Erlebnisse einsamer Menschen
Nachdruck auch im Auszuge verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26.
W. Belka.
Doktor Heid stellte den Motor des kleinen, gedeckten Bootes ab und sagte zu Hans Bark:
„Das da drüben muß die Chinesenkolonie Mwurak sein. Es scheint dort sehr lebhaft herzugehen. Die gelbe Bande feiert wohl ein Fest. Ich denke, wir legen hier an und gehen erst mal zu Fuß nach dem Dorfe. Es ist nicht gerade nötig, daß die Zopfbrüder sehen, wie gut wir für eine Fahrt ins Innere ausgerüstet sind. Im Stehlen leisten diese Halunken Großes.“
Hans Bark, ein breitschultriger Riese mit blondem Vollbart und gutmütigem, wenn auch energischem Gesicht, stand auf dem niedrigen Aufbau der winzigen Kajüte und ließ nun das Fernglas sinken, mit dessen Hilfe er die Hütten am Flußufer, die in der Abenddämmerung und infolge der leichten Nebelbildung über dem Wasser nur noch undeutlich zu erkennen waren, prüfend betrachtet hatte.
„Sie werden recht haben, Herr Doktor,“ erwiderte er nun. „Es kann nur das Dorf Mwurak sein. Ich halte es aber für richtiger, daß einer von uns hier an Bord bleibt und das Boot bewacht. Man kann nie wissen, ob wir nicht schon bemerkt worden sind und heimlich beobachtet werden. Den Chinesen ist nie zu trauen, besonders nicht diesen bezopften Goldwäschern, die ein recht hinterlistiges und gewalttätiges Gesindel sind, sobald sie hoffen dürfen, für irgend eine Schandtat straflos auszugehen. Ich rate sogar zur allergrößten Vorsicht auf Grund meiner jahrelangen Erfahrungen hier auf Borneo. Wir dürfen nie vergessen, daß die letzte holländische Ortschaft mit einem Militärposten vier Tagereisen hinter uns und vor uns eine so gut wie unerforschte Wildnis liegt, die sich bis zum Schwaner-Gebirge hinzieht und in der es außer diesen Gelbgesichtern leider auch verschiedene Stämme der berüchtigten Ureinwohner, der Dajak, gibt.“
Doktor Werner Heid, ein junger, sehr begüterter Forschungsreisender, der den bisher ganz unbekannten Nordostteil des Schwaner-Gebirges näher untersuchen wollte und der sich als Reisebegleiter den Riesen Hans Bark verpflichtet hatte, mußte diesem notwendig beipflichten und erklärte nun, Bark solle also allein nach der chinesischen Niederlassung gehen und dort einige Lebensmittel einkaufen.
Das Motorboot, das einen sehr geringen Tiefgang hatte, damit es selbst in flachem Wasser der Nebenflüsse des Murung-Stromes noch benutzt werden könnte, auf dem man sich jetzt befand, wurde nun in eine kleine Bucht hineingerudert und am Nordufer mit einem Tau so festgemacht, daß es etwa drei Meter vom Lande ablag und nicht ohne weiteres zu betreten war.
Während der Doktor sich auf den Kajütaufbau setzte, eine Zigarre rauchte und den vielfachen Tierstimmen lauschte, die die inzwischen angebrochene Nacht wachrief, schritt Hans Bark durch einen lichten Wald von Sago- und Betelnußpalmen den auf einer Anhöhe stehenden Hütten zu. Diese waren gut hundert Meter vom Murung entfernt, bildeten, etwa zwanzig an der Zahl, einen Kreis und ließen in der Mitte eine Art Versammlungsplatz frei, der durch die Kronen von drei mächtigen Rasamala-Bäumen, diesen Giganten der Pflanzenwelt der Sunda-Inseln, beschattet wurde.
Jetzt brannten auf diesem freien Platz mehrere Feuer, deren rötliches, flackerndes Licht einige fünfzig Chinesen, Männer, Weiber und Kinder beleuchtete, die um einen großen Kessel herumlagen, herumtanzten oder schnatternd mit erregten Armbewegungen sich unterhielten.
Es waren die gesamten Bewohner des Dorfes, die sich heute hier zusammengefunden hatten und die tatsächlich infolge irgend eines besonderen Ereignisses ihre sonstige Trägheit und Gleichgültigkeit völlig abgelegt zu haben schienen. Hans Bark weilte nicht zum ersten Mal in einem der über ganz Holländisch-Borneo (denn die nördlicheren Teile dieser zweitgrößten Insel der Erde gehören England) verstreuten chinesischen Goldsucherlager. Er, der die Seemannslaufbahn nur deshalb aufgegeben hatte, um schnell durch reiche Fundstellen des edlen Metalls zu Wohlstand zu gelangen, hatte die Golddistrikten Borneo seit drei Jahren durchstreift, ohne bisher das Glück in Gestalt einer guten lohnenden Ader oder einer Bonanza (eine Fundstelle mit reinen Goldkieseln) erhascht zu haben. So weit wie jetzt war er jedoch noch nicht in die noch jeder Kultur verschlossen gebliebenen Gebiete der großen Insel vorgedrungen, auf der gerade die arbeitsamen und genügsamen Chinesen hauptsächlich die Goldwäscherei gegen eine an die niederländische Kolonialregierung zu zahlende Steuer mit stellenweise sehr guten Ergebnissen betreiben. Er wußte, daß diese Mwurak genannte Kolonie die letzte im Stromgebiet des Murung war, daß sie zunächst reiche Ausbeute an Gold nach der Küste geliefert, daß nun aber die Erträge des mühseligen Auswaschens des goldhaltigen Sandes der Nebenflüsse und Bäche des Murung immer geringer geworden waren, so daß die Zopfbrüder diese Gegend bereits wieder hatten verlassen wollen. Umso überraschter war er, die gelben Bewohner Mwuraks heute offenbar in recht froher, ja geradezu übermütiger Stimmung vorzufinden, und unwillkürlich sagte er sich nun, als er den freien Platz betrat und auf den Haufen der Chinesen zuging, daß diese vielleicht eine neue ergiebige Fundstelle entdeckt haben könnten.
Kaum war die hochragende Gestalt des in einen weißen Leinenanzug gekleideten Europäers bemerkt worden, als die bezopfte Gesellschaft auffallend still und ebenso offensichtlich sehr verlegen wurde.
Bark blieb nun dicht vor ein paar Chinesen stehen, die soeben einen großen Zinkbecher hatten die Reihe herum gehen lassen. Die kleinen, abgerissenen Kerle mit den scheinheiligen, unterwürfigen Gesichtern schauten ihn mit forschenden Blicken an, wollten sich dann scheu beiseite drücken und wurden erst durch Barks energischen Anruf veranlaßt, einen der ihrigen halb gewaltsam vorzudrängen.
Es war dies ein fetter, etwas besser gekleideter Mann mit dünnem, langem Schnurrhart und ein Paar geradezu heimtückischen Schlitzaugen. Er dienerte mehrmals bis zur Erde herab und fragte dann in jenem Kauderwelsch von Englisch, Holländisch und Chinesisch, das für die gelben Einwanderer die Verkehrssprache bildet, den „sehr ehrenwerten Mister“ nach dessen Wünschen.
Inzwischen hatte Bark sich auf diesem Dorfanger etwas näher umgeschaut und so nicht nur festgestellt, daß der große Kessel fraglos ein alkoholisches Getränk enthielt, sondern auch neben dem einen Feuer einen Haufen von Kleidungsstücken und anderen Sachen bemerkte, den die Chinesen, sich davor eng zusammendrängend, offenbar seinen Blicken entziehen wollten.
Hatte schon die deutliche Verlegenheit der bezopften Goldwäscher bei seinem Erscheinen sein Mißtrauen erregt, so wurde es jetzt noch mehr verstärkt durch dieses unzweifelhafte Bestreben, jene Kleider und anderen Dinge vor ihm zu verbergen. Wie man mit dieser gelben Bande umgehen mußte, um sich bei ihnen sofort in den nötigen Respekt zu setzen, war ihm sehr wohl bekannt. Ohne den dicken Kerl also einer Antwort zu würdigen, schritt er nun auf jenes Feuer zu, stieß die Chinesen mit ein paar Püffen aus dem Wege und schaute sich die hier liegenden Sachen genauer an, indem er einzelne Stücke aufhob und eingehend betrachtete. Es handelte sich ohne Frage um Dinge, die einem Weißen gehört hatten, und die einzelnen Stücke bildeten eine ziemlich vollständige Reiseausrüstung für Fahrten ins Innere.
Als Bark nun auch einen jener kleinen Gesteinhämmer in der Hand hielt, wie ihn Goldsucher benutzen pflegen, um Gesteinproben loszubrechen, erklang plötzlich hinter dem jungen Deutschen die schleimige Stimme des dicken Chinesen, der hier wahrscheinlich das Dorfoberhaupt spielte.
