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Unter malaiischen Piraten

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck auch im Auszuge verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26.

 

Unter malaiischen Piraten.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Das Wrack der „Antwerpen“.

Der Weltkrieg mit seinen vielfachen, bis in die fernsten Erdenwinkel sich bemerkbar machenden Folgeerscheinungen hatte auch sehr bald in den Gewässern der Großen und Kleinen Sundainseln das seit Jahrzehnten nur noch wenig einträgliche Geschäft der braunen Seeräuber wiederaufleben lassen.

Es gibt kaum ein farbiges Volk, das sich so sehr auf dem Wasser heimisch fühlt, als gerade die Malaien, die, obwohl eigentlich nur Eingewanderte, auf den Sundainseln überall die Ureinwohner seit langem verdrängt und nicht nur den gesamten Handel, soweit dieser nicht in den Händen von Europäern liegt, an sich gerissen haben, sondern auch stets bestrebt gewesen sind, sich auf gewaltsame Weise Einnahmequellen zu verschaffen, das heißt Seeraub zu treiben, wobei ihnen die weiten Küstenstrecken der zahllosen Inseln und Inselchen, die mit zu Niederländisch-Ostindien, also zum Sunda-Gebiet, gehören, infolge ihrer dünnen Besiedlung und ihrer vielfachen Schlupfwinkel dieses gefährliche Handwerk sehr erleichterten. Mit dem Anwachsen des Dampferverkehrs und der Verstärkung der holländischen Auslandsflotte ging das malaiische Piratenunwesen dann immer mehr zurück. Gänzlich aufgehört hat es nie. Und zahlreiche, angeblich durch Stürme spurlos verschwundene Schiffe haben Kenner der Verhältnisse wohl mit Recht auf das Konto der erbarmungslosen, braunen Korsaren gesetzt, die eben die Schiffe versenkten und die Besatzung bis zum letzten Mann über die Klinge springen ließen.

Nach dieser kurzen Einleitung wollen wir uns nach der Nordküste Timors, der östlichsten und größten der kleinen Sundainseln begeben, die zum Teil (östliche Hälfte) portugiesischer Kolonialbesitz ist, während der Rest sowie die benachbarten Inseln mit zu Niederländisch-Indien gehören.

An einem windstillen, sehr heißen Junivormittag des Jahres 1915 näherte sich einem steilen, von Korallenbänken umgebenen Vorgebirge ein kleiner Küstendampfer, der keuchend und pustend wie ein altersschwacher Gaul langsam durch die bleigraue See dahinschlich und der am Heck eine schon recht zerfetzte niederländische Handelsflagge führte, die, wenn sie sich bauschte und all ihre Löcher enthüllte, so recht zu dem schmutzigen Kasten von Dampfer paßte. Daß dieser den Namen Wilhelminje zu beiden Seiten des Bugs in verwaschenen Goldbuchstaben führte, war eine reine Verhöhnung der holländischen Königin.

Auf der Kommandobrücke stand neben dem verwitterten und grogfrohen Kapitän Kaspar Bewenhook ein schlanker, blonder, sehr sauber in Weiß gekleideter Herr, der die felsige Küste des Vorgebirges aufmerksam durch ein Fernglas betrachtete.

Jetzt ließ er es sinken und wandte sich an den Kapitän.

„Ich kann noch immer nichts bemerken,“ sagte er in etwas eigentümlich klingendem Deutsch, das sofort verriet, er müßte ein Schwede oder Norweger sein. So war es auch. Baron Axel von Ankerström, in Stockholm beheimatet, hatte vor zwei Monaten etwa die Reise nach Batavia, dem Haupthafen von Niederländisch-Indien auf Java, zu einem ganz besonderen Zweck angetreten. Sein älterer Bruder war nämlich vor einem halben Jahr in diesen Gewässern zugleich mit dem Dampfer Antwerpen, der von Batavia nach Sydney in Australien bestimmt gewesen, spurlos verschwunden. Baron Axel wollte nun hier nichts anderes versuchen, als das Schicksal der Antwerpen aufzuklären und womöglich die Leiche seines Bruders durch Taucher aus dem Schiffe herausholen lassen und mit in die Heimat nehmen, falls eben der Dampfer irgendwie an einer Küste untergegangen sein sollte.

Axel Ankerström hatte nämlich in einer Hafenkneipe in Batavia den Kapitän Kaspar Bewenhook kennen gelernt, sich mit diesem Original schnell angefreundet und ihm dann offen mitgeteilt (was er sonst niemandem anvertraute, wohl wissend, wie vielfache Beziehungen die Piraten gerade in den größeren Hafenplätzen unterhalten), was ihn nach Java geführt habe.

Daraufhin hatte der Alte ihn von der Seite prüfend angesehen, erst eine Weile geschwiegen und dann gefragt: „Hm – also die Antwerpen suchen Sie, Herr Baron? Komischer Zufall! – Was ist Ihnen die Angabe des Ortes, wo der Dampfer liegt, wert?“

Sie wurden schnell handelseinig, nachdem Bewenhook den Schweden zu tiefstem Stillschweigen verpflichtet hatte. Da die klapperige Wilhelminje nun des Alten Eigentum war, mietete Ankerström sie und ließ sich auf ihren keineswegs mehr sicheren Planken in unerträglich langsamer Fahrt dorthin bringen, wo die Antwerpen untergegangen sein sollte. Woher Bewenhook dies wußte, darüber gab er keine Auskunft. –

Auf die Äußerung des Barons hin, er könnte noch immer nichts von dem Wrack bemerken, nahm der Alte selbst das Glas zur Hand. Als er es wieder absetzte, schüttelte er verwundert den Kopf und meinte:

„Ich will sofort ’n Liter Wasser saufen, wenn ich daraus klug werde! – Baron, dort wo jenes Korallenriff, das wie ’n sitzender Hund aussieht, leicht zu erkennen ist, habe ich vor drei Wochen noch die Mastspitzen und den Schornstein der Antwerpen über dem Wasser mit eigenen Augen bemerkt. Und jetzt – weg sind sie! Wirklich, das begreife ein anderer! Es wird doch nicht etwa einer hier gewesen sein, hat sich das Wrack in die Tasche gesteckt und ist damit davonspaziert?!“ Er lachte leise auf. „Ne – es muß noch dort sein – muß, ganz unbedingt! Wir werden ja auch sehr bald Gewißheit haben. Meine Wilhelminje rennt ja schon im Galopptempo der Stelle zu!“ Wieder kam aus seiner Kehle jener grunzende Ton, der bei ihm alles Mögliche bedeutete: Heiterkeit, Ärger, Verwunderung, Mißbilligung und noch vieles andere. „Galopptempo! Fein gesagt, Baron, nicht wahr?“ fügte er hinzu. „Na – wer langsam kriecht, kommt auch ans Ziel, und wer gleich drei Grogs bestellt, braucht nicht auf Nummer zwei und drei zu warten!“ – Er drehte sich jetzt nach dem Achterdeck um, wo neben dem Treppenaufbau zu den drei Passagierkabinen ein Schiffsjunge seinen blauen Sonntagsrock bürstete.

„He, Karl,“ rief er ihm zu, „hänge das Prachtstück weg und stell’ Dich vorn ans Bugspriet. Sobald Du im Wasser was bemerkst, das nach einem Wrack ausschaut, meldest Du’s.“

„Well, Käpt’n,“ brüllte der Junge zurück.

Karl Holks Eltern besaßen unweit Batavia eine kleine Pflanzung. Sie waren vor sechs Jahren dorthin ausgewandert, weil Holk hier schneller als in der deutschen Heimat zu Wohlstand zu gelangen hoffte. Kurz nach Ausbruch des Krieges hatte er in Begleitung seiner Frau eine Geschäftsreise nach Pontianak auf Borneo unternommen, war aber unterwegs von dem Dampfer durch einen englischen Kreuzer heruntergeholt worden, während seine Frau ihn dann in das Konzentrationslager unweit Singapore auf der Halbinsel Malakka auf ihre Bitten hin ausnahmsweise begleiten durfte. Sie entschloß sich hierzu, weil sie ihr einziges Kind in den besten Händen wußte, nämlich bei Kaspar Bewenhook, der für den deutschen Farmer seit Jahren die nötigen Frachtfahrten unternahm. Jetzt spielte Karl Holk, ein vierzehnjähriger, äußerst kräftig entwickelter Knabe, freiwillig auf der Wilhelminje den Schiffsjungen.

Karl brachte schnell den Sonntagsrock des Kapitäns in dessen kleine Kajüte und bezog dann seinen Beobachtungsposten vorn am Bugspriet. Das Wasser war so klar, daß er die bunten Fische und die tief liegenden Korallenbänke mit ihren mannigfachen Formen ganz deutlich sehen konnte. – Der Dampfer näherte sich nun jenem Riff, dessen Umrisse wirklich einem sitzenden Hunde glichen, immer mehr.

