzt ein paar Straßenreinigern zu:

„He – helft uns, die beiden da festzunehmen –“

„Das ist nicht nötig!“ rief Harald. „Wir sind alles andere, nur nicht Spitzbuben –“

Ich will mich bei diesen Einzelheiten nicht lange aufhalten. Wir wurden jedenfalls in der Villa förmlich belagert, bis dann zwei Polizeibeamte erschienen. Wir hatten uns in Mazinbatrys Arbeitszimmer gesetzt, und Harst hatte zu seiner Freude hier Zigaretten entdeckt. So kam es denn, daß die Beamten uns rauchend und in Gobelinsesseln sitzend antrafen.

Die Situation war im Augenblick geklärt. Einer der Beamten ging dann hinaus und sorgte dafür, daß die vor der Villa versammelten Neugierigen sich zerstreuten. Inzwischen begaben wir uns mit dem anderen in den Keller und schafften Axel Lossen nach oben, ebenso den Afghan-Teppich. Lossen wurde in aller Stille in ein nahes Krankenhaus übergeführt.

Wir besichtigten den Teppich. Die alte Frau, Mazinbatrys Aufwärterin und einzige Bedienung, stand dabei. Sie wußte noch immer nicht, wie wir hießen. Nur daß wir Detektive waren, merkte sie an dem Verhalten der Polizeibeamten uns gegenüber.

Harst hatte diesen lediglich mitgeteilt, daß wir auf Veranlassung Frau Lossens nach ihrem Manne gesucht hätten. Alles weitere wollte er mit dem zuständigen Kriminalkommissar besprechen.

Mittlerweile war es 10 Uhr geworden. Als Harald sich nun den Afghan recht genau ansah, blieb die alte Aufwärterin, eine Witwe namens Ranke, wie schon erwähnt im Zimmer und machte sich in unserer Nähe allerhand zu tun. Ich hatte den ganz bestimmten Eindruck, daß sie lediglich hören wollte, was wir miteinander sprachen.

Wir hatten das Arbeitszimmer Mazinbatrys in der Mitte freigemacht und den Teppich in seiner ganzen Länge ausgebreitet. Harald rutschte jetzt darauf auf den Knien umher, untersuchte ihn ganz eingehend, was mir gerade so unverständlich war wie dieser ganze Kriminalfall.

„Aha!“ meinte er mit einem Male, als er die eine Ecke besichtigte. „Aha – hier ist’s! – Mein Alter, drehen wir den Teppich einmal um!“

Frau Ranke half dabei. Harst beobachtete sie heimlich, wie ich merkte.

„Wie lange sind Sie hier schon Aufwärterin?“ fragte er sie jetzt so ganz nebenbei und kniete nun wieder auf der Rückseite des Teppichs.

„Etwa zwei Jahre,“ erklärte die Alte widerwillig.

„Dann haben Sie auch noch Frau Leonie Mazinbatry gekannt, die jetzt ihrem Manne ausgerückt ist –“

Die Frau sagte nichts. Ihre welken Lippen kniffen sich fester zusammen.

„Hatten Mazinbatrys nie eine andere Bedienung außer Ihnen?“ fragte Harst weiter, ohne den Kopf zu heben. Er hatte jetzt eine Lupe in der Hand, die er vorhin von des Rentiers Schreibtisch genommen hatte.

„Ja. Eine Köchin,“ sagte die Ranke langsam. „Aber der Herr entließ sie zwei Tage nach – nach dem Verschwinden seiner Frau und behielt nur mich.“

Harst stand auf und stellte sich dicht vor die Alte hin.

„Weshalb haben Sie ein so großes Interesse an dem Teppich?“ meinte er in schärferem Tone. „Lügen Sie nicht! Ich will Ihnen sagen, wer ich bin. Sie dürften meinen Namen kennen.“

Die Frau war flammend rot geworden und blickte scheu zur Seite.

„Ich bin Harald Harst, der Liebhaberdetektiv,“ erklärte er nun und ließ kein Auge von dem welken, verlegenen Gesicht.

Da veränderte sich das Antlitz der Alten auf ganz merkwürdige Weise. Freudiges Erstaunen strahlte aus den durchfurchten Zügen.

„Herr Harst?“ flüsterte sie. „Wirklich Herr Harst?“

„Ja. Die beiden Polizeibeamten dort werden es Ihnen bestätigen.“

„Oh – dann – dann –“ Sie verstummte, wurde wieder ein wenig verlegen.

„Was ist’s also mit dem Teppich?“ forschte Harst.

„Er – er war an der einen Ecke ganz naß,“ erwiderte die Alte leise. „Herr Mazinbatry hatte die Wasserkaraffe fallen lassen. Sie war dabei in Scherben gegangen –“

Was sollte das nun wieder? Was sollte dieses Verhör der Ranke? – Ich gebe zu: ich war noch immer völlig ahnungslos.

„Wann floh Frau Mazinbatry? Nachts?“

„Ja, nachts. Am Morgen um 8 Uhr kam ich wie gewöhnlich her. Da sagte mir die Köchin, daß die Frau verschwunden sei. Die Köchin konnte damals nicht aufstehen. Sie war so schwindlig, und sie hatte stets Erbrechen, wenn sie sich aufrichtete. Aber in der Nacht hatte sie sehr fest geschlafen.“

In diesem Augenblick erschien der Kriminalkommissar Hertwich, ein jüngerer, sehr höflicher Mann, der nach kurzer Rücksprache mit Harst diesem die weitere Vernehmung der Alten völlig überließ und zumeist nur den Zuhörer spielte. –

„Also am Morgen nach dem Verschwinden seiner Frau zerschlug Herr Mazinbatry die Wasserkaraffe,“ begann Harald wieder.

„Ja, Herr Harst. Die Scherben lagen noch auf diesem Teppich, dessen eine Ecke völlig naß war. Der Teppich befand sich in der Bibliothek. Nachher wurde er gestohlen.“

Da mischte sich der Kommissar ein. „Herr Mazinbatry ließ mich damals rufen. Er zeigte mir die vergiftete Flasche Wein, aus der er beinahe getrunken hätte. Es war eine halbe Flasche Rotwein, und das hineingeschüttete Gift war Blausäure. Sie stand auf dem Büfett im Speisezimmer. Nur der Geruch und die Trübung des Weines hatten ihn gewarnt. Wir haben dann sofort einen Steckbrief hinter der Frau erlassen.“

„Danke, Herr Kommissar. Diese Einzelheiten sind hier nebensächlich. Der Teppich spielt die Hautrolle.“ Er wandte sich dann wieder an die Aufwärterin.

„Seien Sie nun einmal ganz ehrlich, Frau Ranke,“ meinte er vertraulich. „Sie glauben nicht, daß Frau Leonie Mazinbatry geflohen ist, nicht wahr?“

Die Alte murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und zog nervös ihre Schürze durch die Finger.

„Hat nicht dieselbe Frage auch jemand anders an Sie gerichtet?“ forschte Harald wieder. „So reden Sie doch! Daß Mazinbatry ein Verbrecher ist, wissen Sie jetzt ja. Der Teppich ist nie gestohlen worden. Er wollte ihn nur verschwinden lassen.“

Frau Ranke zerknüllte verwirrt ihre[5] Schürze.

„Ach Gott, Herr Harst, – ich – habe doch zu schweigen gelobt,“ stammelte sie dann.

„Die Tochter Frau Mazinbatrys aus deren erster Ehe. Das stimmt doch?“

„Ja – ja. So ist’s Herr Harst.“

„Es handelt sich dann um die Schauspielerin Helene Reburg, eigentlich Helene Gruber,“ sagte Kommissar Hertwich nun. „Reburg ist ihr Künstlername – Gruber von hinten gelesen.“

Harst nickte nur.

„Frau Ranke, Sie stehen jetzt gleichsam im Solde der Schauspielerin,“ wandte er sich wieder an die Alte. „Räumen Sie das nur getrost ein. Kein Mensch wird Ihnen deswegen einen Vorwurf machen.“

„Ja, Herr Harst. Ich will jetzt auch nichts mehr verschweigen.“

„Oh – Sie haben mir das, was ich noch zur Ergänzung meiner Kombinationen brauchte, schon mitgeteilt. Fräulein Reburg hat den Detektiv Lossen beauftragt, daß Verschwinden ihrer Mutter aufzuklären, nachdem sie aus Ihnen die Geschichte von der zerschlagenen Wasserkaraffe und von der Krankheit der Köchin herausgelockt hatte.“

„Frau Mazinbatry war sehr reich,“ meinte die Alte eifrig. „Fräulein Helene ist von ihrer Mutter enterbt werden, weil sie ihren Stiefvater nicht leiden mochte und sich dieser Heirat wegen von ihrer Mutter losgesagt hatte.“

„Auch das habe ich vermutet. – Sie können nun gehen, Frau Ranke. Behalten Sie aber für sich, was heute hier geschehen ist.“

Die Alte verschwand.

 

5. Kapitel.

„Tun Sie mir einen Gefallen, verehrtester Herr Harst, und sagen Sie mir, wie all dies eigentlich zusammenhängt,“ bat Hertwich jetzt lebhaft. „Sie können sich denken, wie überrascht ich bin, hier in dieser friedlichen Villa –“

Harald ließ ihn nicht ausreden. „Davon später, Herr Kommissar. Unsere Hauptsorge muß jetzt sein, Mazinbatrys habhaft zu werden. Ich bin überzeugt, daß er entflohen ist. Er hat das Spiel in dieser Nacht verloren gegeben. – Gestatten Sie, daß ich mich erst eine Weile ausruhe. Ich bin nach dieser Nacht doch ziemlich erschöpft.“

Er ließ sich in einen der Gobelinsessel fallen. Ich reichte ihm Mazinbatrys Zigarettenkasten. Er rauchte mit geschlossenen Augen. Inzwischen schickte Hertwich einen der Beamten nach dem nächsten Polizeirevier, damit die Jagd auf Mazinbatry sofort eingeleitet würde.

Der Kommissar und ich stellten uns an das eine Fenster. Hertwich erzählte mir, daß die Ehe Mazinbatrys mit der Witwe Gruber, einer hysterischen, äußerlich ganz unbedeutenden Frau, recht unglücklich gewesen sei. „Gleich nach der Hochzeit soll Frau Leonie mit den Szenen krankhafter Eifersucht begonnen haben, auf die dann freilich stets wieder eine völlige Aussöhnung folgte. Mazinbatry behauptete, seine Gattin hätte ihn auch lediglich aus Eifersucht vergiften wollen. Sie hat dann ihre ganzen Brillanten mitgenommen, und –“

Hier wurde er durch Harst unterbrochen.

„Verzeihung, – eine Frage, Herr Kommissar. War Mazinbatry seiner Zeit in einer öffentlichen oder in einer Privatheilanstalt Rosenheins[6].“

„Privat, Herr Harst. In Eichenwerder im Sanatorium Professor Rosenheins.“

„So – Rosenheins! Der Professor steht im besten Rufe, so weit ich unterrichtet bin.“

„Im allerbesten. Seine Anstalt desgleichen. Dort geschehen keine dunklen Geschichten wie in anderen ähnlichen Anstalten.“

Harst[7] schaute mich zerstreut an, sagte dann:

„Besinnst Du Dich auf Mazinbatrys merkwürdiges Benehmen uns gegenüber, mein Alter? Auf seine Reden über seine beabsichtigten Operationen? Und darauf, daß ich Mazinbatry offen vorwarf, seiner Zeit absichtlich den Geisteskranken gespielt zu haben?“

Ich nickte.

„Sein Verhalten uns gegenüber hatte genau denselben Zweck,“ erklärte Harald nun. „Wir sollten ihn für verrückt halten. Alles, was er dort im Keller sprach und tat, alles, was dem vorausging, so der Überfall, besser die Betäubung im Auto, sollte mich zu der Überzeugung bringen, es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Ich durchschaue diesen raffinierten Menschen.“

Er war aufgestanden und an den Schreibtisch getreten. Dort lagen auf der einen Seite viele Zeitschriften. Harald schaute sich die Titel an.

„Hm – alles dies betrifft den Pferdesport. Ob Mazinbatry eifriger Rennbahnbesucher war?“

„Ja,“ erklärte der Kommissar. „Er besitzt selbst zwei Traber. Aber er hat kein Glück– auch am Totalisator nicht.“

„So so. Dann hätten wir auch vielleicht das Motiv gefunden –“

Harald nahm am Schreibtisch Platz und den Hörer des Tischtelephons zur Hand, nachdem er noch schnell im Telephonbuch geblättert hatte.

„Bitte Eichenwerder 27,“ sprach er in den Apparat.

Wir warteten mit steigender Spannung.

„Hier Kriminalpolizei,“ meldete er sich jetzt. „Ich möchte Herrn Professor Rosenhein persönlich – Ah – Sie sind’s, Herr Professor. Mein Name ist Harst – Harald Harst. Nur eine Frage: Hat Herr Mazinbatry Ihr Sanatorium aufgesucht? – So?! – Bitte ihm von meiner Anfrage auf keinen Fall etwas mitzuteilen. Wir kommen im Auto sofort heraus. Nein – nicht sofort. Wir wollen hier erst noch etwas suchen. – Auf Wiedersehen –“

Er legte den Hörer auf die Stützen zurück, sagte dann zu uns: „Mazinbatry hat sich in Rosenheins Sanatorium begeben. Ich ahnte das. Er will auf diese Weise wieder den Kopf aus der Schlinge ziehen. – Herr Kommissar, lassen Sie sofort einen Polizeihund herschaffen. Wir wollen den Garten dieser Villa absuchen.“

Es geschah. Der Hund fand auch sehr bald das, was Harald im Garten vermutet hatte.

„Sehen Sie,“ meinte Harst zu dem Kommissar, „deshalb mußte auch der Teppich verschwinden – und Axel Lossen!“ –

Das Sanatorium Eichenwerder liegt unweit des Vorortes Wannsee auf einer Halbinsel, die sich in einen der Havelseen hineinerstreckt.

Gegen ein Uhr mittags langten wir dort an. Außer uns beiden waren noch Kommissar Hertwich und ein Kriminalbeamter in dem geschlossenen Polizeiauto.

Professor Rosenhein empfing uns im Bureau der Anstalt und führte uns dann sofort in eins der Nebengebäude. Hier hatte Mazinbatry im ersten Stock ein Zimmer zugewiesen erhalten.

„Er kam gegen 9 Uhr vormittags,“ erklärte der Professor. „Er machte einen völlig erschöpften Eindruck und sagte mir, er leide seit einiger Zeit an Wahnvorstellungen und totaler Gedächtnisschwäche –“

Harst lachte leise auf. „Schlaue Bestie!“

Und – im selben Moment fiel mir ein, daß Frau Lossen ja damals von der verschleierten Dame wiederholt den Ausdruck „Bestie“ gehört hatte. Diese Verschleierte aber war, wie ich jetzt wußte, Helene Reburg gewesen.

Harst und ich hatten uns inzwischen daheim noch schnell umgezogen. Wir waren also nicht mehr die Strolche der vergangenen Nacht, als wir jetzt nach kurzem Anklopfen bei Mazinbatry eintraten. – Er saß in einem Faulenzer am Fenster und schien geschlafen zu haben, erhob sich nun müde, musterte uns fünf gleichgültig und fragte den Professor: „Was bedeutet dieser Massenbesuch?“

Harst trat vor. „Nehmen Sie wieder Platz,“ befahl er streng. „Sie erkennen mich doch, nicht wahr? – Nein?! – Wozu die Komödie, Mazinbatry. Ich glaube weder an Ihre Wahnvorstellungen noch Ihre Gedächtnisschwäche.“

Der frühere Arzt setzte sich. „Wer sind Sie und was wollen Sie?“ meinte er achselzuckend.

„Was ich will? – Einen Mörder entlarven! Der Mörder sind Sie! Sie haben Ihrer Frau in Ihrer Bibliothek mit einem Beile den Schädel zertrümmert. Die Leiche vergruben Sie im Garten. Wir haben sie jetzt gefunden. Den Blutfleck auf dem Afghan haben Sie ausgewaschen und zum Schein nachher die Karaffe an derselben Stelle fallen lassen. Ihrer Köchin gaben Sie ein starkes Schlafmittel ein, damit sie in der Mordnacht nichts hörte und sah. Und weil Sie ihr das Schlafmittel heimlich am Abend beigebracht haben, hatten Sie den Mord für die Nacht auch geplant gehabt.“

„Ich weiß von nichts,“ sagte Mazinbatry gleichmütig. „Meine Frau ist mir davongelaufen.“

Harst lachte abermals schneidend auf. „Diesmal werden Sie mit diesen Mätzchen kein Glück haben. Ich werde Ihnen Punkt für Punkt Ihre Verbrechen beweisen, ebenso, daß es sich hier nicht etwa um einen krankhaften Geisteszustand bei Ihnen handelt. Als ich in Suez in dem Berliner Anzeiger von dem gestohlenen Afghan las, als ich durch eine der späteren Zeitungsnummern von der Flucht Ihrer Frau und von den Begleitumständen dieser Flucht Kenntnis erhielt, reimte ich mir so ungefähr das Richtige zusammen. Ungefähr! Ich glaubte nämlich, daß Sie den Teppich deshalb um jeden Preis zurückerhalten wollten, weil er die Beweise eines Verbrechens in Gestalt nicht vollständig entfernter Blutflecken in sich barg. Es war also die hohe Belohnung, die mich stutzig machte. Daß jemand für die Wiederbeschaffung eines echten Teppichs 50 000 Mark aussetzt, steht einzig da. Ich sagte mir: nur die Angst um die eigene Sicherheit kann diesen früheren Arzt, dessen Vergangenheit ohnedies nicht ganz einwandfrei ist, veranlaßt haben, diese Belohnung zu versprechen. – Man könnte hier einwenden[8], daß Sie ein solches gegen Sie zeugendes Beweisstück hätten verbrennen können. Der Einwand wäre verfehlt. Sie mußten den Teppich behalten. Sonst wäre dessen Fehlen zum mindesten Ihrer Aufwärterin aufgefallen – Meine Mutmaßungen stimmten also in diesem einen Punkte nicht: Sie selbst stahlen den Teppich!“

Mazinbatry zuckte wieder die Achseln. „Möglich ist das schon. Ich besinne mich nur nicht.“

„Es ist so. Fräulein Reburg-Gruber argwöhnte, daß Sie ihre Mutter beseitigt hätten, um in den Besitz deren Vermögens zu kommen. Sie setzten sich mit Lossen in Verbindung. Lossen brach dann bei Ihnen ein, – allerdings nur zu dem Zweck, um den Teppich genau zu untersuchen. Er vermutete, in dem Gewebe noch Spuren von Menschenblut finden zu können. Sie überraschten ihn hierbei in der Bibliothek, überwältigten ihn und sperrten ihn in den verborgenen Keller ein, den Sie sich hergerichtet hatten, um an Leichen Ihre ärztlichen Studien fortzusetzen. Als Frau Lossen dann zu mir kam, sahen Sie voraus, daß ich alles aufdecken würde. Sie wollten daher Frau Lossen schnell stumm machen. Sie hofften, der Verdacht, die beiden Schüsse abgefeuert zu haben, könnte kaum auf Sie fallen. Sie haben als eifriger Wett- und Pferdeliebhaber viel Geld eingebüßt, sind vielleicht ruiniert. Die Juwelen, die Ihre Frau mitgenommen haben soll, haben Sie fraglos längst verkauft. Um den Mord zu verschleiern, erfanden Sie die Geschichte mit dem vergifteten Wein.“

Mazinbatry war plötzlich aufgestanden, führte die rechte Hand blitzschnell zum Munde, verschluckte irgend etwas und sagte dann zu Harst mit einer weltmännischen Verbeugung:

„Ich habe die Partie verloren. Ich scheide freiwillig aus dem Leben. Ihre Vermutungen sind in allem richtig, Herr Harst. Zwei Fehler habe ich in diesem gefährlichen Spiel gemacht. Erstens: die Belohnung! Zweitens: die beiden Schüsse auf Frau Lossen, die ich mehr aus Wut abfeuerte, weil ich dieses Ende voraussah. Ich habe Zyankali verschluckt. Nach zwei Minuten bin ich eine Leiche.“

Der Mensch hatte Mut. Das mußte man ihm lassen. Und er starb auch mit derselben abgeklärten Ruhe gleich darauf, nachdem er noch einige Fragen des Kommissars beantwortet hatte. –

 

Der Straßenräuber von Goa.

1. Kapitel.

Zu Beginn unseres vorigen Abenteuers habe ich eine Zeitungsnotiz erwähnt, die mit dem Falle des Afghan-Teppichs direkt nichts zu tun hatte, auf die Harald Harst mich aber aus einem anderen Grunde aufmerksam machte. Sie war überschrieben:

Wieder ein Überfall durch den geheimnisvollen Straßenräuber.

Aus verschiedenen Gründen habe ich nun in der folgenden Schilderung die Örtlichkeit unkenntlich gemacht. Ich bitte mir also nicht vorzuwerfen, daß ich die Umgegend Berlins nicht kenne. –

Es war acht Uhr abends. Wir genossen gerade als Nachtisch eine von Frau Harsts berühmten Mehlspeisen, als die treue, langjährige Köchin Herrn Verlagsbuchhändler Max Schultze meldete – in sehr dringender Angelegenheit.

Natürlich dringend! Andere Leute kamen ja überhaupt kaum zu uns. Nur solche, die irgendwo der Schuh drückte und schleunigst dieses Unangenehme oder Peinvolle los sein wollten.

Herr Schultze saß in Haralds Arbeitszimmer. Es war ein etwas korpulenter, aber sehr beweglicher Herr in den besten Jahren. Hinter den Gläsern eines randlosen Kneifers lagen ein Paar kühl-abwägende graue Augen. Sein Anzug verriet, daß er etwas auf sein Äußeres hielt. Sein Benehmen war bescheiden und würdig, verriet aber doch das berechtigte Selbstbewußtsein des Mannes, der es zu etwas gebracht hatte.

Wir saßen nun zu dreien an dem Tische vor dem Klubsofa.

„Ich komme mit einer Bitte, Herr Harst, die in ihr Fach schlägt,“ begann Herr Schultze. „Es handelt sich um –“

„– den Straßenräuber von Goa, wie die Reporter diesen modernen Rinaldo Rinaldini nennen,“ vollendete Harald liebenswürdig. „Ich weiß Bescheid, Herr Schultze. Sie sind derselbe Herr, der vor längerer Zeit von jenem Gentleman-Banditen ausgeplündert wurde. Ihr Mißgeschick war im Berliner Anzeiger unter der Überschrift: „Wieder ein Überfall durch den geheimnisvollen Straßenräuber“ geschildert worden. Ihr Name und Beruf waren dabei erwähnt. Die Einzelheiten sind mir noch völlig gegenwärtig. Der Wegelagerer nahm Ihnen 8000 Mark, Ihre goldene Uhr nebst Kette und Ihre Schlipsnadel, eine Perle ab. Sie wohnen in dem an der Bahnlinie Berlin-Königswusterhausen gelegenen Vorort Birkenwalde. – So – und nun – was führt Sie her? Ich muß annehmen, Sie sind aufs neue ausgeplündert worden. Denn den ersten Verlust dürften Sie schon verschmerzt haben.“

Herr Schultze nickte.

„Es ist so. Gestern nachmittag hat der Halunke mich abermals angehalten und –“

„Verzeihung,“ unterbrach Harald den Verleger. „Wir wollen mehr mit Methode vorgehen. Ich kenne die Taten dieses Gentleman-Räubers bisher zu wenig, um mir daraus ein Bild von seiner Arbeitsweise machen zu können. Sie gestatten einige Fragen. Wann begann der Mensch seine Tätigkeit? Wie viele Opfer hat er bis jetzt erleichtert? Wo treibt er sein Unwesen? Und – wie überfällt er die Leute?“

„Ich will das alles recht kurz und klar beantworten,“ meinte Schultze und griff mit einem „Danke verbindlichst“ in die Zigarrenkiste hinein, die Harald ihm hinhielt. „Das erste Opfer des Banditen war eine Dame, eine[9] Witwe, die in der Goa-Straße wohnt.“

„Ein merkwürdiger Name,“ warf Harst ein.

Ich reichte Herrn Schultze ein brennendes Zündholz. Er rauchte einige Züge, lobte die Zigarre und fügte hinzu:

„Allerdings ein sehr ungewöhnlicher Name, da Goa ja eine portugiesische kleine Kolonie in Indien ist. Aber die Erklärung für diese Goa-Straße ist sehr einfach. Es siedelte sich vor drei Jahren in Birkenwalde ein ehemaliger Schiffskapitän an, ein älterer Herr namens Wilhelm Blackfuß. Dieser hatte die Hälfte seines Lebens in Goa zugebracht. Er kaufte auf Spekulation große Terrains im Westen von Birkenwalde, ließ eine Straße bis zum Hauptwege Grünau-Birkenwalde anlegen, taufte die Straße „Goa-Straße“ und baute sich am Westende der Straße, etwa fünfhundert Meter vom Ufer des Schmöckwitz-Sees entfernt, ein nettes Landhaus, schuf aus dem Sande und den Fichten einen hübschen Park und – starb. Er war Junggeselle und ein Sonderling, recht menschenscheu und verschlossen. Er lebte in seinem Landhause lediglich mit einem seiner Matrosen zusammen, der dort „Mädchen für Alles“ spielte. Dieser Matrose heißt Jochem Settefrag und wohnt jetzt als Rentner in Birkenwalde. Kapitän Blackfuß hat ein etwas wunderliches Testament hinterlassen. Das Testament ist ein privatschriftliches und erst sechs Wochen vor seinem Tode errichtet worden. Blackfuß gab darin zu, daß er bei der Terraingesellschaft sein ganzes Vermögen bis auf 80 000 Mark verloren habe. Die Bauterrains hatte er inzwischen weiterveräußert. Nur das Landhaus und diese 80 000 Mark waren ihm geblieben. Das Geld erhielt Jochem Settefrag. Andere Erben, also leibliche Verwandte, waren nicht vorhanden. Das Landhaus sollte verpachtet werden. Die Pachtsumme sollte dazu verwandt werden, Blackfuß’ Motorjacht „Satanas“ und das Bootshaus am Ufer des Schmöckwitz-Sees in Ordnung zu halten. Außerdem aber sollte die Motorjacht nie wieder betreten oder benutzt werden, so lange Jochem Settefrag lebte. „Erst nach dessen Tode,“ so stand in dem Testament wörtlich, „soll sie versteigert und der Erlös zum Bau von Arbeiter-Einfamilienhäusern benutzt werden.“ – Ich kenne all diese Einzelheiten deshalb so genau, weil Wilhelm Blackfuß mit mir sich so etwas angefreundet und mich zum Testamentsvollstrecker ernannt hatte.“

„Sehr interessant,“ meinte Harald und langte schon nach der dritten Mirakulum. Wenn er seine Lieblingszigarette so schnell verpaffte, war dies stets ein Beweis dafür, daß sein Hirn mit Hochdruck arbeitete.

„Das wohl,“ nickte Herr Max Schultze. „Interessant – ja, aber ohne Bedeutung für die jetzigen Ereignisse, also für die Räuberstückchen des Unbekannten, der die Goa-Straße sich als Arbeitsfeld erwählt hat.“

„Oh – sagen Sie das nicht,“ erklärte Harst versonnen. „Sagen Sie das nicht, – zumal da Sie soeben erklärten, daß der Rinaldo die Goa-Straße bevorzugt. Ist diese denn jetzt bebaut?“

„Keine Rede, Herr Harst. Ehe Birkenwalde sich bis dorthin ausdehnt, können noch Jahrzehnte vergehen. Nein – das Goa-Landhaus, so nennt man es bei uns allgemein, ist noch immer das einzige Gebäude an der etwa 1000 Meter langen, gepflasterten, aber bereits recht verwahrlosten Straße, die vom Hauptwege an ständig durch Kiefernwald läuft und erst unweit des Sees endet.“

„Aha – und auf diesem einsamen Wege –“

„Ja, ja,“ rief Schultze eifrig dazwischen, „auf diesem abgelegenen Wege, der nur Sonnabends und Sonntags von Ausflüglern und Ruderern und Seglern begangen wird, „arbeitet“ der freche Spitzbube. Und – wie arbeitet er, Herr Harst! Hören Sie nur zu. Das erste Opfer war, wie schon erwähnt, eine Dame, eine Witwe namens Magda Madison, die Pächterin des Goa-Landhauses ist. Frau Madison wohnt dort seit dem 1. März dieses Jahres. Am 5. Januar starb Blackfuß. Die Erbschaftsregulierung nahm einige Zeit in Anspruch. Ich habe sehr viel Scherereien damit gehabt. Frau Madison bot den höchsten Pachtzins – 1800 Mark. Sie wohnt nun dort mit ihrer Mutter, einer sonst noch ganz rüstigen Dame, die aber leider eine fressende Flechte im Gesicht hat und daher stets einen Schleier trägt.“

„Sie kennen die Damen?“ fragte Harald.

„Ja, natürlich, – in meiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker.“

„Madison klingt so englisch, Herr Schultze.“

„Das wohl. Frau Madison ist aber Deutsche. Ihre Mutter heißt Helling.“

„Bitte weiter. Der Fall interessiert mich wirklich sehr.“

Ich begriff das nicht recht. Bisher wußte Harald ja eigentlich herzlich wenig von dem Straßenräuber und seinem Treiben.

„Frau Madison kam am 8. Mai dieses Jahres abends aus Berlin, verließ in Birkenwalde wie gewöhnlich den Zug und bog dann nachher in die Goa-Straße ein, da dies für sie der nächste Weg nach Hause ist. Etwa in der Mitte der Straße bei einem Birkenwäldchen – es war gegen 9 Uhr – trat unter den Bäumen ein schlanker Mann im graugrünen Sportanzug hervor, der einen dunkelgrünen, weichen Filzhut mit Häherstutz, braune Stiefel, dicke grüne Sportstrümpfe und eine Brille mit runden, dunklen Gläsern trug. Er sah sehr sonnverbrannt aus, hatte Wildlederhandschuhe an und ein kleines, dunkles Bärtchen. Das Haupthaar war etwas fuchsig. – Ich bemerke hier gleich, Herr Harst, daß der Bandit stets in diesem Kostüm auftaucht. Ich selbst habe ja die wenig angenehme Ehre gehabt, ihm zweimal gegenüberzustehen. Und seine vier übrigen Opfer schilderten ihn der Polizei genau so.“

„Danke. Das genügt mir über den Goa-Räuber. Ich kann mir schon selbst vorstellen, wie er dann seine Opfer durch Bedrohen mit einer Pistole –“

„Halt – da sind Sie im Irrtum, Herr Harst,“ fiel Herr Schultze rasch ein. „Von Pistole oder Revolver ist keine Rede. Der Mann tritt auf sein Opfer zu, faßt an den Hut und sagt stets dasselbe mit tiefer, verstellter Stimme: „Heraus mit allen Wertsachen, bitte! Aber etwas schnell! Sonst!“ Und dann faßt er in die Tasche und holt eine kleine Spritze hervor – aus Nickel mit Glaseinsatz, und fügt hinzu: „Sonst – spritze ich Ihnen diese Salzsäure ins Gesicht, und Sie riskieren dabei, blind zu werden.“ Ja, so droht er!“

„Donnerwetter!“ entfuhr es mir. „Das ist als Schreckmittel eines Wegelagerers neu.“

Harald lächelte. „Salzsäure verwenden nur Eifersüchtige.“

„Oh – lachen Sie nicht, Herr Harst,“ meinte der Verleger sehr ernst. „Der Kerl hat ein so bestimmtes Auftreten, daß man ihm gegenüber allen Mut verliert. – Er hat damals Frau Madison um 2800 Mark und einige Brillantringe erleichtert. Das zweite Opfer war ein Segler, der Prokurist einer Firma in Berlin ist. Dieser Überfall fand im Juni statt. Mitte Juli kam ein Motorradfahrer heran, dessen Maschine nicht funktionierte und der sie daher die Goa-Straße entlangschob. Dann, Ende Juli war’s –“

„Danke, Herr Schultze. – Und Sie selbst?“

„Na – ich sagte ja schon: 8000 Mark büßte ich das erste Mal ein. Und das trug sich so zu. Ein Bekannter nahm mich von Berlin mit seinem Auto bis Grünau mit. Von da ging ich zu Fuß durch den Wald nach Birkenwalde. Ich hatte mit Frau Madison des Pachtvertrages wegen noch etwas zu besprechen und machte einen Umweg über das Goa-Haus. Sie war jedoch krank. Ich konnte nur durch die Türportiere ihr guten Tag sagen und wollte gelegentlich wiederkommen. Gegen 5 Uhr verließ ich das Landhaus und ging die Goa-Straße bis zum Birkenwäldchen entlang. Hier wollte ich abbiegen. Da – mit einem Male erschien der unheimliche Kerl und nahm mir die Wertsachen und das Geld ab.“

„Schildern Sie das bitte genauer,“ meinte Harald und langte nach der sechsten Mirakulum.

„Da ist nicht viel zu schildern, Herr Harst. Ich mußte vom Wege herunter unter die Bäume treten und den ganzen Inhalt meiner Taschen auf den Boden legen, dann mich umdrehen. Ich hörte, wie der Rinaldo in meiner Brieftasche wühlte, wie er mit meinen Schlüsseln klapperte, wie er den Deckel meiner Uhr aufspringen ließ und wieder zudrückte. Dann mußte ich wieder kehrtmachen und durfte das aufheben, was der Schurke mir gelassen hatte. Er trat nun hinter mich, schlang mir einen starken Draht mehrfach um die Fußgelenke, drehte die Enden zusammen, befahl mir, mich fünf Minuten nicht zu rühren, und verschwand.“

„Überaus wichtig!“ meinte Harald und starrte zur Zimmerdecke empor. „Macht der Räuber es stets so, daß er den Tascheninhalt hinlegen läßt?“

„Stets, Herr Harst. Auch der Draht spielt regelmäßig die Rolle als Fußfessel.“

„So – und gestern nun, Herr Schultze?“

„Gestern wollte ich nachmittags zu Frau Madison gehen. Meine Frau warnte mich, ja nicht die Goa-Straße zu benutzen. Ich hätte dann aber einen großen Umweg machen müssen, und so ließ ich Geld, Uhr, Ringe und Schlipsnadel daheim und dachte: Nun mag der Halunke nur kommen! Er findet nichts bei dir! – Er kam auch wirklich. Es wiederholte sich das alte Spiel. Ich hatte Humor genug, dem Menschen offen zu erklären, daß meine Taschen leer seien. Ich legte Schlüsselbund, Nagelfeile, Zigarrentasche, Feuerzeug und Messer auf den Waldboden, mußte mich wie üblich umdrehen und diesmal sehr lange warten, ehe der Kerl sich meine Sachen genügend angesehen und mit dem Schlüsselbund geklappert hatte.“

„Sehr lange, Herr Schultze?“ fragte Harald schnell und beugte sich gespannt in seinem Sessel vor.

„Ja – sehr lange. Mindestens drei Minuten. Und dabei mußte der Mensch doch mit einem Blick sehen, daß die Schlüssel nicht aus Gold und die Nagelfeile keine Brillanten waren.“

„Und dann –?“

„Dann durfte ich alles wieder zu mir stecken. Nachdem ich die üblichen fünf Minuten gewartet hatte, drehte ich den Draht auf und setzte meinen Weg fort. Frau Madison und ihre Mutter haben schön gelacht, als sie hörten, daß ich dem Kerle nichts zu verdienen gegeben hatte.“

„Und die Polizei? Was hat die gegen den Menschen unternommen?“

„Alles, was sie irgend konnte. Die Straße wird jetzt häufiger abpatrouilliert. Vier Wochen lang hatten wir sogar zwei Berliner Kriminalbeamte hier draußen mit einem tadellosen Polizeihund. Das war gerade im Juli. Der Hund hat auch nach zwei sofort gemeldeten Überfällen die Spur des Wegelagerers ein weites Stück durch den Wald nach dem See verfolgt, aber dann ganz plötzlich die Fährte verloren.“

„Wie ist das möglich? Gibt es denn da im Walde ein sumpfiges Stück oder dergleichen?“

Der Verleger zuckte die Achseln. „Ja, das begreift kein Mensch. Die Kriminalbeamten erklärten, sie ständen direkt vor einem Rätsel. Der Hund hätte noch nie versagt.“

„Hm –“, machte Harst und blies ein paar Rauchringe. „Beschreiben Sie mir doch mal das Gesicht des Menschen näher.“

„Es ist ein rundes, sonngebräuntes Gesicht mit etwas starken Hängebacken. Alt kann der Bursche nicht sein. Im übrigen ist das Gesicht durchaus Durchschnitt. Er hat kein besonderes Merkmal. Höchstens die Nase. Sie ist etwas mißgestaltet, knollenartig.“

„Nun mal eine offene Frage, Herr Schultze,“ sagte Harald nach kurzer Pause. „Hegen Sie gegen irgend jemand Verdacht? Haben Sie irgend einen Anhalt dafür, wer dieser Mensch sein kann?“

„Nein, Herr Harst. Wirklich nicht. Ich kenne ihn nicht. Das ist ja selbstverständlich.“

„Haben Sie den gestrigen Überfall angezeigt?“

„Nein. Wozu wohl?! Die Polizei richtet ja doch nichts aus.“ –

Wir besprachen dann noch mit Herrn Schultze so allerlei, und gegen ½10 verabschiedete er sich. Wir wollten ihn morgen in der Maske von Bodenspekulanten besuchen.

 

2. Kapitel.

Wir waren allein. Harald schritt im Zimmer auf und ab. Ich schwieg und blätterte in den Abendzeitungen. Ich mochte ihn beim Nachdenken nicht stören.

Dann ging er in die Bibliothek, ließ die Tür offen und setzte sich an den Flügel. Daß er ein halber Klaviervirtuose ist, habe ich schon mehrfach erwähnt, ebenso, daß er behauptet, beim Klavierspielen flögen ihm die besten Gedanken zu.

Ich lauschte. Er spielte Wagners Walküre; dann Lohengrin. Ich steckte mir eine neue Zigarre an und setzte mich gleichfalls in das Bibliothekzimmer in meinen altgewohnten Zuhörersessel.

Die letzten Klänge des Schwanenliedes verrauschten. Harald schaute zu mir hinüber.

„Es gibt nur eine Lösung,“ sagte er langsam und tief in Gedanken. „Wir werden sie sofort nachprüfen. Schultze wußte nur von einem der Überfallenen die Adresse – von dem Prokuristen Reinstein. Fahren wir zu ihm und fragen wir ihn aus.“ –

Reinstein wohnte am Halleschen Tor. Er war zu Hause. Als Harald seinen Namen nannte, zuckte der Prokurist leicht zusammen.

„Wir kommen wegen des Goa-Räubers zu Ihnen, Herr Reinstein,“ sagte Harst, nachdem wir Platz genommen hatten. „Herr Verlagsbuchhändler Schultze war soeben bei mir. Er nannte mir Ihre Adresse. Der Wegelagerer hat Ihnen damals gegen 800 Mark, einen Brillantring und Uhr nebst Kette geraubt. Es ist so?“

Ich beobachtete den Prokuristen. Er kam mir merkwürdig verlegen vor. Er war ein noch junger Mann von etwas über Mittelgröße. So ungefähr glich er der Beschreibung nach dem Banditen. Nur hatte er keinen Bart und blondes Haar.

„Ja –“, erwiderte er sehr zögernd.

„Der Verlust war Ihnen natürlich sehr unangenehm,“ meinte Harst.

„Natürlich,“ nickte Reinstein widerwillig.

„Könnten Sie mir nicht irgend etwas angeben, das mir die Suche nach dem Täter erleichtert, nach dem Goa-Räuber?“ sagte Harst eifrig. „Ich möchte den Schurken gern unschädlich machen. Er wird schon zu finden sein.“

„Bedauere, Herr Harst. Ich weiß nichts – jedenfalls nichts, was Ihnen nützlich wäre.“ Auch das klang wieder so zögernd und so unaufrichtig, daß ich Harst verstohlen zunickte. Er achtete aber nicht darauf.

Immerhin konnte der Prokurist uns dann die Wohnung des gleichfalls überfallenen Motorradlers, eines Kunstschlossers namens Dehmke, nennen. –

Dehmke wohnte nur zwei Straßen weiter. Wir kamen noch glücklich in das Haus hinein und wurden von dem bereits halb entkleideten Schlosser ziemlich brummig empfangen. Als Harst das Thema „Goa-Räuber“ anschnitt, sagte Dehmke sofort grob:

„Lassen Sie mich damit in Ruhe! Ich mag davon nichts mehr hören. Ich bin hundemüde und will schlafen gehen.“

Wir verzogen uns also unverrichteter Sache.

So dachte ich. Aber Harald rieb sich unten auf der Straße vergnügt die Hände und meinte:

„Famos! Die Geschichte klappt. Die Prüfung ist positiv verlaufen.“

„Gestatte – weshalb?“ rief ich sehr erstaunt. „Du sagtest doch vorhin, Reinstein dürfte als Goa-Räuber kaum in Frage kommen. Wieso also positiv? Dieser Dehmke ist doch so klein und untersetzt, daß –“

„Stopp, lieber Alter, stopp!“ lachte er. „Du galoppierst da auf der falschen Bahn. Jedenfalls: Dieses Problem ist nicht alltäglich. Nein – es ist etwas für Feinschmecker.“

„Abwarten!“ meinte ich zweifelnd. „Viele Braten sehen von außen wundervoll aus und sind innen doch zäh wie Leder.“ – Ich sprach absichtlich so etwas wegwerfend von diesem Manne mit der Salzsäurespritze. Ich wollte Harald reizen und ihn dadurch veranlassen, „seine Karten aufzudecken“. Daß er sich über diesen Fall bereits eine Ansicht gebildet hatte, war mir schon bei der Unterredung mit Herrn Max Schultze aus Birkenwalde klar geworden.

Er schob seinen Arm in den meinen. „Du bist ein ganz gerissener, kleiner, fetter Halunke, mein Alter! Aber – auf diese Weise entlockst Du mir nichts – gar nichts! Denke lieber mal über das nach, was Schultze uns erzählte und beachte dabei, daß dieser Straßenräuber Eigentümlichkeiten hat, die man sonst bei derartigen „Kavalieren“ vermissen dürfte. Welcher Bandit, der am hellen Tage arbeitet, verzichtet zum Beispiel auf eine Maske?! Eine schwarze Seidenmaske würde doch viel romantischer wirken als eine bescheidene dunkle Brille! Welche Frechheit außerdem, sein Gesicht so unverhüllt sehen zu lassen.“

Ich schwieg und tat das, was Harald mir empfohlen hatte: ich dachte nach. Aber dabei kam leider nicht viel heraus. Auch in dem Auto, das uns nach Hause brachte, setzte ich diese Gedankenarbeit fort – diese fruchtlose Gedankenarbeit.

Auch Harald hüllte sich in Schweigen. Als ich ihm gute Nacht sagte und in meine Zimmer links vom Flur hinüberging, rief er mir leise nach:

„Vergiß den Prokuristen Reinstein nicht!“

Was sollte das nun wieder?! War Reinstein etwa der Rinaldo der Goa-Straße? Hatte er lediglich den Überfall auf sich selbst erdichtet, damit niemand an ihn als den Banditen dächte?!

„Unsinn!“ sagte ich mir sofort. „Schultze kennt Reinstein ja persönlich und hätte ihn also als den „geheimnisvollen Räuber“ fraglos sofort erkannt!“

Ich legte mich zu Bett und las noch eine halbe Stunde Schillers Prosaschriften. Man findet darin – meist stehen sie im letzten Bande der Schiller-Ausgabe – viel Interessantes. Besonders der Geisterseher liest sich wie eine phantastische Abenteuergeschichte. Meine Gedanken irrten jedoch immer wieder ab. Als Freund Harald Harsts ist man ehrgeizig; man will doch schließlich nicht allzu – dumm neben diesem erscheinen. Zum Donner. Sollte ich gar nichts aus diesem Tatbestand herausfinden, was der Sache ein anderes Ansehen gab?! Daß es sich hier um mehr als gewöhnliche Raubüberfälle handelte, unterlag keinem Zweifel. Sonst hätte Harald niemals gesagt: „Etwas für Feinschmecker –!“

Ich grübelte und grübelte. Dann fiel mir ein, daß es von diesem deutschen Rinaldo mit dem Jägerhütchen doch eigentlich eine geradezu unverständliche Frechheit war, trotz der Überwachung der Goa-Straße durch die Kriminalbeamten sein gesetzwidriges Handwerk weiter auszuüben. Im Juli hatte er sogar zwei Überfälle gewagt. Sollte er etwa von den polizeilichen Maßnahmen keine Kenntnis gehabt haben? Oder sollte er wirklich so leichtsinnig sein, diese gar nicht beachtet zu haben?!

Dann – ein ganz besonderer Gedanke!

Ich sprang mit einem Satz aus dem Bett, zog den Schlafrock über, schlüpfte in die Morgenschuhe und nahm als Leuchte meine Taschenlampe mit, ging über den Flur in Harsts Arbeitszimmer, durch die Bibliothek und – blieb hier plötzlich stehen.

Ich hörte in Haralds Schlafzimmer Schritte – leise Schritte!

Sollte er noch wach sein? Ausgeschlossen! Er hatte sich ja bereits Kragen und Krawatte abgenommen, als wir uns voneinander verabschiedeten.

Ich lauschte.

Die Schritte verstummten; erklangen aufs neue; verstummten wieder und wurden abermals hörbar.

Es war jetzt ½1 Uhr morgens. Was tat Harald wohl noch in Stiefeln in seinem Schlafzimmer?! – Nein – er konnte es nicht sein! Der Mensch da drinnen ging ja auch halb auf Zehenspitzen.

Ich versuchte durch das Schlüsselloch zu sehen; ich gewahrte auch das Mittelstück einer männlichen Gestalt! Und – der Kerl da drinnen hatte einen ganz netten Bauch! Harald aber war schlank wie ein Bindfaden!

Ich also zurück in mein Schlafzimmer; die Clement-Pistole in die Hand; und schleunigst zurück. Ich war wirklich in Sorge um Harald. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, daß ein Halunke bei uns eingedrungen wäre! Vielleicht hatte der Mensch Harald betäubt, vielleicht –

Da war ich schon wieder an der Schlafzimmertür. Das leise Tapp Tapp war noch zu hören. Jetzt aber fiel mir ein, daß der Eindringling sich natürlich eingeriegelt haben würde.

Also aufs neue zurück, durch den Hinterflur in den Gemüsegarten; eine Leiter geholt; sie ganz sacht an die Mauer gelehnt!

Haralds Schlafstubenfenster waren hell; die Vorhänge geschlossen. Doch zwei der unteren Fensterflügel standen etwas offen. Er schlief stets bei nur angelehnten Fenstern.

Ich kletterte die Sprossen hinauf, zog den einen Vorhang etwas zur Seite, konnte nun den Fremden in voller Figur sehen.

Der Mann stand vor Haralds Frisiertisch. Dieser hatte einen Mittel- und zwei bewegliche Seitenspiegel. Ein Detektiv braucht ein solches Damenrequisit.

Es war ein Kerl mit einem ziemlich gewöhnlichen Gesicht, rötlichem Vollbart und einer verdächtig roten Nase. Der Jackenanzug, den er trug, saß miserabel. Außerdem hatte der Mensch einen kleinen Buckel. Der schwarze, steife Hut war auch längst aus der Mode mit seiner geraden Krempe.

Ich schob den Vorhang allmählich noch weiter zurück. Nun konnte ich auch Haralds Bett sehen. Es war unberührt; Harst war gar nicht schlafen gegangen!

Da kam mir die beschämende Erleuchtung, daß –

Und im selben Moment sagte der Kerl auch schon ganz gemütlich mit Haralds Organ:

„Steig’ nur herein, mein Alter! Du bist wirklich rührend besorgt um mich!“

Ich stieg nicht hinein, sondern brachte erst die Leiter weg. Dann stand ich dem Kerle gegenüber.

„Du wolltest ohne mich eine nächtliche Exkursion machen,“ sagte ich etwas verstimmt.

„Allerdings. Unter diesen Umständen darfst Du mit. Aber – in zehn Minuten sollst Du aussehen wie Dein seliger Großvater –!“ –

Nach fünfzehn Minuten raste ein[10] Taxameterauto gen Süden – gen Birkenwalde. Und in dem Auto rückte ich auch mit meinem besonderen Gedanken heraus, der mich daheim veranlaßt hatte, Harst in seinem Schlafzimmer aufzusuchen.

Harst sagte dazu eine ganze Weile gar nichts. Dann meinte er:

„Du läßt Dich durch unseren vorigen Fall zu sehr beeinflussen, durch den Afghan-Teppich. Mazinbatry spielte den Geistesgestörten. Das steckt an.“

Diese zweideutige Bemerkung, die sich auch auf mich beziehen konnte, nahm mir die Lust zu weiteren Versuchen, meine Theorie zu verfechten. Ich hüllte mich in Schweigen.

„Eingeschnappt?“ lachte Harald nach einigen Minuten. „Du mußt doch Scherz verstehen, mein Alter. Übrigens ist es nicht ausgeschlossen, daß beide Fälle eine gewisse Ähnlichkeit miteinander haben, die sich nicht lediglich auf das Moment des Raubes bezieht, sondern bedeutend weitergeht. Ich will Dir jetzt auch, um Dich zu versöhnen, mitteilen, wohin wir fahren: bis zur Wegekreuzung Goa-Straße und Hauptweg Grünau-Birkenwalde. Dort verlassen wir das Auto, schicken es zurück und wandern mal bei Nacht den gefährlichen Weg entlang bis hinab zum Seeufer. Und dann – kommt die Hauptsache!“

Diese „Hauptsache“ erfuhr ich erst nachher.

Um ¼4 morgens waren wir am Kreuzungspunkt der beiden Wege. Der Mond stand schon tief am Himmel. Wir gingen gemächlich die unkrautüberwucherte Goa-Straße hinunter. Die Nacht war frisch. Ein sanfter Wind ließ die Kiefern zu beiden Seiten rauschen und wispern.

„Ganz stimmungsvoll,“ meinte Harald. „Ah – da rechts, das dürfte das Goa-Haus sein. Wirklich sehr idyllisch, wenn auch schmucklos. Frau Madison scheint noch munter zu sein. Da links im Hochparterre brennt Licht hinter den Vorhängen. Sie ist Malerin, wie Max Schultze nachher so nebenbei erwähnte. Er hat ihr auch schon ein paar Bilder abgekauft. Für eine Künstlerin eignet sich dieses Heim tadellos. – Dort schillert schon der See vor uns –“

Die Goa-Straße hatte etwa 100 Meter vor dem Seeufer ein Ende. Linker Hand lagen einige Villen. Ein Fußpfad lief bis zum Wasser hinab. Auch das Ufer war mit Bäumen bestanden: Erlen, Birken, ein paar Kiefern.

Wir machten dicht am Wasser halt. Harald blickte sich um. Rechts erhob sich, auf Pfählen zur Hälfte ins Wasser hineingebaut, ein niedriges Häuschen. Nach dem See zu lief eine breite Gleitbahn hinab, auf der es metallisch in zwei Strichen blinkte: Schienen, um auf einem Bootswagen ein Fahrzeug zu Wasser zu bringen.

Harald hielt darauf zu. „Wollen uns das Bootshaus mal ansehen,“ meinte er.

In demselben Augenblick fiel mir Kapitän Blackfuß’ Jacht Satanas ein.

„Du,“ sagte ich hastig, „das dürfte des toten Kapitäns Bootshaus sein.“

„Ganz sicher ist es das, mein Alter. Und dieses langgestreckte, niedrige Häuschen ist eben – die Hauptsache!“

Jetzt standen wir vor dem Bootshause. Es war grau gestrichen und roch noch etwas nach Ölfarbe. Die nach dem Lande zeigende Hinterfront hatte nur eine schmale Tür.

Harst kratzte die Ölfarbe ab.

„Ah – mit Blech benagelt, – auch die Tür. Und die übergreifenden Türleisten sind Eichenholz. Das Schloß –“ er hatte seine Taschenlampe eingeschaltet – „ist ein tadelloses Kunstschloß und für die Tür fast zu groß. Ich wette, es ist so eins mit vier Riegeln, die die Tür an allen Seiten festhalten wie bei einigen Stahlschränken. – Tatsächlich: man hat Einbrechern die Arbeit nicht gerade leicht – Hallo,“ flüsterte er, „was ist das? Die Tür ist ja nur angelehnt –“

„Vorsicht!“ flüsterte er wieder. „Vielleicht überraschen wir hier gerade ein paar Spitzbuben –“

Ich hatte die Pistole schon in der Hand, schob die Sicherung zurück.

Harald betrat das Innere des Bootshauses. Der Lichtkegel seiner Lampe glitt über die Motorjacht hin. Diese war ein 9-Meter-Boot mit flachem Boden, Mahagonideckaufbauten und einer Schraube und als Motorboottyp schon veraltet.

Sie lag auf einem Schlitten mit kleinen Rädern. Neben der Tür befand sich eine Handwinde, deren Stahltrosse, die nach dem Bug hinlief, straff gespannt war.

An der Steuerbordseite stand ein Leitertritt, so daß man bequem an Deck gelangen konnte.

Harst drückte die Tür zu und stemmte ein paar Ruder fest dagegen. Ein Schlüssel befand sich nicht im Schloß. Dann gingen wir nach vorn bis zu der großen Flügeltür, die auf die Gleitbahn mündete. Auch diese Tür war aus Eichenholz und aufs beste verwahrt. Eisenstäbe hielten die Flügel unverrückbar fest.

Das Bootshaus war leer; keine lebende Seele war darin.

„Merkwürdig!“ meinte Harald.

Er leuchtete den Leitertritt ab, deutete auf ein paar noch feuchte Erdkrumen auf einer der Stufen.

„Entweder waren Diebe hier oder sie sind noch drinnen im Boote,“ hauchte er noch leiser als bisher. Dann sagte er ganz laut:

„Du, Emil, – Mensch, wir haben Jlick. Nu man ruff uff den Kahn. Irjend wat zum Klauen wer’n wir schon finden –“

Aha: er spielte nun selbst „Dieb“!

„Los – wenn’s man lohnt, Karle! Kletter’ man voran!“ erklärte ich ebenso laut.

Nun waren wir an Deck. Die Vorderluke war verschlossen. Aber die Tür zur Heckkajüte ließ sich öffnen.

Der Eingangstür gegenüber lag eine zweite Tür. Harst stieß sie auf. Ich war nun gleichfalls vorgetreten und stand dicht hinter Harald. Die Tür führte in eine winzige zweite Kajüte, in der vier Betten, rechts und links zwei übereinander, an den Bootswänden angebracht waren.

Da – plötzlich hinter uns ein Knall: das Zuschlagen einer Tür, – und das hastige Umdrehen eines Schlüssels in einem schlecht geölten Schloß.

„Gut so!“ sagte Harald leise.

Ich selbst war wie ein Blitz herumgefahren, rief jetzt:

„Eingesperrt sind wir!“

„Jott, Emil, wir beede wer’n hier doch wohl rauskommen!“ meinte mein Diebeskollege.

 

3. Kapitel.

Aber flüsternd fügte er hinzu:

„Ich habe mit dieser Einsperrung gerechnet. Es ist die zweite Probe aufs Exempel. Markieren wir weiter die lichtscheuen Gesellen!“ –

Mit dem „Rauskommen“ hatte Harald sich aber verrechnet. Die Fenster der Kajüten waren von innen durch Eisenplatten, die durch Bolzen festgehalten wurden, für uns und jeden anderen unpassierbar gemacht. Die Türen – denn auch aus der zweiten Kajüte führte eine Tür weiter nach dem Mittelschiff hin – bestanden aus dickem Mahagoniholz. Die Schlösser waren allerbeste Arbeit.

Nachdem wir uns eine Viertelstunde nach einem Schlupfloch umgesehen hatten, meinte Harald:

„Du – die Jeschichte riecht oberfaul. Der Kollege, der hier vor uns jearbeitet hat, is een janz ruppijes Luder! Uns hier einzuspunnen! Et jeht nich anders: wir missen Jewalt anwenden.“

Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als durch eines der durch die Eisenladen verschlossenen Oberlichtfenster eine dumpfe, rauhe Stimme herabtönte:

„Wenn Sie beide mir nicht Ihr Ehrenwort geben, sich um den sogenannten Goa-Räuber in keiner Weise mehr zu kümmern, so lasse ich die Jacht ins Wasser hinabgleiten. Die vier Bodenventile sind offen. Der Satanas sackt also in kurzem weg, und Sie ersaufen wie die Mäuse in einer Kastenfalle. Ich weiß sehr wohl, wer Sie sind. Strengen Sie sich nicht weiter an, gewöhnliche Diebe vorzutäuschen. Ich befand mich auf dem Hofe des Harstschen Grundstückes in Schmargendorf, als ein gewisser Max Schraut auf der Leiter emporkletterte und in eines gewissen Harald Harsts Schlafzimmer hineinspähte. Dieselbe Leiter benutzte ich dann. Und ich hörte genug, um zu vermuten, daß Sie beide die Goa-Straße sich ansehen wollten. Ich war stets fünfzig Meter vor Ihnen, als Sie den Pfad nach dem Seeufer einschlugen. – Wollen Sie also die verlangte Zusicherung geben oder nicht?“

„Bedauere. Das kann ich nicht,“ rief Harst zurück. „Wenigstens nicht in dieser Form. Ich würde –“

„Auf Verhandlungen lasse ich mich nicht ein. Ich zähle bis drei. Erfolgt bis dahin nicht ein unumwundenes Ja, so schlage ich die Keile des Schlittens weg, und der Satanas schießt ins Wasser –“

Ein paar Sekunden nichts. Dann –

„Eins – zwei –“

„Sie werden es bereuen, so wahr ich Harald Harst heiße,“ brüllte dieser jetzt.

Ein helles Lachen folgte, darauf:

„Drei!“

Und im selben Moment ging es wie eine leichte Erschütterung durch die Jacht! Wir hörten dumpfe Schläge; wieder eine Erschütterung.

Dann – nichts mehr. Die Jacht blieb ruhig an derselben Stelle.

Stille, völlige Stille. Nun das Kreischen von Türangeln; jetzt nur noch das leise Glucksen des Wassers unter den Pfählen des Bootshauses. –

Harald stellte seine eingeschaltete Taschenlampe auf den kleinen Tisch der Wohnkajüte, setzte sich auf das Wandsofa und sagte:

„Diese Probe aufs Exempel ist ebenfalls gelungen. Das Geheimnis des Straßenräubers von Goa steckt in dieser Motorjacht, wette ich.“

Ich war starr. Was hieß das nun wieder?!

Ich glaube, jeder wird mir die sprachlose Überraschung bei diesen Worten Harsts nachfühlen können.

Dann – eine unsichere Vermutung.

„Der Mensch hat hier in der Jacht in der Verborgenheit gelebt?“ fragte ich schnell.

Harald schüttelte den Kopf.

„Nein, mein Alter. Die Geschichte ist weit verzwickter.“ Er gähnte herzhaft. „Bist Du auch so müde? Wie wär’s, wenn wir uns dort im Schlafsalon auf die Betten legten und uns ausruhten? Mit Schultze haben wir uns erst um 9 Uhr vormittags verabredet. Und der Goa-Räuber wird seine Drohung, uns zu ersäufen, nicht mehr wahrmachen. Er hat sich verzogen.“ Er gähnte wieder.

„Lege Du Dich meinetwegen nieder,“ erklärte ich etwas unwillig. „Ich bin auch nicht die Spur müde. Du vergißt nämlich eins: Aus diesem Satanas werden wir wohl hinauskommen. Aber – ob es uns glücken wird, das Bootshaus zu verlassen, ist eine andere Sache. Zum mindesten müssen wir dann dabei so viel Lärm machen, daß man auf uns aufmerksam wird, was unserer Rolle als Bodenspekulanten vorzeitig ein Ende bereiten dürfte.“

„Spätere Sorgen, mein Alter. Weshalb bist Du eigentlich so schlechter Laune? Oder – hast Du Angst, daß uns hier etwas zustoßen könnte? Das wäre überflüssig. Dieser Goa-Räuber bellt, aber beißt nicht. Das haben wir ja gesehen. Deine Zweifel, ob wir aus dem Bootshause ins Freie gelangen werden, sind lediglich auf Deine Unkenntnis der Einrichtung derartiger Häuschen zurückzuführen. Die vordere Flügeltür, durch die die Jacht auf die Gleitbahn und ins Wasser hinausbefördert wird, ist nur von innen verriegelt, wie ich vorhin festgestellt habe. Der eigentliche Eingang ist eben die kleine Hinterpforte. – Es ist wirklich besser, wir schlafen noch ein paar Stunden und statten dann dem Matrosen Jochem Settefrag noch schnell einen Besuch ab, bevor wir zu Max Schultze gehen und dort das Frühstück einnehmen. Dieser Jochem muß so manches wissen, was uns wertvoll sein wird – falls er sich eben eine Blöße gibt.“

Ich hatte mich gleichfalls gesetzt. Harald holte jetzt eine Schachtel Mirakulum hervor und begann zu rauchen. Mithin wollte er wenigstens noch einige Zeit mit mir plaudern. Vielleicht war er in mitteilsamer Stimmung. Das mußte ich dann ausnutzen.

„Hältst Du diesen Jochem etwa für den –“ Ich vollendete den Satz nicht. Haralds Gesichtsausdruck warnte mich.

„Hm, Du stoppst schon von selbst ab,“ meinte er. „Sieh mal, lieber Alter, wenn Du Dich zum Beispiel als Straßenräuber etablieren würdest, wärest Du dann so weichherzig, Deinen Opfern das Geraubte wiederzugeben? Wohl kaum. Dieser Goa-Bandit tut es aber. Er hat Reinstein fraglos das Geraubte zurückgegeben. Deshalb war der Prokurist auch so verlegen. Es ist klar, daß dieser merkwürdige Wegelagerer ihn schriftlich gebeten hat, die Rückgabe des Geraubten in jedem Falle zu verschweigen. Reinsteins Benehmen bewies das zur Genüge. Der Kunstschlosser Dehmke zog sich auf einfachere Art aus der Affäre: er komplimentierte uns kurzer Hand hinaus und entging so allen Fragen. Mit den anderen Opfern dieses eigenartigen Gentleman-Freibeuters wird es dasselbe sein. Auch sie werden per Post nach einiger Zeit ihre Wertsachen zugestellt bekommen haben.“

„Oho – das stimmt nicht, Harald! Denke mal an Schultze! Der beklagt noch immer den Verlust von baren 8000 Mark, Uhr und Kette und Perle.“

„Ja – mit Schultze hat es auch eine besondere Bewandtnis. Schultze hörte beide Male, als er sich umdrehen mußte, seinen Schlüsselbund klappern.“

Ich glaubte jetzt alles zu begreifen.

„Der Kerl hat es vielleicht auf des Verlegers Geldschrankschlüssel abgesehen gehabt,“ sagte ich schnell, beugte mich vor und schaute Harst prüfend an.

„Du bist jetzt beinahe auf der richtigen Fährte,“ nickte Harald und hielt mir die Zigarettenschachtel hin. „Da – rauche nur! Wenn wir schon mal bei theoretischen Erörterungen sind, wollen wir es uns auch gemütlich machen. – So, da hast Du Feuer. – Nun also mal das geistige Seziermesser heraus und den Goa-Räuber zerlegt! Daß der Mann nicht Wegelagerer spielt, um andere auszuplündern, wird Dir wohl inzwischen klar geworden sein. Er hat von vornherein nur Max Schultze zwingen wollen, den Inhalt seiner Taschen zur Prüfung auszubreiten. Die anderen Überfälle waren lediglich Vertuschungstaten. Schultze sollte nicht merken, daß er allein das Hauptobjekt war.“

„Donnerwetter – das läßt sich hören!“

„Freilich. Es läßt sich hören, weil es nach dem was wir bisher wissen, so sein muß. Das wichtigste an der „Arbeitsmethode“ dieses Banditen war mir, daß die Opfer sich umdrehen mußten und daß Freund Schultze beide Male deutlich hörte, daß der Strauchdieb die Schlüssel vom Boden aufhob und diese also besichtigte. – Weshalb das? mußte ich mich fragen. Weshalb vertrödelt der Kerl damit kostbare Zeit, wo er die Beutestücke doch mit einem Blick überschauen konnte! – So kam ich auf den Gedanken: er hat es auf einen Schlüssel Schultzes abgesehen. – Beim ersten Überfall hat dieser den Schlüssel nicht bei sich gehabt. Zum zweiten Überfall bot sich erst nach Monaten Gelegenheit. Inzwischen beging der Mensch zur Verschleierung seiner wahren Absichten noch weitere Räuberstückchen. Und – bei diesem zweiten Überfall hatte er dann mehr Glück; da – fand er das Ersehnte – eben den Schlüssel! Und er hat davon Wachsabdrücke genommen. Besinne Dich: Schultze betonte, daß der Bandit mindestens fünf Minuten brauchte, ehe er mit der Prüfung des Tascheninhalts am Boden fertig war.“

Harald schwieg, gähnte wieder. Und ich fügte hinzu: „Wir könnten doch eigentlich hier in Birkenwalde auch gleich noch zu Frau Madison gehen und mal festzustellen versuchen, ob sie ebenfalls ihr Geld von dem Banditen zurückbekommen hat.“

„Ja, gehen wir zu ihr,“ sagte Harald nur. „Jetzt aber ins Bett. Wir können noch drei Stunden schlafen. Das genügt. Gute Nacht, mein Alter.“

Mich floh der Schlaf. Der verdammte Schlüssel wollte mir nicht aus dem Sinn. Welchen Schlüssel konnte Harst nur meinen? fragte ich mich immer wieder. Wirklich einen Geldschrankschlüssel?

Plötzlich fuhr ich halb empor.

Was war das?! Das hatte doch soeben wie das Knarren einer Tür geklungen?!

Ich lauschte. Aber ich vernahm nur das schwache Glucksen des Wassers unter dem Bootshause.

Meine Linke tastete nach der kleinen Lampe, meine Rechte nach der Repetierpistole. Ich wollte gerüstet sein, wenn irgend etwas geschah.

Ich stützte mich auf den linken Arm und horchte. Harald pustete jetzt im Schlaf. Das machte mich ganz nervös. Sein rasselndes Atmen erschwerte mir das Lauschen.

Da – wieder ein Geräusch, – und zwar in der Jacht selbst, nicht etwa im Bootshause. Ganz deutlich hatte ich es gehört. Es hatte wie das Zudrücken einer sich klemmenden Tür geklungen.

Ich stand leise auf, tappte zu Haralds Bett hinüber, legte ihm die Hand auf die Schulter.

Er war sofort wach.

„Was gibt’s?“ flüsterte er.

„Leise! Paß nur auf. Es ist noch jemand außer uns hier auf oder besser in der Jacht.“

Minuten vergingen.

Da – wieder ein Knarren und Quietschen; nach kurzer Pause dieselben Töne.

„Alterchen, das ist die Gleitbahn, die sich an der Wand des Häuschens reibt, wenn das Wasser sie bewegt,“ sagte Harald halblaut. „Leg’ Dich nur wieder hin. Du bist nervös. Drüben auf dem Sinai und in Indien waren Deine Nerven besser.“

Ich streckte mich wieder auf meinem Bett aus und zog die Wolldecke hoch. Aber die Pistole und die Taschenlampe legte ich so neben mich, daß ich sie griffbereit hatte.

Und – die Nerven ließen mich wieder allerlei Geräusche hören. Einmal glaubte ich sogar, daß jemand über das Deck schlich. Dann siegte die Müdigkeit, und ich verfiel in einen Halbschlaf.

Für Minuten sank ich doch wohl in das Traumreich des Tiefschlafs hinab. Ich sah den Goa-Räuber vor mir stehen mit der Nickelspritze in der Hand. Die Sonne ließ das Metall aufleuchten; es blitzte und funkelte, vergrößerte sich, wurde zum leuchtenden Viereck, aus dem weiße Lichtfluten hervorbrachen.

So ging der Traum in die Wirklichkeit über.

Ich merkte, daß ich wach war; ich starrte in den Lichtschein einer großen Laterne. Und rechts neben dieser Laterne blinkte etwas anderes: ein Revolver.

„Liegen Sie beide ganz still, oder –!“ drohte eine tiefe Baßstimme. „Ich fackele nicht lange. Mit solchem Gesindel mache ich kurzen Prozeß, so wahr ich sechsmal die Erde umkreist habe!“

Nun sah ich auch einen kleinen, breitschultrigen Mann wie einen schwarzen Schatten hinter der blendenden Lichtbahn, und ein zweiter rascher Blick nach Harst hinüber zeigte mir, daß Harald aufrecht auf seinem Lager saß und sich die Augen rieb.

Da brüllte der kleine Stiernackige auch schon:

„Hinlegen, Sie da, oder es knallt!“

Und gehorsam streckten wir beide uns wieder aus.

Meine Hand suchte die Pistole. Aber der Kerl hatte gute Augen.

„He – rühren Sie sich nicht!“ warnte er.

Die Revolvermündung nahm die Richtung auf meine Brust. Und ich lag still und regte keinen Finger.

 

4. Kapitel.

Harald meldete sich jetzt. Und das, was er sagte, bewies abermals, wie schnell und richtig sein Geist arbeitete.

„Wenn Sie sechsmal die Erde umkreist haben,“ meinte er sehr höflich, „dann können Sie nur Herr Jochem Settefrag, der ehemalige vertraute Diener Kapitän Blackfuß’ sein. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Ich hätte Sie heute vormittag ohnehin aufgesucht.“

Jochem Settefrag war starr.

„Sie, wollen Sie mich etwa – etwa verhohnepipeln,“ rief er dann wie ein gereizter Stier. „So ’ne Frechheit ist mir denn noch nicht –“

„Gestatten Sie, Herr Settefrag,“ unterbrach Harald ihn, „wir wollen hier doch als gebildete Leute zunächst mal –“

„Halt’s Maul, alter Pennbruder!“ fuhr der Matrose dazwischen. „Halt’s Maul, oder ich versetz’ Dir ’n Boxhieb, daß Dir das Hirn in die Hosen rutscht! Ihr haltet mich wohl für dämlich, wie?! Na – da seid Ihr schief gewickelt. Ich weiß Bescheid! Ihr macht mit diesem Halunken gemeinsame Sache, der jetzt hier Gastrollen gibt! Kein Wort will ich mehr hören. Wer noch ein einziges Mal das Maul auftut, der kriegt ’n paar Lot Blei! Oh – der Jochem Settefrag wird mit Euch noch alle Tage fertig. Und mit dem andern ebenso! – Aufstehn, Du da, und Hände hoch!“ Das galt mir. „Vorwärts – stell’ Dich mit dem Gesicht dort an die Wand!“

Wahrhaftig – mit diesem Jochem war nicht zu spaßen! Ich gehorchte also.

„So – und nun knöpf’ Dir mal die Hosenträger ab!“ kommandierte Settefrag weiter. „Damit bindest Du Deinem Kumpan die Hände auf dem Rücken zusammen. Aber – mach’ keine Dummheiten, mein Junge! Der Jochem hat mit Käp’ten Blackfuß schon ganz andere Lumpen mürbe gekriegt, als Ihr es seid. – Los zum Deibel, – was zögerst –“

Ein dumpfer Knall.

Die Karbidlaterne flog Jochem aus der Hand, erlosch.

Ich sah noch, wie Harald mit einem Riesensatz auf den Matrosen zusprang. Und in der pechschwarzen Finsternis hörte ich nun ein kurzes Ringen, dann ein Röcheln, dann Harsts Stimme:

„Die Kerzen!“

Mit bebenden Fingern rieb ich mein Feuerzeug an. Die erste Kerze flackerte auf; der zweite Docht fing Feuer.

Harald lag auf Jochem Settefrag und hielt dessen Hals umspannt.

„Binde ihm die Hände – schnell!“ meinte er. „Nimm Dein Taschentuch dazu –“

Dann ließ er den Gefesselten los, der sofort das Bewußtsein wiedererlangte, japsend Luft holte und uns grimmig aus seinen dunklen Mauseaugen anfunkelte. Wir setzten ihn auf mein Bett. Er wehrte sich nicht mehr. Er sah die Pistole in Haralds Hand.

„So,“ meinte dieser. „Sie werden nun wohl gemerkt haben, Herr Settefrag, daß es richtiger gewesen wäre, erst noch abzuwarten, bis wir uns Ihnen vorgestellt hätten. Es tut mir leid, daß ich Sie durch den Schuß unter der Wolldecke hervor etwas erschrecken und Sie dann etwas würgen mußte. Jedenfalls sind wir jetzt die Sieger. Und mithin haben wir das Recht, von Ihnen so einige Auskunft zu verlangen. Gehen wir aber in die Wohnkajüte hinüber. Hier stinkt es jetzt zu arg nach Azetylengas.“

Jochem Settefrag, dem man den früheren Seemann auf den ersten Blick ansah, stand schwerfällig auf. Er mußte dann nebenan auf dem Wandsofa Platz nehmen. Wir setzten uns in die rotlackierten Korbsessel. Die Kerzen standen auf dem kleinen Tischchen.

„Herr Settefrag, das Verhör beginnt,“ sagte Harst nun und legte die rechte Hand mit der Pistole recht auffällig auf den Tischrand. „Wir beide, mein Freund und ich, sind keine Verbrecher. Wir sind – Forscher. Wir suchen allen Dingen auf den Grund zu gehen.“

Jochem lachte ironisch auf.

„Nette Forscher!“

„Sparen Sie sich derartige Zwischenrufe. Wir sind tatsächlich Forscher. Nur haben wir ein Spezialgebiet erwählt, das man Kriminaluntersuchungen nennt. Kurz – wir sind Detektive, die hier in Birkenwalde und Umgegend zur Zeit beruflich tätig sind.“

„Gut gelogen,“ brummte der bärtige, verwitterte Matrose, den ich auf einige fünfzig Jahre schätzte.

„Sie werden uns nun alle Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Sobald Sie auch nur im geringsten schwindeln oder Ausflüchte machen, sind Sie verloren. Daß ich nicht vorbeischieße, wissen Sie. Und – der Schmöckwitz-See ist tief und stellenweise sumpfig. Wer dort mit einem Stein am Fuß ins Wasser geworfen wird – na, – Sie verstehen!“

„Und ob, Sie – Sie Lump!“ zischte Settefrag.

„Danke verbindlichst. Lump ist eine mäßige Beleidigung. – Also: Sie sprachen da vorhin von einem Halunken, mit dem wir angeblich gemeinsame Sache gemacht haben sollen und der jetzt hier Gastrollen geben soll. – Was heißt das?“

Settefrag grinste und schwieg.

„Herr Settefrag, ich würde ja anders mit Ihnen reden, wenn ich bestimmt wüßte, daß Sie nicht selbst hier dunkle Zwecke verfolgen,“ sagte Harald in demselben gemütlichen Tone. „Bisher kenne ich Sie aber zu wenig. Ich muß daher vorsichtig sein. – Vielleicht beantworten Sie mir eine andere Frage: Weshalb hatten Sie sich hier in der Motorjacht versteckt?“

„Na – so was Dummes kann man ja wohl beantworten,“ höhnte der Matrose. „Zumal Sie es ja selbst am besten wissen: um Ihrem Kumpan aufzulauern, der weiß der Deibel wie sich ’nen Schlüssel zum Patentschloß des Bootshauses besorgt hat.“

„Ah, die Sache kommt in Fluß,“ nickte Harst. „Das klingt leidlich wahrscheinlich, was Sie eben sagten. – Wie sind Sie denn aber in das Bootshaus hineingelangt? Haben Sie ebenfalls einen Schlüssel dazu?“

„Schafskopp! Wie sollt’ ich sonst jetzt wohl hier sein,“ fauchte Jochem.

Harald lächelte. „Wir freunden uns immer mehr an, Herr Settefrag. Sie haben also einen Schlüssel. Davon weiß aber das Nachlaßgericht nichts, muß ich den ganzen Umständen nach annehmen.“

Der kleine Stiernackige wurde verlegen, blickte vor sich hin, hob den Kopf wieder und sagte unsicher:

„Verdammt, wer sind Sie eigentlich?“

„Oh – jetzt kann ich unser Inkognito lüften, Herr Settefrag. Denn jetzt sehe ich auch in diesem Punkte klar. Haben Sie mal in den Zeitungen den Namen Harald Harst gefunden?“

„Harst? – und ob! Das ist der Amateurdetektiv, der –“

„– der Ihnen jetzt gegenübersitzt.“ Harald legte die Pistole hin und holte die Zigarettenschachtel hervor, hielt sie Settefrag über den Tisch vor die Augen und fügte hinzu:

„Ich rauche nur diese eine Sorte, die für mich allein hergestellt wird: Mirakulum!“

„Ah – sollte ich alter Esel etwa so dämlich –“

Harald war schon aufgestanden, knüpfte das Taschentuch von des Matrosen Handgelenken los und sagte:

„Ja, Sie waren so dämlich, uns beide für Verbrecher zu halten. – Bedienen Sie sich bitte. Rauchen Sie! Es ist die Friedenspfeife zwischen uns. – So, und nun, Herr Settefrag, nun wollen wir uns über das unterhalten, was hier in Birkenwalde seit dem Tode Ihres Herrn passiert ist –“

Jochem schob die blaue Mütze mehr ins Genick.

„Hm – ich – ich darf über manches nicht reden, Herr Harst. Ich habe dem Käp’ten Schweigen gelobt. Ich muß diese Sache allein ins Reine bringen.“

„Gut. Dann sagen Sie nur das, was Sie dürfen, was Sie also vor Ihrem Gewissen verantworten können. – Wer ist der sogenannte Goa-Räuber?“

Jochem schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, Herr Harst.“

„Wen meinten Sie vorhin mit dem „Halunken“?“

„Na, den Kerl, der seit Monaten versucht, hier ins Bootshaus einzudringen.“

„Und dieser Kerl ist nicht der Goa-Räuber?“

„Nein, bestimmt nicht.“ –

Ich lauschte mit atemloser Spannung. Das wird der Leser begreifen. – Daß der „Halunke“ nicht der Goa-Bandit war, warf alles, was ich mir soeben zurechtgelegt hatte, wieder über den Haufen.

„Den „Halunken“ kennen Sie aber – von früher her?“ forschte Harald weiter.

Jochem senkte den Kopf und schwieg.

„Auch diese Antwort genügt,“ meinte Harst. „Sie kennen ihn. Wann bemerkten Sie zum ersten Male, daß der „Halunke“ hier einbrechen wollte?“

„Im Mai dieses Jahres.“

„Sie haben also das Bootshaus nicht bewacht?“

„Das nicht gerade. Wenigstens zuerst nicht. Als ich damals am 2. Mai den Kerl von hier verscheuchte, hatte mich so etwas wie eine innere Unruhe hergetrieben. Dann ging ich des öfteren nachts hierher. Und am 11. Mai traf ich den Kerl wieder und erkannte ihn auch trotz des falschen Bartes. Ich verfolgte ihn. Aber er sprang in ein Ruderboot und entkam. Seitdem bin ich sehr auf meiner Hut. Der Schuft ist zu allem fähig. Ich rechnete mit Mordanschlägen. Doch der Kerl wagte nichts, weil ich zu gut aufpaßte.“

Harald rauchte ein paar Züge und schaute den zerflatternden Rauchringen sinnend nach. Dann fragte er wieder:

„Sie waren in der vergangenen Nacht ebenfalls wieder hier, oder wenigstens draußen in der Nähe?“

„Ja. So ist’s, Herr Harst. Und da sah ich eben, daß der Schuft jetzt einen Schlüssel hatte, den er im Schloß ausprobierte. Er paßte aber wohl nicht ganz. Da dachte ich: die folgende Nacht fängst Du ihn! Du versteckst Dich hier, und wenn der Kerl beim Durchsuchen der Jacht bis vorn an den Geräteverschlag gekommen ist, dann – dann machst Du die Rechnung glatt –“

„Ich verstehe. Sie wollten ihn niederschlagen und –“

Settefrags faltiges Gesicht hatte sich zur Fratze verzerrt.

„– und – ersäufen!“ keuchte er. „Ja – ersäufen, – daß niemand ihn fände! Er hat’s verdient, der Elende!“

Harald lächelte ganz wenig. „Lieber Settefrag, Sie haben mir soeben alles verraten. Ich weiß jetzt, was hier in der Motorjacht zu suchen ist, was den „Halunken“ hierher lockte. Es müssen Dinge von großem Werte sein, vielleicht – Edelsteine! Ihr Herr hat lange in Goa in Indien gelebt. Goa ist als Diamantenhandelsstadt bekannt.“

Jochem senkte wieder den Kopf.

„Sie brauchen nicht mehr zu antworten,“ fuhr Harald fort. „Der Fall des Räubers von Goa ist mir in den Hauptpunkten völlig klar.“

Settefrags Kopf schnellte hoch.

„Herr Harst, was wollen Sie nur immer mit diesem Banditen?! Was hat der mit meinem Geheimnis zu tun?“

„Das werden Sie noch heute erfahren.“ – Er zog seine Taschenuhr. „Halb sieben. Wir können aufbrechen. Sie bleiben hier, Settefrag. Es ist sehr wahrscheinlich, daß das Bootshaus beobachtet wird. Erst eine Stunde nach uns verlassen Sie es. Um 9 Uhr finden Sie sich dann in der Villa des Herrn Max Schultze in der Bahnhofstraße 111 ein –“

„Gut. War ja schon sehr oft da, Herr Harst. – Wie werden Sie aber aus dem Bootshaus herauskommen? Wollen Sie meinen Schlüssel nehmen? Soll ich Ihnen aufschließen und hinter Ihnen wieder absperren?“

„Nein. Danke. – Auf Wiedersehen also –“

Wir kletterten mit Hilfe des Leitertritts in das Bootshaus hinab. Dann öffneten wir die vordere Flügeltür nach der Gleitbahn zu, lehnten die Flügel wieder an und gingen auf dem schmalen Brettersteg, der links an der Wand entlanglief, bis ans Ufer. Wir bemerkten nirgends etwas Verdächtiges. Um ½8 läuteten wir an der Gitterpforte der Villa Schultze.

 

5. Kapitel.

Der Verleger saß mit seiner Familie bereits beim Morgenkaffee. Wir wurden aufs freundlichste aufgenommen und Schultzes Gattin und Sohn, einem Gymnasiasten, wie verabredet als Kaufleute Bart und Blaut vorgestellt.

Nach dem Frühstück zeigte der Verleger uns den sehr sauber gehaltenen Gemüsegarten, den neuen Kleinviehstall und gab Harst so Gelegenheit, ohne Zeugen mit ihm zu sprechen.

Wir standen jetzt im Ziegenstall.

„Na – haben Sie schon einen Schlachtplan entworfen, Herr Harst?“ fragte Schultze flüsternd.

„Allerdings. Wir wollen damit beginnen, daß wir beide, Schraut und ich, zu Frau Madison gehen und diese um Auskunft über ihr Zusammentreffen mit dem Wegelagerer bitten. Es ist jetzt ½9. Wir werden nach einer Viertelstunde aufbrechen. Um 9 kommt Settefrag zu Ihnen, den wir in dieser Nacht zufällig kennen lernten. Sobald er hier ist, folgen Sie beide uns zu Frau Madison. Wir wollen dann gemeinsam das weitere erledigen.“

Nachdem wir uns verabschiedet, schritten wir auf einem schmalen Waldwege der Goa-Straße zu.

„Wie wird diese Sache nun eigentlich enden?“ begann ich nach einer Weile. „Sie ist jetzt ja durch Settefrag sozusagen auseinandergerissen, hat sich geteilt. Wir sind einem neuen Geheimnis auf die Spur gekommen, dem des Satanas, der Motorjacht. Daß dieses Geheimnis mit dem Testament des Kapitäns zusammenhängt, ist klar. Der „Halunke“, den Settefrag so tödlich haßt, weiß, daß in der Jacht etwas zu finden ist. – Woher weiß er es?“

Harald brach einen Birkenzweig ab und schlug damit Lufthiebe. „Die Frage ist kindlich, lieber Alter. Der Inhalt des Testaments Blackfuß’ ist hier in Birkenwalde ebenso allgemein bekannt wie eine Verordnung über den Maulkorbzwang der Hunde. Der „Halunke“ konnte sich also unschwer über die Verfügungen dieses Testaments unterrichten.“

„Genau dasselbe dachte ich mir,“ meinte ich leichthin.

„Na also! – Und weiter?“

„Der Mensch kennt Blackfuß und Settefrag von früher her und muß gewußt haben, daß der Kapitän Dinge von großem Werte besaß. Vielleicht hat er es auf diese Dinge seit langem abgesehen.“

„Ohne Zweifel, lieber Alter. Zu Lebzeiten des Kapitäns konnte er an diese Wertobjekte nicht heran, da ihm unbekannt war, wo Blackfuß sie verborgen hatte. Nach dessen Tode wurde die Sache für ihn aussichtsreicher. Das Testament stieß ja jeden mit der Nase darauf, daß in der Motorjacht Wertvolles versteckt war. Dies war mir sofort klar, als Schultze von der seltsamen Bestimmung des Kapitäns erzählte, die Jacht sollte bis zu Settefrags Tode nie mehr betreten und auch nicht benutzt, dann aber versteigert werden, und der Erlös sollte zum Bau von Arbeiter-Einfamilienhäusern dienen. – Ich betone: Häusern! – Für einen veralteten Typ einer Motorjacht erzielt man nicht so viel, um davon gleich mehrere Häuser bauen zu können. Mit diesem Geheimnis des Satanas rechnete ich also von vornherein. Als ich dann das Bootshaus sah, als ich feststellte, wie gut es gesichert war, als ich die Farbe mit dem Fingernagel abkratzte und das Eisenblech bemerkte, weiter auch das große Patentschloß, – da hätte ich einen Eid darauf schwören können, daß der wahre Wert der Jacht nicht – Halt, wir sind zu weit nach links geraten, mein Alter. Da lugt schon das Goa-Haus durch die Bäume. Also wieder in den Wald hinein! Ich möchte es mir mal von der Rückseite ansehen.“

Als Harald diese letzten Worte sprach, ging es mir wie ein elektrischer Schlag durch den Körper.

„Du hegst irgend einen Verdacht gegen Frau Madison!“ rief ich leise.

„Hm – irgend einen?! Das klingt sehr unbestimmt. – Beeilen wir uns etwas. Ich muß die Bäume prüfen, die am hinteren Ende des Gartens der Madison stehen. Der Garten zieht sich ja weit in den Wald hinein.“

Bäume prüfen?! Ich hätte so gern gefragt, was das für einen Zweck haben sollte. Aber ich merkte: Harald wollte nichts mehr preisgeben von dem, was er wußte.

Dann befanden wir uns an dem hohen Drahtzaun, mit dem der Garten umgeben war. Harald deutete auf eine Anzahl Kiefern und Fichten, von denen einige noch hinter der Umzäunung wuchsen.

„Sehr schlau,“ meinte er. „Nur wunderbar, daß niemand auf diesen Trick gekommen ist.“

Er ging langsam tiefer in den Wald hinein, schaute immer wieder hinauf in das Geäst der Bäume.

„So, mein Alter, – das wäre der letzte Stein zum Bau,“ sagte er nun und schob seinen Arm in den meinen. „Uns steht eine sehr interessante halbe Stunde bei Frau Madison bevor.“

Als wir an der Gartenpforte des Goa-Hauses geläutet hatten, hörten wir von der Straße her Schultzes Stimme:

„He, Herr Bart, – wir sind auch schon da!“ Es waren Schultze und Settefrag. Als wir uns gerade begrüßten, kam eine Dame in schleppendem Morgenkleide den Gartenweg vom Hause her entlang. Sie war schlank, trug das blonde Haar als Tituskopf und hatte ein schmales, feines Gesicht, eine edelgeformte, leicht gebogene Nase und ein Paar dunkle, etwas melancholische Augen. Ich schätzte sie auf Mitte der dreißig.

„Guten Morgen, gnädige Frau,“ rief Schultze ihr entgegen. „Entschuldigen Sie die frühe Störung. Hier sind ein paar Herren, die Sie des Überfalles wegen befragen möchten.“

Frau Madison schloß die Pforte auf. Schultze stellte uns als Bart und Blaut vor. Settefrag kannte sie schon.

„Bitte treten Sie näher,“ sagte sie mit einer sehr sympathischen, weichen Altstimme. „Leider kann ich die Herren nur in die Veranda bitten. Wir haben gerade großes Reinemachen. Daher wird meine Mutter sich in ihrem Arbeitskostüm auch kaum zeigen wollen.“

„Frau Madison,“ begann Harald dann, „ich möchte Ihnen gleich sagen, wer wir in Wahrheit sind. Ich heiße Harst, und das da ist mein Freund Max Schraut.“

„Ah – Harald Harst!“ Frau Madison schaute Harald voller Interesse an. „Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Sie suchen jetzt also den Goa-Räuber festzunehmen, nicht wahr?“

„Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich habe ihn nämlich schon fest, Frau Madison.“

Ihr Gesichtsausdruck wurde für einen Moment seltsam starr. Dann lächelte sie.

„Oh, das freut mich, Herr Harst –“ Ihre Stimme zeigte keinerlei Veränderung. Diese Frau mußte, falls sie ein schlechtes Gewissen hatte, stählerne Nerven besitzen.

Haralds Augen glitten jetzt nach dem Vorhang hin, der die in das Haus führende Tür verschloß. Ich sah diesen Blick. Dann schaute er mich an. Seine Lider weiteten sich den Bruchteil einer Sekunde. Ich verstand ihn: das war ein Warnungssignal.

„Unsere Verkleidung ist daher auch überflüssig geworden,“ fuhr er fort. „Ich wollte Sie nun fragen, Frau Madison, ob –“

Er hatte mit einem Bleistift gespielt, den er vom Verandatisch genommen hatte. Der Bleistift war ihm entglitten und rollte bis dicht an den Vorhang heran.

Ebenso rasch war er aufgesprungen und dem Bleistift nachgeeilt. Plötzlich riß er den Vorhang beiseite, packte zu, – packte eine Frau beim rechten Handgelenk, die hinter der Portiere gelauscht hatte. Die Frau stieß einen Ruf der Empörung aus. Aber Harald zerrte sie rücksichtslos in die Veranda und drückte sie in einen leeren Korbsessel.

Harald lehnte sich der Frau gegenüber an die Wand.

Die Frau, die er als Horcherin entlarvt hatte, trug einen dichten schwarzen Schleier, hatte graues, hochfrisiertes Haar und konnte nur die Mutter Frau Madisons sein.

„Settefrag,“ befahl Harst nun, „nehmen Sie mal dem Manne da Perücke und Schleier ab. Denn – diese Frau ist ein Mann.“

Jochem sprang auf. Aber der verkleidete Kerl wollte sich wehren. Da brüllte Jochem:

„Hund – jetzt ahne ich alles! Du bist Tom Markay, der Diamantendieb, der Quälgeist meines braven Herrn –“

Blitzschnell hatte er ausgeholt. Seine Seemannsfaust schmetterte dem Menschen gegen die linke Schläfe. Für Sekunden war der Kerl halb betäubt. Settefrag griff zu.

Perücke, Schleier und eine schwarze Gesichtsbinde flogen zu Boden.

„Tom Markay!“ brüllte Jochem wieder. „Er ist’s! Er ist’s! Oh, hätte ich das geahnt, daß Du Schuft hier im Goa-Hause stecktest!“

Markay glotzte wie ein Trunkener um sich. Allmählich nahmen seine Mienen den Ausdruck ohnmächtiger Wut an. Seine Augen waren auf Harst gerichtet. Wie ein sprungbereites Raubtier saß er da.

Und Frau Madison? – Jeder Tropfen Blut war aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre entsetzten, verzweifelten Blicke hafteten auf Tom Markays Antlitz.

„Tom, Tom, – verschlimmere unsere Lage nicht noch mehr,“ flehte sie dann mit vorgestreckten Händen. „Tom – keinen zwecklosen Widerstand! Harald Harst ist Dein Gegner! Bei unserer Liebe beschwöre ich Dich: füge Dich in das Unvermeidliche!“

Da entspannte sich Körper und Gesicht Tom Markays. Diese Frau mußte einen sehr großen Einfluß auf ihn haben. Er schaute sie an, nickte ihr schmerzlich lächelnd zu. – Darauf wandte er sich an Harst.

„Herr Harst,“ sagte er höflich und mit leichter Verneigung, „ich bin neugierig, zu erfahren, wie Sie es fertig gebracht haben, meine Verkleidung zu durchschauen –“

„Oh – ich habe mehr durchschaut als nur dies. Als Herr Schultze mir zunächst so einiges von dem Testament und dann von dem Straßenräuber, ebenso von Frau Madison und deren Mutter erzählt hatte, stellte ich sehr bald fest, daß der Goa- Räuber den Beraubten die Beute zurückgab und daß er es den ganzen Umständen nach nur auf den Schlüssel zum Bootshause abgesehen haben konnte. Der Goa-Räuber konnte nur eine Person sein, die hier im Goa-Hause wohnte. Die Polizeihunde verloren stets die Spur auf dieser Seite des Waldes. Ich sagte mir: der Bandit ist fraglos auf die Kiefern geklettert und hat seinen Weg in den Ästen fortgesetzt. Diese Kletterpartie mußte irgendwo enden, wo die Polizeihunde nicht hineingelangen konnten: hier im Garten. – Der Goa-Räuber sind Sie, Frau Madison, oder wie Sie sonst heißen mögen. Die Pausbacken werden durch Gummihalbkugeln hervorgerufen; die dicke Nase durch Stöpsel in den Nasenlöchern aus rosa Watte. Eine Perücke, Schminke, Brille und die verstellte Stimme taten das Übrige.“

Frau Madison hauchte ein schwaches: „Es ist so, Herr Harst.“

Harald schaute Jochem Settefrag an. „Nun sind Sie an der Reihe. Erzählen Sie. Vor dem Richter werden Sie als Zeuge trotz Ihres Eides nicht schweigen dürfen.“

„Nun gut, Herr Harst. Die Sache verhält sich so. Kapitän Blackfuß und Tom Markay waren drüben in Indien eine Weile dicke Freunde. Sie fanden dann einen alten, unterirdischen Brahma-Tempel und in einem Versteck unter einer Götzenstatue eine ganze Menge Diamanten, die sie dann teilten. Markay hatte seinen Erlös der Steine bald verjubelt und behauptete nun, Blackfuß hätte vor der Teilung heimlich die besten Diamanten beiseite geschafft. Er suchte dem Kapitän nun auf alle mögliche Weise Geld abzupressen, drohte unter anderem, ihn wegen Schmuggels zu denunzieren. Da verließen wir Indien heimlich und siedelten uns hier an.“

„Gestatten Sie ein paar Einwendungen, Herr Harst,“ sagte Tom Markay nun. „Es ist Tatsache: Blackfuß hat mich betrogen. Sein Testament beweist das am besten. Er hat dann die Edelsteine nur zum Teil verkauft und den Rest auf seiner Motorjacht verborgen. Diese sollte erst nach Settefrags Tode versteigert werden, damit der Matrose nicht als Zeuge vernommen werden könnte. Ich wette, Jochem Settefrag ist in alles eingeweiht, oder, wenn nicht das, so doch von seinem Herrn getäuscht worden.“

Harst gebot Markay durch einen Wink Schweigen.

„Settefrag, hat Blackfuß Ihnen aufgetragen, in Ihrem Testament das Versteck der Edelsteine zu nennen?“ fragte er.

Jochem machte jetzt ein sehr nachdenkliches Gesicht, kratzte sich verlegen den Kopf und meinte:

„Verdammt – das stimmt! Ich sollte in einem eigenhändigen Testament das Versteck auf der Jacht angeben. Die Edelsteine – es sind noch 21 Stück – sollten dann mit versteigert werden. Sie liegen in dem einen Motor. Wenn man den Mantel abschraubt und den mittleren Zylinder herausnimmt, hat man sie. – Drei Deibel nochmal! – sollte der Kapitän mich wirklich beschwindelt haben? Das wäre ja –“

„Er hat Sie beschwindelt, Jochem,“ sagte Markay ruhig. „Er wollte mir nur um jeden Preis die Steine entziehen. Er wußte, daß ich dauernd hinter ihm her war. Zu verkaufen wagte er sie nicht. Nach seinem Tode konnte ich mich nicht an die deutschen Gerichte in dieser Sache wenden, denn ich hatte ja keinerlei Beweise gegen Blackfuß. Ich mußte deshalb schon krumme Wege wählen, um ans Ziel zu gelangen und meine Absichten nebenbei auch gründlich verschleiern, da ich fürchtete, daß Sie, Jochem, die Steine anders wohin schaffen würden, die ich dem Testament nach in der Jacht vermutete. In das Bootshaus wollte ich gewaltsam nicht eindringen. Hätte ich’s getan und dann nicht gleich in derselben Nacht die Edelsteine gefunden, wäre vielleicht der Einbruch bemerkt und so alles verdorben worden. Wir mußten uns also einen Abdruck von dem Patentschlüssel besorgen, den Herr Schultze besaß. – Meine Frau und ich wollten nachher nach Indien zurückkehren, das wir über alles lieben.“

Harald nahm jetzt Markay beiseite und flüsterte mit ihm, worauf dieser mit seiner Frau verschwand. –

Wir unterhielten uns über gleichgültige Dinge, nachdem Herr Schultze noch allerlei gefragt hatte, was den „Goa-Fall“ betraf. So verging eine Stunde.

„Wo sind die Markays eigentlich?“ meinte der Verleger dann.

„Unterwegs,“ erwiderte Harald kurz. „Ich habe ihnen gestattet, die Edelsteine zu holen und abzureisen. Wir aber, meine Herren, wollen uns gegenseitig in die Hand geloben, den Goa-Räuber zu vergessen und auch alles das, was heute hier sich abgespielt hat. Frau Markay war mir eben für eine Gefängniszelle zu schade. Ihre 8000 Mark, Herr Schultze, liegen dort drinnen im Zimmer auf dem Tisch.“ –

 

 

Verlagswerbung:

Vielen Wünschen unserer Leser nachkommend, die Erlebnisse Harald Harsts doch mit farbigem Umschlagbild zu bringen, werden wir vom nächsten Band ab die vorliegenden Erzählungen „Der Detektiv“ in farbenprächtigem Umschlag herausgeben. Wir bitten unsere Leser von dieser Verbesserung Kenntnis zu nehmen. Der Preis ändert sich dadurch aber nicht.

Der Verlag.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „regunglos“.
  2. In der Vorlage steht: „Feinschnitttabak“.
  3. In der Vorlage steht: „sebst“.
  4. In der Vorlage steht: „geruchlols“.
  5. In der Vorlage steht: „ihr“.
  6. In der Vorlage steht: „Rosenheims“.
  7. In der Vorlage steht: „Haust“.
  8. In der Vorlage steht: „ein wenden“.
  9. In der Vorlage steht: „ein“.
  10. In der Vorlage steht: „eine“.