„Oh – Mister sehr verwundert über viele Sachen da,“ katzbuckelte er grinsend. „Drei von uns vorige Tag brachten halbtoten Mister von da weit oben mit. War sehr groß krank, der Mister, und wir ihn dann haben begraben dort – dort drüben.“
Bark blickte den Dicken durchdringend an.
„Wie hieß der Fremde, und was tat er hier allein in der Wildnis,“ fragte er, von einem unbestimmten Argwohn gepackt.
Der Gelbe zog die Schultern bis an die Ohren.
„Wir nichts wissen – gar nichts wissen,“ meinte er mit einem kläglichen Versuch, ein recht vertrauenerweckendes Gesicht zu machen.
Bark nahm die aus derben, gelbem Stoff bestehende Jacke des angeblich einsam hier Verstorbenen zur Hand und betastete die Taschen, fand nun auch eingeknöpft in eine der aufgesetzten Brusttaschen ein kleines Notizbuch, in dem gleich auf der ersten Seite der Name Robert Wenker stand, darunter aber Pontianak, Westborneo.
Er steckte das Büchlein zu sich und fragte nun den Dicken, der mit deutlicher Angst sein Tun verfolgt hatte:
„Wo habt Ihr den Mann begraben? Und – woran starb er?“
Der Chinese zuckte abermals die Achseln.
„Oh, sehr ehrenwerter, hoher Mister, – woran – das wir nicht können sagen. Und begraben? – Ja – die von uns, die ihn haben eingescharrt, sind gerade unterwegs auf Suche nach besseren Goldfundstellen. Wir hier nicht genau wissen, wo der fremde Mister jetzt liegt, – dort drüben etwa – weit weg von hier.“
Bark merkte, daß hier verschiedenes nicht stimmte. Der Dicke log und zwar sehr dumm.
„Vorhin erklärtest Du, dort nach Westen zu sei das Grab zu suchen. Wenigstens deutetest Du nach jener Richtung. Und jetzt zeigst Du nach Norden,“ sagte er drohend zu dem kriecherischen Dorfoberhaupt. „Du wirst mich jetzt sofort an die Stelle führen – sofort! Du kennst sie ohne Zweifel! Und drei von Euch kommen mit Spaten mit. Weigerst Du Dich, so hole ich meine Leute aus unserem Boot und lasse Dir die Fußsohlen zu Brei schlagen.“
Der Dicke sank aufheulend in die Knie. Daß Bark nicht allein hier bis Mwurak gekommen wäre, davon war er überzeugt.
„Oh, ehrenwertester, hoher Mister, Tsumi-Mo gern gehorchen würden. Aber er das Grab nicht finden kann – keiner von uns, nur die vier, die jetzt nicht hier sind!“ jammerte er.
In diesem Augenblick ertönte von irgendwoher ein halb unterdrückter Schrei.
Der Dicke zuckte ängstlich zusammen und schaute Bark scheu von der Seite an. Der lauschte angestrengt. Doch alles blieb still.
Dann gewahrte er zwei von den Gelben, die langsam einer der entferntesten Hütten scheinbar absichtslos zuschlenderten. Jetzt drehte der eine sich um, blickte zu Bark hinüber und schnell wieder zur Seite.
Der junge Deutsche überlegte in Sekunden, wie er sich hier verhalten solle. Jener Schrei hatte wie ein Hilferuf geklungen. Und er war vermutlich gerade aus der Richtung jener Hütte gekommen, der die beiden Bezopften jetzt zustrebten.
Bark hatte in den letzten drei Jahren als Goldsucher hier auf Borneo schon so manches erlebt. Bei all seiner Bequemlichkeit und friedseligen Gesinnung fehlte es ihm keineswegs an rascher Entschlußfähigkeit und an jenem kühl abwägenden Mut, der besser als blinde Tollkühnheit ist.
Langsam zog er nun seinen Revolver aus der Beinkleidtasche hervor, entsicherte ihn und feuerte einen Schuß in die Luft ab. Dann wandte er sich an den dicken Tsumi-Mo.
„Meine Leute dürften nun sehr bald hier erscheinen. Ihr alle bleibt hier beisammen. Entfernt sich einer, so nimm Deine Fußsohlen in acht.“
Dann ging er schnell den beiden Chinesen nach, rief ihnen zu, bevor sie noch in jener Hütte verschwinden konnten:
„He, Ihr da, – halt gemacht! Schert Euch zu den andern zurück! Vorwärts.“
Die beiden gehorchten nur sehr widerstrebend.
Bark holte aus dem nächsten Feuer ein brennendes Scheit und betrat mit dieser Fackel in der Linken die aus Zweigen geflochtene und mit den großen Blättern der Betelpalme gedeckte Hütte.
Zunächst fand er nichts Besonderes. Dann aber regte sich unter einigen Binsenmatten etwas, und nun hob sich zwischen ihnen der Kopf eines Menschen hoch, eines Europäers, und zwar eines Menschen mit sehr jugendlichen Gesichtszügen, die jetzt vor Angst aber ganz entstellt waren, während ganz besonders die Augen in halb irrem Glanze strahlten.
Bark war erst erschrocken zurückgefahren, bückte sich nun aber, warf die Matten auseinander und sah, daß dieses halbe Kind – denn er schätzte den Knaben auf etwa fünfzehn Jahre – an Armen und Beinen mit Baststricken geradezu brutal eng gefesselt war.
Im Augenblick hatte er die Stricke durchschnitten.
Der Knabe blieb liegen, stierte nur mit krankhaft geweiteten Pupillen in das flackernde Licht des brennenden Scheites.
Da erkannte Bark, daß der arme Junge schweres Fieber hatte, hob ihn auf und trug ihn, die Fackel wegwerfend, nach dem freien Platze hin.
Der Platz war leer. Die Feuer brannten noch. Aber die Chinesen hatten sich sämtlich – Männer, Weiber, Kinder – auf und davon gemacht.
Einen besseren Beweis dafür, daß die gelben Schufte kein reines Gewissen hatten, gab es kaum. Und Bark argwöhnte jetzt mit Recht, daß die Chinesen wahrscheinlich an dem Manne, dem das Notizbuch gehörte, einen heimtückischen Mord verübt hätten. Er hielt sich daher hier auch nicht lange auf, sondern lud sich den fiebernden und so gut wie bewußtlosen Jungen auf die Schulter und eilte der kleinen Bucht des Flusses wieder zu, wo das Motorboot lag.
Werner Heid brachte dann das Boot sehr schnell dicht ans Ufer.
„Was haben Sie denn da, Bark,“ fragte er nun erstaunt. Es war jetzt so dunkel, daß er nur eine menschliche Gestalt erkennen konnte, die der Goldsucher vorsichtig auf das Deck niederlegte.
Bark berichtete kurz, was er soeben erlebt hatte, fügte dann hinzu: „Kümmern wir uns erst mal um den kleinen Burschen hier. Sie verstehen ja auch so einiges von Medizin, Herr Doktor. Hoffentlich gelingt es Ihnen, den armen Kerl zu retten. Bei Licht sieht sein Gesicht nämlich ganz entstellt aus. Er muß Furchtbares durchgemacht haben.“
Eine Stunde später bereits wirkte das Pulver, das Heid dem Schwerkranken eingegeben hatte, der nun in des Doktors Bett fest schlief und nur noch hin und wieder die Lippen murmelnd bewegte.
Heid und Bark gingen wieder auf Deck zurück und setzten sich auf die vertiefte Bank am Steuer.
„Es ist klar, daß der Junge zu unserem Landsmann gehört, dessen Notizbuch ich hier bei mir habe und der Robert Wenker heißen dürfte. In dem Hemde des Knaben steht das Monogramm F. W., – also wird er ebenfalls ein Wenker und vielleicht gar der Sohn des Ermordeten sein. Ich fürchte, diese meine Vermutung, daß die gelben Schufte hier einen Konkurrenten, eben einen Goldsucher, beseitigt haben, trifft zu. Robert Wenker hat fraglos diese Wildnis nach Schwemmgold durchforschen wollen. Der Gesteinhammer deutet ja zur Genüge auf seine Absichten hin. Wenn nur der Junge bald so weit hergestellt würde, daß wir ihn ausfragen könnten. Ich bin überzeugt, wir werden dann –“
Der Doktor hatte Barks Arm kräftig gedrückt und ein leises: „Still – Vorsicht!“ geflüstert.
Bark lauschte. Er hörte nun gleichfalls am Ufer in den Büschen ein verdächtiges Rauschen, stand jetzt hastig auf und schnitt das Tau entzwei, mit dem das kleine Motorboot an eine der Palmen drüben befestigt war. Dann ergriff er eins der langen Ruder und schob das leichte Fahrzeug weiter ins offene Wasser hinaus.