Auch der Baron stieg jetzt von der Brücke hinunter und trat neben den Jungen. Die beiden hatten schnell aneinander Gefallen gefunden. Karl bewunderte den Baron, weil dieser über eine so unerschütterliche Ruhe und eine so vornehme Gelassenheit verfügte, und Ankerström wieder schätzte den frischen, kecken Knaben wegen seiner vortrefflichen Charaktereigenschaften, schnellen Auffassungsgabe und seines stark ausgeprägten, natürlichen Geschicks zu allen Dingen.

Karl erspähte jetzt mehr nach Backbord zu einen dunklen Strich im Wasser.

„Hallo – ein Mast!“ rief er. „Ohne Zweifel – es ist ein Mast, Herr Baron! Und er ist etwa ein Meter unter der Oberfläche abgesägt worden. Die Spitze fehlt. Da – man erkennt noch die hellere Schnittfläche!“

Bewenhook gab sofort durch das Sprachrohr dem Maschinisten den Befehl zum Stoppen.

Sehr bald war man sich dann darüber klar geworden, daß die beiden Masten und der Schornstein des gesunkenen Dampfers absichtlich nur deshalb gekürzt sein konnten, um die Liegestelle des Wracks zu verheimlichen. Weiter stellte man aber auch fest, daß das Wrack in nur etwa zwölf Meter Tiefe dicht an der äußersten Riffreihe und ungefähr zweihundert Meter von dem steilen Vorgebirge entfernt lag. – Der Baron war hierüber sehr befriedigt. Konnte er nun doch hoffen, daß es dem als Taucher ausgebildeten Maschinisten der Wilhelminje gelingen würde, in das Innere der Antwerpen einzudringen und nach der Leiche des Bruders zu suchen. Er nahm an, daß die Antwerpen durch irgend einen Unfall nachts so plötzlich untergegangen sei, daß niemand der Passagiere sich hätte retten können. Damals, als er diese Vermutung zum ersten Male Kaspar Bewenhook gegenüber ausgesprochen und sie damit begründet hatte, daß doch nirgends eine Leiche der Besatzung der Antwerpen angetrieben wäre, da hatte der Alte nur seinen bekannten, vieldeutigen Grunzton ausgestoßen.

Als Axel Ankerström nun erklärte, man müßte das windstille Wetter sofort zu der Taucherarbeit benutzen, da zeigte Bewenhook schweigend auf die sichelförmigen Rückenflossen von drei mächtigen Haien, die im Kielwasser der Wilhelminje sich umhertummelten.

„Oh – die Bestien werde ich sehr bald erledigen,“ meinte Ankerström, ging nach seiner Kabine hinab und kehrte mit einer Doppelbüchse zurück, deren kurze Läufe sie als kleinkalibrigen Stutzen kennzeichneten.

Er war ein vorzüglicher Schütze. Nacheinander jagte er den Hyänen des Meeres je eine Kugel durch den Schädel. Die Haie versanken stets auf die Schüsse hin, schwammen dann aber sehr bald wieder mit dem hellen Bauch nach oben tot auf dem Wasser.

Der Baron ließ nun eine der Bestien, ein Tier von etwa drei Meter Länge, von einem der farbigen Matrosen der Wilhelminje – deren Besatzung bestand außer Bewenhook, Ankerström und Karl noch aus drei Kanaken (Bewohner der Hawai-Inseln, bekannt als tüchtige Seeleute), einem Holländer als Maschinisten und einem Neger als Heizer – mittels Harpune auf Deck hissen und ihr den Leib aufschneiden.

„Ein Haifischmagen ist oft das reine Raritätenkabinett,“ meinte er. „Ich habe einmal darin sogar eine noch gefüllte Likörflasche gefunden!“

„Gefüllt?! Kein Wunder,“ grunzte Bewenhook. „Haifische saufen nur französischen Sekt, so viel ich weiß!“

Der braune Matrose wühlte ohne Scheu in dem Magen des Haifisches herum. Zunächst holte er einige unverdauliche Dinge, nämlich Reste von derben Seemannsschuhen hervor. Nun warf er eine kleine, rotlackierte Blechkapsel auf das Deck. Karl bückte sich, hob sie auf, las den Aufdruck „Astra-Rollfilm“.

„Zeige bitte mal her,“ sagte der Baron und streckte die Hand danach aus.

 

2. Kapitel.

Im Schlupfwinkel der Piraten.

In demselben Augenblick von der Brücke her die Stimme des Maschinisten, der dort jetzt ein wenig frische Luft schnappte:

„Geradeaus eine Jacht, die soeben dort aus dem schmalen Küsteneinschnitt heraussteuert. Sie hält auf uns zu –“

Bewenhook war trotz seines Bäuchleins mit einem Satz an der Reling und schaute nach dem fremden Schiff hinüber, rief dann:

„Ich will zwei Liter Wasser saufen, wenn das nicht der verdammte –“ Er schwieg plötzlich, wandte sich nun wieder um, zeigte den anderen sein verstörtes, bleiches Gesicht und sagte zu Ankerström:

„Baron, ich fürchte, diese Seereise bis hierher war die letzte unseres Lebens. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß jene Jacht dort ein Piratenfahrzeug ist. Ich habe nicht damit gerechnet, ihm gerade hier zu begegnen.“ Er war so kopflos und so verwirrt, daß er jetzt wie gelähmt vor Schreck vor sich hin auf die Deckplanken stierte.

Anders der Baron. „Kapitän – ich verstehe Sie nicht ganz?! Ein Pirat?!“ meinte er und rüttelte den Alten derb bei der Schulter. „Und – unser Leben ist bedroht? – Mann, so reden Sie doch!“

Da sagte Bewenhook kläglich: „Es sind malaiische Seeräuber. Wen sie in ihre Gewalt bekommen, der ist geliefert! Ich – ich –“ Er begann zu stottern.

Ankerström merkte, daß eine ihm unerklärliche furchtbare Angst den Alten völlig aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte. Er sah ein: hier mußte er an Stelle Bewenhooks handeln! – Und sofort rief er auch dem Maschinisten ein paar Befehle zu, sprang auf die Brücke und wartete auf das Anschlagen der Schraube.

Langsam kam der alte Kasten in Fahrt. Der Baron, der genug seemännische Kenntnisse besaß, um ein Schiff steuern zu können, lenkte den kleinen Dampfer in eine schmale Rinne zwischen den Riffen hinein und dann auf eine an der Westseite des Vorgebirges sich öffnende Bucht zu.

Inzwischen war die Jacht, ein Fahrzeug von vielleicht 25 Meter Länge mit Schonertakelung, trotz ihrer gerefften Segel sehr schnell näher an den Dampfer herangekommen, der beste Beweis, daß sie in Wahrheit eine Motorjacht war und ihre hohen Masten mehr als Zierde oder Notbehelf trug.

Bewenhook hatte sich jetzt etwas von dem ersten Schreck erholt und kletterte auf die Brücke hinauf.

„Baron, was – was beabsichtigen Sie eigentlich,“ fragte er stockend und vermied es, Ankerström dabei anzusehen.

Der sagte scharfen Tones: „Kapitän, Sie haben mir nie angeben wollen, woher Sie wußten, daß die Antwerpen gerade hier gesunken ist. Ich kann jetzt nur annehmen, daß Sie es von denen erfahren haben, die jetzt hinter uns her sind, – eben von jenen Piraten selbst!“

Der Alte nickte zögernd. „Ich will Ihnen das später alles erklären, Baron,“ meinte er. „Später – falls es für uns noch ein „Später“ gibt! – Aber – wozu steuern Sie diese Bucht an? Diese hohen, steil aus dem Wasser aufsteigenden Wände gestatten ja nirgends ein Anlegen! – Ich reime mir zusammen, daß wir uns an Land flüchten sollen. Ganz gut gedacht! Doch – wie sollen wir diese Felsenmauer erklimmen. und wie –“

„Das lassen Sie meine Sorge sein!“ fuhr ihn der Baron grob an. „Geben Sie den Matrosen Befehl, das Nötige zusammenzupacken. – Karl, Du kannst in meiner Kabine das gleiche tun.“ Er nannte ihm die Sachen, die ihm besonders wertvoll waren.

Die Wilhelminje schwenkte nach einer Weile plötzlich auf die rechte Steilwand der Bucht zu. Dort gab es in der grauen Felsenmauer eine breite Spalte, über der das Gestein in natürlichen Terrassen nach oben zu anstieg.