Doktor Heid half ihm dabei mit dem zweiten Ruder.
„So,“ meinte Bark nun, als das Boot mitten in der einige fünfzig Meter breiten Bucht vor dem kleinen Anker lag, „so, nun haben wir den gelben Halunken, die dort in den Büschen herumkrochen und vielleicht uns zu überrumpeln gedachten, den Spaß verdorben. Für alle Fälle wollen wir aber unsere Gewehre hier nach oben holen und bereit halten. Haben die Chinesen wirklich einen Mord begangen, so werden sie alles tun, uns gleichfalls stumm zu machen, sobald sie nur erst wissen, daß wir nur zu zweien sind. – An Schlafen ist für uns nicht zu denken, Herr Doktor. Zum mindesten muß einer von uns wachen. Wär’s nicht überhaupt besser, wenn wir –“
Vom Ufer her ein Schuß. Ganz dicht pfiff die Kugel über Heids Kopf hinweg.
„Da haben wir’s!“ rief Bark. „Hinab in den Niedergang der Kajüte, Doktor! Es wird ernst!“
Er glitt eilends die wenigen Stufen hinunter und verschwand in der Kajüte, wo die Deckenlampe, ein Azetylenbrenner strahlende Helle verbreitete, die man nur nach der Seite des Bettes des Knaben hin durch eine vorgehängte Zeitung gedämpft hatte.
Dann erschien er sofort wieder neben Heid, der inzwischen über das Dach des Aufbaus nach dem Ufer hinübergespäht hatte.
Bark hatte die beiden doppelläufigen Jagdgewehre auf das Dach des Kajütaufbaus gelegt und kroch nun auf allen Vieren nach vorn, zog den Anker ein und rief dann Heid zu, den Motor anzuwerfen.
Gleich darauf glitt das Boot in den Fluß hinaus und wurde erst eine gute Meile stromabwärts am Ufer einer felsigen Insel festgemacht, wo die beiden Deutschen sich nun völlig sicher fühlen konnten. Trotzdem wachten sie bis zum Morgen abwechselnd. Als es Tag wurde, konnte der Doktor zu seiner Freude feststellen. daß der Knabe bei klarer Besinnung, wenn auch noch sehr schwach war.
Hans Bark begann den Jungen nun, obwohl Heid dies für verfrüht hielt, auszufragen. Er wollte nur das Wichtigste wissen und hütete sich, den Kranken irgendwie zu überanstrengen. So erfuhren die Gefährten denn[1], daß Fritz Wenker tatsächlich der Sohn des in Pontianak (Haupthafen des westlichen Teiles Borneos) ansässigen Kaufmanns und Farmers Robert Wenker war.
Auf die Frage, ob sein Vater hier erkrankt und verstorben wäre, veränderte sich das Gesicht des armen Jungen in erschreckender Weise. Dann stieß er mit zuckenden Lippen hervor:
„Die – Chinesen – lebendig begraben!“ Und dicke Tränen rollten ihm nun über die eingefallenen Wangen.
Heid und Bark schauten sich entsetzt an.
„Fritz, noch eine Frage –“, meinte der frühere Steuermann dann herzlich und strich dem Knaben liebkosend über das blonde Haar. „Wann und wo geschah dies? – Vielleicht können wir Deinen Vater noch retten –?“
„Gestern – gestern abend – unter einem riesigen Brotbaum – östlich des Dorfes – nicht weit ab –“, flüsterte der Knabe mühsam.
„Lassen Sie den Jungen jetzt in Ruhe,“ mahnte Heid. „Ich werde ihm abermals ein Pulver geben. Er muß schlafen. Das ist die beste Medizin für ihn.“
Oben auf Deck entwickelte Bark dem Doktor dann seinen Plan, wie man ziemlich gefahrlos an das Dorf heranschleichen könnte.
Heid wollte zuerst nichts davon wissen, jetzt sofort den Versuch zu machen, Wenker auszugraben.
„Der Ärmste ist ja längst erstickt,“ meinte er. „Und wir beide können selbst bei der größten Vorsicht stets eines Angriffes durch die gelben Schufte gewärtig sein, die uns aus dem Hinterhalt ganz bequem niederknallen werden, denn Gewehre besitzen sie ja.“
Dennoch gab er dem Drängen Barks schließlich nach. Das Motorboot wurde nun in einen kleinen Nebenfluß des Murung gebracht und hier unter überhängenden Zweigen und hinter hohem Röhricht gut versteckt. Dann machten die beiden sich zu Fuß nach der chinesischen Niederlassung auf, indem sie einen weiten Bogen nach Osten zu beschrieben. Bark schritt voran, während der Doktor sich stets gut zehn Meter hinter ihm hielt. Sie hatten jeder einen Spaten mitgenommen, die mit zur Ausrüstung des kleinen Fahrzeugs gehörten. Unangefochten gelangten sie bis dicht an die Hütten heran. Der Platz lag völlig ausgestorben da. Bark sah sofort, daß die Sachen Wenkers fortgeschleppt waren und daß die gelben Schufte auch aus den Hütten alles irgendwie Wertvolle entfernt hatten.
Gleich darauf standen die beiden Deutschen am Fuße eines jener bis zu zwanzig Meter hohen Bäume, die infolge ihrer eßbaren, vierzig Zentimeter langen Früchte genau so berühmt sind wie die Rasamala-Bäume durch ihre Höhe. Dieser Brotbaum, dessen außergewöhnliche Höhe und sehr beträchtlicher Stammumfang sofort ins Auge fallen mußten, war der einzige nördlich des Dorfes, auf den die Bezeichnung riesig paßte.
„Hier muß es sein,“ meinte Bark. „Herr Doktor, passen Sie sorgfältig auf die Umgebung auf, während ich grabe. Dort ist ja genau zu sehen, wo die Grasnarbe ausgestochen und nachher wieder aufgelegt ist.“
Er machte sich dann sogleich an die Arbeit. Heid patrouillierte währenddessen immer um die kleine Lichtung herum, in deren Mitte der Brotbaum sich erhob. Nach einer Viertelstunde rief Bark dem Doktor zu, daß er nichts finden könnte. „Hier mag ein Mann verscharrt gewesen sein. Jetzt ist aber das Grab leer. Ich bin bereits auf eine der Hauptwurzeln gestoßen. Die schlitzäugigen Halunken werden die Leiche aus Angst schleunigst beseitigt haben.“
Heid war gleichfalls dicht an das tiefe Loch herangetreten, das der kräftige Bark ausgeschaufelt hatte, meinte nun: „Sie werden recht haben. Die Leiche ist entfernt worden. – Ich möchte nur wissen, weshalb die Chinesen diesen bestialischen Mord begangen haben?“
Bark hob seine Büchse auf. „Gehen wir, Doktor. – Ja – weshalb wurde Wenker ermordet? Und – weshalb mag er überhaupt sich bis hierher nur in Begleitung seines Sohnes gewagt haben? Es scheint doch so, als ob die beiden nur allein gewesen sind. – Nun der Junge wird, so hoffe ich, noch heute über all dies Auskunft geben können.“
„Was fangen wir nun aber mit dem armen kleinen Burschen an?“ meinte Heid. – „Uns bleibt doch wohl nichts anderes übrig, als umzukehren, den Knaben nach dem nächsten Militärposten am Murung zu bringen, dort die Sache zu melden und dann wieder unsere Reise fortzusetzen. Wir verlieren dadurch über eine Woche. Doch – was hilft’s?! Mitnehmen können wir den Knaben unmöglich.“
Bark nickte. „Nein, das geht nicht, zumal er durch das Fieber sehr geschwächt werden wird. Hoffentlich ist’s kein Nervenfieber, das durch die furchtbaren Aufregungen hervorgerufen worden ist. Dann kann die Krankheit sehr lange dauern.“
Als sie nach dem Versteck des Bootes zurückgekehrt waren, fanden sie an Bord alles in Ordnung und zu ihrer freudigen Überraschung auch den Knaben wach und durch den Schlaf so gekräftigt vor, daß der Doktor nunmehr kein Bedenken trug, sich von dem kleinen Patienten, der offenbar recht abgehärtet und ebenso widerstandsfähig gegen seelische Erschütterungen sein mußte, ganz genau alles erzählen zu lassen, was mit dem entsetzlichen Tode Robert Wenkers zusammenhing.
Sehr bald merkten Heid und Bark jetzt an der zurückhaltenden und vorsichtigen Art, mit der der Knabe über seine und seinem Vaters Erlebnisse hier in der Urwaldwildnis Mittelborneos sprach, daß ohne Zweifel dieser Ausflug der beiden bis in dieses entlegene Gebiet einem besonderen Zwecke galt, über den der Junge wahrscheinlich nicht Auskunft geben durfte.
Er berichtete etwa folgendes. – Vor vier Wochen waren sein Vater und er von Pontianak mit einem Küstendampfer bis nach Kapua am unteren Murung gefahren und von da mit dem Stationsboot weiter bis Kotawari, den nördlichsten Militärposten dieses Flusses. Hier hatten sie ein kleines Ruderboot gekauft, das auch mit einem einfachen Segel ausgerüstet war, und ihre Reise stromaufwärts bis zu einem inmitten einer Bergwildnis liegenden See fortgesetzt, wo sie dann alsbald von den Chinesen überfallen und fortgeschleppt wurden. Diese hatten sie nach ihrem Dorfe am Murung mitgenommen. Nach zweitägiger Gefangenschaft und nach den schwersten Mißhandlungen und Folterungen, mit denen Vater und Sohn gepeinigt wurden, war Robert Wenker schließlich vor den Augen des Knaben in bewußtlosem Zustand unter jenem Brotbaum eingegraben worden. Den Jungen selbst hatten die vertierten gelben Goldwäscher gefesselt in eine Hütte ihrer Niederlassung geworfen und sich nicht weiter um ihn gekümmert. –
Das war in kurzem die Erzählung des Knaben. Als Bark nun fragte, wo denn jener See liege und was der Vater des Knaben gerade dort gewollt habe, wurde Fritz Wenker sehr verlegen und erwiderte erst nach einer geraumen Weile mit Tränen in den Augen:
„Oh – halten Sie mich nicht für undankbar! Sie beide haben mir das Leben gerettet, und nie werde ich Ihnen dies vergessen! Aber – auf diese Fragen kann ich nicht antworten. Mein Vater hat mir ein feierliches Versprechen abgenommen, unter allen Umständen über Zweck und Ziel unserer Reise jedermann gegenüber zu schweigen. Wir haben stets erklärt, wir wollten hier am oberen Murung das Land näher besichtigen, da mein Vater eine größere Farm zu gründen beabsichtige. Ich gebe zu, daß dies nicht der eigentliche Grund unserer Reise war. Sie beide wollte ich nicht geradezu belügen. Daher erwähnte ich über diesen Punkt bisher überhaupt nichts.“
Bark holte jetzt das kleine Notizbuch Robert Wenkers hervor, zeigte es dem Knaben und sagte dann:
„Mein Junge, ich habe dies Büchlein in der verflossenen Nacht genauer mir angesehen. Es enthält scheinbar nur unwichtige Aufzeichnungen. Zwischen der Pappe des hinteren Deckels fand ich nun jedoch ein quadratisches Stückchen Leinenpauspapier, auf dem in chinesischer Tusche eine Skizze steht, unter der wieder einzelne, mir unverständliche Zeichen hingemalt sind. Da ich nun unter den Sachen Deines Vaters in dem Chinesendorfe auch einen Gesteinhammer bemerkt habe, wie ihn nur Goldsucher mit sich zu führen pflegen, vermute ich, daß Dein Vater diese Reise lediglich zu dem Zweck vorbereitet und unternommen hat, um nach einer ihm vielleicht durch besondere Umstände bekannt gewordenen Goldfundstelle zu forschen.“
Hier fiel Doktor Heid dem früheren Seemann ins Wort.
„Von dieser Zeichnung haben Sie mir bisher nichts gesagt,“ meinte er und griff nach dem Notizbuch. „Ich möchte sie mir einmal anschaun, denn schon vorhin, als Fritz den See erwähnte, kam mir ein besonderer Gedanke. Es gibt hier in der Nähe des Murung nämlich einen Bergsee, über den ein holländischer Reisender namens van Decken ganz merkwürdige Dinge berichtet hat. Ich selbst habe sein Buch über seine Forschungsreisen in Mittelborneo nicht gelesen, da es bereits vor einigen dreißig Jahren erschienen ist. Ich fand es nur in einem anderen Werk mitangeführt, wo jener See als Kaja Balik, See des Geheimnisses, bezeichnet war, da van Decken ihn so zuerst genannt hatte. Vielleicht ist dies dasselbe Gewässer, das auch –“
Er schwieg plötzlich. Inzwischen hatte er nämlich die Skizze aus ihrem Versteck herausgenommen, entfaltet und flüchtig besichtigt. – „ Sieh da!“ rief er nun, „hier ist ja ein See, mitten darin auch eine kleine Insel! Und – am östlichen Ufer dieses scheinbar kreisrunden Eilandes ist ein Kreuzchen eingezeichnet. – Lieber Bark, Sie werden das richtige getroffen haben! Das, was unser kleiner Patient uns nicht mitteilen darf, wird fraglos mit diesem Kaja Balik, dem See des Geheimnisses, im Zusammenhang stehen, und zwar dürfte es sich um Gold handeln, das dort in größerer Menge vorkommt.“ Er blickte dabei den Knaben forschend an.
Fritz Wenker war sehr rot geworden, verharrte aber bei seinem verlegenen Schweigen.
Da begann Hans Bark wieder: „Mein lieber Junge, wir wollen gewiß nicht in Dich dringen, uns etwas anzuvertrauen, das ohne Zweifel einen gewissen Wert hat. Ich bin überzeugt, mit meiner Vermutung nicht fehlgegangen zu sein: Ihr, Dein Vater und Du, wart auf der Suche nach Gold! Dabei haben Euch die Chinesen überrascht. Diese müssen irgendwie Eure Absichten erraten haben, denn nur so ist es verständlich, daß sie Euch nachher, wie Du ja selbst berichtet hast, gefoltert haben. Sie wollten Euch eben Euer Geheimnis erpressen. Und aus Enttäuschung und Wut über die Standhaftigkeit Deines Vaters haben sie ihn dann auf jene abscheuliche Art ermordet. Dich aber hofften sie wohl durch längere Gefangenschaft gefügig zu machen. – Ich gebe Dir nun zu bedenken, mein Junge, daß die gelbe Brut jetzt fraglos versuchen wird, auf eigene Faust jene Goldfundstelle zu entdecken, nachdem wir Dich ihnen entrissen haben. In ihrer bisherigen Niederlassung konnten sie aus Furcht vor dem Erscheinen holländischen Militärs nicht bleiben, da sie damit rechnen mußten, daß wir diesen Mord alsbald zur Anzeige bringen. Sie sind also gezwungen, sich tiefer ins Innere zurückzuziehen, und werden diese notwendig gewordene Flucht in die Wildnis dazu benutzen, an den Ort zurückzukehren, wo sie Euch beide zuerst angetroffen haben. Vielleicht ist dieser Ort die Insel im Kaja Balik. Kurz: ich kann Dir nur raten, uns volles Vertrauen zu schenken. Wir werden Deine Rechte an der Goldfundstelle Dir in keiner Weise schmälern. Du bist der einzige Erbe Deines Vaters und seines Geheimnisses. Angehörige besitzt Du ja sonst nicht mehr, wie Du uns erklärtest. Du kannst jetzt also ganz nach Gutdünken handeln. Dein Schweige-Gelöbnis ist nunmehr hinfällig geworden. Ich glaube auch völlig im Sinne Doktor Heids zu sprechen, wenn ich für uns beide Dir die Zusage mache, daß wir Dir, da Du ja offenbar sehr bald völlig genesen wirst, sofort helfen wollen, die Chinesen daran zu hindern, außer dem an Deinem Vater begangenen Verbrechen jetzt noch sich an jenem Golde zu bereichern, das von Rechts wegen Dir allein gehört. Überlege Dir das alles in Ruhe, Fritz! Solltest Du –“
Bark wollte noch mehr hinzufügen. Doch der Knabe unterbrach ihn hastig.