Mittlerweile war jedoch die Motorjacht, die äußerlich ganz den Eindruck eines harmlosen Lustfahrzeugs machte, dem Dampfer bis auf etwa hundert Meter nahe gerückt. Als dieser ihr nun die Breitseite zeigte, zerriß plötzlich der scharfe Knall eines Geschützschusses die Luft und eine Granate fuhr mit unheimlicher Genauigkeit, die Bordwand leicht durchschlagend in den Maschinenraum hinein, wo sie krepierte und den Kessel zur Explosion brachte.

Der ohrbetäubende Krach dieser Katastrophe, das Splittern und Bersten von Holz, das Angstgeheul der braunen Matrosen und Bewenhooks Wutgebrüll, – all das ging spurlos an Ankerström vorüber. Ruhig führte er das Steuer. Und die noch eine Strecke weiterlaufende Wilhelminje keilte sich nun mit kreischenden Reibetönen in der Felsspalte fest, lag regungslos still, während sie durch die allen Decköffnungen entströmenden Dampfmassen in immer dichtere weiße Schleier gehüllt wurde. Dieser warme Nebel war so stark, daß man kaum die Hand vor Augen sehen konnte.

Der Baron hörte plötzlich Karl Holks Stimme neben sich. Er griff nach dem kleinen Koffer, den der Junge in der Hand trug, rief ihm zu: „Bleibe hinter mir – hinauf auf die Felsen!“ und schwang sich mit kühnem Satz vom Geländer der Brücke auf eine nur undeutlich wahrnehmbare Felskanzel.

Karl sprang hinterdrein. Dann ging’s weiter. Bald lichteten sich die weißen Dampfschleier. Der Baron überhastete diese Flucht nicht. Bevor er die einzelnen Terrassen erklomm, schaute er sich stets nach dem bequemsten Weg um. So gelangten sie denn auch recht schnell auf die Höhe der Buchtufer, fanden hier eine mit Steinbrocken übersäte Ebene vor und eilten weiter nach Süden dem Festlande zu.

Der Knabe, der den Stutzen des Barons umgehängt hatte, hielt sich jetzt neben Ankerström. Sie liefen in kurzem Trab dahin.

„Wirst Du dieses Tempo noch eine Weile vertragen?“ fragte der Baron.

„Sehr gut! – Wo nur die anderen sein mögen? Ich sehe niemand hinter uns.“

Ankerström meinte warnend: „Nicht sprechen! Nicht die Lunge unnötig anstrengen!“

Er bewies auch jetzt, wie überlegt alles war, was er tat. Er suchte stets größere Felstrümmer zwischen sich und den Punkt, wo die Verfolger auftauchen mußten, zu bringen, um möglichst lange unentdeckt zu bleiben. Bisher hatte man von diesen nichts bemerkt, obwohl man schon das Vorgebirge verlassen und die eigentliche Insel betreten hatte. Der Boden senkte sich hier ziemlich jäh und ging in einen Sumpf über, der von langen Dickichtstreifen durchzogen war.

Diese Sümpfe sind es, die das Küstenklima Timors für Weiße so ungesund machen, während das Innere, zumeist bewaldete Bergketten, heiß, trocken und daher weniger verderblich für die Europäer ist. Die Urbevölkerung gehört zu den Papua-Stämmen. Die Nordküste, nur an wenigen Stellen zugänglich, besitzt nur ganz vereinzelt größere Ortschaften.

Der Baron bog jetzt am Rande des Sumpfes nach Osten ab, fiel in Schritt und sagte zu Karl:

„Ich glaube, wir können uns als gerettet betrachten, mein Junge! Ich sehe noch immer nichts von den Verfolgern. Das wundert mich. Aus Bewenhooks Äußerungen schloß ich, daß die Piraten alles daransetzen würden, uns zu fangen.“

Eine Viertelstunde später kamen sie in einen Palmenwald, dessen Bäume sehr licht standen. Der Boden stieg hier wieder steil an, und plötzlich gebot ihnen dann der Abhang einer seeartigen großen Meeresbucht halt. Diese zog sich nach rechts scheinbar noch tief in das Land hinein, während sie nach der See zu nur einen ganz engen, von hier aus nicht wahrnehmbaren Ausgang haben konnte. Der Blick nach dem Meere war durch eine kahle Felsenkette versperrt.

Der Baron deutete nach kurzem Umschaun auf einen Streifen flachen Strandes weiter nördlich am Buchtufer und sagte: „Dort liegt ein Nachen. Und dort mein Junge, – dort jenes bewaldete, einzelne Inselchen mitten in der Bucht soll zunächst einmal unser Zufluchtsort werden.“

Abermals eine Viertelstunde drauf landeten die beiden Flüchtlinge auf der kleinen Insel, zogen den aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestehenden und offenbar seit langem nicht mehr benutzten Nachen an Land, verbargen ihn in einem Gebüsch und schritten dann durch das aus Palmen und anderen tropischen Bäumen sich zusammensetzende Wäldchen dem Mittelpunkte der Insel zu, der durch einen einem abgestumpften Kegel gleichenden Hügel gebildet wurde.

Er war, wie sie nun sahen, nichts weiter als ein ungeheurer Steinblock, der nur auf der Südseite sich mit Hilfe verschiedener Spalten und Vorsprünge erklimmen ließ. Hierauf machte Ankerström den Knaben jetzt besonders aufmerksam, als sie, den Felskoloß umschreitend, nach einem Plätzchen zum Lagern suchten.

„Mit einer Verfolgung durch die Piraten müssen wir auf jeden Fall rechnen,“ meinte der Baron bei dieser Gelegenheit. „Wir dürfen uns nicht etwa dadurch in Sicherheit wiegen lassen, daß wir bisher nichts von dem braunen Gesindel bemerkt haben. Unser Lager können wir daher auch nur an einem Ort aufschlagen, der möglichst schwer zugänglich und der auch leicht zu verteidigen ist.“

„Zum Beispiel dort oben auf dem Felskegel,“ sagte Karl, verbesserte sich aber schnell: „Nein, Herr Baron, – das wäre kein gutes Versteck – überhaupt kein Versteck! Die flache Spitze ist ja von den Randhöhen der Bucht aus wie eine Tischplatte zu übersehen.“

„Ganz recht – das ist nichts für uns, mein Junge! Schon aus dem Grunde nicht, weil wir dort oben, selbst angenommen, es ständen Büsche dort, die uns jedem Blick entziehen würden, wie in einer Falle festsäßen.“

Unwillkürlich hatte Karl Holk die Südseite des Kegels nochmals schärfer als vorhin betrachtet.

„Mit dem Ersteigen des Felsens dürfte es doch seine großen Schwierigkeiten haben, Herr Baron,“ meinte er jetzt lebhaft und etwas stolz auf seine soeben gemachte Entdeckung. „Dort in der Mitte gibt es eine glatte Stelle, die keinerlei Spalten oder Vorsprünge hat und die bei ihrer Ausdehnung ohne Hilfsmittel[1] nicht zu überwinden ist.“

Ankerström schaute in die Höhe. „Du hast recht, Junge. Ohne Leitern mit Haken ist tatsächlich nicht nach oben zu gelangen. Doch – vorwärts jetzt! Wir wollen –“ Er beendete den Satz nicht. Sein Kopf wandte sich lauschend zur Seite.

„Hörst Du, Karl?“ fragte er dann. „Das klingt wie das Rattern und Puffen eines Schiffmotors. Sollte etwa –?! – Warte hier,“ fügte er hastig hinzu. „Ich bin sofort wieder da –“

Er eilte nach dem Westufer des Inselchens zurück.

Karl wäre ihm am liebsten gefolgt. Aber er wagte es nicht. Der Baron war gewiß ein freundlicher Herr. Aber er konnte auch sehr energisch sein und sehr strenge Augen machen.

Der Junge schaute zum Zeitvertreib sich nochmals die Südseite des Felskegels an und überlegte, ob es nicht doch möglich wäre, dort hinaufzukommen. Man mußte ja von der abgeplatteten Spitze einen weiten Überblick über die ganze Insel und auch die Bucht haben.

Am Fuße des mächtigen, gut zwanzig Meter hohen Steinkolosses wucherten allerlei tropische Sträucher und Bäume, durchzogen von Rankengewächsen. Das war eine Farben- und Blütenpracht, wie man sie so eng an einer Stelle vereinigt nur auf den von der Natur reich begnadeten Sundainseln antrifft. Das war aber auch eine Woge von Düften, die sich aus allerhand Einzelgerüchen zusammensetzte – Ausstrahlungen aller jener Pflanzen, die der Europäer nur in veränderter Form im Handel kennen lernt: Vanille, Muskat, Nelken und vieles andere.