„Ich habe eingesehen, wie gut Sie es mit mir meinen und wie unrichtig es von mir wäre, Ihnen beiden nicht sogleich zu beweisen, daß ich Sie für ehrliche Landsleute und treue Freunde halte. – Sie sollen nun alles wissen. – Wir befinden uns hier im Gebiete der Dajak, bei denen die Blutrache genau so verbreitet ist wie die Kopfjägerei. Ein älterer Dajak, der der Blutrache wegen nach der Küste entflohen war, fand bei meinem Vater in Pontianak als Arbeiter auf unserer kleinen Farm ein Unterkommen. Er erkrankte, wurde von uns gepflegt und erzählte dann kurz vor seinem Tode meinem Vater von einem See, in dessen Mitte eine kleine Felseninsel liegt, auf der es in einer tiefen Schlucht ein überreiches Diamantenlager geben sollte. Er beschrieb die Örtlichkeit so genau, daß mein Vater eine Skizze entwerfen konnte, unter die er in einer Art Geheimschrift noch näheres über die betreffende Schlucht vermerkte. Erst später, als wir bereits in aller Stille unsere Reise vorbereiteten, erfuhr er dann zufällig, jener See habe schon früher bei den Dajaks den Namen Kaja Balik geführt, ein Name, den unser dankbarer Hausgenosse jedoch nicht gekannt hat. – Wir gelangten denn auch wohlbehalten bis an den See, der von einem Nebenfluß des Murung durchströmt wird und kaum eine Tagesreise von hier nach Nordost zu liegt, landeten auf der Insel am späten Abend und unterhielten uns an unserem Lagerfeuer darüber, ob das Geheimnis des alten Dajak uns wirklich die erhofften Reichtümer einbringen würde. Wir ahnten nicht, daß wir von fünf Chinesen belauscht wurden, die in jenem Nebenfluß nach Gold den Sand untersucht hatten und uns heimlich gefolgt waren. Zum Glück hatten wir bei unserem Gespräch die Schlucht nicht erwähnt und nur im allgemeinen über die Diamanten geredet, die wir zu finden hofften. Die Chinesen überwältigten uns nachher im Schlaf. Sie haben alles getan, von uns nähere Angaben über den Ort zu erlangen, wo die Edelsteine lagern sollten. So kam denn mein Vater ums Leben, während ich gerettet wurde. Ich bitte Sie, Ihre Zusage wahr zu machen. Doch eine Bedingung stelle ich: finden wir die Diamanten, dann teilen wir.“
„Nun – darüber sprechen wir später,“ meinte Heid und reichte dem Knaben die Hand. „Jedenfalls: wir brechen jetzt unverzüglich nach dem Kaja Balik auf!“
Gegen Mittag verließ das Motorboot das Versteck und glitt in den Murung hinaus, wo es weiter stromaufwärts bis an jenen Nebenfluß fuhr, der einen bequemen Weg bis zu dem See der Geheimnisse trotz seiner starken Strömung bot. Tropischer Urwald mit all seiner mannigfachen Farbenpracht bedeckte die Ufer dieses kaum vierzig Meter breiten Wasserlaufes eine ganze Strecke weit. Dann traten felsige Anhöhen auf, zwischen denen der Fluß sich in zahlreichen Windungen hindurchschlängelte. Der Charakter einer Berglandschaft wurde immer deutlicher. Oft durcheilte das flinke Motorboot förmliche Engpässe mit hochragenden Steinwänden, und hier war größte Vorsicht geboten, da häufig Felsen und Steine unter der Wasseroberfläche lauerten und dem kleinen Fahrzeug leicht verderblich werden konnten. Als die Abenddämmerung anbrach, erklärte der Knabe, den man jetzt auf dem Dache des Kajütaufbaus gebettet hatte und dem die frische Luft vortrefflich bekam, daß der Kaja Balik nicht mehr fern sei. Daraufhin berieten Heid und Bark, ob man nicht besser täte, hier irgendwo zu ankern und erst am Morgen in den See einzufahren. Nach kurzem Meinungsaustausch entschieden sie sich aber doch für ein sofortiges Landen auf der Insel im Kaja Balik, da sie überzeugt waren, daß die Chinesen, die zu Fuß den Weg zurücklegen mußten, den See noch nicht erreicht haben könnten.
So ging es denn mit möglichster Schnelligkeit weiter. Heid steuerte und versah den am Heck eingebauten Motor, während Bark von der Spitze des Bootes aus auf die gefahrdrohenden Felsen und Steine achtgab und dem Doktor die nötigen Anweisungen für die Handhabung des Steuerruders zurief.
Kurz vor völliger Dunkelheit öffneten sich nach einer kurzen Biegung des Flusses die Felsanhöhen zu einem ausgedehnten Tale mit steilen Randbergen, das fast vollständig durch die Wassermassen dieses Nebenstromes des Murung ausgefüllt und so in einen See von gut achthundert Meter Länge und etwa vierhundert Meter Breite verwandelt wurde.
Die kleine Insel inmitten des Kaja Balik bot jetzt bei dieser düsteren Beleuchtung einen nicht gerade anheimelnden Anblick dar. Jäh aus den Wassern des Sees aufsteigend und an den Rändern mit wild zerrissenen Felsmassen bedeckt, dazu noch überragt von einzelnen gewaltigen Bäumen, wirkte sie als einziges Eiland dieses stillen, dunklen Bergsees wie eines jener Gemälde Arnold Böcklins, in denen dieser Künstler mit den einfachsten Mitteln das Unheimliche und Bedrückende einer Landschaft so treffend wiedergegeben hat. Unwillkürlich sagte daher jetzt auch Doktor Heid zu Hans Bark, der seinen Beobachtungsposten nunmehr verlassen hatte: „Dieser Kaja Balik mit dem Inselchen dort erinnert an die berühmte Toteninsel Böcklins[2]. Kennen Sie dies Gemälde, lieber Bark?“
Bevor der ehemalige Seemann jedoch antworten konnte, erfolgte ein krachendes Splittern und ein so starker Stoß, daß Bark das Gleichgewicht verlor und über Bord fiel.
Heid hatte blitzschnell den Motor abgestellt, denn er merkte ja sofort, daß das Boot auf einen Felsen aufgerannt sein müßte, half nun zunächst Bark wieder auf Deck und eilte dann in die Kajüte hinab, um sich zu überzeugen, ob größere Wassermengen durch die zertrümmerten Planken eindrangen. Leider stellte er fest, daß eine scharfe Felszacke sich wie ein Keil in die Bodenplanken eingebohrt hatte. Das Boot wieder flott zu machen, schien bei dieser Art der Beschädigung ausgeschlossen. Auch Bark erklärte dann, er hielte es für am richtigsten, nach der kaum noch sechzig Meter entfernten Insel hinüberzuschwimmen, dort aus Baumästen ein kleines Floß herzustellen und zunächst alles Wertvolle damit nach dem Eiland zu schaffen. Später könnte man dann ja versuchen, das Boot auf irgend eine Weise auszubessern, falls man es von dem Riff frei bekäme.
Die Gefährten zauderten denn auch nicht lange, verständigten den Knaben von ihrem Vorhaben, nahmen jeder ein Beil, ein Messer und Taue und Stricke mit und schwammen auf die Insel zu. Da Fritz Wenker sie vor den im See von ihm und seinem Vater beobachteten Krokodilen gewarnt hatte, vermieden sie jedes lautere Plätschern im Wasser, um die gefährlichen Bestien nicht herbeizulocken. Sie gelangten auch unangefochten an einen buchtartigen Einschnitt des Felsgestades, fanden im Hintergrunde dieses engen Beckens einen flachen Strandstreifen und wanden hier zunächst einmal ihre nassen Kleidungsstücke aus, so weit sie diese noch anbehalten hatten.
Die Nacht war mild. Das Klima Borneos ist ja überhaupt recht angenehm und gesund trotz der häufigen Regenfälle. Die täglichen Wärmeschwankungen sind sehr gering. Fünfundzwanzig Grad sind die mittlere Temperatur. – Eine Erkältung brauchten die Gefährten trotz ihrer feuchten Kleider nicht zu fürchten. Weit unangenehmer für sie war die Dunkelheit. Sie hatten auf ein baldiges Auftauchen des Mondes gerechnet, mußten sich aber sehr gedulden, ehe das Nachtgestirn endlich in einer Lücke der das Tal und den See einengenden Berge erschien. Als sie nun die nächsten Felsen erklettern wollten, wo mehrere Kampferbäume neben ein paar Rotangpalmen standen, vernahmen sie plötzlich aus der Richtung des gestrandeten Bootes her einen gellenden Schrei.
„Des Jungen Stimme. Was mag da geschehen sein?!“ stieß Heid leise hervor.
Bark antwortete nicht gleich. Er horchte angestrengt in die Nacht hinaus. Dann, als nichts mehr sich hören ließ, erwiderte er zögernd: „Ich fürchte, daß die Chinesen sich abermals des Knaben bemächtig haben. – Warten Sie hier. Ich bin der bessere Schwimmer. Ich will nachsehen, was vorgefallen ist.“
Der Steuermann dachte jetzt nicht wie vorhin an die gefährlichen Panzereidechsen. Ihm kam es nur darauf an, möglichst bald an Bord zu gelangen. In mächtigen Stößen strich er aus.
Da – links von ihm ganz plötzlich auf kaum zwei Meter Entfernung ein leises Plätschern. Es war ein Krokodil! Und bei dessen Anblick befiel’s Bark wie ein lähmendes Entsetzen. Zum Glück fand er seine Geistesgegenwart jedoch schnell genug wieder, um sich jetzt hinab in die Tiefe gleiten zu lassen. Mit einem Male berührten seine Füße steinigen Grund. Er schwamm nun unter Wasser so weit vorwärts, bis ihm die Luft allzu knapp wurde und er notgedrungen auftauchen mußte. Ganz leise bewegte er die Arme, lauschte auch vorsichtig nach allen Seiten hin. Die beutegierige Bestie war verschwunden. Und da vor ihm lag auch das Boot. Noch ein paar Stöße, ein Herausschnellen des Oberleibes aus dem Wasser, und seine Hände hatten den Bootsrand gepackt. –
Inzwischen war der Doktor bis zu den Bäumen emporgestiegen, die trotz des felsigen Bodens hier Wurzel geschlagen hatten und gut gediehen waren. Er nahm das Beil zur Hand, wollte nun einen jungen Palmenstamm umhauen. Nicht einmal der erste Hieb fiel. Heid ließ den erhobenen Arm langsam sinken. Ein dumpfes, schauerliches Heulen war an sein Ohr gedrungen. Es kam aus dem muldenförmig sich vertiefenden Innern des winzigen Eilandes, wo das Mondlicht jetzt eine Anzahl Büsche und niedrige Laubbäume sichtbar machte. Während er noch, alle Sinne bis aufs äußerste gespannt, horchend dastand, erschien dort unter ihm über den Sträuchern und Baumkronen ein blendend heller Schein, dem eine einzelne, jäh hochschießende bläuliche Flamme und dann ein so überlautes, vielstimmiges Heulen folgte, daß Heid ganz entsetzt zurückprallte.
Nun wieder tiefe Stille. Doch nur für Sekunden. Denn jetzt hatte ein Echo in den Randbergen die gräßlichen Töne aufgefangen und warf sie verstärkt zurück.
Jetzt wartete er mit fiebernder Spannung auf eine Wiederholung dieser ihm ganz unerklärlichen Töne und Flammenbildung. Nichts ereignete sich mehr. Schließlich setzte er sich auf ein nahes Felsstück und wartete auf Barks Rückkehr.
Als dieser dann vor ihm stand, fragte er überhastet:
„Nun, ist Ihre Sorge berechtigt gewesen?“
„Leider. Der Junge ist verschwunden. Die Chinesen müssen hier doch irgendwo ein Boot verborgen gehabt haben, sonst hätten sie – etwa mit einem Floß – nicht so schnell wieder sich davonmachen können. – Ich habe für alle Fälle unsere Gewehre und Revolver nebst Munition mitgebracht. Ein Wunder, daß die Halunken sie nicht gestohlen haben.“
Heid war tieftraurig über das Mißgeschick des Knaben. „Wenn wir ihn nur befreien könnten, Bark,“ meinte er mitleidigen Tones. „Der Junge ist mir schon jetzt recht ans Herz gewachsen. Wir dürfen ihn auf keinen Fall in der Gewalt dieser grausamen Gelbgesichter lassen. – Haben auch Sie dieses entsetzliche Geheul gehört?“
Bark nickte zerstreut. Seine Blicke hingen an jenen Büschen und Bäumen, über die vorhin die merkwürdige Flamme hochgezüngelt war. Dann raunte er dem Doktor zu:
„Da – da unten! Ich kann mich kaum getäuscht haben! Das waren soeben mehrere Gestalten, die dort entlanghuschten. Aber – Chinesen waren’s nicht. Ich schließe mehr auf Eingeborene, auf Dajak. Sie schienen mir bis auf Lendenschurze unbekleidet zu sein. Jedenfalls müssen wir diesen Platz schleunigst gegen einen geschützteren vertauschen. Die Dajak hier in der Wildnis sind stets zu fürchten. Gegen die Giftpfeile ihrer Blasrohre ist kein Kraut gewachsen. Dort links von uns scheint ein einzelner größerer Felsblock ein gutes Versteck zu bieten. Vorwärts – klettern wir hinauf. Ich will nur unsere Gewehre und Revolver holen. Ich habe sie, um sie vor dem Naßwerden zu schützen, auf zwei leere Fäßchen gebunden.“
Wenige Minuten später lagen die beiden Gefährten nebeneinander auf dem oben abgeplatteten Felsen und beobachteten mißtrauisch die nähere und weitere Umgebung dieses ihres Zufluchtsortes, auf dem sie vorläufig sicher waren, zumal sie ja nun ihre Schußwaffen gegen jeden Angreifer benutzen konnten.
Volle zwei Stunden warteten sie so auf irgend ein Ereignis, das die Anspannung ihrer Nerven endlich beseitigt hätte. Doch nichts geschah. Still, einsam und malerisch beim Scheine des milden Mondlichts anzuschauen lag das winzige Inselchen da. Um die Kronen der nahen Bäume flatterten lautlos große Fledermäuse, während in einem entfernteren, mit länglichen Früchten geradezu übersäten Brotbaum eine Herde Koboldmakis, jene wunderlichen Vertreter des Geschlechtes der Halbaffen, ihre Anwesenheit durch gelegentliches Kreischen verriet.
Heid wurde müde und gähnte. „Eine prachtvolle Nacht, in der man dieses reichgesegnete Inselland Borneo recht lieb gewinnt,“ meinte er. „Schade nur, daß dieser Genuß durch die sorgenden Gedanken um unseren kleinen Gefährten so sehr beeinträchtigt wird. Außerdem – ich hätte nichts dagegen, ein paar Stunden zu schlafen.“
„Tun Sie’s nur, Doktor! Es genügt, wenn nur einer wacht,“ erwiderte Bark lebhaft. „Ich bin ja von uns beiden der bei weitem Widerstandsfähigere. Mir macht’s nichts aus, mal eine Nacht munter zu bleiben. Unser Lager hier ist leider etwas hart. Und allzu warm finde ich’s auch nicht in den nassen Kleidern. Warten Sie – ich werde dort unten von den Felsen die dicken Moospolster abreißen. Sollte sich etwas Verdächtiges zeigen, so zögern Sie nicht lange und schießen, zunächst mal in die Luft. Ich bin in kurzem wieder oben bei Ihnen.“
Flink und gewandt stieg er von Zacke zu Zacke abwärts. Heid verdoppelte jetzt seine Aufmerksamkeit. Er hatte genug in Reisewerken über die wilden Dajak gelesen die im Innern Borneos in den Urwäldern noch genau so leben wie vor hunderten von Jahren, wußte, daß sie in der Übermacht jede Scheu vor dem besser bewaffneten Europäer ablegen und ihren höchsten Ruhm darin suchen, gerade mit dem Schädel eines Weißen ihre Hütten zu schmücken, und hatte viel von den furchtbaren Wirkungen des Giftes ihrer Blasrohrpfeile gehört, die sie stets aus dem Hinterhalt, lautlos wie die Schlangen anschleichend, abschießen.
Dann kehrte Bark mit einem Bündel voll Moos zurück, das er in sein Hemd wie in einen Beutel hineingepfropft hatte. Noch zweimal wagte er den Abstieg. Dann lagen sie sehr weich und auch recht warm, da sie die größten Moospolster als Decken benutzten.
Wieder verstrichen Stunden. Der Mond war längst hinter den Randbergen des Sees untergetaucht. Tiefes Dunkel lastete über der kleinen Insel, so daß der ehemalige Steuermann sich nur noch zumeist auf sein Gehör verlassen konnte.
Dann schnellte er förmlich hoch. Urplötzlich hatte wieder jenes entsetzliche Heulen begonnen, daß jetzt in der drückenden Finsternis nur noch unheimlicher klang. Das Echo der Anhöhen warf es abermals vielfach zurück. Der ganze Talkessel schien von diesen nervenaufpeitschenden Tönen erfüllt zu sein, die auch den Doktor sofort sich hatten aufrichten lassen.
Kaum waren sie verstummt, als auch die sonderbare Lichterscheinung sich wieder zeigte. Genau aus der Mitte des Inselchens schoß die riesige, bläuliche Flamme hoch, erlosch sofort, nachdem sie für Sekunden das Eiland und den See in ein gespenstisches Licht getaucht hatte.
Nur für Sekunden! Und doch hatte die kurze Beleuchtung genügt, um auf dem See nach Süden hin mehrere Nachen der sie bisher einhüllenden Dunkelheit zu entreißen. In diesen Kähnen hockte eine Menge Gestalten, wohl gegen fünfzig, und ruderten langsam dem Südstrande zu.
„Haben Sie die Nachen gesehen, Doktor?“ fragte Bark jetzt leise. „Dajak saßen drin. Und ich wette, die ganze Bande kam von unserem Eiland hier. Was mögen sie hier nur getrieben haben? – Nun – das kann uns gleichgültig sein! Die Hauptsache ist, daß wir uns jetzt nicht mehr vor den verdammten Giftpfeilen zu fürchten brauchen! Und ebenso wichtig ist auch, daß die braune Gesellschaft unser an der Ostseite des Sees liegendes Motorboot nicht bemerkt zu haben scheint. Sonst hätten sie’s ausgeplündert. Überhaupt: ich begreife nicht, daß die Chinesen – denn nur sie können meines Erachtens den armen Jungen entführt haben, – nicht auf unserem Boot, daß doch für sie recht wertvolle Dinge enthält, so allerhand geraubt haben. Ich war erstaunt, als ich an Bord alles unberührt fand. Sogar Ihre goldene Uhr lag noch auf dem Tisch in der Kajüte.“
Heid erwiderte nichts. Er hatte sich schon wieder lang ausgestreckt und war vor Übermüdung eingeschlafen.