Für Karl Holk war diese Farben- und Duftorgie dort am Fuße des Kegels nichts Neues mehr. Er betrachtete die Sträucher nur daraufhin, ob es möglich wäre, sich hindurchzudrängen, um an den aus dem fruchtbaren Boden der Insel jäh herausragenden Felsen ganz dicht heranzukommen.

Der Baron hatte seinen Koffer hier zurückgelassen. Karl, der diesen ja selbst gepackt hatte, wußte, daß sich darin auch ein sogenanntes Universalinstrument befand, nämlich ein kleines, haarscharfes Stahlbeil, das gleichzeitig Hammer, Schraubenzieher, Meißel und selbst Säge war. Diese Säge steckte in dem hohlen Stiel und ließ sich schnell anschrauben.

Der Koffer war nur zugeschnallt. Der Junge öffnete ihn und nahm das Beil heraus. Rechts von dem Felskegel gab es einige Betelnußbäume mit sehr langen Ästen. In wenigen Minuten hatte Karl mit der Säge fast geräuschlos einen vier Meter langen Ast abgetrennt, befreite ihn nun von den Zweigen, ließ aber am stärkeren Ende zwei kräftige Zweigstümpfe stehen, die gleichsam die Haken dieser Stange vorstellten.

Inzwischen hatte der Baron vom Westufer des Inselchens aus, vorsichtig sich verborgen haltend, tatsächlich dieselbe schlanke, hellgrau gestrichene Jacht bemerkt, die vor nunmehr anderthalb Stunden dem alten Kapitän Bewenhook einen so furchtbaren Schreck eingeflößt hatte. Der Wind, der jetzt in zunehmender Stärke von Norden, vom Meere her, wehte, hatte das Motorengeräusch weit mit sich über die Wasserfläche der Bucht geführt und so die beiden Flüchtlinge gerade noch rechtzeitig gewarnt. Das elegante Fahrzeug, in dem niemand auch nur im entferntesten einen Piraten vermutet hätte, kam aus der Nordostecke der Bucht. Dort also mußte offenbar die versteckte Durchfahrt nach der See liegen.

Die Jacht glitt in langsamer Fahrt am Nordufer entlang und verschwand alsbald zu des Barons größtem Erstaunen in der Nordwestecke – gerade dort, wo nichts darauf hindeutete, daß sich die Bucht dort noch nach Westen hin fortsetzte.

Ankerström war überzeugt, daß dies hier der Schlupfwinkel der Freibeuter wäre, die wahrscheinlich ganz im geheimen ihr schändliches Handwerk unter der Maske einer harmlosen Privatjacht betrieben.

Er kehrte nun eilends nach dem Felskegel zurück, nachdem er etwa noch zehn Minuten gewartet hatte, ob die Jacht oder aber ein Boot derselben sich abermals zeigen würde. Nichts geschah jedoch weiter. Und deshalb hielt es Ankerström für das beste, die Flucht sofort nach Osten zu fortzusetzen.

Er fand den Platz, wo er seinen kleinen Gefährten zurückgelassen hatte, leer. Selbst der Koffer war verschwunden. Recht beunruhigt hierdurch schaute er sich nach allen Seiten um und stieß schließlich einen halblauten Pfiff in der Annahme aus, Karl könnte sich irgendwo im Gebüsch verborgen haben.

 

3. Kapitel.

Die Filmbüchse.

Der Pfiff wurde auch beantwortet. Aber – von oben, von der Spitze des Felsens herab.

Ankerström, dessen blondes Haupthaar, blonder Schnurrbart und blaue Augen den Nordländer sofort erkennen ließen, schaute in höchstem Maße überrascht empor, konnte jedoch nirgends etwas von Karl entdecken. Dann aber bemerkte er, daß dicht unter dem Rande der flachen Spitze aus einer der Spalten des grauschwarzen Felsens ein Arm und eine Hand hervorgestreckt wurden. Die Hand winkte ihm zu. Und gleichzeitig hörte er nun auch ein helles Lachen und dann des Jungen Stimme:

„Herr Baron – wir beide haben uns arg getäuscht. Die Plattform des Felsens hat in der Mitte ein geräumiges Loch, das in eine Höhle hinabgeht. In dieser befinde ich mich jetzt. Ich werde Ihnen sogleich die Stange hinabwerfen, mit deren Hilfe ich heraufgeklettert bin. Auch den Koffer habe ich glücklich nach oben bekommen.“

Der Baron, nicht minder gewandt wie der Junge, war sehr bald ebenfalls in diesem „geradezu erstklassigen Versteck“, wie er sich dann ausdrückte.

Die Höhle bot bei einer Länge und Breite vor etwa vier Meter und einer Höhe von wenig über zwei Meter alle Vorteile, die man sich nur wünschen konnte. Sie war trocken und luftig, empfing von zwei Seiten Licht durch kleine Felsspalten und war ohne Zweifel bisher von Menschen nicht betreten worden. Dies hatte der Baron daraus festgestellt, daß die Plattform des Kegels mit einer dicken Schicht vulkanischer Asche bestreut war, in der sich jede Fußspur ganz deutlich ausprägte. Nur Karls Fährte war hier zu bemerken gewesen. Die Asche stammte ohne Frage von dem Vulkan Tidore auf der benachbarten Insel Flores. Sie wird bekanntlich oft Hunderte von Meilen vom Winde fortgetrieben, und häufig schon sind im Indischen Ozean Schiffe ganz plötzlich von einem Staubregen überschüttet worden, der auf die gleichen Ursachen zurückzuführen ist.

„Wirklich – ein erstklassiges Versteck!“ wiederholte der Baron nun. „Nur schade, mein Junge, daß wir es nicht ausnutzen können. Die Piratenjacht ist in der Nähe und wir tun gut, uns von hier schleunigst zu empfehlen. Ich habe keine Lust, auf diesem Inselchen den Robinson zu spielen, während die Piraten dann für uns Robinsons die Menschenfresser vorstellen würden, vor denen wir uns genau so in acht zu nehmen hätten, wie dies der brave Crusoe seiner Zeit tun mußte. – Wir müssen also sogleich dieser Höhle wieder auf immer lebewohl sagen.“

Der Baron ahnte nicht, als er dies aussprach, daß die örtlichen Verhältnisse ihn zwingen würden, tatsächlich auf dem kleinen Eiland recht abenteuerliche Wochen in Gesellschaft seines jungen Gefährten durchzumachen. –

Eine Stunde später finden wir die beiden Flüchtlinge am Rande eines völlig unpassierbaren Sumpfgebiets, das nach Süden die Bucht und die benachbarten Küstenstriche in weitem Bogen umspannte und von dem sonstigen Gebiet der Insel Timor vollständig abschloß.

Bis zum Spätnachmittag versuchten sie, auch nach Osten wieder vordringend, irgendwo festen Boden zu erreichen, der das Passieren des Sumpfstreifens zuließ. Dann, als die Sonne sich bereits dem östlichen Horizont zuneigte, sah der Baron ein, daß die Piraten mit großem Geschick gerade diese Bucht inmitten des Sumpfstreifens sich zum Schlupfwinkel auserkoren hatten. Es konnte kaum einen sichereren Ort für ihr lichtscheues Gewerbe geben als diesen Küstenpunkt, der vom Binnenlande so vollständig abgesperrt war. Er sah aber auch ein, daß ihm vorläufig nichts anderes übrig blieb, als nach der kleinen Insel zurückzukehren, die weitaus das beste Versteck der ganzen Umgegend bot. Was dann weiter werden sollte, mußte die Zukunft entscheiden.

Karl war recht froh, daß „seine Höhle“ nun doch zu Ehren kam.

„Wir werden uns dort ganz behaglich einrichten, Herr Baron,“ meinte er. „Und wenn wir nur die Augen offenhalten, sollen uns die Piraten schon nichts anhaben!“

Bei anbrechender Dunkelheit erreichten sie dann die Stelle am Ostufer der Bucht, wo sie den Nachen in einem schmalen Einschnitt der Uferwand verborgen hatten, als sie bis zu irgend einer Niederlassung auf Timor sich durchzuschlagen gedachten. Es war anders gekommen.

Noch an diesem Abend sollte Baron Axel dann auf ganz merkwürdige Weise an seinen Bruder sehr nachdrücklich erinnert werden.

Nachdem die Gefährten den Nachen auf der Insel jetzt mit aller Sorgfalt versteckt hatten, da sie ihn ja sehr gut weiter brauchen konnten, und nachdem sie es sich schnell ein wenig gemütlich in ihrer Höhle gemacht, Moos und Laub zu Lagerstätten hinaufgeschafft und auch nach Verstopfung der natürlichen Fenster ein Feuer angezündet hatten, damit sie nicht im Dunkeln säßen, wurden aus dem Koffer die acht Konservenbüchsen ausgepackt, die Ankerström vorsorglich hatte mitnehmen lassen und von denen vier Fleischkonserven, die anderen vier aber Zwieback enthielten.

Der Baron wärmte den Inhalt einer Fleischbüchse über dem Feuer und teilte dann brüderlich mit Karl, der bereits einen tüchtigen Hunger verspürte, obwohl er unterwegs auf der Suche nach einer passierbaren Stelle des Sumpfbodens schon allerhand eßbare Früchte mit bestem Appetit verzehrt hatte.

Während sie nun ihre erste Mahlzeit als moderne Robinsons und Höhlenbewohner einnahmen und sich dabei des Reisebestecks Ankerströms bedienten, das nur aus zwei Paar Messern, Gabeln und Löffeln bestand, sagte Karl mit einem Mal und griff dabei in die Tasche:

„Herr Baron, ich habe bisher ganz zu erwähnen vergessen, daß ich jene Filmblechdose, die der Kanake aus dem Haifischbauch herausgeholt hatte, zu mir gesteckt habe. Ich tat’s deswegen, weil ich sie als Rarität behalten wollte. Hier ist sie. Ich werde sie jetzt mal öffnen. Der Deckel sitzt sehr fest. Mir scheint, er ist mit Harz oder sonst einem Stoff, der gegen das Eindringen von Wasser schützt, abgedichtet.“

„Vielleicht ist noch ein Film darin,“ meinte der Baron gleichgültig und zündete sich als Nachtisch eine Zigarre an.

Karl nahm sein Taschenmesser zur Hand und preßte die Spitze der Klinge zwischen Deckel und Blechwand der Dose. Jetzt sprang der Deckel ab. Der Junge bückte sich und hielt den kleinen, nunmehr oben offenen Blechzylinder so, daß die Flammen des Feuers das Innere beleuchteten.

„Nichts ist drin – nichts!“ sagte er enttäuscht. „Aber, Herr Baron, – ist’s nicht merkwürdig, daß der, dem diese Filmumhüllung einst gehörte – es dürfte ein Tourist und Liebhaberphotograph gewesen sein! – sich die Mühe gemacht hat, den Deckel mit Harz so fest zuzukitten?! Denn – es ist ohne Frage Harz. Es klebt mir jetzt an den Fingern –“

Er schaute sich den Deckel näher an, rief nun plötzlich so laut, daß der Baron eine warnende Handbewegung machte:

„Hier – hier oben auf dem Deckel ist in den Lack etwas eingekratzt. Ja – es heißt – „Flaschenpost“! Es ist sehr gut zu lesen –“

Baron Axels Interesse war geweckt. „Zeig’ mal her, Karl,“ meinte er. „Aber – mäßige Deine Stimme! Du darfst nie vergessen, daß wir uns hier in einem Piratenschlupfwinkel befinden, so gut wie unter malaiischen Korsaren, wenn diese auch bisher kaum ahnen dürften, daß sich hier auf der Insel zwei der Leute von der nunmehr zerstörten alten Wilhelminje eingenistet haben.“

Er besichtigte darauf erst die Außenseite des Deckels, dann auch die Innenseite, die ohne Lacküberzug und so blank wie ein Spiegel war.

Nein – doch nicht so blank! Das glatte Blech wies verschiedene feine Kratzer auf. Und als Ankerström nun seine Taschenlaterne aus dem Koffer herausnahm (er besaß dazu nur noch eine Ersatzbatterie und mußte mit dieser Lichtquelle daher sehr sparsam umgehen), als er sie eingeschaltet hatte und den weißen Lichtkegel auf den kleinen Deckel fallen ließ, da stieß er sofort ein überraschtes: „Also doch eine Flaschenpost!“ aus und las nun die mit einem scharfen Gegenstand ganz sauber eingeritzten Worte vor: „Nordküste Timors, Westgrenze portugiesischen Gebiets, unweit Vorgebirge mit zwei einzelnen Palmen, gefangen von Malaien in Felsgrotte am Steilufer; bitte Batavia-Polizei Nachricht. Ernst Dirksen, Werner Scholz, Baron Ankerström –“

„Baron – Baron Ankerström!“ sprach Baron Axel ganz fassungslos leise vor sich hin. „Ist’s möglich?! Sollte dies ein Hilferuf meines Bruders und dessen Leidensgefährten sein?“

Karl Holk bat, sich den kleinen Blechdeckel nun auch ansehen zu dürfen und fügte hinzu: „Ich glaube, jene Grotte, in der Ihr Bruder, Dirksen und Scholz eingekerkert sind, wird eine Öffnung nach dem Meer hin haben, denn wie hätten die Gefangenen sonst wohl diese Büchse in die See schleudern können?!“

„Sehr richtig, mein Junge. Das nehme auch ich an,“ nickte der Baron. „Eine Strömung wird sie dann mit fortgenommen haben, bis ein gefräßiger Hai in ihr einen guten Frühstückshappen sah. Jedenfalls werde ich nicht zögern, zunächst mal diesen Freibeuterhafen in allen Teilen zu erforschen, was nur nachts geschehen kann. Ich fühle mich auch frisch genug, jetzt sogleich in unserem Nachen zu diesem Zweck von hier aufzubrechen.“ Er erhob sich und steckte einen seiner beiden Revolver zu sich. „Inzwischen schlafe Dich tüchtig aus, Karl. Mach’ aber keine Dummheiten – verstanden!“

Auch die kleine elektrische Lampe schob er nun in die Tasche.

Da sagte Karl Holk in seiner kecken, offenen Art:

„Dummheiten, Herr Baron? – Oh – die könnten höchstens darin bestehen, daß ich Sie sehr, sehr bitte, mich mitzunehmen! Sie kennen mich ja. Ich bin zu allem zu gebrauchen. Und – hier allein würde ich’s gar nicht aushalten. Dazu bin ich viel zu abenteuerlustig.“

„Leider aber auch sehr unvorsichtig!“ meinte Ankerström. „Nun – gegen diese „Dummheit“ habe ich nichts einzuwenden. Gut – zu zweien also wollen wir die nächtliche Rekognoszierungsfahrt wagen.“

Karl war überglücklich. Und er versprach hoch und heilig, nur dann den Mund aufzumachen, wenn der Baron es ihm gestatten würde.

 

4. Kapitel.

Eine harte Geduldsprobe.

Mit größter Vorsicht verließen die Gefährten ihre Höhle und den Felskegel. Nachdem sie wohlbehalten auf ebener Erde angelangt waren, überzeugten sie sich erst, ob die Insel außer ihnen auch keine sonstigen fremden Gäste beherbergte[2]. Sie fanden nichts Verdächtiges, machten nun den Nachen flott und steuerten ganz langsam und lautlos auf die Nordwestecke der Bucht zu.

Hier mußte es ja eine ohne weiteres nicht bemerkbare Durchfahrt geben, die wahrscheinlich in eine kleine Seitenbucht führte, wo die Piratenjacht ihren Liegeplatz haben mußte. Man fand denn auch tatsächlich in diesem Winkel der Bucht nach einigem Suchen einen sehr versteckten, schmalen Kanal, dessen Eingang hinter einer hohen Felsenzunge verborgen war. Diese winzige Halbinsel schob sich[3] mit ihrer Spitze so in einen Einschnitt des Steilufers hinein, daß man gar nicht vermuten konnte, hinter dieser Halbinsel zöge sich eine enge Fahrstraße hin. Und doch war es so. Der Kanal bog dann sehr bald, nachdem er etwa hundert Meter nach Norden zu geführt hatte, in kurzer Krümmung nach Westen ab, verbreiterte sich schnell und bildete einen vielleicht achtzig Meter tiefen und vierzig Meter breiten natürlichen Hafen mit schmalen, flachen Ufern, die sich dann jedoch wieder in turmhohen Felsenmauern steil emporreckten.

Kaum hatte der Nachen diese Biegung nach Westen passiert, als der Baron sofort mit Rudern aufhörte und das kleine, plumpe Fahrzeug ganz auf die Schattenseite des Kanals drückte. Inzwischen war nämlich der Mond am sternenklaren Firmament erschienen und beleuchtete dieses merkwürdige Fleckchen Erde mit einem für die Absichten der beiden Gefährten fast zu hellen Licht.

Ankerström und Karl hatten gleichzeitig am Nordufer die wie ein zweiter Mond in der Luft schwebende weiße, strahlende Kugel einer elektrischen Bogenlampe erblickt, hatten gleichzeitig das taghell erleuchtete Deck der Piratenjacht erkannt, zwischen deren schlanken Masten die Kugel hing, gewahrten jetzt ganz deutlich auch eine Menge Gestalten, die sich auf dem Deck hin und her bewegten und aus der Jacht Ballen, Kisten und Tonnen mittels eines Hebekranes an Land schafften.

Es war dies ein so eigenartiges, belebtes Bild, daß der Baron eine ganze Weile regungslos dem Treiben da drüben zuschaute. Erst als Karl ihm leise zuflüsterte: „Sie bringen all das zusammengeraubte Gut in ein Felsloch dort rechts hinein,“ widmete er auch den Vorgängen auf dem Lande seine Aufmerksamkeit.

Karl hatte recht: die Malaien, die meist wie Jachtmatrosen in hellen Leinenanzügen steckten, trugen oder karrten die zahlreichen Kisten und Tonnen nach einem ebenfalls erleuchteten Höhleneingang hin, der sich in dem Steilufer dieser Nebenbucht als natürliches Tor öffnete.

Der Baron war geradezu sprachlos über diesen großzügigen Betrieb des Freibeuterhandwerks durch diese braunen Korsaren, die hier offenbar schon seit langem einen Stapelplatz für ihre Beute eingerichtet hatten; dem sogar die elektrische Beleuchtung nicht fehlte.

Er trieb dann den Nachen vollends ans Ufer zwischen ein paar im Wasser liegende Felsbrocken, befahl dem Jungen, auf ihn zu warten, und schlich nun näher an die Jacht heran. Er konnte dies ganz gut wagen, da das Verhalten der Piraten deutlich bewies, wie sicher sie sich hier fühlten.

Eine neue Überraschung! Es waren nicht alles Malaien, die hier die Lastträger spielten. Der Baron hatte zunächst, jetzt kaum noch dreißig Meter entfernt, zwei der Kanaken von der Wilhelminje erkannt. Nun bemerkte er aber auch ein paar Weiße. Und – wie ein Ruck ging’s durch seinen Körper! Der eine der Europäer war sein Bruder Oskar, und dort, der kleine, dicke Mann, das war ja Kaspar Bewenhook, der alte Kapitän. Auch er mußte mitarbeiten, auch er schleppte gerade auf einer Trage zusammen mit einem Malaien ein paar Ballen.

Noch mehr Einzelheiten unterschied der Baron jetzt. Auf dem Deck der Jacht ging ein hochgewachsener Weißer mit dunklem Bart auf und ab. Er hatte keine Kopfbedeckung auf. Ankerström kam das Gesicht dieses Menschen sofort bekannt vor. Er stellte sein Fernglas ein, richtete es auf diesen Europäer, der doch ohne Zweifel mit zu den Piraten gehörte.

Ganz plötzlich tauchte da eine bestimmte Szene in seiner Erinnerung auf: Jene Hafenkneipe in Batavia, wo er Bewenhook kennen gelernt hatte, – ein Tisch, an dem zwei Männer bei einer Flasche Wein in lebhafter, aber leiser Unterhaltung gesessen hatten, und zwar jener Schwarzbärtige und der Kapitän der Wilhelminje! – Damals hatte er Bewenhook noch nicht gekannt. Aber der Kellner der Kneipe hatte ihn sehr respektvoll auf den Schwarzen als einen der reichsten Leute Batavias aufmerksam gemacht und ihm einen portugiesischen Namen genannt.

In Ankerströms regem Hirn bildeten sich jetzt sofort allerlei Schlußfolgerungen. Er glaubte jetzt zu wissen, weshalb Bewenhook ihm erklärt hatte, er dürfte nicht sagen, woher ihm die Untergangsstelle der Antwerpen bekannt wäre. – Bewenhook steckte eben entweder mit den Piraten, deren Anführer vielleicht der Portugiese war, unter einer Decke, oder kannte doch zum mindesten deren Treiben ganz genau! – Hierfür sprach ja auch das Benehmen des alten Holländers beim Auftauchen der so harmlos ausschauenden Jacht. Er hatte sofort vor dieser als einem Piratenfahrzeug gewarnt und war über ihren Anblick in einer Weise entsetzt gewesen, daß man nur annehmen konnte, er hätte dadurch, daß er Ankerström an den Ort des Untergangs des verschollenen Dampfers führte, etwas getan, wofür er die schlimmste Bestrafung durch die Freibeuter erwartete. –

Nachdem Baron Axel noch eine Viertelstunde die braunen Gesellen, den Portugiesen und ihre Gefangenen beobachtet hatte, kehrte er zu Karl zurück, der inzwischen gleichfalls von der Höhe eines der Felsen aus zwischen denen der Nachen lag, die Vorgänge drüben mit gespanntem Interesse verfolgt hatte.

Die beiden Gefährten machten sich auf den Rückweg. Als sie sich wieder in ihrem Versteck auf dem Felskegel an einem frisch angefachten Feuer über die Ergebnisse dieser Fahrt nach dem Schlupfwinkel der Jacht unterhielten, meinte der Baron:

„Ich habe den alten Bewenhook jetzt stark in Verdacht, daß er mit diesen Piraten recht eng befreundet ist. Du kennst ihn doch genauer, Karl. Besinnst Du Dich vielleicht auf irgend etwas, das diesen meinen Argwohn bestätigen könnte?“

Karl verneinte, erklärte, dieser sei in Batavia überall beliebt. Anders freilich verhielte es sich mit dem Portugiesen Juan Machado, der, obwohl Besitzer großer Plantagen, deswegen in Europäerkreisen wenig angesehen wäre, weil er es sehr mit den Farbigen hielte.

Juan Machado! Richtig, das war der Name jenes Millionärs, den der Kellner mit so großer Hochachtung ausgesprochen hatte. –

Der Baron drängte dann, daß man sich jetzt endlich zur Ruhe begäbe. Die Gefährten streckten sich auf ihre Mooslager aus und schliefen bis in den hellen Morgen hinein.

Dieser zweite Tag in dem Piraten-Schlupfwinkel brachte nichts Neues oder irgendwie Aufregendes.

Ankerström hatte bereits einen Plan zur Befreiung der Gefangenen entworfen. Er wollte hier so lange in der Verborgenheit leben, bis die Jacht wieder abgefahren sein würde. Dies mußte ja seiner Ansicht nach in kurzem geschehen, da Machado und der zweite, jüngere Europäer doch nicht allzu lange Batavia fern bleiben konnten. Er rechnete auch weiter darauf, daß die Gefangenen dann hier unter Bewachung einiger Leute zurückgelassen werden würden, wie dies doch fraglos bereits vordem auch schon geschehen war. War die Jacht aber erst aus dem Schlupfwinkel verschwunden, so konnte es nicht schwer fallen, die Wächter nachts zu überrumpeln, und nach Befreiung der Gefangenen würden sich schon Mittel und Wege finden, von hier fortzukommen.

Karl Holk hielt diesen Plan gleichfalls für den einzig richtigen. Ihm war es sehr recht, daß man gezwungen war, hier nunmehr ein echtes Robinsondasein unter etwas gefährlichen Begleitumständen zu führen. Er war eben ein kecker, frischer Junge, und auch jeden anderen Knaben seines Alters hätte ein solches recht abenteuerliches Leben durchaus zugesagt.

Dann – es war Ende der zweiten Woche – spürte der Baron eines Morgens zu seinem heftigen Schreck die ersten Anzeichen einer schweren Erkrankung. Als er sich von seinem Lager erheben wollte, konnte er nur taumelnd bis an den kleinen Kochherd gelangen. Feuer anzuzünden war ihm unmöglich. Er weckte den fest schlafenden Jungen und teilte ihm, bereits von Fieberschauern geschüttelt, mit, daß bei ihm fraglos eine Malaria im Anzuge sei.

Für den bis jetzt so frohen Jungen begannen nun böse Tage. Die ganze Verantwortung für ihre Sicherheit, ihre Verpflegung und auch für die Durchführung ihres Planes ruhte auf ihm allein. Der Baron vermochte eine volle Woche nicht aufzustehen. Die ersten Tage der Krankheit mit ihrem starken Fieber waren die schlimmsten. In seinen wilden Fieberphantasien schrie Ankerström oft überlaut auf, rief nach seinem Bruder und versuchte so und so oft sich zu erheben. Bisweilen war der arme Karl ganz verzweifelt. Erst am fünften Tage kehrte dem Baron die klare Besinnung zurück. Er war jedoch so schwach, daß er kaum ein paar Worte murmeln konnte. Das gefährliche Klima der Küstenstriche Timors hätte hier vielleicht ein Todesopfer gefordert, wenn Ankerström nicht einen so widerstandsfähigen Körper besessen haben würde.

Aber – was war aus dem kräftigen Mann in dieser kurzen Zeit geworden! Hohläugig und bleich lag er da, konnte kaum matt die Hand heben und mußte von seinem kleinen Gefährten wie ein Kind gepflegt werden.

Kaum hatte er dann wieder regeres Interesse für alles, als er auch schon darauf drang, daß Karl unverzüglich den Piratenhafen besuche, damit festgestellt würde, ob die Jacht etwa bereits abgefahren wäre.

Heftige Regenfälle hatten tags zuvor eingesetzt. Und es goß wieder in Strömen, als Karl nun nach Anbruch der Dunkelheit sich zu der kurzen Rekognoszierungsfahrt rüstete. Der Baron mahnte zur größten Vorsicht, gab ihm allerlei Verhaltungsmaßregeln mit auf den Weg und hieß ihn auch beide Revolver mitnehmen. – „Zögere nicht, im äußersten Notfall, aber auch nur dann, von den Waffen Gebrauch zu machen,“ sagte er. „Du verstehst ja gut mit ihnen umzugehen. Laß Dich nicht gefangen nehmen, denn ich bin überzeugt, daß die Piraten Dich zwingen würden, unser Versteck hier zu verraten, wenn sie Dich in ihre Gewalt bekämen.“

Karl versprach, sich nicht erwischen zu lassen und auch nicht etwa auf eigene Faust irgend etwas Besonderes zu wagen. Gerade davor warnte ihn der Baron aufs eindringlichste, da er des Jungen kecken Unternehmungsgeist nur zu gut kannte.

Mit einem festen Händedruck verabschiedete Karl sich von dem Genesenden. Dann verließ er die Höhle und den Felsen und begab sich nach dem Ostufer des Inselchens, wo der Nachen in einem dichten Gebüsch lag. Er machte ihn flott und ruderte nun, eingehüllt von Regenschleiern, der Nordwestecke der Bucht und dem Kanal zu, gelangte auch bis an jene Felsen, zwischen denen das kleine Fahrzeug nun schon wiederholt verborgen gewesen war, stieg an das Ufer und schlich dem Liegeplatz der Jacht zu.

Der Regen fiel so dicht, daß der Junge bisher von der Jacht noch nichts bemerkt hatte. Nun sah er, daß sie verschwunden war. Nirgends bemerkte er auch nur einen einzigen Menschen. Nichts deutete darauf hin, daß hier noch vor kurzem ein größeres Fahrzeug am Ufer vertäut gewesen war. Die Piraten hatten alles, jede Kleinigkeit, entfernt, die darauf hätte schließen lassen, daß dieser Platz je von Leuten besucht worden wäre.

Karl durchzuckte bei diesen Wahrnehmungen ein heißer Schreck. Er fürchtete, die Bande könnte diesen Schlupfwinkel ganz aufgegeben und auch die Gefangenen mit davongeführt haben.

Während er noch auf allen Vieren an dieser Stelle sich langsam hin und her bewegte, vernahm er aus einer engen, mit Gestrüpp bestandenen Bucht leises Stöhnen. Nachdem er eine Weile gelauscht hatte und dann zu der Überzeugung gelangt war, daß es sich um menschliche Klagelaute handelte, wagte er sich näher heran. Inzwischen hatte der Regen aufgehört. Einzelne Sterne waren am Himmel erschienen, und die Dunkelheit war ein wenig geringer geworden, obwohl es noch immer schwer hielt, auf weitere Entfernung Einzelheiten zu unterscheiden.

Karl, der stets den gespannten Revolver in der Rechten gehabt hatte, näherte sich nun lautlos der Schlucht und schob sich ebenso leise und allmählich durch die Büsche hindurch. Ein Blick zum nächtlichen Firmament empor belehrte ihn dann, daß eine große Wolke die Mondsichel sehr bald freigeben würde. Er wartete nun auf den Eintritt der besseren Beleuchtung, um hier nicht etwa in eine Falle zu geraten.

Jetzt trat das Nachtgestirn hinter der nach Westen zu ziehenden Wolkenwand hervor. Und nun erblickte Karl auch gerade vor sich zwei an einer gestrüppfreien Stelle liegende menschliche Körper, von denen der eine sich halb aufgerichtet und auf den Arm gestützt hatte. Seine vorzüglichen Augen ließen ihn sofort die beiden Kanaken von der Wilhelminje erkennen, die ja auch damals bei der ersten Fahrt nach dem Piratenhafen beim Ausladen der Jacht hatten mithelfen müssen. Weiter erkannte er aber auch zu seinem Schreck, daß der eine der braunen Matrosen ohne Zweifel tot war, während der andere schwer verwundet zu sein schien.

Er rief den Verwundeten leise an. Der Kanake wandte matt den Kopf nach der Richtung hin, woher die Stimme gekommen war. Dann antwortete er mit einem kaum vernehmbaren: „Kleiner Tuwan (Herr), sofort fliehen. Drei Piraten noch hier. Haben uns erschossen, da kein Lösegeld für uns – Eingang zu ihrer Höhle, wo einzelne Palme –“ Er wollte offenbar noch mehr hinzufügen, sank aber plötzlich zurück, reckte noch ein paarmal wie im Krampf den Körper und war tot.

 

5. Kapitel.

Vergeltung.

Karl Holk fühlte, wie ihm jetzt ein eisiger Schauer angesichts dieser beiden Leichen über den Körper ging. Langsam kroch er wieder zurück. Sehr bald hatte er dann jedoch das Entsetzen völlig überwunden. Die letzten schlimmen Tage, die er als Krankenwärter eines mit dem Tode Ringenden durchgemacht hatte, waren für ihn insofern nützlich gewesen, als sie ihn noch selbständiger und noch reifer in jeder Beziehung hatten werden lassen. Er überlegte kurz, ob er nun nach der Höhle und zu Ankerström zurückkehren sollte, entschied sich dann aber doch für einen sofortigen Versuch, wenigstens festzustellen, wie man in die den Piraten als Beutestapelplatz dienende Grotte, in der er jetzt sowohl die Wächter als auch die weißen Gefangenen vermutete, hineingelangen könnte. Er wollte dem Baron beweisen, daß er auch allein sehr wohl imstande wäre, etwas Zweckdienliches auszukundschaften.

Er war überzeugt, daß die Wächter jetzt kaum die Höhle verlassen würden und daß es von ihm durchaus nicht leichtsinnig wäre, den Eingang zu der Piratengrotte, von dem er sich bis jetzt fern gehalten hatte, eingehender zu untersuchen. Wo dieser sich ungefähr befand, wußte er. Das Loch in der Ufersteilwand war ja noch an mehreren Abenden erleuchtet gewesen. Er nahm an, daß diese natürliche Tür sehr wahrscheinlich durch Felsstücke und Steine bis zur Unkenntlichkeit verbaut sein würde. Sehr bald aber mußte er nun, an der Felsmauer entlangkriechend, zu seiner Enttäuschung und nicht geringen Beunruhigung bemerken, daß die Piraten den Zugang so gut zu verbergen gewußt hatten, wie er dies kaum für möglich gehalten hätte. Überall schien sich die steile Uferwand als Ganzes gleichmäßig fortzusetzen. Nirgends war auch nur die geringste Spur eines künstlich verstellten Loches wahrzunehmen, obwohl doch des sterbenden Kanaken Hinweis auf die einzelne Palme, die tatsächlich dort wuchs, wo nach des Jungen Erinnerung die Öffnung liegen mußte, das genau zu untersuchende Stück der Steilwand auf einige zehn Meter beschränkte.

Karl war völlig ratlos. Wenn er nicht mit eigenen Augen die erleuchtete Grottenpforte so und so oft gesehen hätte, würde er allen Ernstes daran gezweifelt haben, daß es hier ein doch etwa anderthalb Meter hohes und fast ebenso breites Loch geben könnte. So aber sagte er sich, daß die Piraten eben eine Steinplatte sorgfältig zugehauen haben müßten, die genau in die Öffnung hineinpaßte. Die Felswand war ja auch nicht etwa vollständig glatt, hatte vielmehr überall kleinere und größere Unebenheiten und auch zahlreiche Risse und Spalten. All dies erschwerte das Suchen nach der Steintür ungemein, zumal noch bei dieser schwachen, nächtlichen Beleuchtung.

Er wollte daher für heute dieses nutzlose Mühen auch schon aufgeben, als er mit einem Mal gerade vor sich ein Geräusch hörte, das aus dem Innern der riesigen Ufermauer hervordrang. Mit einem Satz war er hinter der kaum zwei Schritt entfernten Palme, an deren Fuße verschiedene niedrige Sträucher wuchsen. Er duckte sich dahinter zusammen und erwartete pochenden Herzens, was nun folgen würde.

Jetzt vernahm er ein Kreischen wie von schlecht geölten Türangeln; dann Stimmen – malaiische Worte! Und nun bewegte sich ein Teil der Uferwand langsam nach innen, klappte wie ein Tor auf, und heraus traten drei Malaien, alles ältere Leute. Einer von ihnen trug eine Laterne, die er in der Grotte auf eine Kiste stellte.

Die drei blieben dicht vor dem Eingang stehen und unterhielten sich. Karl verstand einige Brocken malaiisch. So konnte er den Reden der Piraten entnehmen, daß sie über die Erschießung der beiden Kanaken zumeist geradezu abscheulich rohe Bemerkungen austauschten. Der eine meinte, man hätte auch gleich die Weißen mit abtun sollen. „Sie sind uns nur eine Last!“ erklärte er wütend. „Wir müssen sie füttern und bewachen. Wie wär’s, wenn wir ihnen Kirapawu (ein Giftkraut) unter das Essen mengten? Lösegeld werden sie ja doch nicht zahlen.“

Karl war plötzlich ein besonderer Gedanke gekommen. Mit größter Behutsamkeit schlich er hinter der Palme hervor und kroch auf das offene Tor zu. Er durfte dies ganz ruhig wagen, denn die drei Piraten waren jetzt langsam nach dem Buchtufer weitergegangen. Nun war er in der Höhle, nun packte er mit aller Kraft die mächtige Steinplatte, die hier die Tür vorstellte, und drückte sie zu. Die Angeln kreischten wieder. Draußen hörte er lautes Rufen. Da schnappte auch schon mit hellem metallischen Ton der Riegel des großen Schlosses ein. Über diesem befand sich noch ein zweiter. Karl schob ihn zu. Nun war er sicher, daß die drei nicht mehr hereinkonnten, nun nahm er die Laterne und lief den breiten, geradeaus führenden Felsengang entlang, nun öffnete sich dieser zu einer großen Grotte. Und hier hörte der Junge sofort das Brandungsgeräusch des Meeres so deutlich, daß er sich sofort sagte, diese Höhle müßte nach der See hin verschiedene Öffnungen haben.

Sehr bald hatte er dann auch in einer Ecke eine Art Holzverschlag mit einer schweren Bohlentür gefunden, die von außen durch zwei Riegel versperrt war. Hastig riß er sie auf. Der Lichtschein der Laterne fiel drinnen auf die Gestalten von vier Männern. Enge Eisenbänder lagen ihnen um die Handgelenke, und dünne Ketten liefen von diesen nach starken Eisenklammern in den dicken Wandbrettern.

„Karl – Karl Holk?!“ rief eine heisere Stimme mit ungläubigem Staunen. – Es war der kleine Kapitän Kaspar Bewenhook.

Wenige Minuten später hatte der Junge mit einem Beil die Eisenkrampen losgehauen. Die Handschellen waren verschlossen und so schnell nicht aufzubrechen. Das schadete nichts. Kaum konnten die Gefangenen sich frei bewegen, kaum hatte ihnen Karl seine letzten Erlebnisse erzählt, als Baron Oskar Ankerström ihm den einen Revolver abnahm und einer der Deutschen den anderen. Diese beiden Männer, erfüllt von furchtbarem Grimm gegen die Piraten, die von der Besatzung und den Passagieren der Antwerpen nur den Baron, Dirksen und Scholz am Leben gelassen hatten, eilten, ihre Ketten nachschleppend, zum Eingang hin. Dort erschöpften sich die draußen stehenden Malaien noch immer in Drohungen. Nun ging plötzlich die Steintür auf, nun – drei – vier – sechs Revolverschüsse, drei Todesschreie. –

Einer der Malaien hatte den zu den Handschellen passenden Schlüssel bei sich. So konnte denn Baron Oskar Ankerström sofort den Knaben nach der kleinen Insel und dem Kegelfelsen völlig unbehindert begleiten. Das Wiedersehen zwischen den Brüdern zeigte so recht, wie sehr sie aneinander hingen. Daß Karl Holk dann nicht nur von den beiden Schweden, sondern auch von den übrigen als kleiner Held gefeiert wurde, war durchaus wohlverdient.

Am Morgen nach diesen wichtigen Ereignissen wurde in der Grotte der Piraten, wohin man den Baron Axel alsbald geschafft hatte, da die dort vorherrschende, durch die Spalten der Felswand eindringende Seeluft seine schnellere Kräftigung erwarten ließ, ein Kriegsrat abgehalten. Es handelte sich dabei um die Frage, wie man sich am besten der Jacht, deren Rückkehr nach einer Andeutung Machados in etwa drei Wochen zu erwarten stand, bemächtigen könnte, die man ja zur Rückkehr in bewohnte Gegenden notwendig brauchte. Bei dieser Beratung enthüllte nun auch Kapitän Bewenhook seine Beziehungen zu dem Piratenführer. – Machado war einst, noch bevor er mit seiner Motorjacht „Lissabon“ Seeraub zu betreiben begonnen hatte, in ernsteste Lebensgefahr geraten, aus der ihn Bewenhook ohne Rücksicht auf seine eigene Sicherheit befreit hatte. So war zwischen den beiden sonst recht ungleichen Männern eine Freundschaft zustande gekommen, der allein der alte Holländer es vor nunmehr drei Monaten zu verdanken gehabt hatte, daß Machado ihn, der mit seiner Wilhelminje gerade dazugekommen war, als die Jacht den Dampfer Antwerpen gekapert hatte, am Leben ließ, während die übrige Besatzung der Wilhelminje das Schicksal der meisten Leute der Antwerpen teilte. Bewenhooks kleiner Dampfer, der seinen ganzen Reichtum ausmachte, wurde dann mit Hilfe einiger Malaien in einen nahen Hafen gebracht, wo der alte Kapitän zu Protokoll gab, ihm wäre seine Mannschaft unterwegs an einer einsamen Küstenstelle davongelaufen. Machado hatte ihm ein feierliches Versprechen abgenommen, nichts von alledem, was er über die wahre Bestimmung der Lissabon nunmehr wußte, zu verraten. Er hatte diese Zusage auch getreulich gehalten, war dann aber doch einmal mit der Wilhelminje absichtlich an jenem Vorgebirge mit den zwei Palmen vorübergedampft, um sich davon zu überzeugen, ob die Piraten an dieser Stelle, wo der Überfall auf die Antwerpen stattgefunden hatte, den Dampfer dann auch versenkt hätten. So kam es, daß er die nur wenig aus dem Wasser herausragenden Mastspitzen und den Schornstein der Antwerpen unauffällig mit Hilfe des Fernglases erspähte und nachher in der Lage war, den Baron Axel an die Liegestelle des Wracks zu führen.

Bei dem Kriegsrat wurde beschlossen, zumal man in der Grotte reichlich Waffen aller Art und Munition gefunden hatte, sich der Jacht gewaltsam durch einen überraschenden Angriff zu bemächtigen, sobald ein Teil der Piraten die Grotte betreten haben würde. – Dieser Plan konnte dann aus dem einfachen Grunde nicht ausgeführt werden, weil bereits nach drei Tagen ein niederländischer Kreuzer in Sicht kam, den man durch Rauchsignale schnell herbeirief und von dessen Kommandanten man erfuhr, daß es mit dem Piratenhandwerk der Jacht ein für alle Mal vorbei wäre. Die Lissabon war nämlich endlich bei einem neuen Überfall auf einen spanischen Dampfer an den Unrechten gekommen. In einem wütenden Kampf zwischen der Besatzung des Spaniers und den Malaien hatten diese den kürzeren gezogen. Machado und sein Neffe Alvaro waren gefangen genommen worden und hatten in der Hoffnung, mildere Richter durch ein offenes Geständnis zu finden, angegeben, wo der Schlupfwinkel der Jacht zu suchen sei, und auch daß dort mehrere Weiße als Gefangene zurückgehalten würden. Ihr Leben konnten sie hierdurch doch nicht retten. Sie wurden später wegen Seeraubes gehängt.

Die Brüder Ankerström blieben noch einige Zeit in Batavia. Ihren guten Beziehungen zu den englischen Kolonialbehörden gelang es dann, die Freilassung des Vaters Karl Holks durchzusetzen, so daß der wackere Junge sehr bald ein glückliches Wiedersehen mit seinen Eltern feiern durfte. Der alte Kapitän Bewenhook pendelt noch immer mit einer Wilhelminje zwischen den Küstenorten der Sundainseln hin und her, – aber mit einer neuen Wilhelminje, die er sich dank der Freigebigkeit der Brüder Ankerström hat anschaffen können.

 

Druck P. Lehmann G. m. b H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Hilfsmitteln“.
  2. In der Vorlage steht: „beherbergen“.
  3. In der Vorlage steht: „mich“.