Bark blieb noch eine Weile munter. Dabei überlegte er sich so allerlei. Besonders merkwürdig dünkte ihm die Tatsache, daß die gelben Zopfbrüder von Bord nichts gestohlen hatten. Er hätte hierfür gern eine einleuchtende Erklärung gefunden. Aber es gelang ihm nicht. Schließlich fielen ihm dann die Lider zu. Bis zum hellen Morgen lag er in bleiernem Schlaf da. Als er erwachte, saß Heid bereits aufrecht und verzehrte das mehlige Mark der Frucht des drüben stehenden Brotbaumes. Er hatte mehrere der großem Früchte schon vor einer Stunde geholt und berichtete dem Gefährten nun, daß dort in der Talmulde des Eilandes hinter der Baum- und Buschkulisse der Felsboden von fünf breiten, anscheinend sehr tiefen Spalten durchzogen und daß am Rande des breitesten dieser Schlünde in weitem Umfang der Boden glatt wie eine Tenne von menschlichen Füßen abgetreten sei. „Kein Halm wächst dort, kein Moos, keine Flechte, kein Steinchen liegt dort,“ fügte er hinzu. „Und der Fels ist fast poliert wie ein Tanzboden. Eine sonderbare Geschichte das – sehr sonderbar! Überhaupt – diese Insel gibt uns so manches Rätsel auf. Ich bin nur neugierig, was wir hier noch weiter erleben werden.“
Nachdem auch Bark seinen Hunger gestillt hatte, begannen sie das Eiland genau zu durchforschen. Sie fanden jedoch weiter nichts Auffälliges, nur am Südufer einen bequemen, flachen Landungsplatz, dessen feinkörniger Sand die Eindrücke zahlreicher nackter Füße und mehrerer flacher Nachen aufwies.
Zu ihrer Enttäuschung konnten sie aber an der Ostseite des Inselchens, wo doch nach Robert Wenkers Skizze eine schluchtartige Felsspalte vorhanden sein sollte, in der die Diamanten zu finden wären, auch nicht eine Spur einer solchen Bodenvertiefung entdecken. Im Gegenteil, es gab dort nur ungeheure Steinblöcke, die willkürlich durch eine Laune der Natur aufeinander gehäuft waren und die von vorn gesehen wie die Mauer einer Schloßruine sich ausnahmen.
„Das ganze Geheimnis des Dajak ist Schwindel!“ meinte Bark geringschätzig. „Wenker hat sich von dem alten Heiden schön anlügen lassen. – Ich denke, wir beginnen jetzt gleich mit dem Floßbau und versuchen, ob wir nicht unser Boot recht bald flott bekommen, damit wir uns nach dem Verbleib des Knaben umtun können.“
Gegen Mittag war das Floß fertig. Bark hatte es absichtlich recht groß hergestellt, damit man das Motorboot entladen und alles irgendwie daraus zu Entfernende auf das Floß verstauen könnte. Mit Hilfe langer Stangen brachten sie dann das plumpe Fahrzeug neben das schief auf dem Felsen ruhende Boot. An Bord stellten sie bald fest, daß die Chinesen inzwischen wieder hier gewesen sein mußten. Es fehlten verschiedene Gegenstände, so auch zwei einläufige Flinten und zwei Revolver.
Bark schüttelte jetzt sehr bedenklich den Kopf, als er nun das Leck bei Tage besichtigt hatte. „Es wird uns viel Arbeit kosten, das Boot von dem Riff frei zu machen,“ erklärte er. „Hoffentlich gelingt’s uns überhaupt. Schaffen wir zunächst alles Bewegliche an Land. Auch der Motor muß heraus. Wir müssen das Boot möglichst erleichtern und dann das in die Bodenplanken eingedrungene Felsende lossprengen.“
Schon vorher waren sie überein gekommen, ihr Lager dort aufzuschlagen, wo jene so phantastisch aussehende Felsmauer sich erhob. Es gab an dieser Stelle nämlich eine flache Grotte, deren Zugang etwa drei Meter über dem Boden lag und die sehr leicht zu verteidigen war.
In dieser kleinen Höhle wurde nun alles das aufgestapelt, was aus dem Motorboot nur irgend herausgenommen werden konnte. Am Nachmittag unterbrach Bark jedoch diese Arbeit und schlug dem Doktor vor, an den Ufern des Sees nach frischen Spuren zu suchen. „Vielleicht gelingt es uns so, der gelben Bande überraschend auf den Hals zu kommen, die sich doch sicherlich in der Nähe irgendwo verborgen hält.“
Fünf Tage brauchten Heid und Bark, ehe das Boot vollständig entleert war. Dann fingen sie mit der Beseitigung der Felsnase an, die etwa ein halbes Meter durch die Planken hindurchragte. Da ihnen die nötigen Werkzeuge fehlten und sie sich mit einem Hammer und zwei Beilen behelfen mußten, schritt das Lossprengen des Felsstückes nur zentimeterweise vorwärts und nahm eine weitere volle Woche in Anspruch.
Während dieser Zeit ereignete sich weder auf der Insel noch auf dem See irgend etwas, das die Ruhe der beiden Robinsons irgendwie gestört hätte. Sie lebten in ihrer Grotte recht behaglich, und besonders Heid fand diese Art der Daseinsführung so interessant, daß er einmal zu Bark äußerte, ihm würde der Abschied von der Insel der Rätsel – so hatten sie das Eiland getauft – recht schwer werden.
Nun – dieser Name traf jetzt eigentlich auf das Inselchen kaum mehr zu, denn während all dieser Tage war weder jenes unheimliche Geheul nochmals ertönt noch die seltsame Flamme sichtbar geworden.
Nachdem nun das Felsstück weggemeißelt war und man das Leck durch darüber genagelte Bretter abzudichten beginnen konnte, meinte Heid am Abend des zwölften Tages ihrer Anwesenheit auf der Insel, man solle jetzt mal einen Ruhetag einschalten und diesen dazu benutzen, jene breiteste der fünf Felsspalten in der Mitte des Tales zu untersuchen. Taue und Stricke hätte man ja zur Genüge, um sich in die Tiefe des Schlundes hinablassen zu können.
Bark, der gerade auf dem kleinen eisernen Herd des Bootes in einer Ecke der Höhle das Abendessen zubereitete, erwiderte lebhaft:
„Ein guter Gedanke, Doktor! – Bitte, reichen Sie mir doch mal den großen Löffel. Ich habe ihn dort auf jenen Felsvorsprung gelegt.“
Heid fand den Löffel nicht. „Er muß herabgefallen sein,“ sagte er. „Hier hinter diesem Vorsprang fühle ich mit der Hand ein Loch. Ich will doch mal hineinleuchten.“
Bevor wir in unserer Erzählung fortfahren, wollen wir ganz kurz das Nötigste über die religiösen Gebräuche der Dajak hier einschalten.
Eine eigentliche Religion besitzt dieses Naturvolk nicht. Manche Stämme verehren die Geister der Toten und bringen Menschenopfer und in Ermangelung solcher auch Tieropfer – Hühner und Hunde – dar. Andere Stämme, besonders im Osten Borneos, beten Sonne, Mond und Sterne an. Gemeinsam ist jedoch allen der Glaube an Geister, die auf hohen Bergen wohnen sollen, und eine bestimmte weibliche Priesterkaste, die Balians, die gleichzeitig auch Wahrsagerinnen, Zauberinnen und Ärztinnen spielen. Die geheimen Künste dieser Balians vererben sich immer von der Mutter auf die älteste Tochter. Ist diese dreißig Jahre alt, so tritt die Mutter sozusagen von ihrem Posten zurück und überträgt ihrem Kinde das Amt. Ferner verehren die Dajak aber noch die Tapyan, das sind heilige, antike Gefäße, die im Rufe besonderer Wunderkraft stehen und an schwer zugänglichen Orten aufbewahrt werden. Diese Tapyan-Tempel sind stets zu bestimmten Zeiten, gewöhnlich alle drei Monate bei Vollmond, das Ziel von Wallfahrten für die umwohnenden Dajak, die diese Gelegenheit gleichzeitig dazu benutzen, sich von den die Tapyan bewachenden Priesterinnen wahrsagen zu lassen. –
Doktor Heid hatte mit einer der Laternen des Bootes auf einer Kiste stehend hinter den Felsvorsprung geleuchtet und rief jetzt ganz erregt: „Bark – eine große Überraschung! Es gibt an dieser Stelle ein Loch, das sich schnell erweitert. Es ist gerade breit genug, einen Menschen hindurchzulassen. Ich werde mal hineinkriechen.“
Bark warnte ihn. „Bedenken Sie, daß wir uns hier in einem Gebiet befinden, wo Erdbeben recht häufig sind und vulkanische Einflüsse sehr oft giftige Gase dem Erdboden entsteigen lassen. Vorsicht also! Sobald Ihre Laterne trüber zu brennen beginnt, machen Sie schleunigst kehrt, denn dann ist die Luft für unsere Lungen unbrauchbar.“
Heid gelangte durch einen steil abwärts laufenden Felsengang sehr bald in eine ausgedehnte Höhle, die sich nach seiner Berechnung nach der Mitte der Insel hinzog. Plötzlich schrak er dann zusammen, als er gerade eine enge Stelle dieser großen Grotte passierte, blieb stehen und lauschte.
Da – abermals dieselben Laute! Kein Zweifel, es war das Bellen eines Hundes. Und nun – Menschenstimmen, ganz nah, ganz deutlich.
Es war ein vielleicht zwölf Meter großer, runder Höhlenraum, in dem links einige Holzverschläge, scheinbar zu Wohnzwecken abgeteilt worden waren. Vor diesen Verschlägen liefen ein paar der gelbweißen Dajakhunde umher, während an einem offenen Herdfeuer eine Frau in einem weiten, mit Fellstücken, Federn und Muscheln benähten, losen Gewand stand und in einem Kessel rührte. An der rechten Seite wieder gab es vier grellbunt bemalte Kasten, auf denen verschiedenartig geformte, sehr große Tongefäße standen. In der Mitte aber ragten aus dem Boden fünf starke Bambusstücke hervor, die in kleine Felsspalten mit irgend einer Masse eingekittet waren. Um diese Bambusstücke bewegten sich zwei weitere Frauen, die kleine Bambusenden in den Händen hielten und jetzt diese gelben hohlen Hölzer in die oberen Öffnungen der eingekitteten Stücke hineinpreßten.
Kaum war dies geschehen, als der Doktor, der jetzt wieder um die Ecke zu schauen wagte, erst ein sausendes Geräusch und dann – dasselbe furchtbare Heulen hörte, das ihn nun schon zweimal erschreckt hatte. Auch jetzt brach es sehr bald ab. Dann eilte eine der beiden Frauen zum Feuer, nahm einen langen, an einem Ende hell lodernden Ast heraus und hielt ihn nun neben den dicken Bambusstücken auf den Felsboden, sprang zurück und warf den Ast beiseite.
Aus dem Gestein des Höhlenbodens schoß jetzt genau dieselbe Flamme hoch, wie sie von Heid und Bark bereits beobachtet worden war, – schoß hoch und oben durch eine gut drei Meter breite Spalte der Decke hindurch weiter empor ins Freie.
Heid als Forschungsreisender hatte all dies mit lebhaftestem Interesse verfolgt. Jetzt hatte er ja die Erklärung für das unheimliche Heulen und für die Lichterscheinung gefunden.
Während der Doktor noch die Findigkeit der Balians im stillen bewunderte, tauchte Bark hinter ihm auf und flüsterte ihm zu: „Eine neue Überraschung. – Sie ahnen nicht, welche! – Schnell, kommen Sie in unsere Grotte zurück!“
Hier fand Heid – und es war wirklich eine ungeahnte Überraschung! – außer dem Knaben noch einen blondbärtigen Weißen sowie drei Dajak vor, die nicht wie gewöhnlich nur den schmalen Lendengurt trugen, sondern kriegerisch gerüstet waren, das heißt vollständige Panzer aus starkem Leder und Baumrinde anhatten und als Waffen außer ihren Blasrohren den dolchähnlichen Parang, ein langes Messer, und den Mandan, eine Art Säbel, mit sich führten.
Der blondbärtige Weiße streckte Heid sofort die Hand hin und sagte:
„Ich freue mich herzlich, Herr Doktor, hier einen zweiten Landsmann begrüßen zu können. Ich bin Robert Wenker, der Vater des von Ihnen beiden geretteten Knaben.“
Heid war sprachlos. Da meinte Bark lachend:
„Ja – genau so ging es mir vorhin, als ich plötzlich hier diesen Besuch bekam. – So, jetzt wollen wir uns aber setzen, und dann mag Herr Wenker uns mitteilen, auf welche Weise er es fertiggebracht hat, als lebendig Begrabener wieder so frisch und munter zu werden, wie wir ihn hier vor uns sehen, und was unser kleiner Freund Fritz inzwischen erlebt hat.“
Die Erzählung Wenkers war merkwürdig genug.
„Zum Glück war ich auf den Gedanken gekommen,“ begann er jetzt, „die Ohnmacht nur vorzutäuschen, als ich die Absichten der gelben Halunken durchschaut hatte. Ich rechnete darauf, daß sie mich dann ungefesselt verscharren würden. So konnte ich mir denn durch Hochdrücken des Leibes einen freien Raum schaffen, in dem ich einige Minuten Luft genug zum Atmen hatte. Mir war nun bekannt, daß gerade in dem Wurzelwerk der Brotbäume sich sehr oft Hohlräume vorfinden. Ich wühlte daher sofort mit den Händen unter dem Wurzelstück, auf dem ich lag, ein Loch und stieß auch wirklich auf einen solchen erdfreien Raum, grub dann weiter in meiner Todesangst wie ein Maulwurf den Zugang zu einem zweiten dieser Löcher frei und erblickte hier über mir einen schwachen Lichtschimmer. Jetzt aber verlor ich vor Aufregung und Anstrengung wirklich das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, war es Nacht. Ich arbeitete mich ins Freie hinaus, verdeckte die aufgewühlte Stelle mit Reisig und Blättern, schlich nach dem Chinesendorfe, fand es leer und machte mich, in dem Glauben, die Schurken hätten meinen Sohn gleichfalls ermordet, hierher auf, traf nach Einbruch der zweiten Nacht am Seeufer ein und sah im Mondschein das Motorboot schräg auf dem Riff liegen, schwamm hinüber, fand in der Kajüte meinen Jungen, der vor Entsetzen und nichts anderes wähnend, als einen Geist vor sich zu sehen, einen gellenden Schrei ausstieß, und nahm ihn mit an Land, da ich von dem vor Überraschung völlig Verwirrten nicht sofort erfuhr, daß er Sie beide bereits in mein Geheimnis eingeweiht hatte. Leider wurden wir nun am Ufer von mehreren Dajak überwältigt und morgens mit nach ihrem Dorfe geschleppt. Hier sollten wir geopfert werden, aber erst am nächsten Neumondfest. Inzwischen wollte es der Zufall, daß ein Sohn jenes Dajak, den ich bei mir in Pontianak aufgenommen hatte, in dem Dorfe erschien, und daß ich Gelegenheit fand, ihm mitzuteilen, wie gut ich einen seiner Stammesgenossen behandelt hatte. Kaum war der Name jenes alten Dajak über meine Lippen gekommen, als dessen Sohn, der schon häufiger mit Weißen verkehrt hatte, meine und meines Kindes Fesseln durchschnitt und dann auch durchsetzte, daß wir nunmehr als Gastfreunde behandelt wurden. Auf diese Weise bin ich jetzt in Begleitung von fünfzehn Dajak hierher wieder zurückgekehrt. Wir sahen in dieser Grotte dann einen Lichtschimmer, und so durfte ich gleich darauf dem Landsmann Bark die Hand schütteln. Was nun die Diamanten und den Ort anbetrifft, wo sie liegen sollen, so habe ich auf meiner Skizze irrtümlich die Stelle falsch angegeben. Gerade am Westufer befindet sich die tiefe Schlucht, wie ich soeben festgestellt habe.“
Er griff in die Tasche und holte eine Handvoll recht unscheinbar aussehender Kiesel heraus.
„Und dies hier,“ fuhr er ganz begeistert fort, – „dies hier ist ein Teil der Ausbeute jener Fundstelle, die so reich an Edelsteinen ist, daß wir alle übergenug daran haben. – Schließlich muß ich auch noch die Chinesen erwähnen. Sie sind von den Dajak sehr bald nach uns gefangen genommen worden.“
Tage später landete das Motorboot bei der nächsten Militärstation am Murung und setzte hier die beiden Wenker ab. Nach herzlichem Abschied von diesen nahmen Heid und Bark ihre unterbrochene Forschungsreise wieder auf, gelangten nach Wochen in den Kapuwas-Fluß, fuhren stromabwärts und feierten dann in Pontianak, das an einem Mündungsarm dieses Flusses liegt, ein frohes Wiedersehen mit Robert Wenker und seinem Sohne.
Die Diamanten der Insel der Rätsel aber gestatteten Heid noch manche andere Forschungsreise und verhalfen Hans Bark zu einem eigenen Dampfer, mit dem er lohnende Frachtfahrten zwischen Pontianak und Batavia, der Hauptstadt von Niederländisch-Indien auf Java, betreiben konnte.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.
Anmerkungen: