Walther Kabel
Kriminal-Roman
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26.
Folgendes ereignete sich in Berlin am 2. Mai 1923 vormittags.
In der Goldankaufstelle von Siegfried Rubiner, Bülowstraße 211, standen vor dem Ladentisch eine dicht verschleierte Dame und ein schlanker, bartloser Herr mit blassem Gesicht.
Hinter dem Ladentisch sagte Herr Rubiner zu dem Blassen, dessen Kleidung eine gewisse fadenscheinige Eleganz zeigte:
„Einen Ausweis haben Sie doch bei sich?“
„Gewiß. Hier ist meine polizeiliche Anmeldung.“
„Danke. Das genügt“
Der Blasse hatte seine goldene dünne Panzeruhrkette zum Verkauf angeboten. Sie war von Rubiner gewogen und auf 98 500 Mark geschätzt worden. –
Rubiners Gattin beschäftigte sich mit der Verschleierten, die eine Brosche mit drei Brillanten von ihrer Bluse losgehakt und dazu leise gesagt hatte:
„Die Steine sind fehlerfrei. Ich war bereits in drei anderen Ankaufsstellen. Man bot mir jedoch nicht so viel, wie ich erwartet hatte. Ein Herr empfahl mir Ihre Firma.“
Sie sprach das Deutsche fließend, aber doch mit etwas fremdem Akzent und sehr langsam, so, als ob sie einige Worte erst suchen müßte.
„Eine Ausländerin,“ dachte der Blasse. –
Herr Rubiner schob seiner Frau die polizeiliche Anmeldung hin und nahm ihr die Brosche ab.
„98 500,“ meinte er kurz.
Frau Rubiner füllte die vorschriftsmäßige Quittung aus. – Die Dame hatte gute Augen. Sie konnte die auf dem Ladentisch liegende Anmeldung unschwer entziffern, obwohl das Papierblatt verkehrt lag:
Bernhard Birk, Dr. phil., Privatlehrer, 35 Jahre,
Halensee, Patroklusstraße 3 bei Degner.
Frau Rubiner wieder hatte ein sehr gutes Gedächtnis. Sie blickte zu dem Blassen auf und sagte mit gewissem Mitgefühl:
„Sie waren doch schon zweimal hier, Herr Doktor. Bitte, nehmen Sie die Anmeldung nur zurück. Ich kenne Sie.“
Bernhard Birk erwiderte voll Bitterkeit:
„Ja – ich bin hier Kunde, wie alle, die noch etwas zu verkaufen haben und hoffen, es könnten wieder bessere Zeiten kommen.“
Er legte die Anmeldung in seine abgeschabte, mit Zwirn geflickte Brieftasche zurück. Er war einen Schritt mehr nach rechts getreten, näher an die Verschleierte heran, und spürte deren zarten Parfümduft nun deutlicher.
Die Dame war kurz nach ihm in den Laden gekommen. Er hatte sie bisher kaum beachtet, hatte sie nur einmal flüchtig gemustert und festgestellt, daß ihre ganze Erscheinung überaus vornehm wirkte. –
Siegfried Rubiner hatte inzwischen am Schaufenster die drei Brillanten der Brosche durch die Lupe geprüft und kam nun wieder hinter den Ladentisch.
„Eine Million!“ sagte er mit fragendem Blick zu der Dame. „Die Steine sind zu klein. Der eine ist etwas eingeplatzt –“
Hinter dem weißen gestickten Schleier erklang ein ärgerliches Auflachen.
Rubiner legte schnell zu. „Eine Million zweimalhunderttausend Mark – das äußerste Gebot.“ –
Birk steckte sein Geld ein, nachdem er seinen Namen unter die Quittung gesetzt hatte. Mit einem „guten Morgen“ verließ er das Geschäft. Ein zweiter Blick streifte die Dame. Das Parfüm hatte in Birks Erinnerung zauberhaft schöne Bilder kurz aufleben lassen. Genau vor zehn Jahren war er als Erzieher des Sohnes des Grafen von Hackfeld-Gürzen mit seinem damals sechzehnjährigen Zögling im Orient gewesen. Die Reise hatte beide bis Indien geführt. In einer Basarstraße in Kolombo auf Ceylon bot ihnen ein Chinese ein Achatfläschchen mit demselben Parfüm an. Der junge Graf hatte es auch gekauft, um es seiner Mutter mitzunehmen. –
Birk schritt die Bülowstraße hinab. Er hinkte etwas, stützte sich auf seinen Stock und verzog zuweilen schmerzlich das Gesicht.
Der rechte Fuß setzte ihm sehr zu. Bisher hatte er sich der Kosten wegen davor gescheut, einen Arzt aufzusuchen. Er hatte den Fuß selbst behandelt. Aber die merkwürdigen roten Flecken auf der Fußsohle verschwanden nicht. Der Fuß war leicht geschwollen. Morgens konnte Birk den Stiefel erst anziehen, nachdem er den Fuß eine halbe Stunde gekühlt hatte.
Langsam wanderte er bis zur Augsburger Straße. Hier wohnte sein Verbindungsbruder, der praktische Arzt Doktor Leeberg, der jetzt unter der Not der Zeit genau so zu leiden hatte, wie Birk selbst.
Leeberg war daheim.
„Nett von Dir, alter Junge, daß Du Dich mal wieder sehen läßt,“ begrüßte er den Studienfreund. „Na – schon eine Anstellung gefunden?“
Dann bemerkte er, daß Birk hinkte.
„Hallo – Fuß verknaxt, Berd?“
Und er faßte Birk unter und führte ihn in sein Sprechzimmer.
„Die beiden Hinterzimmer haben wir jetzt nämlich vermietet,“ erklärte er stets in demselben burschikosen Ton. „An ein amerikanisches Ehepaar, mein Junge, – seit acht Tagen – mit Morgenkaffee und Abendbrot. Die Gefahr des Verhungerns ist abgewendet, und Toni braucht nicht mehr Jumper zu stricken.“
Sorgsam geleitete er Birk bis zum Diwan.
Birk schaute Leeberg kopfschüttelnd an. „Wer doch Dein glückliches Temperament hätte! Wo nimmst Du nur den Lebensmut her?!“ Er blickte zu Boden. „Ich habe soeben mein letztes Wertstück, meine Uhrkette, verkauft, um Dich konsultieren und noch drei bis vier Wochen mich weiter durchstümpern zu können.“
Rochus Leebergs schmißdurchfurchtes frisches Gesicht verzog sich finster.
„Um mich konsultieren zu können!“ wiederholte er wütend. „Ja – bist Du denn verrückt, Junge?“
Er japste förmlich nach Luft. „Denkst Du, ich werde Dir Geld abnehmen, Du?! Ich – Dir?! Mensch, hat der Dalles Dich denn bereits für ein sogenanntes Sanatorium reif gemacht?!“
„Hm – und denkst Du, Rochus, ich würde zu Dir als Patient ohne Geld kommen, wo Du noch verheiratet und Vater eines dreijährigen Buben bist?!“
Leeberg lachte. „Bei Gott, Du bist übergeschnappt – total! – Runter mit dem Stiebel!“
Birk gehorchte schweigend. Etwas von der unentwegten Frische des Freundes teilte sich auch ihm mit. Die Bitterkeit, die Gedanken an die trostlose Zukunft zerflatterten.
Leeberg besichtigte den Fuß.
„Donnerwetter, Junge, wo hast Du Dir denn das geholt?! Das sieht ja ziemlich böse aus. – Seit wann haben sich diese Hautrötungen gezeigt?“
„Seit etwa zwölf Tagen.“
„Stimmt, als Du vor vierzehn Tagen zum letzten Male bei uns warst, waren Deine Pedale noch in Ordnung.“
Er zog einen Stuhl an den Diwan und setzte sich, nahm eine elektrische Lampe und beleuchtete die Fußsohle.
Wieder murmelte er ein „Donnerwetter!“ vor sich hin.
„Um was handelt es sich eigentlich?“ meinte Birk zaghaft.
Leeberg stellte die Lampe weg, setzte sich wieder.
„Ich möchte Dich einiges fragen,“ sagte er sinnend. Sein Gesicht war ernst geworden. „Seit wann besitzt Du diese braunen Schnürschuhe?“
„Seit einem Jahr,“ erwiderte Birk erstaunt.
„Und Du trägst sie häufig?“
„Seit drei Wochen täglich. Ich habe nur noch dies Paar Schuhe.“
Leeberg hob den Schnürschuh vom Teppich auf und trat damit ans Fenster. Er drehte ihn hin und her, schüttelte den Kopf und brummte: „Es müßte also gerade zwischen der alten Sohle und der aufgenagelten Gummisohle stecken!“
Er wandte den Kopf. „Du gestattest wohl, Berd, daß ich die Gummisohle mal abreiße.“
„Wenn es sein muß! – Aber der Stiefel paßt tadellos, Rochus.“
Rochus Leeberg sagte nichts, sondern ging mit dem Schnürschuh in die Küche, wo Frau Toni am Fenster an der Nähmaschine saß und für ihren Jungen einen Anzug nähte.
„Tonerl,“ meinte Rochus und strich ihr über das aschblonde Haar, „der Berd ist da. – Eine sehr merkwürdige Geschichte!“
Er begann zu flüstern.
Frau Toni blickte ihn erschrocken an. „Und Du glaubst, es steckt zwischen den Sohlen?“
„Wo sonst, Tonerl?!“ Er kramte in dem Handwerkskasten, stellte einen Dreifuß aus Gußeisen auf den Küchentisch und löste vorsichtig mit einer Zange und einem schmalen schartigen Stemmeisen die Gummisohle los.
Frau Toni war aufgestanden, schaute zu.
„Nichts!“ sagte Rochus enttäuscht, der nun die elektrische Deckenlampe angeknipst hatte, um besser sehen zu können. „Da – keine Spur, Tonerl! Nur Staub! Der Teufel mag daraus klug werden!“
„Fluche doch nicht, Rochus,“ mahnte Frau Toni lächelnd.
„Du – die Sache ist verdammt ernst, Du solltest nur mal die Fußsohle sehen! Aber – wir werden schon dahinter kommen!“
Er nagelte die Sohle wieder auf. Er besaß einige Fertigkeit darin.
„So – nun werde ich dem guten Berd weiter auf den Zahn fühlen. Wiedersehen, Tonerl –“
Er gab ihr einen Kuß, der genau so schmeckte, als ob Leebergs erst ein paar Monate und nicht bereits vier Jahre verheiratet wären. –
Berd Birk lag noch auf dem Diwan. Als Leeberg eintrat, rief er etwas ungeduldig:
„Erkläre mir doch wenigstens, weshalb –“
„Stopp! Stopp, mein Junge.“ Er nahm auf dem Stuhle wieder Platz. „Ich habe Dich noch einiges zu fragen. – Wann sind die Schmerzen am stärksten?“
„Morgens nach dem Aufstehen. Wenn ich den Fuß dann eine Weile kühle, geht die Schwellung zurück.“
Rochus Leeberg stützte das Kinn in die linke Hand und schaute den Freund gedankenverloren an.
„Und die Rötungen zeigten sich erst nach Deinem Einzug bei dem alten Bildhauer?“ forschte er nach einer Weile aufs neue.
„Ja. Zwei Tage nach meinem Einzug.“
„Wachst Du nachts über den Schmerzen auf?“
„Sehr häufig.“
„Hm – ziehe doch auch den andern Schuh aus.“
„Das dürfte kaum nötig sein, Rochus. Die linke Fußsohle ist nur ganz wenig angegriffen.“
„Ah – also doch angegriffen! – Behalte den Schuh an. Das genügt mir.“
Er stand auf und ging langsam hin und her, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf gesenkt.
Und blieb wieder vor dem Diwan stehen.
„Ich möchte mir mal Deine neue Bude ansehen, Berd.“
„Du wirst Deine Freude haben: getünchte Wände, uralter Hausrat – armselig!“
Rochus zuckte die Achseln. „Besser als bei Mutter Grün wird das Quartier wohl sein.“
Birk hatte sich aufrecht gesetzt. „Würdest Du mir nicht endlich erklären, um was für ein Leiden es sich handelt?“ meinte er zögernd. „Du kannst Dir wohl denken, wie sehr mich die Schmerzen –“
„Glaub’ ich gern, armer Kerl. – Ich weiß selbst noch nicht genau, was es ist. Trifft meine Vermutung aber zu, so dürftest Du sehr bald wieder völlig hergestellt ein.“
– – – – – – – –
Die Freunde fuhren mit der Straßenbahn bis zur Halenseer Brücke, stiegen aus und wanderten die Ringbahnstraße hinab. Rochus Leeberg stützte Birk, hatte ihn wieder untergefaßt und suchte ihn durch humorvolle Schilderungen seiner bisherigen Notlage abzulenken. Birk mußte ihm auch von seinen Bemühungen erzählen, sich irgend eine Anstellung zu verschaffen, und vergaß wirklich über alledem Leebergs immerhin etwas seltsames Benehmen gegenüber diesem Krankheitsfall. – Birk war bis zum 1. März Lehrer an einer Privatschule in Stettin gewesen. Die Schule war aufgelöst worden, und Birk sah sich plötzlich dem Nichts gegenüber. Lehrkräfte gab es im Überfluß. Ein Staatsexamen hatte er nie abgelegt. Er war zumeist Erzieher in reichen Häusern gewesen. Da er in Berlin leichter irgendwo unterzuschlüpfen hoffte, hatte er Stettin verlassen, war am 2. April nach Berlin gekommen und hatte dann endlich bei dem Bildhauer Degner in der völlig abgelegenen Patroklusstraße ein billiges Zimmer gefunden. –
Die Freunde schritten jetzt zwischen hohen Bretterzäunen von Kohlenlagerplätzen und Holzhandlungen auf der hier ungepflasterten Patroklusstraße dahin. – Es war ein schwüler Vormittag. Der Himmel, dicht bewölkt, drohte mit Regen.
Dann eine freie Stelle zwischen den Zäunen, ein Schuttabladeplatz[1], und nun rechter Hand ein weißes, einstöckiges Häuschen, daneben eine Bretterbude mit leicht geneigtem Glasdach. In dem verwahrlosten Vorgarten mit dem windschiefen Drahtgitterzaun standen eine Menge Grabkreuze, Grabsteine, kniende Engel und die Riesenfigur eines grimmen Ebers. Der die Vorderfront des Häuschens umrankende wilde Wein hatte erst kleine Blättchen. Hinter dem seltsam romantisch wirkenden weißen Häuschen ragten die Wipfel von vier alten Linden über das Dach. –
Rochus Leeberg war stehen geblieben.
„Sollte man’s glauben, daß es so etwas in unserer nüchternen Jammerzeit noch gibt!“ meinte er erstaunt. „Eigentlich bist Du um dieses Heim zu beneiden!“
„Ich danke!“ Und Birk humpelte auf die offene Gartenpforte zu, öffnete die unverschlossene Haustür und wurde von Degners Wolfshund Hasso mit freudigem Kläffen empfangen.
Auch Degner erschien im Flur – ein weißbärtiger Mann mit einem ehrwürdigen Greisengesicht, lebhaften, noch jungen Augen und einem weltschmerzlichen Zug um den Mund.
Birk stellte ihm den Freund vor. Der Alte reichte Leeberg die Hand.
„Wir vertragen uns gut, der Doktor und ich,“ sagte er mit einem trüben Lächeln. „Wir lernen einer vom andern, wie man mit wenig Geld doch satt wird.“
Leeberg nickte. „Das Rezept möchte auch ich haben, Herr Degner. Ich bin Arzt – ohne Patienten! Eigentlich gehören wir ja verwandten Berufen an. Ich kuriere die Leute ins Grab, und Sie sorgen für die Grabsteine. Na – unseren Freund Birk wollen wir noch ein paar Jährchen schonen, obwohl er seines Fußes wegen mit einem Gesicht herumläuft wie ein Todeskandidat.“
Der alte Bildhauer blickte Leeberg forschend an.
„Die Sache ist also unbedenklich, Herr Doktor?“
„Wahrscheinlich. – Sagen Sie mal, Herr Degner, hatten Sie schon einmal das Hinterzimmer vermietet?“
„Ja –“ – Das klang etwas unsicher.
„An wen denn?“
„An – an einen älteren Amerikaner –“
Birk mischte sich ein. „Das erwähnte ich doch schon unterwegs, Rochus.“
„Laß nur! Wann zog der Amerikaner aus?“
„Hm – am – am zehnten April.“
Degner hatte die Tür zu dem linken Vorderzimmer weit offen gelassen. Der Lichtschein traf sein Gesicht von der Seite. Leeberg sah, daß der Alte sehr rot geworden war. Er wollte jedoch vorsichtig sein. Daß hier mit diesem Amerikaner irgend etwas nicht stimmte, davon war er bereits überzeugt.
Er wandte sich an Birk. „Na – dann zeige mir nun mal Dein Reich, mein Junge. Wiedersehen, Herr Degner.“
Birk stieß die zweite Tür rechter Hand auf.
„Bitte, Rochus –“
Doktor Leeberg blieb mitten in dem zweifenstrigen Zimmer stehen. Birk hatte nicht zuviel gesagt: armselig.
„Rochus!“ meinte Birk leise, „hattest Du nicht auch den Eindruck, daß der alte Mann nicht gern über den vorigen Mieter spricht?“
Leeberg nickte. „Sehr sogar!“ – Dann deutete er auf das uralte Bett aus dunkelgelb gebeiztem Birkenholz mit den schwarzen verschnörkelten Einlagen. „Dort schläfst Du also, Berd?“
„Ja – wo sonst?!“ Und Birk schüttelte verwundert den Kopf. Er wurde aus Leeberg heute nicht klug.
Rochus trat an das Bett heran.
„Wo liegst Du mit den Füßen – nach welcher Seite?“ fragte er nach einer Weile.
„Nach der Wand zu –“
Leeberg drehte sich um. „Also nach der Wand zu?! Das Kopfende steht doch aber an der Wand.“
„Ich liebe es, daß mich die Morgensonne weckt,“ erklärte Birk etwas widerwillig. Und fügte lebhafter hinzu: „Du – was soll das alles?“
Rochus blickte wieder auf das Bett. „Hole mir doch bitte ein Glas Wasser, recht kalt, frisch aus der Leitung.“
Birk verließ das Zimmer. Er traf den alten Bildhauer in der Küche, wo dieser Kartoffeln schälte. Als Birk das Glas unter der Leitung gefüllt hatte, fragte Degner unvermittelt:
„Ihr Freund ist wirklich Arzt, Herr Birk?“
„Ja. Wir sind Studienfreunde und Verbindungsbrüder, der Rochus Leeberg und ich. Ich erzählte Ihnen ja bereits, daß Leeberg hier in Berlin mein einziger Bekannter ist.“
„Richtig – ich entsinne mich. Er wohnt Augsburger Straße.“
Birk kehrte in sein Zimmer zurück. Degners Frage, ob Leeberg „wirklich“ Arzt sei, hatte ihn stutzig gemacht.
Rochus stand am Fenster. Als Birk eintrat, steckte er rasch etwas in die Westentasche.
„Stell’ das Glas nur weg,“ sagte er und winkte dem Freunde. Sein Gesicht verriet eine Erregung, die dieser sich nicht erklären konnte.
„Was gibt’s, Rochus?“ flüsterte Birk ganz atemlos. „Dein Gesicht –“
„Hast Du eine Flaschenstaniolkapsel da?“ unterbrach Leeberg ihn. „Wenn nicht, suche bei Degner danach. Besser ist aber, Du bemühst den Alten nicht.“
Birk stand mit hängenden Armen vor dem Freunde. Seine blassen, eingefallenen Wangen röteten sich.
„Was – was soll das alles?“ stieß er hervor.
Leeberg blieb ungerührt durch den heftigen Ton. „Hast Du ein Stück Flaschenstaniol oder nicht?“
Birk biß sich auf die Lippen. „Du behandelst mich wie einen –“
Da legte Rochus ihm plötzlich beide Hände auf die Schultern. In seinen Augen kam ein besonderes Leuchten.
„Mein Junge, die Geschichte hier ist gefährlich,“ flüsterte er eindringlich. „Damit Du es weißt: Deine Rötungen an den Fußsohlen rühren von Radiumbestrahlung her. Du kennst wohl die Wirkungen dieses Rätselstoffes. Die Radiumstrahlen erzeugen auf der Haut brandblasenähnliche Entzündungen. Chemiker, die unvorsichtig mit Radium experimentieren, haben schon oft die Hände sich abnehmen lassen müssen.“
Bernhard Birk war zusammengezuckt. Sein Hirn arbeitete blitzartig, – blitzartig reihten sich die hastenden Gedanken aneinander.
Und – Bernhard Birk war kein weltfremder, unpraktischer Mensch! Im Gegenteil: er hatte das Leben bis vor kurzem lieb gehabt, hatte es mit vollen Zügen genossen, war ein Lebensbejaher gewesen.
Alles begriff er jetzt – alles!
„Also deshalb nahmst Du die Gummisohle ab,“ flüsterte er nun. „Deshalb Dein Interesse für das Bett! Du hast Radium gefunden.“
„Ja – hinter einem Plättchen der schwarzen Holzeinlagen war es versteckt, ein winziges Kügelchen, eingehüllt in ein Stückchen schwarze Seide, – am Kopfende, dort, wo Du mit den Füßen liegst –“
Birk blickte nach rechts – nach dem Bett hinüber.
„Und – und ich pflege mit hochgezogenem linken Bein zu schlafen,“ sprach er wie zu sich selbst mit tonloser Stimme. „Daher wurde auch der rechte Fuß stärker bestrahlt.“ – Er drehte den Kopf zurück, schaute Leeberg in die Augen. „Glaubst Du, daß – daß Degner etwa mir – mir schaden will?“
Rochus ließ die Hände von Birks Schultern sinken.
„Das weiß ich nicht, mein Junge –“
„Degner fragte mich soeben in der Küche, ob Du wirklich Arzt seist? – Das machte ganz den Eindruck, als hielte er Dich für etwas anderes – für einen Mann, der hier vielleicht spionieren wollte.“
Jetzt zeigte es sich, daß Berd Birk doch der geistig Regsamere war. Leeberg vermochte ihm auf diesen Gedankenwegen nicht so schnell zu folgen. Die Rollen waren mit einem Male vertauscht. Bisher hatte Leeberg die Dinge vorwärtsgetrieben. Nun tat es Birk.
„Spionierens?“ fragte Leeberg gedehnt.
„Ja – des Amerikaners wegen. Degner hat auch mir über diesen Mr. Thomas Wellerhouse stets sehr dürftige Auskunft gegeben. Ich hatte das Gefühl, er wollte über den Mann sich nicht näher äußern. Und vorhin wurde der Alte rot, als Du ihn fragtest, wann der Amerikaner ausgezogen sei.“
„Ah – Du hast es ebenfalls bemerkt! Stimmt – er wurde rot.“
„Vielleicht ist Wellerhouse überhaupt nicht ausgezogen, Rochus –“
Der junge Arzt hielt den Atem an.
„Du glaubst, daß –“
„Ich weiß, daß Wellerhouse polizeilich nicht gemeldet war. Er hat hier seit Dezember 1922 gewohnt. Degner sagte mir, er habe die Mietsteuer sparen wollen. Er wohne hier ja so einsam, daß es gar nicht an die Öffentlichkeit dringen könne, wenn er vermiete. Auch mich hat er nicht anmelden wollen. Ich bestand jedoch darauf.“
„Ob etwa Degner tatsächlich das Radium dort in der Kopfwand verborgen hat?“ fragte Rochus nachdenklich.
„Das möchte ich nun doch verneinen.“ Berd Birk war jetzt ein ganz anderer als vorhin. Die Geheimnisse, denen Leeberg hier auf die Spur gekommen war, regten ihn an. Die Sorgen waren vergessen. „Was für ein Interesse sollte der Alte daran haben, mich gesundheitlich zu schädigen?“ fügte er hinzu. „Ich kam ganz zufällig auf einem Spaziergang hier vorüber. Degner flickte gerade den Gartenzaun aus. Ich bat um ein Zündholz für meine Zigarre. Im Laufe des Gesprächs klagten wir uns gegenseitig unser Leid. Dann bot er mir das Zimmer an. – Nein, offen gesagt, Rochus, ich traue dem Alten eigentlich nichts Schlechtes zu. Er hat ein gütiges Herz. Wir führen gemeinsame Wirtschaft, essen zusammen. Er spielt den Koch. Ich bezahle mit voller Verpflegung dreißigtausend Mark monatlich. Das ist sehr wenig.“
„Allerdings,“ nickte Leeberg sinnend. „Und doch – der Mann hat kein reines Gewissen.“
„Nein – da gebe ich Dir recht. Das hat er nicht.“
Leeberg faßte in die Westentasche.
„Hast Du Staniol, Gerd? Ich möchte das Radiumkügelchen doch lieber in Staniol wickeln samt dem Seidenstoff. Staniol, also Blei, läßt die Radiumstrahlen als einziges nicht durch. Holz, Glas, Papier, Eisen – nichts widersteht ihnen. Ein unheimliches Element, das Radium –“
Birk kramte in der Waschtischschublade. „Bitte – das wird wohl genügen.“
„Ja – das genügt –“
– – – – – – – –
Draußen im Flur bimmelte die Zugglocke.
Die Freunde horchten. Degner schlurfte durch den Flur.
Hasso bellte.
Dann nahten die schlurfenden Schritte Birks Zimmertür. Es klopfte. Auf Birks „Herein!“ reichte Degner seinem Mieter einen Brief zu.
„Ein Dienstmann gab ihn ab, Herr Birk –“
Des Alten große Augen musterten Rochus Leeberg wie in stillem Argwohn. Dann zog er sich zurück.
Birk blickte den Brief verwundert an. Es war ein Umschlag von Büttenpapier, sehr großes Format. In Rundschrift stand da Birks genaue Adresse:
Herrn Doktor phil. Bernhard Birk,
Privatlehrer,
Halensee,
Patroklusstraße 3 bei Degner.
Birk drehte den Brief kopfschüttelnd um. Die Briefklappe trug drei Siegel. Als Petschaft war eine Münze benutzt worden.
„Rundschrift – wie gedruckt!“ meinte er.
Leeberg hatte ihm über die Schulter geschaut. „Also schwer zu sagen, ob das ein Mann oder ein Weib geschrieben hat –“
Birk schnitt den Umschlag auf, zog den einmal gefalteten Bogen desselben Büttenpapiers heraus, und – ein Fünfzigtausendmarkschein flatterte auf die gescheuerten Dielen.
Rochus hatte sich schnell danach gebückt. „Teufel – Du hast Gönner, Berd!“ meinte er und hielt die Banknote gegen das Licht. „Echt! Ohne Frage echt! Ich gratuliere.“
Birk starrte ihn fassungslos an. „Begreifst Du das?“ sagte er leise.
„Lies das Begleitschreiben, mein Junge!“
Nun – dieser Brief klärte die Sache nur sehr wenig.
„Ich bitte Sie, heute abend um acht Uhr mich vor dem Bismarckdenkmal am Reichstagsgebäude zu erwarten. Es handelt sich um ein für Sie günstiges Geschäft. Nur täten Sie gut, niemandem etwas von dieser Verabredung mitzuteilen. Ich bin eine Frau, die großen Kummer hat. Sie könnten ihn vielleicht lindern.“
Rochus Leeberg holte tief Atem. „Donnerwetter, – ein günstiges Geschäft! Wirklich, Berd, man kann Dir gratulieren!“
Zu seinem Erstaunen sah er da, daß Birk den Briefbogen jetzt an die Nase hielt und die Luft prüfend einzog. – Dann sagte Birk:
„Bitte – riechst Du nicht auch etwas?“
Leeberg beschnupperte den Bogen. „Ja – Parfüm! Das – das duftet wie – wie –“
„– ein exotisches Parfüm! Ist es auch. Stammt aus Ceylon.“
Rochus wußte, daß Birk in Indien gewesen.
„Du hast ein gutes Gedächtnis, Berd –“
„Durchaus nicht!“ Birks Gesicht strahlte mit einem Male. „Durchaus nicht! Ich habe dieses Parfüm vor kaum anderthalb Stunden heute bereits gespürt – von einer Dame, die neben mir in der Goldankaufstelle stand und eine Brosche mit drei Brillanten anbot –“
Er schaute Leeberg blinzelnd an. „Eine elegante Dame war’s, Rochus. Und – meine polizeiliche Anmeldung, die ich als Ausweis vorzeigen mußte, lag vor ihr auf dem Verkaufstisch. Das fällt mir jetzt ein. Da kann sie meinen Namen und meine Adresse gelesen haben. Ich wette: die angeblich alte Frau mit dem großen Kummer, also die Briefschreiberin, ist diese Dame.“
Leeberg bekam Achtung vor Birks folgerichtigen Schlüssen.
„Du müßtest Kriminalbeamter werden, Berd –“
„Bin ich schon – so was Ähnliches.“ Birk reckte sich höher. „Rochus, ich werde jetzt eine Beschäftigung haben. Ich werde diese Dinge aufzuklären suchen.“
Leeberg nickte. „Würde ich auch tun, mein Junge. Wer weiß, was dahinter steckt! Es laufen da zwei Geheimnisse parallel: das Radium, der Amerikaner und der alte Degner, und dann – die Dame mit dem Ceylon-Parfüm und dem Lockmittel des Fünfzigtausendmarkscheins.“
Sie standen noch immer am Fenster.
Birks Augen wanderten jetzt nach dem Bett hin. „Zeige mir mal das Radium,“ bat er.
Leeberg wickelte das Staniol auseinander und nahm das Stückchen Seide heraus.
Birk betrachtete das unscheinbare graue Klümpchen eine Weile. „Man könnte es fälschen,“ meinte er. „Etwas fettige Brotkrume mit Zigarrenasche durchknetet ergibt etwa dasselbe Aussehen. – Warte –“ Er humpelte rasch hinaus.
Und kam mit einer mit Schmalz bestrichenen Brotschnitte zurück. „Degner glaubt, ich hätte Hunger,“ lächelte er. „So – nun werden wir das gefälschte Radium wieder hinter das Plättchen stecken. Wickele das echte in Papier, Rochus. Falls Degner wirklich der Attentäter sein sollte, muß das Stückchen Seide mit dem Pseudoradium ihm jeden Argwohn benehmen.“
„Donnerwetter! Du bist helle, mein Junge!“ lobte Leeberg. „Der Gedanke ist gut. – Ich werde das Plättchen mit der Messerklinge wieder vorsichtig herausheben. In dem Holz darunter ist eine Vertiefung.“
Nun erst sah Birk, daß das Holzplättchen in der Mitte der Kopfwand des Bettes etwa zwanzig Zentimeter über der Matratze lag. Da er im Schlaf den rechten Fuß unter dem Zudeck hervorzustrecken pflegte, mußten die Radiumstrahlen ungehindert die Fußsohle treffen. –
Rochus Leeberg verabschiedete sich dann. Die Freunde hatten noch vereinbart, daß Leeberg sich ebenfalls um acht Uhr vor dem Bismarckdenkmal einfinden sollte, ohne sich jedoch von der „alten Frau“ sehen zu lassen.
– – – – – – – –
Birk hatte den Freund bis auf die Straße begleitet. Die Sonne schien jetzt, und Hasso rekelte sich wohlig vor der Haustür.
Birks Hand kraute dem Wolfshund den Kopf. In der Tür war der alte Degner erschienen.
„Wie lange haben Sie Hasso eigentlich schon?“ fragte Birk, den Hund weiter streichelnd.
„Noch nicht lange. – Der Brief enthielt hoffentlich eine angenehme Nachricht. Haben Sie eine Anstellung gefunden? Das sollte mich freuen –“
Birks Geist war wach. – Zweierlei merkte er: Degner wich ihm auch in Bezug auf Hasso aus und wollte gern hören, was in dem Briefe stand.
„Das Schreiben war von einer bekannten Dame, einer Freundin meiner Mutter. Sie hat mir Geld geschickt.“ Er holte die Banknote hervor. „Sehen Sie – fünfzigtausend Mark! Da hätte ich meine Uhrkette nicht zu verkaufen brauchen – schade! Achtundneunzigtausendfünfhundert Mark bekam ich dafür. Nun sollen Sie auch gleich Ihr Geld haben, Herr Degner –“
Der Alte wehrte ab. „Das hat doch keine Eile. – Ja, ja, es ist wirklich schade um die Uhrkette.“
Birk zuckte die Achseln „Hin ist hin! – Wieviel haben Sie mal für Hasso bezahlt, Herr Degner?“
Der Alte blickte zur Seite. „Der Amerikaner hat mir den Hund geschenkt. Ich glaube, der Preis waren hunderttausend Mark. Er kaufte ihn aus einer Züchterei in der Chausseestraße.“
„Wellerhouse war wohl Hundeliebhaber?“
„Hm – ja, ich glaube –“
„Oder besorgte er sich Hasso zu seinem Schutz?“
Jetzt merkte Birk, daß diese Frage unvorsichtig gewesen war. Der Alte, plötzlich sehr rot im Gesicht, schaute ihn durchdringend an. In diesem Blick lag allerlei: Mißtrauen, Feindseligkeit, Ablehnung.
„Wellerhouse brauchte keinen Schutz,“ erwiderte der Greis rauh. „Hier bei mir ist nichts zu holen. Hier finden sich keine Diebe ein. Noch nie habe ich derartigen ungebetenen Besuch gehabt – noch nie! Wirklich nicht! – Jetzt muß ich unsere Kartoffeln aufs Feuer bringen.“
Er verschwand im Flur.
Birk schaute zu Hasso hinab. „Wenn Du reden könntest, Hasso!“ dachte er. „Weshalb ereiferte sich Dein jetziger Herr so sehr, als er von Dieben sprach?! Dieses letzte „Wirklich nicht!“ klang genau wie das Gegenteil.“
Birk kam ins Grübeln. Ihm fiel ein, daß Hasso nachts stets draußen im Garten gelassen wurde. Der Vorgarten zog sich zu beiden Seiten um das Häuschen bis nach hinten, wo Degner eine Menge Gemüsebeete sorgsam hegte und pflegte. Und unter einer der alten Linden stand eine große Kiste, die Hasso als Hundehütte diente. Oft genug hatte des Hundes Bellen Birk im Schlafe gestört – außer den Schmerzen am Fuße.
An anderes noch dachte Birk: an die Fensterladen die von innen mit Zinkblech benagelt waren. Dieses Zinkblech sah noch ganz neu aus. Und – an den anderen Laden fehlte es! Nur Wellerhouses Zimmer war so geschützt worden. –
Er lehnte an der Tür und blickte sinnend nach oben auf die ziehenden Wolken.
Wie seltsam: noch heute morgen war er einer von jenen Menschen gewesen, die nur um das eigene Ich sich sorgen und trübsinnig ihre Seele in der Angst um das Morgen zermürben. Und jetzt – jetzt lag diese kleinmütige Angst vor der Zukunft weit, weit hinter ihm. Jetzt lag da vor ihm etwas noch viel Dunkleres – ein Rätsel, ein Geheimnis! Das zog ihn an, ließ ihn alles übrige vergessen. Das war wie ein belebender Trank – wie ein Verjüngungsmittel.
Und Berd Birk lächelte wieder.
Er freute sich, daß er sich selbst wiedergefunden hatte. Seine Augen blinkten. Seine Tatkraft war neu geboren.
So stand er und überlegte nochmals jede Einzelheit dieses Vormittags.
Rochus hatte da von zwei Geheimnissen gesprochen, die nebeneinander herliefen. – Nein – da täuschte Rochus sich! Es schien nur so, als wären’s zwei Geheimnisse. Es war nur eins – ein einziges! Davon war Birk felsenfest überzeugt.
Er hatte die Dame dort in der Goldankaufstelle sprechen gehört. Es konnte eine Amerikanerin oder eine Deutschamerikanerin sein! Und – die Dame konnte zu Thomas Wellerhouse in irgendwelchen Beziehungen stehen, konnte für ihn, Berd Birk, nur deshalb Interesse haben, weil er hier Wellerhouses Nachfolger in dem – Mordbett geworden!
Ja – Mordbett! Er hatte Rochus Leebergs Andeutungen sehr wohl verstanden: die Radiumbestrahlung war lebensgefährlich! –
Birk ging langsam in sein Zimmer. Ein besonderer Gedanke hatte ihn in die kahle, getünchte Stube getrieben. Er wollte sie gründlich durchsuchen – ganz gründlich! Vielleicht fand er noch irgend etwas, das Wellerhouse gehört hatte.
Um Degner zu täuschen, pfiff er sehr vergnügt einen Marsch. Zwischenein lauschte er wieder. Seine Tür lag der Küchentür gerade gegenüber. Er hörte den Alten mit den Kochtöpfen klappern. Da war er beruhigt und suchte weiter.
Zuweilen belächelte er sich selbst. Doktor Bernhard Birk, der hier den Amateurdetektiv spielte! – Und doch: er ließ nicht nach. Er beklopfte die wenigen Möbel, ob vielleicht ein Geheimfach irgendwo vorhanden sei. Der Schreibtisch zum Beispiel war ja uralt. – Nein – er ließ nicht nach! Er nahm die Betten aus dem Bettgestell, hob die Matratze hoch. Packte alles wieder zurück.
Nichts – nichts! – Doch – die Dielen und die Wände fehlten noch. Aber auch da keine Spur eines Verstecks oder dergleichen.
Jedenfalls: es war merkwürdig, daß von Wellerhouses Anwesenheit hier auch nicht die geringste Kleinigkeit mehr erinnerte!
Birk blickte sich im Zimmer um.
Halt – die Balkendecke! Sie war auch nur weiß getüncht. Die Tünche war abgeplatzt. Stellenweise lagen die rissigen Balken völlig kahl. –
Birk rückte den Tisch plötzlich mehr nach rechts, stieg hinauf. Das Zimmer war sehr niedrig. Er konnte bequem mit der Hand die Decke berühren.
Er hatte da in einer Ritze eines Balkens etwas wie einen grauen Strich bemerkt. Es konnte die Kante eines schmutzigen Papierblattes sein.
Nun sah er, daß seine Vermutung richtig gewesen: da steckte etwas in der langen Ritze!
Er nahm sein Messer, und mit der Spitze des Korkenziehers zog er das Etwas hervor.
Eine – eine Spielkarte war’s – ein schmutziges Treff-Aß.
– – – – – – – –
Birk war mit der Karte an das Fenster getreten.
Auf der Oberseite war außer der Figur des Treffaß ein verwischter runder Stempel zu erkennen. Mühsam entzifferte Birk, daß es der Stempel einer Spielkartenfabrik aus Neuyork war. Also – ein amerikanisches Treffaß!
Diese Entdeckung war wichtig. Der Stempel stellte die Verbindung zwischen Thomas Wellerhouse und dem Treffaß her. Wellerhouse ein Amerikaner – die Karte amerikanischer Herkunft. Mithin lag die Möglichkeit vor, daß Wellerhouse das Treffaß in der Ritze verborgen hatte.
„Weshalb tat er es?“ fragte Berd Birk sich weiter.
Und als Antwort zuckte er die Achseln: „Da wird schwer eine Erklärung zu finden sein!“
Er setzte sich in den am anderen Fenster stehenden uralten Ohrensessel, schlug die Beine übereinander, lehnte sich bequem zurück und nahm aus seiner schäbigen Brieftasche eine zerdrückte Zigarette heraus. Sein silbernes Zigarettenetui war bereits bei Rubiner in Papiergeld verwandelt worden.
Die Karte, das Treffaß, hatte er auf den Fensterkopf gelegt. Während er die ersten Rauchwölkchen in seinen Ringen in die durch das Fenster einfallende gleißende Sonnenbahn trieb, wo Milliarden feinster Staubteilchen einen lustigen Tanz aufführten, überlegte er sich nochmals die Frage, weshalb Wellerhouse die Karte dort oben in der Balkendecke wohl versteckt haben mochte, wobei er eben vorläufig als sicher annahm, daß der Amerikaner dies getan hatte.
„Das Treffaß muß einen bestimmten Wert haben, eine gewisse Bedeutung,“ sagte er sich nun mit Recht. „Eine Spielkarte, die nichts als eine Spielkarte ist, wird man nicht so gut verstecken, denn – gut versteckt war sie! Nur ein halber Zufall ließ mich auf den grauen Strich, den Kartenrand, aufmerksam werden.“
Er griff abermals nach dem Treffaß und besichtigte die Rückseite, die ein sehr eigenartiges Muster in Hellblau und Schwarz hatte.
Da waren allerlei Arabesken und Schnörkel. Dreiecke, Kreise, Striche, alles wie sinnlos durcheinander gemengt. Ein kubistischer Maler hätte seine Freude daran gehabt.
Birks nächster Gedanke war: In diesem zweifarbigen Wirrwarr ist vielleicht eine Zeichnung verborgen. Diese Rückseite mag etwas Ähnliches wie ein Vexierbild sein. Die Zeichnung wieder stellt dann eben das Wertvolle an der Karte dar.
Er suchte jetzt nach dieser Zeichnung, drehte die Karte hin und her, hielt sie auch gegen das Licht. Aber sie war zu dick, war undurchsichtig.
Dann klopfte der alte Bildhauer an die Tür.
„Bitte zu Tisch, Herr Birk –“
Doktor Birk steckte die Karte in seine Brieftasche und ging in Degners Wohnzimmer hinüber.
Der Alte saß schon am gedeckten Tisch.
„Mahlzeit,“ sagte er kurz, als Birk Platz genommen hatte.
Er schaute dabei von seinem Teller nicht auf.
Berd Birk rührte in der dicken Bohnensuppe mit dem Löffel herum. Er fühlte, daß heute hier etwas wie Gewitterschwüle in der Luft lag. Noch nie hatte Adolf Degner sich bei Beginn der Mahlzeit so wortkarg verhalten – noch nie!
Birk beschloß, die Lage sofort zu klären.
Schweigend leerte er den ersten Teller. Als er dann nach dem Aufgebelöffel griff, um den Teller aus der Terrine frisch zu füllen, sagte er so ganz nebenbei:
„Als ich hier einzog, rieten Sie mir, die Fensterläden vor dem Schlafengehen regelmäßig vorzulegen, Herr Degner. Weshalb gaben Sie mir diesen Rat? Vorhin meinten Sie doch, hier sei man sicher vor Einbrechern.“
Der Alte senkte den Kopf noch tiefer.
„Ach – das tat ich nur, weil die Vorhänge so sehr dünn sind, Herr Doktor,“ erklärte er dann hastig. „Nur deshalb! Bei so dünnen Vorhängen wacht man im Sommer zu früh auf. Die Tageshelle verscheucht den Schlaf.“
Birk erwiderte hierauf nichts, aß drei Löffel und – bohrte weiter.
„Hat eigentlich Wellerhouse auf seine Kosten die Fensterläden in meinem Zimmer von innen mit Zinkblech benageln lassen?“ fragte er in harmlosestem Tone.
Da schoß unter den weißen struppigen Augenbrauen des Alten ein Blick hervor, der selbst dem besten Menschenkenner allerlei zu raten gegeben hätte.
Angst, halbe Verzweiflung, stille Wut und – seltsam – auch etwas wie ein stummes Flehen um Schonung wechselten als Ausdruck der großen klaren Augen so blitzschnell ab, daß Berd Birk schließlich nur das letzte als am deutlichsten empfand: diese zaghafte Bitte, all dies ruhen zu lassen, nicht mehr daran zu rühren!
Dann errötete der Alte tief, senkte wieder den Kopf und murmelte:
„Wellerhouse hatte so seine Schrullen!“
Auch das war wieder nichts als ein Ausweichen, ein Vermeiden einer klaren Antwort. Und doch: Birk hatte jetzt wirklich Mitleid mit dem Greise, der ohne Zweifel gegen seinen Willen in diese Geheimnisse hineingezogen worden war.
Abermals Schweigen.
Hasso, der Wolfshund, saß wie immer neben Adolf Degners Stuhl und lauerte auf den Moment, wo auch er sein Essen erhalten würde.
Birk schob den Teller zur Seite. Auch der Bildhauer hatte den seinen schon auf das Teebrett gestellt.
Die Gewitterschwüle war noch stärker geworden.
„Lieber Herr Degner,“ sagte Birk da, „zwischen uns droht eine Entfremdung einzutreten. Ich denke, wir sorgen rechtzeitig dafür, daß kleine Mißverständnisse aus der Welt geschafft werden.“
Der Alte hatte sich erhoben und setzte die Terrine auf das Teebrett, lächelte gequält und entgegnete in einem Tone, der wohl scherzend klingen sollte, jedoch wie von bebender Angst durchzittert war:
„Was rechnen Sie denn zu kleinen Mißverständnissen, Herr Doktor? Etwa, daß Sie heute zur Bohnensuppe gern Fleisch gehabt hätten und daß ich unserer Kassenverhältnisse wegen das Fleisch fortgelassen habe?“
Er wollte dann mit dem Teebrett rasch in die Küche verschwinden.
Birk stand auf und legte ihm die Hand leicht auf den Arm.
„Einen Augenblick, bitte. – Weshalb wollen Sie durchaus nicht zugeben, Herr Degner, daß Wellerhouse sich sowohl den Hund zu seinem Schutz angeschafft als auch die Läden mit Blech benagelt hat, damit sie schwerer von außen anzubohren und zu öffnen wären –? Weshalb leugnen Sie das?“
Der Alte lachte auf. Das Lachen war brüchig und unecht.
„Sie sind ein – ein komischer Mensch, Herr Doktor. Ich habe mit Wellerhouse hier vier Monate zusammengelebt, und mir ist es nie eingefallen, an ihn dergleichen Fragen zu richten. Er hatte eben seine Eigentümlichkeiten.“
Birk wurde ungeduldig. Wieder drückte sich Degner also um eine offene Antwort herum.
Nun wollte er mal in anderer Weise auf den Busch schlagen.
„Spielte Wellerhouse gern Karten?“ fragte er leise und gab seiner Stimme absichtlich einen geheimnisvollen Klang.
Der Alte schaute auf, schaute Birk jetzt verwundert an.
„Ob er gern Karten spielte?“ meinte er kopfschüttelnd. „Wie kommen Sie denn darauf nun wieder, Herr Doktor?! – Karten?! Keine Rede davon. Schach hat er mit mir gespielt, jeden Abend. Er ging ja so wenig aus.“
Birk klammerte sich sofort an dieses neue Moment, sagte schnell:
„So – er ging wenig aus? – Was tat er denn hier in Berlin? Er wird doch nicht von Amerika nach Deutschland gekommen sein, um hier in Ihrem Häuschen sich mit Schachspiel die Zeit zu vertreiben?!“
Da – wieder derselbe Blick wie vorhin aus Adolf Degners Augen – ein Blick, der eine ganze Skala von Empfindungen durchlief und schließlich ganz zu dem hochgeröteten feindseligen Gesichtsausdruck und den tiefen Falten auf der Stirn paßte.
„Ich – war nie so neugierig wie Sie, Herr Doktor,“ stieß Degner schroff hervor. „Ich habe Wellerhouse nie mit solchen Fragen belästigt. Wenn Sie sich für ihn so sehr interessieren, so schreiben Sie doch an ihn. Er wohnt Neuyork, Middlesux-Straße[2] 32.“
Dann nahm er das Teebrett und schritt zur Tür, öffnete sie geschickt mit dem Ellenbogen, drehte sich jedoch plötzlich halb um und sagte bittend, während sein Gesicht völlig verwandelt schien:
„Herr Doktor, verargen Sie mir den heftigen Ton nicht, den ich soeben anzuschlagen wagte. Bedenken Sie, daß ich nicht gern an Wellerhouse erinnert werden will. Ich habe ihn polizeilich nicht gemeldet gehabt der Steuer wegen. Ich fürchte noch immer, man könnte mich deshalb in Strafe nehmen.“
Birk sah ein, daß aus dem Alten auf keine Weise etwas herauszuholen war. Degner war zu schlau. In diesem Manne wohnten zwei Seelen. Eine, die sich in seiner menschenfreundlichen Güte, in dem treuherzigen Blick der Augen offenbarte, und die zweite, die erst zum Vorschein kam, wenn Wellerhouse erwähnt wurde.
Birk dachte: „Wie Du mir, so ich Dir!“ lächelte und rief:
„Aber lieber Herr Degner, weshalb sagten Sie mir das nicht gleich! Ich kann vollkommen verstehen, daß diese Angst vor Strafe Sie bedrückt! – So, und nun Schluß mit alledem! – Ich helfe Ihnen das Geschirr säubern wie immer –“
In der Küche schien die Gewitterschwüle dann beseitigt – schien! Birk empfand mit aller Deutlichkeit, daß Degner Komödie spielte, daß die Unterhaltung zwischen ihnen beiden übertrieben lebhaft war, weil eben beide das Gefühl nicht loswurden, nunmehr heimliche Gegner zu sein, und dies doch den andern nicht merken lassen wollten.
Das Bimmeln der Flurglocke gab Birk Gelegenheit, aus der Küche zu verschwinden.
„Ich werde öffnen gehen,“ meinte er.
Als er die Haustür aufschloß, hörte er die Küchentür knarren. Der Alte horchte also offenbar!
Draußen stand ein Postbote mit einem Rohrpostbrief für Birk.
„’ne halbe Stunde bin ick hier schonst in diese jottverlassne Jejend rumjejondelt, Herr Doktor,“ meinte der junge Mensch, der sein gelbes Dienstrad an den Zaun gelehnt hatte. „Die Bude hier zu finden, is ’n reenet Kunststick!“
Birk drückte ihm fünfzig Mark in die Hand und nickte: „Ja – ja, recht haben Sie schon.“ Und dachte dabei: „Ich müßte doch mal den Briefträger, der dies Revier hat, fragen, ob Thomas Wellerhouse häufig Postsachen erhielt – oder gar nicht!“
Der Bote radelte davon. Birk schloß die Haustür wieder ab und ging in sein Zimmer. Die Küchentür hatte abermals geknarrt. Der alte Degner wollte also verheimlichen, daß er gelauscht hatte, wirtschaftete nun wieder in der Küche herum und ließ die Wasserleitung rauschen, als ob er auch nicht für eine Sekunde den Kopf in den schmalen Flur gesteckt hätte. –
Bernhard Birk saß im Ohrensessel und betrachtete den Rohrpostbrief.
Die Adresse war genau dieselbe wie auf dem andern – dem aus Büttenpapier. Nur die Handschrift verriet hier sofort eine Frau als Absenderin.
Bevor Birk den Umschlag aufschnitt, führte er ihn an die Nase.
Ja – es war wieder derselbe Parfümduft – das Ceylon-Parfüm, nur schwächer.
Dann der Inhalt des Umschlags: ein halber Bogen überseeisches Briefpapier:
Berlin, den 2. Mai 1923.
Herr Doktor Birk,
ich habe Ihnen zu machen wichtige Mitteilungen. Kommen Sie heute abend halb neun Uhr nach der Straße Unter den Linden vor dem Cafee Bauer. Es wird ein Vorteil für Sie sein. H. W.
Birk las den kurzen Brief nochmals.
Was bedeutete das nun wieder?! Noch ein zweites Stelldichein an diesem Abend?! – „Weiß der Himmel, – das Abenteuer wird immer umfangreicher!“ dachte er weiter. „Was tue ich nun? Um acht Uhr vor dem Bismarckdenkmal, um halb neun vor dem Cafee Bauer? Wie soll ich das vereinen?!“
Seine Gedanken eilten zu Rochus Leeberg.
„Ja – Rochus muß den einen „Termin wahrnehmen“, würde sich ein Rechtsanwalt ausdrücken. Das wird das beste sein. Aber – welchen?! Mandant eins, Büttenpapier, hat nicht einmal mit den Anfangsbuchstaben unterzeichnet, während hier dieses H. W. immerhin die Annahme zuläßt, daß W. der erste Buchstabe des Namens Wellerhouse sein könnte!“
Birk steckte diesen zweiten Brief zu dem Treffaß und zu dem ersten in die Brieftasche.
Dann überprüfte er nochmals die Auseinandersetzung mit Degner nach Tisch, denn – Gespräch oder Unterhaltung konnte man dieses Verhör und diese geschmeidigen Antworten nicht gut nennen.
Eins wollte er sich besonders merken, abgesehen von dem neuen Umstand, daß Wellerhouse nur selten ausgegangen war: Adolf Degner wußte offenbar nichts von dem Treffaß – nichts! Sonst hätten seine Augen bei der Frage nach Wellerhouses Neigung zum Kartenspielen nicht so ehrlich erstaunt dreingeschaut! –
Birk litt es jetzt nicht länger in dem ungemütlichen Zimmer. Die Leidenschaft des Jägers war über ihn gekommen. In den letzten Wochen hatte seinem Leben jeder stärkere Antrieb gefehlt. Jetzt war dieser Antrieb da. Birk fühlte sich wie ausgewechselt. Sein Hirn arbeitete wie eine gut geölte Maschine. Das freute ihn. Das Selbstvertrauen kehrte zurück. – Oh – er würde dieses Rätsel schon ergründen. Er hatte ja Zeit dazu! –
„Ich will ein wenig ins Freie, in den Wald,“ rief er in die Küche hinein. „Auf Wiedersehen Herr Degner. Zum Abendbrot bin ich bei Leebergs eingeladen. Wiedersehen!“
„Viel Vergnügen Herr Doktor –“
Birk verstand es nur noch halb.
– – – – – – – –
Die Patroklusstraße gehört mit zum Postamt Halensee. Es war halb vier, als Doktor Birk mit dem Briefträger sprach, der zumeist die Bestellgänge für die Patroklusstraße erledigte. Birk stand mit ihm auf dem Hofe des kleinen Postamtes.
„Falls heute noch Briefe für mich abzugeben sein sollten, brauchen Sie sich nicht bis zu Degners Häuschen zu bemühen,“ sagte er zu dem rotbäckigen Beamten.
„Es hat bis morgen Zeit. Ich bin heute doch nicht zu Hause. – Hat Ihnen eigentlich Herr Wellerhouse viel Arbeit gemacht?“
„Wer?! Herr Wellerhouse?! Den kenne ich gar nicht.“
„So?! – Hieß denn so nicht der eine Verwalter des Ibeckschen Kohlenplatzes?“
„Nein, Herr Doktor. Der heißt seit acht Jahren noch immer Gustav Klose.“ Der Briefträger lachte.
„Na – dann habe ich mich geirrt. – So, nun will ich mir noch Briefmarken kaufen. Deshalb kam ich ja eigentlich hierher. – Also, falls Briefe da sind, morgen früh. – Wiedersehen.“
Birk schritt den Kurfürstendamm hinab.
Die Bäume prangten in jungem Grün. Den Menschen lachte die Maisonne aus den Augen.
Berd Birk dachte nur an das große Rätsel.
„Ich bin wieder ein Stück vorwärts gekommen. Der Briefträger weiß nichts von einem Wellerhouse. Also erhielt der Amerikaner keine Post, und wenn ja, dann nur postlagernd. Dies und die Tatsache, daß er so wenig ausging, läßt darauf schließen, daß er – sich bei Degner verborgen hielt. Vielleicht stimmt das. Vielleicht war Wellerhouse ein Flüchtling. Aber – welcher Art?! Ein von der Polizei Verfolgter?! Ein von anderen Feinden Gehetzter?! – Und, wenn kein Flüchtling, dann doch ein Mensch, der Grund hatte, sich in der Einsamkeit der Patroklusstraße zu vergraben.“
So grübelte Birk vor sich hin.
Auf den wie polierter Stahl glänzenden Fahrdämmen sausten Autos vorüber, kamen Luxusomnibusse gerattert. Auf dem Reitweg strebte eine Kavalkade von Herren und Damen dem Grunewald zu.
„Ich weiß nun ja Wellerhouses Adresse,“ überlegte Doktor Birk. „Wenn eine Depesche nach Amerika nicht so sündhaft teuer wäre, würde ich –“
Da stoppte der Fluß seiner Gedanken.
Und lebte jäh wieder auf: „Teuer – teuer?! Und das Radiumklümpchen?! Wenn man das verkaufen würde?! – Ohne Zweifel ist es Millionen wert!“
Abermals eine Gedankenpause – abermals ein neues Abirren: „Millionen – ja, Millionen! Wie sollte der alte Degner wohl in der Lage gewesen sein, sich Radium zu verschaffen! Ausgeschlossen! Nein – er kommt als der Radiumattentäter niemals in Frage – niemals! – Das Klümpchen verkaufen? Darf ich das? – Nein – ich darf es nicht. Ich bin nicht Jurist, aber der gesunde Menschenverstand sagt mir: Ich darf es nicht! – Ich müßte ja eigentlich die ganze Geschichte der Polizei melden. – Werde mich hüten! Vorläufig auf keinen Fall!“ –
So gelangte er schließlich in die Augsburger Straße und vor Rochus Leebergs Haus.
Es war jetzt halb fünf. – Frau Toni öffnete ihm, flüsterte sofort:
„Es ist ein Patient da!“
„Nicht möglich!“
„Ja – es geschehen Wunder, lieber Herr Birk. – Bitte – hier in die Küche. Es geht nicht anders. Sie wissen ja: das Speisezimmer und das Herrenzimmer haben wir vermietet.“
In der blitzsauberen Küche bekam Birk eine Tasse Roggen-Mokka vorgesetzt.
„Rochus hat mir alles erzählt,“ plauderte Frau Toni. „Er war auch schon mit dem Radiumklümpchen bei seinem Freunde Zerwer, dem Chemiker der Hammonia-Werke. Raten Sie mal, was das Radiumkügelchen wert ist?“
„Keine Ahnung –“
„Etwa achtzig Millionen Mark –“
Birk verzog den Mund.
„Sie scherzen, liebe Frau Doktor!“
„Dazu ist die Sache wohl zu ernst.“
„Allerdings.“
Draußen klappte die Flurtür. Gleich darauf betrat Rochus die Küche.
„Ah – gut, daß Du da bist, Berd. Ich wäre sonst zu Dir hinausgekommen. – Hat Toni Dir schon erzählt? Der Chemiker Zerwer erklärte, das Radiumklümpchen sei reines Radium und daher mindestens achtzig Millionen wert. Er wollte durchaus rauskriegen woher ich es hätte. Na – ich schwieg mich natürlich aus. „Geheimnis!“ sagte ich nur. – Zerwer meinte, das Radium sei fraglos irgendwo gestohlen. Und dann – gib acht, Berd! – dann sah er mich an, als wäre ich ein übler Gauner, und fügte hinzu: „Im Januar dieses Jahres verschwand aus dem Laboratorium des Professors Howard Hollgreen in Neuyork ein Radiumkügelchen!“ Worauf ich erwiderte: „Daß ich nicht der Dieb bin, lieber Zerwer, kannst Du schriftlich haben. Im übrigen verlange ich Dein Wort, daß Du vorläufig den Mund hältst!“ – Was er dann auch versprach.“
Birk begriff sehr wohl die ungeheure Wichtigkeit der Mitteilung des Chemikers.
Für ihn unterlag es nun keinem Zweifel mehr, daß das Radiumklümpchen aus dem „Mordbett“ das in Neuyork gestohlene war.
Auch Rochus Leeberg hielt dies für gewiß.
Dann kam Birk mit seinen Neuigkeiten heraus und erklärte zum Schluß, Rochus müsse abends halb neun Uhr das Stelldichein vor dem Cafee Bauer wahrnehmen.
„Warum nicht?!“ meinte Leeberg. „Zeig mir doch mal den H.-W.-Brief.“
Auch Frau Toni las ihn.
„Das Deutsch verrät die Ausländerin,“ erklärte sie.
„Was Du schlau bist, Tonerl!“ lachte Rochus. „Glaubst Du, unser Pinkerton hat das noch nicht selbst gemerkt?“
„Du bist heute sehr üppig!“ drohte Tonerl. „Dir ist, scheint’s, der Kamm geschwollen des einen Patienten wegen! – Übrigens – „unser Pinkerton“ – was heißt das?“
„Die Pinkertons sind die berühmteste Detektivfirma der Welt, ansässig in Amerika, in Neuyork, wo das Radium geklaut wurde –“
Frau Toni wandte sich an Birk. „Nicht wahr – ist er nicht wirklich übermütig geworden?! – Wer war denn der Renommierpatient?“
„Gestatte, Tonerl: der Herr ist Holländer und hat furchtbar blechen müssen. Er wohnt nebenan im Fremdenheim Douglas. Sein Name ist van Houten.“
„Das ist ja Kakao!“ lachte Frau Toni.
„Dann müßte der berühmte Chemiker Liebig auch nur Fleischextrakt sein! – Scherz bei Seite: dieser Herr van Houten –“ – er faltete die Hände – „möge noch recht lange an Nervenschmerzen leiden! Kommt er auch nur jeden dritten Tag zu mir, so kaufe ich Dir einen neuen Hut, Tonerl.“ –
Birk hörte kaum hin. Ihn beschäftigte jetzt ausschließlich die Frage, wie er es ermöglichen könnte, eine Depesche nach Neuyork zu senden.
„Was sinnst Du, Berd?“ fragte der ewige Student Rochus Leeberg. „Toni und ich erhalten hiermit einen Verweis wegen unangebrachten Benehmens. – Die Sache ist zu geheimnisvoll und – zu gefährlich, um hier in einen leichtfertigen Ton zu verfallen. – Was sinnst Du?“
„Ich möchte an Thomas Wellerhouse depeschieren. Ich weiß nur nicht, woher ich das Geld nehmen soll.“
„Geht doch mal erst zum nächsten Postamt und erkundigt Euch, was die Depesche kosten würde,“ schlug Frau Toni vor. –
Die beiden Freunde begaben sich denn auch sofort zur Post, wo sie feststellten, daß ein solches Telegramm mit Rückantwort für sie unerschwinglich war.
Als sie den Schalterraum wieder verlassen hatten, faßte Rochus den Freund unter und flüsterte:
„Du – wieder etwas Neues! Der Kakao stand hinter uns, als wir am Schalter mit dem Beamten sprachen!“
Birk blieb unwillkürlich stehen.
„Dein Patient?“
„Ja – der Holländer. – Komm’ weiter –“
„Und wo blieb er?“
„Er ist noch in der Post, wollte sich aber offenbar von mir nicht sehen lassen. Ich glaube, er – er –“
„– spioniert uns nach!“
„Ja – leider! – Ich will ehrlich sein, Berd: der van Houten ist kerngesund! Mir kam sein Besuch gleich so etwas faul vor. Ein Valutamann geht doch nicht zu Rochus Leeberg, sondern zu einem berühmten Professor. Und die Nervenschmerzen in der Hand dürften andere Schmerzen sein. – Wie gesagt: dieser Holländer –“
Birk unterbrach ihn. „Wir werden sehr bald Bescheid wissen – sehr bald! Genau Bescheid! Du wirst jetzt sofort in das Fremdenheim Douglas gehen und nach dem Holländer fragen, wirst dann dem Stubenmädchen oder wer sonst Dich empfängt erklären, van Houten hätte Dir irrtümlich zu viel Honorar bezahlt. – Wieviel gab er Dir und in was für Scheinen?“
„Fünfundzwanzigtausend Mark in Fünfern.“
„So – dann sagst Du, er hätte Dir sechs Fünfer gegeben. Und fragst so nebenbei, seit wann er dort wohnt.“
„Verstehe! – Glänzend, Berd, glänzend! Machen wir!“
Zehn Minuten drauf wußten die Freunde und Frau Toni, daß van Houten erst heute nachmittag zwei Uhr ein Zimmer im Fremdenheim Douglas belegt hatte.
„Nun ist die Sache klar,“ nickte Birk. „Dieser angebliche Holländer ist einer von der Gegenpartei. Er mag mich beobachtet haben, sah uns zusammen, Rochus, und nistete sich in Deiner Nähe ein, damit er Dich im Auge behalten kann. Daß auch ich von Spionen umgeben bin, steht für mich fest. Und alles das fraglos des Radiumklümpchens und des Treffaß wegen!“ –
Das Ehepaar und Birk saßen jetzt im Sprechzimmer. Birk stellte sich an das Fenster hinter den Vorhang und spähte auf die Straße hinab. Auch Leeberg trat neben ihn.
Sie konnten jedoch keinen verdächtigen Menschen bemerken, der etwa das Haus bewachte.
„Die Mühe ist umsonst,“ meinte Rochus.
Indem schrillte draußen die Flurglocke. Frau Toni eilte hinaus, kam ganz verstört wieder, flüsterte:
„Van Houten! Ich habe ihn ins Wartezimmer eingelassen.“
„Donnerwetter!“ Rochus schaute Birk fragend an.
„Rufe ihn herein. Ich bleibe hier. Wollen sehen, was er auf mich für einen Eindruck macht.“
– – – – – – – –
Ein stattlicher blondbärtiger Herr war’s, der nun von Rochus Leeberg als van Houten dem Doktor Birk vorgestellt wurde.
„Ich bringe Ihnen die fünftausend Mark zurück, Herr Doktor,“ sagte van Houten in fließendem, nur etwas gedehntem Deutsch zu Leeberg. „Ich weiß bestimmt, daß ich Ihnen fünf einzelne Fünftausendmarkscheine gegeben habe. Der Irrtum liegt bei Ihnen.“
Birk war bereits zu einem Entschluß gekommen. Er ging an die Tür nach dem Flur, schloß ab, steckte den Schlüssel zu sich und tat dasselbe bei der zweiten Tür, die ins Wartezimmer führte.
Dann wandte er sich an den Holländer.
„Geben Sie zu, daß Sie uns vorhin nachgeschlichen sind?“ fragte er kurz, indem er sich an den Schreibtisch lehnte und den Hörer vom Telephon nahm. „Sie wissen wohl, daß, wenn ich „Überfall“ in den Apparat rufe, die Polizei in wenigen Minuten hier ist.“
Der Holländer blickte Birk finster an. Aber sein Gesicht hellte sich sehr bald wieder auf.
„Legen Sie den Hörer nur wieder weg, Herr Doktor,“ sagte er achselzuckend. „Ich bin Stuart Warp, einer der bekanntesten Agenten der Firma Pinkerton, Neuyork.“
Nun war es an Birk und Leeberg, mit gänzlich verdutzten Gesichtern dazustehen.
Mr. Stuart Warp lächelte ein wenig, entnahm seiner Brieftasche einen Ausweis mit Lichtbild und reichte ihn Birk.
„Bitte – überzeugen Sie sich!“
Birk prüfte den Ausweis. Mr. Stuart Warp auf dem Lichtbild war freilich ein noch junger bartloser Mensch, der mit dem Holländer van Houten so gut wie gar keine Ähnlichkeit hatte.
Rochus Leeberg schaute dem Freunde neugierig über die Schulter.
„Fabelhaft!“ meinte er. „Ihre Maske ist großartig, Herr Warp.“
Stuart Warp holte ein zweites Schriftstück hervor.
„Bitte, meine Herren, – damit jeder Zweifel schwindet.“
Auch dieses Schreiben war in englischer Sprache abgefaßt und war handschriftlich ausgestellt.
„Übersetze mir den Inhalt, Berd. Ich kann kein Wort englisch,“ gestand Leeberg ehrlich.
Neuyork, den 10. Januar 1923.
Ich bescheinige hiermit dem Agenten der Detektivfirma Pinkerton, hier, Master Nathanael Albin Stuart[3] Warp, daß er für mich im Auftrage seiner Firma den Dieb des mir aus meinem Laboratorium am 7. Januar des Jahres abhanden gekommenen Radiumquantums im Gewicht von 0,3 Gramm ermitteln und mir das Radium wiederverschaffen soll. Ich bitte alle Kollegen, Master Warp nach Kräften zu unterstützen. Mr. Warp hat ein besonderes Kennzeichen, eine sieben Zentimeter lange Narbe am linken Unterarm, wie dies auch auf seinem Ausweis vermerkt ist.
Doktor Howard Hollgreen,
Professor
Die persönliche Unterschrift des Herrn Professor Hollgreen wird hiermit bescheinigt.
Stempel.
Baac,
Polizeiinspektor.
„Donnerwetter, – da haben wir’s ja!“ entfuhr es Rochus Leeberg.
Er wollte, temperamentvoll wie er war, noch mehr hinzufügen. Aber Birk meinte hastig:
„Silentium! Warten wir ab.“
Der Detektiv lächelte wieder, streifte den linken Ärmel hoch und zeigte eine Narbe mit zackigen Rändern.
„Genügt das, meine Herren?“
„Ja, es genügt,“ sagte Birk zögernd.
Leeberg bot Warp einen Stuhl an. „Setzen wir uns. Wir dürften wohl so einiges zu besprechen haben.“
Birk nahm gleichfalls Platz. Er sah ein, daß das dunkle Rätsel ihm nun entgleiten würde. Stuart Warp würde die weitere Arbeit an sich reißen. – Das ärgerte und schmerzte ihn. Er hatte Freude an der allmählichen Enthüllung dieser Geheimnisse gehabt, die als Ganzes ein bisher völlig undurchsichtiges Gewebe darstellten: das Rätsel des Treffaß! – Dieses Gewebe war durch Warps Eingreifen nicht im geringsten gelockert oder gelichtet worden, denn – was machte es gegenüber all den anderen noch ungelösten Fragen aus, daß man nun wußte, das Radium aus dem Mordbett war das in Neuyork gestohlene?!
Birk schaute noch immer nachdenklich vor sich hin. – Was sollte er tun?! Sollte er Warp alles mitteilen, was er bisher ermittelt hatte? Sollte er auch das Treffaß erwähnen? – Vorläufig, beschloß er, will ich erst mal Warp erzählen lassen. Er muß mir sagen, ob er dem Diebe des Radiums auf der Spur ist und weshalb er Rochus und mich beobachtet hat. –
Stuart Warp saß mit weit vorgestreckten Beinen in dem Korbsessel, hatte die Ellenbogen auf die Armlehnen aufgestützt und die Fingerspitzen aneinandergebracht. Seine graublauen Augen ruhten unverwandt auf Birk. – Nun hob dieser den Kopf. Ihre Blicke begegneten sich. Birk hatte die Empfindung, daß der Detektiv genau wußte, was er soeben erwogen hatte.
Dann sagte Warp auch schon: „Die Herren sollen nun zunächst meinen Bericht hören. Unsere gegenseitigen Beziehungen klären sich dann leichter. – Das Radiumklümpchen war bei Hollgreen in einem Bleikästchen verwahrt, das in einem eisernen Schrank des Laboratoriums stand. Das Schloß des Schrankes war nicht gerade kompliziert. Am 7. Januar vormittags stellte Hollgreen das Fehlen des Radiums fest. Da er es seit mehreren Tagen nicht mehr gebraucht hatte, war der genaue Zeitpunkt des Diebstahls nicht festzustellen. – Hollgreen beschäftigte fünf Assistenten und hatte zwei Laboratoriumdiener. Ich richtete mein Augenmerk auf diese sieben Personen. Der Diebstahl konnte den ganzen Umständen nach nur von einer dieser sieben Personen ausgeführt worden sein. Meine Bemühungen hatten zunächst keinerlei Erfolg. Dann nahm ich an der Assistentin Helene Welterhaus –“
Birk war plötzlich von seinem Stuhle hochgefahren.
Warp schwieg. Man sah ihm an, daß er nie vermutet hatte, der Name Welterhaus könnte auf Birk diese Wirkung ausüben.
Birk war erst sehr rot, dann sehr blaß geworden. Seine Lippen bewegten sich. Dann stieß er mit ganz fremder Stimme hervor:
„Helene – Welterhaus?! Eine Deutsche?“
Warp nahm wieder seine Brieftasche hervor, reichte Birk ein unaufgezogenes Lichtbild. „Bitte – Sie scheinen eine Helene Welterhaus zu kennen. Vergleichen Sie!“
Birk trat mit dem Bilde ans Fenster. Schon ein flüchtiger Blick hatte ihm gezeigt, daß es Helene war, einst – einst seine Leni!
Er wollte Rochus und Warp nicht merken lassen, was jetzt in ihm vorging.
Leni – Leni Welterhaus!
Ein großer Schloßpark taucht vor ihm auf, der des Grafen Hackfeld-Gürzen. Ein helles Kleid leuchtet durch die Büsche. Der Mondschein liegt silbern auf Baum und Strauch. Eine Nachtigall schluchzt in den Büschen.
Das war jene Sommernacht vor vielen – vielen Jahren gewesen, als die blonde Leni weinend an seiner Brust geruht hatte, als sie ihm, vor Abschiedsweh kaum ihrer Sinne mächtig, stammelnd mitgeteilt hatte, daß ihr Vater, der Obergärtner des Grafen sich plötzlich entschlossen habe, nach Amerika auszuwandern, daß er heute abend um seine sofortige Entlassung gebeten und schon morgen früh abreisen wolle.
Das war das Ende eines wunderbaren Liebestraumes gewesen.
Niemand im Schlosse und im nahen Städtchen begriff, weshalb Theodor Welterhaus so fluchtartig der Heimat den Rücken gekehrt hatte und mit seinem einzigen Kinde in die Fremde gezogen war. Nie wieder hatte Bernhard Birk von Leni auch nur das geringste Lebenszeichen erhalten. Sie blieb für ihn verschollen, blieb aber doch in seiner Erinnerung das Köstlichste, was er je gekannt, genossen. –
Versonnen blickte er auf die Photographie.
Es war Leni, wenn auch eine andere Leni. Nicht mehr das heitere, strahlende achtzehnjährige süße Mädel von einst. – Wie ernst diese Augen blickten, wie schmerzlich der Zug um den fein geschwungenen Mund war! Und doch – immer noch Leni – Leni!
In Berd Birks Herzen webt der Zauber der Erinnerung stille Träume.
Warps kalte Stimme fährt dazwischen.
„Woher kennen Sie Fräulein Welterhaus, Herr Doktor?“
Birk dreht sich nicht um, schaut auf die Straße hinab und antwortete widerwillig:
„Eine Jugendbekanntschaft, Herr Warp. Ich war vor zehn Jahren Hauslehrer bei dem Grafen Hackfeld-Gürzen. Helenens Vater Theodor Welterhaus war dort Obergärtner.“ – Dies mußte Warp genügen. Was ging den Detektiv alles übrige an?!
Birk kam nun langsam wieder auf seinen Stuhl zu, setzte sich und gab Warp das Bild zurück.
Stuart Warp legte die Photographie neben sich auf ein Tischchen. In seiner leidenschaftslosen nüchternen Art sprach er weiter:
„Die Assistentin Welterhaus, auf die der Professor große Stücke hielt, fiel mir durch ihr völlig verändertes Wesen auf. Sie wurde blaß und schmal, wurde unpünktlich, zerstreut und zeigte ganz das Benehmen eines Menschen, der von einer ständigen geheimen Furcht gefoltert wird. Am 15. März meldete sie sich krank und schrieb Hollgreen, sie müßte sofort zu ihrer Erholung verreisen. – Sie wohnte bei einer älteren Dame, die mir am 15. März abends dann mitteilte, Miß Welterhaus sei bereits mittags nach Shennowkrow, einem Städtchen am Michigan-See, abgereist. Doch – in Shennowkrow war Miß Welterhaus nicht zu finden. Erst am 3. April ermittelte ich, daß sie am Tage vorher auf einem nach England bestimmten Dampfer eine Kabine belegt hatte. Der Dampfer war am 3. mittags in See gegangen. Ich war um nur drei Stunden zu spät gekommen. Das heißt: in Liverpool fand ich Miß Welterhaus’ Spur leicht wieder auf. Diese Spur führte hier nach Berlin, ging mir dann aber verloren – bis vor drei Tagen. – Wir Pinkerton-Leute sind zäh. Wir suchen so lange, bis wir das Wild aufgestöbert haben. Helene Welterhaus war unter dem Namen Honoria Wellerhouse nacheinander in vier Fremdenheimen immer nur für wenige Tage abgestiegen. Zuletzt wohnte sie im Vorort Halensee –“
Birk hatte sich vorgebeugt[4]. Der Name Wellerhouse traf ihn wie ein Hieb. Längst hatte er ja aus dem Gleichklang der Namen Welterhaus und Wellerhouse vermutet, daß der Amerikaner Thomas Wellerhouse in irgend welchen Beziehungen zu Helene stände. Nun hatte Warp diese Vermutung in Gewißheit umgewandelt: es konnte kein bloßer Zufall sein, daß Helene gerade den Namen Wellerhouse hier gewählt hatte.
Stuart Warp blickte Birk scharf an. Dieser Blick forderte eine Erklärung für die jähe Bewegung und den gespannten Gesichtsausdruck Berd Birks.
Birk beherrschte sich, lehnte sich wieder zurück. „Bitte weiter, Herr Warp!“
Stuart Warp kniff die Augen etwas zu. „Vertrauen gegen Vertrauen, Herr Doktor,“ meinte er kühl. „Ich fühle, daß Sie wahrscheinlich mehr wissen, als ich ahne. Ich bin Amerikaner, als Agent der Pinkerton-Firma ebenfalls Geschäftsmann. Machen wir Halbpart. Hollgreen hat mir persönlich für die Wiederherbeischaffung des Radiums 50 000 Dollar zugesichert. Ich verspreche Ihnen davon die Hälfte, wenn Sie mich in jeder Beziehung unterstützen wollen und wir das Radium gemeinsam finden.“
Birk hatte an diese rein materielle Seite der Rätsels überhaupt nicht mehr gedacht, nachdem auch Rochus Leeberg so nachdrücklich erklärt hatte, man dürfe das Radiumklümpchen so ohne weiteres nicht verkaufen.
25 000 Dollar also! Ein Vermögen!
Unwillkürlich schaute er jetzt zu Leeberg hinüber. Der nickte eifrig.
Birk wandte sich Warp wieder zu.
„Ich bin einverstanden, falls mein Freund Leeberg bereit ist, von mir wieder die Hälfte meines Anteils, also 12 500 Dollar, anzunehmen,“ erklärte er fest.
Warp drehte den Kopf. „Äußern Sie sich, Herr Doktor Leeberg –“
Rochus Leeberg strahlte. – 12 500 Dollar! Das lohnte. Und – er hatte sie schließlich auch ehrlich verdient! Er hatte ja das Radium gefunden!
So faßte er denn in die Westentasche und streckte die Hand aus. Zwischen den Fingerspitzen hielt er das zusammengedrückte Staniol.
„Da haben sie das Radium, Herr Warp!“
Stuart Warp blickte erst Leeberg an, dann Birk. Einen Moment lang mochte in ihm wohl der Argwohn aufgestiegen sein, Rochus könnte sich hier einen sehr unangebrachten Scherz leisten. Da aber die Gesichter der beiden Freunde nichts verrieten, was diesen Verdacht bestätigte, griff er ohne sonderliche Eile nach dem Staniol, faltete es auseinander und nahm das Papiertütchen heraus, öffnete auch dieses und besichtigte nun das graue Klümpchen.
„Haben Sie eine sehr feine Wage?“ wandte er sich an Leeberg.
Der Arzt wiegte den Kopf hin und her. „Von Ihnen kann man lernen, wie man sich beherrschen muß, Herr Warp. – Ja, ich habe eine Wage für die kleinsten Gewichtsmengen.“
Warp erhob sich. Er legte dann das Radiumkügelchen auf die Wage.
„Das Gewicht stimmt,“ meinte er, wickelte das Klümpchen wieder ein und nahm ein Scheckbuch und eine Füllfeder aus den unergründlichen Innentaschen seiner Jacke.
„Ich werde dann für jeden von Ihnen einen Scheck über 12 500 Dollar ausstellen. Die Schecks lösen Sie bei der Deutschen Bank ein. Mein Name bürgt für die Güte der Schecks. Ich habe bei der Manhattan-Bank in Neuyork ein Guthaben von 782 000 Dollar. Mein Beruf bringt etwas ein.“
Rochus und Birk waren sprachlos. Als sie stumm und starr dasaßen, fügte Stuart Warp hinzu:
„Wenn Sie ängstlich sind, können Sie ja bei der amerikanischen Botschaft telephonisch anfragen. Ich habe ein paar gute Bekannte dort.“
Leeberg rief da: „Aber ich bitte Sie: von Angst keine Spur! Das – das kam nur alles so sehr plötzlich!“
„Sie beide haben ja doch Ihre Vertragsverpflichtung erfüllt. Ich habe das Radium. Mehr will ich nicht.“
Und Warp schrieb die beiden Schecks aus.
„Bitte – prüfen Sie sie –“ –
Dann lächelte er behaglich. „Sie gestatten doch, daß ich rauche, Herr Doktor Leeberg –“
„Gern. – Ich könnte Ihnen leider nur sehr mäßige Zigarren anbieten – sehr mäßige!“
Warp hielt den Freunden sein Zigarettenetui hin. –
„So, nun will ich meinen Bericht wieder aufnehmen,“ meinte er nach den ersten Zügen. „Ich ermittelte also endlich, daß Miß Welterhaus in Halensee in der Pension Seeblick unweit des Luna-Parks wohnte. Ich beobachtete sie vorgestern und gestern ständig. So stellte ich fest, daß sie ein besonderes Interesse für das Häuschen des Bildhauers Degner hatte –“
„Ah – also doch!“ entfuhr es Leeberg.
„Ja – ein sehr heimliches Interesse, meine Herren. Neben dem kleinen Grundstück Degners liegt doch ein Schuttabladeplatz mit hohen Müllbergen. Diese Berge benutzte Miß Welterhaus als Deckung. Dreimal war sie dort und behielt die Rückseite des Häuschens mit Hilfe eines Fernglases im Auge. – Sie muß dann aber wohl doch Verdacht geschöpft haben. Ich konnte mich dort in den einsamen Straßen schlecht verbergen, obwohl ich häufig die Verkleidung wechselte. Jedenfalls: Helene Welterhaus ist mir gestern abend entschlüpft, ist ausgezogen und – verschwunden – vorläufig.“
„Kolossal spannend,“ meinte Rochus. „Ihre Zigaretten sind nebenbei gesagt auch vorzüglich, Herr Warp.“
„Bitte, bedienen Sie sich nur nochmals. – Die Sache wird noch spannender. Ich habe nämlich festgestellt, daß außer Miß Welterhaus noch ein Mann das Häuschen umschlich. Nachdem ich nun gestern abend Helene Welterhaus’ Spur verloren hatte, war ich heute früh wieder in den Müllbergen. Und – der Mann war ebenfalls da, riß jedoch vor mir aus. Trotzdem blieb ich hinter ihm. Und gegen halb elf vormittags gelangten wir so, ich als Verfolger, er als ahnungsloser Verfolgter, in die[5] Bülowstraße, wo Sie dann aus der Goldankaufstelle von Rubiner heraustraten, Herr Doktor Birk. Ihnen blieb der Mann nun auf den Fersen – bis hier in die Augsburger Straße –“
Warp machte eine Pause. „Sie sind gar nicht so sehr erstaunt, Herr Doktor Birk?“ fügte er hinzu.
„Nein. Sie bestätigen nur etwas, das ich selbst schon vermutet habe. – Aber bitte – davon später.“
„Dieser Mann, der jedes Mal, wenn ich ihn sah, anders ausschaute und doch für geübte Augen stets derselbe war, entzog sich mir dann im Menschengewühl der mittags so sehr belebten Tauentzienstraße. Weil ich nun hoffte, durch Sie beide, denen ich nachher bis zur Patroklusstraße folgte und als deren Nachbar in der Straßenbahn ich mancherlei von Ihrem Gespräch erlauschte, was mir Aufschluß über Ihre vertrauten Beziehungen gab, wieder irgendwie mit Helene Welterhaus zusammengeführt zu werden, deren Interesse für Degners Häuschen ich als Ihnen, Herr Birk, geltend einschätzte, wollte ich versuchen, durch Doktor Leeberg womöglich auch mit Ihnen persönlich bekannt zu werden. Daher mietete ich mich in der Pension Douglas ein, daher kam ich zu Doktor Leeberg als Patient, daher blieb ich vorhin auch bis zum Postamt hinter Ihnen. Als mir dann Frau Douglas den Fünftausendmarkschein gab, den Sie angeblich zu viel erhalten hatten, Herr Doktor Leeberg, merkte ich natürlich, daß Sie beide unliebsamer Weise auf der Post auf mich aufmerksam geworden waren und mir mißtrauten. Um die Lage zu klären, ging ich hier zu Ihnen. – So, und nun Ihr Bericht, meine Herren –“
– – – – – – – –
Berd Birk verschwieg nichts, zeigte Warp auch die beiden Stelldichein-Briefe und das Treffaß.
Der Detektiv wurde doch etwas aus seiner unerschütterlichen Ruhe aufgestört, als Birk das Versteck des Radiums im Kopfteil des Bettes erwähnte. Seine Augen hatten sich da geweitet. Er las Birk die Worte förmlich vom Munde ab. –
Dann starrte er eine Weile vor sich hin.
„Haben Sie sich schon eine Ansicht über diesen verwickelten Fall gebildet?“ fragte er Birk darauf ganz unvermittelt.
„Ja.“
„Wollen Sie mir diese Theorie mitteilen?“
„Bitte. – Helene Welterhaus ist natürlich nicht die Diebin des Radiums. Ein anderer bestahl den Professor. Dieser andere ist der verkleidete Mann, den Sie ebenfalls auf dem Schuttabladeplatz bemerkten. – Der Amerikaner Thomas Wellerhouse wieder, der bei Degner wohnte, war Helenens Vater Theodor Welterhaus.“
Warp hatte eine kurze Handbewegung gemacht, sagte dann jedoch: „Sprechen Sie nur weiter!“
„Hierfür als Beweis die Namen Welterhaus und Wellerhouse, ferner die gleichen Anfangsbuchstaben der Vornamen Theodor und Thomas. – Welterhaus hatte irgend ein Geheimnis zu hüten, das mit dem Treffaß in Verbindung stand. Er verbarg sich daher bei Degner und versteckte das Treffaß in der Ritze des Deckenbalkens, damit es nicht gestohlen würde. Er fürchtete sich vor Einbrechern. Er schaffte sich den Wolfshund an und ließ die Läden verstärken. Trotzdem gelang es dem Diebe des Radiums, den gefährlichen Stoff eines Tages in der Kopfwand des Bettes so unterzubringen, daß die Radiumstrahlen den Schädel des Schlafenden treffen mußten. Der Radiumdieb hatte es also darauf abgesehen, Welterhaus zu töten, um in Besitz des Treffaß zu gelangen.“
Abermals hob Warp die Hand.
„Verzeihen Sie, Herr Birk, – Ihre Theorie steht und fällt mit der Person des Vaters Helenens. – Theodor Welterhaus ist doch schon vor Jahren verstorben. Helene ist Waise. Sie lebte in Neuyork nur ihren chemischen Studien, hatte keinerlei Herrenbekanntschaften. – Da nun ihr Vater tot ist, entsteht die Frage: wer war der Amerikaner Wellerhouse? – Weiter: weshalb hatte Helene für diesen Mann so viel Interesse, daß sie seinetwegen auf eine sie selbst so stark verdächtigende Weise hier nach Berlin reiste? Woher kannte sie den Aufenthalt dieses Wellerhouse bei Degner?“
Birk schwieg. Er war schwer enttäuscht. Er hatte sich da eine Theorie aufgebaut, die den vielfachen Einzelumständen des dunklen Rätsels völlig gerecht zu werden schien. Nun sah er ein: es war nichts mit dieser Theorie! –
Warp fügte nach kurzer Pause hinzu:
„Im übrigen gibt es in Neuyork keine Middlesux-Straße. Ihre Depesche wäre als unbestellbar zurückgekommen. Möglich, daß Ihnen der alte Bildhauer absichtlich irgend etwas als Adresse Wellerhouses genannt hat. – Jedenfalls läßt sich aus dem, was wir bisher wissen, keine sogenannte Theorie herausklügeln. In einem Punkte gebe ich Ihnen aber doch vollkommen recht: das Treffaß spielt bei alledem eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie das Radium.“
Er nahm die Spielkarte wieder in die Hand.
„Ich möchte sie mir mal in Ruhe ansehen. Darf ich sie einstecken, Herr Birk?“
„Gewiß.“
„Nun müssen wir noch den Feldzugsplan für den Abend festlegen, meine Herren.“ Er griff nach den beiden Briefen. „Sie wollen also das Stelldichein am Bismarckdenkmal wahrnehmen, Herr Birk?“
„Ja. Ich halte es jetzt für wahrscheinlich, daß Helene Welterhaus den ersten Brief mir geschickt hat, dem die Fünfzigtausendmarknote beigefügt war. Helene als geborene Deutsche hätte niemals ein so holperiges Deutsch geschrieben, wie es in dem zweiten Briefe zu Tage tritt.“
Warp nickte. „Dann werden Doktor Leeberg und ich vor dem Cafee Bauer sein. Ich denke, wir werden dort vielleicht auch den Mann antreffen, der auch mich durch den geradezu blitzschnellen Wechsel seiner Masken in Erstaunen setzte. Einmal heute vormittag betrat er zum Beispiel für kaum drei Minuten einen Hausflur. Ein scheinbar anderer Herr kam wieder heraus. Wäre ich nicht Berufsdetektiv, hätte ich mich fraglos täuschen lassen.“
Rochus schüttelte den Kopf. „Sollte man so etwas für möglich halten!“ meinte er. „Ich hielt so etwas bisher stets für Romanphantastereien.“
Warp verzog ein wenig den Mund, stand auf, ging in die Zimmerecke neben den Ofen und zog sich blitzschnell von hinten die Jacke über den Kopf. Da er den Freunden den Rücken zukehrte, sahen sie nur, daß er sehr eifrig die Hände bewegte. Als er sich dann wieder umwandte, war aus dem blonden Holländer ein dunkelhaariger Mann von ausgesprochen südländischem Typus geworden, dem auf der Nase ein Klemmer mit leicht gelblichen Gläsern saß.
Warp kam hinkend wieder in die Mitte des Zimmers.
„Gästatten, Janos Premskö haiße iach,“ markierte er tadellos das Deutsch eines Ungarn.
Dann lachte er, riß sich Bart, Perücke und Klemmer ab und zeigte Rochus und Birk nun sein wahres Gesicht. Er trug den Kopf ganz kurz geschoren. Er konnte kaum dreißig Jahre alt sein. Sein sympathisches Gesicht wechselte jetzt fortwährend den Ausdruck, verzog sich auf die unglaublichste Art, veränderte sich lediglich durch das Spiel der geschulten Muskeln derart, daß die Freunde völlig andere Gesichtszüge vor sich zu haben glaubten.
„Fabelhaft – fabelhaft!“ rief Rochus begeistert. „Herr Warp, das müssen Sie meinem Tonerl vormachen. Die lacht sich tot.“
„Ein andermal, Herr Doktor. Jetzt muß ich in das Fremdenheim Douglas zurück.“ Und er begann vor einem Spiegel sich wieder als van Houten zu maskieren. Man verabredete dann noch für den Abend allerlei, worauf Warp sich verabschiedete.
Kaum hatte Rochus ihn herausgelassen, als Frau Toni bereits ins Sprechzimmer huschte. Leeberg gab ihr mit großartiger Handbewegung den Scheck.
„Was soll das, Rochus?“ fragte sie atemlos.
„Das soll zu Gold gemacht werden, Tonerl! Das ist ehrlich verdient – ganz ehrlich!“
Bevor er seinem Frauchen jedoch weitere Aufklärung geben konnte, sagte Birk zu ihm:
„Ich möchte noch schnell zu Rubiner gehen. Möglich, daß Helene Welterhaus dort die Brosche verkauft hat. Dann muß sie doch auch irgend einen Ausweis vorgelegt haben. Vielleicht erfahre ich so ihre jetzige Wohnung. Ich bin in einer halben Stunde zurück.“
Er überließ es Rochus, Frau Toni mitzuteilen, wer Helene Welterhaus war.
Langsam schritt er nun dem Wittenbergplatz zu.
Vieles – sehr vieles ging ihm durch den Kopf. – Weshalb wohl mochte Helene ihn nach dem Bismarckdenkmal bestellt haben?! Und – weshalb wollte ihn auch der andere Mann sprechen, der seinen Brief doch offenbar von einer Frau hatte schreiben lassen?! Wie war dieser Mann darauf gekommen, den Brief H. W. zu unterzeichnen?! Wie kam es, daß auch dieser Brief nach dem Ceylon-Parfüm duftete?!
Ja – Stuart Warp hatte schon recht: je mehr man in das Dunkel dieses Rätsels hineintastete, desto mehr verwirrte es sich. Da gebar dann immer eine Frage unzählige neue!
Er seufzte und gab es auf, diesem Geheimnis durch logisches Denken näherzukommen. All diese Versuche waren zwecklos.
Helene – Helene würde ihm heute abend ja Aufschluß über so manches geben. Sie mußte ja zum Teil eingeweiht sein. Zu ihm würde sie Vertrauen haben!
Leni – seine Leni! – Ihr Bild hatte er vorhin heimlich zu sich gesteckt. Warp schien es nicht bemerkt zu haben. – Seine Leni! Wie er sich auf das Wiedersehen freute! Wie ihm schon jetzt das Herz schneller pochte in Gedanken an dieses Wiedersehen nach zehn Jahren!
Da sprach ihn, kurz hinter dem Nollendorfplatz, ein alter zerlumpter Mann an.
„Kaufen Sie mir doch Zündhölzer ab, Herr –“
Birk griff in die Tasche. Der Alte sollte heute einen guten Tag haben. Einen Tausendmarkschein warf er ihm in den Kasten mit den Zündhölzern.
Und – fuhr leicht zusammen.
„Gehen Sie nicht zu Rubiner,“ flüsterte der Bettler mit Warps Stimme. „Ich war soeben dort, legitimierte mich und weiß, daß Miß Welterhaus die Brosche nicht verkauft hat. Hinter Ihnen ist jetzt eine Frau her – eine Dame in hellgrauem Kostüm mit leicht rötlichem Haar und Hut mit Reiherstutz –“
Dann schlurfte der Bettler weiter.
Birk war wie benommen. Das, was in den letzten Stunden auf ihn eingestürmt war, hatte seine Spannkraft doch mehr erschöpft, als er bisher gespürt hatte.
– Er ging weiter. Es begann zu tröpfeln. Er merkte es kaum.
Eine Dame verfolgte ihn! Das war dann die Helfershelferin des – Feindes des Amerikaners Wellerhouse, war die Frau, die den Brief an ihn geschrieben, den zweiten den H. W. unterzeichneten!
Er trat in ein Zigarrengeschäft, forderte eine Schachtel Zigaretten, blickte durch das Schaufenster auf die Straße hinaus.
Und – da sah er die Dame.
Sie war nicht verschleiert. Sie war schlank, mittelgroß, üppig. Das Gesicht war unregelmäßig. – Birk schaute wieder weg. Sie hatte den Kopf gewandt und in den Laden hineingeblickt.
Als er wieder auf die Straße hinaustrat, regnete es stärker. Er schlug den Kragen seines arg beschabten Ulsters hoch und ging dem Nollendorfplatz wieder zu. Er überlegte, wie er der Frau entschlüpfen und sie dann selbst beobachten könnte.
Er löste am Schalter des Hochbahnhofs Nollendorfplatz eine Fahrkarte. Er wollte den Bahnsteig betreten und ihn sofort wieder verlassen.
Ein Herr mit einem Mantel über dem Arm hatte sich am Schalter dicht an ihn gedrängt.
Wieder war es Warps Stimme, die nun wie ein Hauch sein Ohr traf:
„Drehen Sie sich nicht um. Kehren Sie zu Leeberg zurück. Ich übernehme die Frau.“
Berd Birk fühlte sich immer unbehaglicher. Er gehorchte. Er erkannte, daß sein unterernährter Körper, sein durch die Sorgen der letzten Zeit zermürbtes Nervensystem nicht mehr die nötige Spannkraft besaßen, dieses Galopptempo von Geschehnissen durchzuhalten. –
Bei Leebergs bat er, sich eine halbe Stunde zurückziehen zu dürfen, legte sich auf den Diwan ins Sprechzimmer und – schlief ein.
Um ein Viertel acht weckte Rochus ihn. – Birk war wieder frischer. Mit gutem Appetit aß er ein paar belegte Brötchen und zwei Eier, trank Tee dazu.
Einzeln verließen die Freunde das Haus.
Es regnete jetzt stärker. Birk benutzte eine Straßenbahn, die ihn bis in die Nähe des Reichstagsgebäudes brachte.
Eilends schritt er dem Bismarckdenkmal zu. Rochus hatte ihm einen Schirm geborgt. Unter dem aufgespannten Schirm hervor spähte er nach Helene aus.
Nichts – keine Seele.
– – – – – – – –
Er schritt auf und ab, sah nach der Uhr.
Zehn Minuten über acht! – Wo blieb Helene?!
Er stand am Rande des Fahrdamms. Ungeduld zerrte an seinen Nerven.
Dann von links her ein geschlossenes Taxameterauto in langsamer Fahrt.
Nun war es dicht vor ihm.
In dem offenen Fenster erschien ein Frauenkopf, eine Hand, die einen Schleier hochzog.
Helene!
Mit einem Sprung war er näher heran.
Die Tür flog auf.
„Steigen Sie ein!“
Das Auto fuhr schneller. – Birk saß neben Helene auf dem Rücksitz.
„Helene!“ stammelte er. „Endlich – endlich habe ich –“
Ein Aufschluchzen neben ihm.
Er tastete nach ihrer Hand.
„Helene – Leni – endlich!“
Sie weinte.
Im Auto war’s dunkel. Nur der Lichtschein der Laternen fiel in kurzen Zwischenräumen durch die Fenster als gleitender heller Streifen hinein.
Sie überließ ihm Ihre Hände.
Und in Berd Birks Herzen war alles wieder erwacht, was in diesen zehn verflossenen Jahren allmählich an heißem Sehnen zur Ruhe gekommen.
„Leni, ich habe Dich nie vergessen – nie! Weshalb erhielt ich nie mehr ein Lebenszeichen von Dir? Weshalb nicht?! Waren wir nicht heimlich verlobt?! Hatten wir uns nicht Treue versprochen?!“
„Ich – ich bin treu gewesen,“ erklang’s ganz leise neben ihm.
Da zog er sie an sich.
Ein Lichtstreifen huschte über ihr Gesicht. Aus ihren Augen strahlte ihm eine Welt von Liebe entgegen.
Ihre Lippen fanden sich.
– – – – – – – –
Des Wiederfindens süße Seligkeit mußte dem Ernst der Stunde weichen.
„Berd – verständig sein! Ganz verständig!“ bat Helene Welterhaus. „Ich darf mich diesem Glück nicht gedankenlos hingeben – ich darf nicht!“
Sie machte sich aus seinen Armen los.
Das Auto durchquerte den Tiergarten bog in den Kurfürstendamm ein.
Berd Birk kam zur Besinnung. Aber ihre Hände behielt er in den seinen. Sie lehnte leicht an seiner Schulter. Der zarte eigenartige Duft des Ceylon-Parfüms umwehte ihn. Eine Frage sprang da in seinem Hirn auf.
„Leni, woher hast Du dieses Parfüm?“
Es war die Überleitung in die rauhe, dunkle Wirklichkeit.
„Die Frau Gräfin schenkte mir das Achatfläschchen beim Abschied vor zehn Jahren, Berd. Du hattest dieses Parfüm stets gern gemocht. Daher benutzte ich es. Es war so sparsam im Verbrauch –“
„Ja – ich roch es sofort, als ich Deinen Brief erhielt, Leni,“ sagte er gedankenvoll. „Aber – merkwürdig! – auch der andere Brief duftete danach.“
„Welcher andere?“
„Der, durch den ich heute zu halb neun abends vor das Cafee Bauer Unter den Linden bestellt wurde.“
Das dunkle Rätsel des Treffaß verdrängte jetzt alles andere. Birk war nicht mehr der zärtliche Liebhaber. Er dachte an Stuart Warp. Erfolge erzielte man nur, wenn man mit kühlem Verstande arbeitete.
„Ich komme noch auf diesen Brief zurück, Leni,“ fügte er hinzu. „Darf ich Dich jetzt einiges fragen?“
„Ja –“ Und leiser: „Auch ich habe viel zu fragen.“
Sie seufzte leicht auf.
„Warst Du mir heute vormittag nach der Bülowstraße in die Goldankaufstelle gefolgt? Und – weshalb?“
„Ich – ich ahnte, daß es Dir schlecht ginge, Berd. Ich wollte Gewißheit haben. Sei mir nicht böse, daß ich Dir die fünfzigtausend Mark sandte.“
Er drückte ihre Hände. Die Rührung übermannte ihn einen Augenblick.
„Weißt Du auch, daß uns beiden zwei Männer nachschlichen, Leni?“ meinte er dann tastend. – Ob sie wohl eine Ahnung von dem „Feinde“ und dessen Gehilfin hatte –? Ob sie etwas von Stuart Warp wußte –?
„Zwei Männer?!“ – Er hörte es ihrer Stimme an, daß sie erschrak.
„Ja – der Detektiv Stuart Warp und ein Unbekannter, der wie Du das Häuschen des Bildhauers heimlich beobachtete –“
„Warp – Warp! Also – also doch!“ Ihre Stimme bebte leicht. „Woher kennst Du ihn denn, Berd?“
„Das ist eine lange Geschichte – Warp hat das Radium übrigens schon gefunden –“ – Dieser Nachsatz war wieder ein vorsichtiger Fühler.
„Gott sei Dank – Gott sei Dank!“ flüsterte Helene Welterhaus. „Dann ist doch wenigstens dieser Verdacht von mir genommen! Warp hielt mich für die Diebin. Ich merkte das. Und weil er mich ständig umlauerte, mußte ich so heimlich Neuyork verlassen.“
„Weshalb mußtest Du es überhaupt, Leni?“
„Weil – weil die Briefe meines Vaters plötzlich ausblieben –“
Birks Kopf fuhr herum. „Deines Vaters, Leni? – Warp sagte, Dein Vater wäre schon vor Jahren gestorben.“
„Für die Welt war er tot. Es war eine häßliche Komödie. Er verunglückte anscheinend bei einem Dampferzusammenstoß. Aber die Komödie war nötig. Er hatte Feinde.“
Birk triumphierte. – Feinde – Feinde! Also stimmte seine Theorie doch!
„Dein Vater war mithin hier nach Berlin geflüchtet, fand bei Degner einen Schlupfwinkel und hielt sich dort für sicher,“ sagte er, jedes Wort abwägend. „Du warst in Unruhe, was aus ihm geworden sein könnte, da er nicht mehr schrieb –“
„So ist es, Berd: Und ich weiß heute noch nicht, ob – ob man ihn – beseitigt hat.“ Sie preßte plötzlich seine Hände, flehte leidenschaftlich: „Du mußt mir jetzt helfen, Berd! Ich habe lange mit mir gekämpft, ob ich mich an Dich wenden sollte. Ich wollte nicht aufdringlich erscheinen.“
„Aufdringlich?! – Leni, bist Du nun in dieser Beziehung beruhigt?“
„Ja – ja! Glücklich bin ich!“
„Ich werde Dir helfen Leni. Vielleicht habe ich Dir schon geholfen –“
„Schon?!“
„Ja. – Wohin fahren wir?“
„Nach Halensee –“
Birk hatte diese Antwort erwartet. Er ahnte: Leni wollte in seinem Zimmer nach dem Treffaß suchen!
„Du – Du mußt mich mit in Degners Häuschen nehmen, Berd,“ sprach Helene hastig weiter. „In Dein Zimmer. Dort hat mein Vater gewohnt –“
Birk sah, wie das Dunkel sich lichtete. Das undurchsichtige Gewebe dieser Geheimnisse schälte sich Schicht für Schicht ab. Der Kern war – das Treffaß!
„Und weshalb zieht es Dich in dieses Zimmer, Leni?“
Er hielt den Atem an. Die Entscheidung war da.
„Ich – ich will – etwas suchen –“
„Etwas, das Dein Vater dort versteckt hat?“
Keine Antwort.
Dann ein fassungsloses Schluchzen – Und Helene schmiegte sich enger an ihn.
„Berd – Berd, ich darf darüber nicht sprechen! Berd, es ist kein Mangel an Vertrauen zu Dir! Ich darf nicht! Ich habe es meinem Vater schwören müssen, bevor er Neuyork im Dezember des Vorjahres verließ – Frage nichts mehr! Nur – nur führe mich zu Dir! Laß mich in Deinem Zimmer allein – wenige Minuten.“
Birk wußte jetzt: Leni kannte das Versteck des Treffaß!
Leni wollte nur das Treffaß an sich nehmen!
Und – das Treffaß war in Warps Besitz!
Wie sollte er dies Leni beibringen?! –
Das Auto hielt. Helene hatte dem Chauffeur schon vorher genaue Anweisungen gegeben. Es hielt am Ringbahnhof Halensee.
Birk sagte schnell: „Du sollst mir nur so viel mitteilen, wie Du darfst, Leni. Ich werde nie verlangen, daß Du Deinen Schwur brichst –“
Sie umarmte ihn, küßte ihn. „Ich danke Dir!“
Dann stiegen sie aus. Helene bezahlte den Chauffeur, nachdem sie Birk noch zugeflüstert hatte: „Geh die Ringbahnstraße hinab. Der Chauffeur soll Dich nicht kennen. Es ist besser so.“
Sie hatte den Schleier wieder herabgezogen.
Bald holte sie Birk ein. – Der Regen hatte aufgehört.
Die Luft war angenehm frisch.
Wie sie beide nun so dicht nebeneinander die stille Straße unter dunkelschattenden Kastanien entlanggingen, überkam Birk das heiße, tiefe Glücksgefühl, weil er Leni nun wiedergefunden hatte. Er legte den Arm um sie, flüsterte zärtlich:
„Ich war so einsam, Leni, weshalb ließest Du nie etwas von Dir hören? Zehn – zehn Jahre lang nichts – nichts!“
„Ich – durfte nicht –“ – Er fühlte, daß ein Zittern über ihren Leib hinlief. Und er dachte: „Da ist es wieder, das Rätsel! Ob es denn schon damals vor zehn Jahren begonnen hat, als Theodor Welterhaus so plötzlich das Schloß verließ?“
„Sind diese Erinnerungen denn so traurig, so aufregend, Leni?“ fragte er zart.
„Nichts – nichts mehr von alledem, Berd! Es – es ist ja alles so häßlich – so unnatürlich.“ – Ihre Stimme verriet noch heute, was alles sie gelitten haben mußte.
„Ja – vergiß es,“ meinte Birk innig. „Vergiß es! Du hast ja jetzt mich!“
„Dich – Dich!“ wiederholte sie träumerisch. „Weißt Du noch, Liebster, – damals der Abschied am fünften September 1913! Kein Auge habe ich in jener Nacht zutun können. Nur geweint habe ich. Und morgens der Besuch bei der gräflichen Familie! O Berd – das war das schwerste. Da mußte ich so fremd Dir gegenüber tun! Und dann schenkte mir die Gräfin das Achatfläschchen –“
Birk hätte jetzt diese köstlichen Minuten so gern ohne jeden Gedanken an das große Rätsel ausgekostet.
Das Achatfläschchen! Das Ceylon-Parfüm! Und – auch der zweite Brief hatte danach geduftet!
Da war es wieder, das dunkle Geheimnis, ergriff von ihm Besitz. Da waren die Gedanken schon wieder wie Spürhunde hinter all den Fragen her! –
Das Ceylon-Parfüm war eine Seltenheit. Wie kam der „Feind“ und dessen Helfershelferin in Besitz des Parfüms? Wie hatte auch der zweite Brief diesen Duft ausströmen können? –
„Leni, wer mag wohl das Radium gestohlen haben?“ meinte er zaghaft. „Hast Du irgend einen Verdacht?“
Sie seufzte.
„Nein, keinen, Berd. Wie sollte ich auch.“
„Hattest Du eine Bekannte, eine Freundin in Neuyork, die rötliches Haar besaß und eine schlanke üppige Figur?“
Leni war plötzlich stehen geblieben. Der Schein der nächsten Laterne traf ihr Gesicht. Ein Ausdruck grenzenlosen Erstaunens lag darauf.
„Kennst Du Helma Wattner, Berd?“
„Ja – von Ansehen. Wart Ihr beide eng befreundet?“
„Das nicht gerade –“
Sie gingen weiter.
„Nein – eng befreundet nicht. Immerhin stand sie mir von den Kolleginnen am nächsten. Sie war Assistentin bei Professor Granier, dem Botaniker, ich bei Professor Hollgreen.“
„Hast Du ihr mal ein wenig von dem Ceylon-Parfüm überlassen, – geschenkt?“
„Ja. Ein paar Tropfen genügten, um ein ganzes Fläschchen von reinem Alkohol in Parfüm zu verwandeln.“
Birk mußte sich zusammennehmen, um seine Freude nicht zu verraten.
„Leni, weißt Du, daß Helma Wattner zur Zeit in Berlin weilt?“
Und – abermals blieb Helene Welterhaus stehen.
„In – Berlin?! Hier in Berlin?! Nein, das weiß ich nicht!“
„Kannte Helma Deinen Vater?“ – Birk hatte Lenis Arm in den seinen genommen und zog sie weiter.
„Nein, Berd. Mein Vater war ja bereits 1918 verunglückt – scheinbar! Ich lernte Helma erst später kennen, 1920 im Frühjahr.“
Sie hatten jetzt die Patroklusstraße erreicht. Der Regen hatte hier wohltuend gewirkt. Der staubige Weg war fest und glatt geworden.
Im Westen stand eine Wolkenwand mit zart rosa getönten Rändern: der letzte Gruß der Sonne, die nun den Bewohnern der anderen Welthalbkugel leuchtete.
An dem endlosen Bretterzaun eines Holzhofes schritten sie dahin. Und Birk überlegte die nächste Frage.
Da wurden sie angesprochen – von dem Wächter des Holzhofes, mit dem Doktor Birk sich schon des öfteren abends unterhalten hatte.
– – – – – – – –
„’n Abend, Herr Doktor –“
„Guten Abend, Herr Reinke. Auch schon wieder auf dem Posten?“
„Man muß – man muß! Die Leute stehlen ja heutzutage wie die Raben. Übrigens – der Hasso ist vorhin weggelaufen, Herr Doktor, ’ner Hündin nach, so um acht Uhr rum. Da kam hier ’ne Dame mit ’ner Hündin an der Leine entlang. Ich wollt’ sie schon anhalten, die Dame. Die Hundediebe machen’s ja so, daß sie so mit ’ner Hündin wertvolle Köter weglocken. Aber – die Dame war mir eben zu fein angezogen, und man verbrennt sich doch nicht gern das Maul.“
Birk dachte sofort an diese Helma Wattner, dachte daran, daß Hasso vielleicht nur deshalb aus der Nähe des Häuschens entfernt worden war, um ungestört bei Degner einbrechen zu können.
„Haben Sie die Dame sich genau angesehen, Herr Reinke?“ fragte er hastig. „Hatte sie einen dunklen Hut mit einem weißen Stutz an der Seite auf? Hatte sie rötliches Haar?“
„Stimmt – stimmt – so etwas rote Haare, Herr Doktor. Und hier –“ er schlug sich vor die Brust – „hier war allens da!“
„Danke, Herr Reinke. – Auf Wiedersehen –“ – Er eilte hinter Leni drein, die langsam weitergegangen war.
„Leni, – ich fürchte, daß Deine angebliche Freundin Helma mich heute abend durch den anderen Brief von hier genau so hat weglocken wollen, wie sie es mit Hilfe einer Hündin mit dem Wolfshund gemacht hat, den Dein Vater sich zu seinem Schutz angeschafft hatte.“
Er drängte sie rascher vorwärts.
„Der zweite Brief duftete ja ebenfalls nach dem Ceylon-Parfüm. Kein Zweifel, daß diese Helma ihn geschrieben hat. – Hoffentlich hat man dem alten Degner nicht etwa ein Leid angetan! – Rascher, Leni, rascher! Mich treibt die Angst vorwärts –“
„Laufe voraus, Berd! Ja – tu’s! Deine Äußerungen über Helma haben einen Verdacht in mir geweckt, der –“
Birk hörte nichts mehr. Er stürmte davon. Er fand die Vordertür verschlossen. Er hielt sich nicht damit auf, erst den Schlüssel hervorzuziehen und aufzuschließen. Er jagte um das Häuschen herum an die Hintertür. Sie stand weit offen. Aus dem Küchenfenster fiel ein breiter Lichtstreifen auf den regenfeuchten Boden.
Birk riß die Küchentür auf.
„Herr Degner!“ Er brüllte es mit voller Lungenkraft.
„Herr Degner!“
Keine Antwort.
Dann wandte er sich um, stieß die Tür seines Zimmers auf.
Seine Hand fand den elektrischen Lichtschalter. Ein Knacken – es wurde hell.
Ein Blick genügte: das Zimmer war durchsucht worden! Das Bett stand abgerückt von der Wand. Die Schranktür war nur zugeklemmt. Vor dem Schranke lagen Wäschestücke und Kleider auf den Dielen.
Der – der „Feind“! Hier hatte der Feind gehaust, hatte – gesucht – das Treffaß!
Und – wo war Degner?
Birk eilte zurück in die Küche, dann in das Vorderzimmer.
Leer! Der Alte war nicht hier.
Und weiter hastete Birk in Degners Schlafstube jenseits des Flurs. Sie lag Wand an Wand mit seinem Zimmer.
Auch leer!
Wo war der Greis, – wo?!
Dann kam Helene Welterhaus – kam und verharrte regungslos in der offenen Tür.
Birk deutete stumm auf die Unordnung in seinem Zimmer.
Leni lehnte am Türpfosten.
Sie war bleich geworden. Ihre Augen flackerten, wandten sich aufwärts – zur Zimmerdecke.
Birk folgte der Richtung ihrer Blicke. Er merkte, daß Leni die Querbalken der Decke abzählte. Beim dritten hörte die ruckweise Bewegung ihres Kopfes bereits auf.
Der dritte Querbalken war der, in dessen Riß das Treffaß verborgen gewesen war.
Birk sah ein, daß er der Geliebten nicht länger verschweigen dürfe, wer das Treffaß jetzt in Besitz habe.
„Leni,“ sagte er leise und griff nach ihrer Hand, „Du wirst hier vergebens suchen. Ein Zufall ließ mich dort oben eine Spielkarte, ein Treffaß, finden, dem ich einige Bedeutung beimaß. Stuart Warp hat es an sich genommen. Er wollte es –“
Lenis starrer, verzweifelter Blick ließ ihn schweigen.
Dieser Blick schnitt Birk ins Herz.
„Leni, ich ahnte ja nicht, daß –“
Fäuste donnerten vorn gegen die Haustür. Die Zugglocke bimmelte schrill.
Birk war zusammengefahren.
Und nun hörte er auch durch die offene Hintertür vom Garten her den Schrei eines Käuzchens – diese dumpfen tiefen Töne, deren unheimlicher Klang mit dazu beigetragen hat, dieser Eulenart den Namen „Totenvogel“ im Volksmunde zu verschaffen.
„Entschuldige, Leni. Ich muß öffnen gehen –“
Und er eilte durch den Flur der Vordertür zu, vernahm nochmals den Käuzchenruf.
Drehte den plumpen Schlüssel um, zog die Tür auf.
Vor ihm stand Rochus Leeberg.
Ein Blick in das Gesicht des Freundes ließ Birk irgendein Unheil ahnen.
„Rochus, – was ist geschehen?“
Hinter Leeberg erschien jetzt auch der Wächter Reinke.
Und Reinke rief:
„Der alte Degner ist tot. Ich habe ihn soeben an der Ostecke des Holzplatzes gefunden. Man muß ihn von außen über den Zaun geworfen haben. Ich wollte Ihnen dann schnell alles mitteilen, Herr Doktor. Da traf ich diesen Herrn, der es auch sehr eilig hatte. Er wollte ebenfalls zu Ihnen –“
Berd Birk fühlte, wie er erbleichte.
Leeberg als Arzt war jetzt dieser Situation mehr gewachsen. Selbst ein Mord war für ihn doch immer nur das Erlöschen eines Lebensfunkens, ein Todesfall.
„Herr Reinke mag die Polizei benachrichtigen, Berd,“ sagte er halb zu dem Wächter gewandt. „Sie haben doch sicher Telephon in Ihrer Wächterbude –“
„Ja – im Kontor. – Gut – ich werde dann telephonieren.“
Reinke machte kehrt und verschwand.
Leeberg trat ein. Birk verschloß die Tür wieder. Er hatte sich jetzt gefaßt.
„Wo ist Warp, Rochus?“
„Keine Ahnung –“
„Du wirst sofort Helene Welterhaus kennenlernen,“ meinte Birk, um den Freund vorzubereiten. „Sie ist in meinem Zimmer. Komm’!“
Aber – Leni war nicht mehr da. Das Zimmer war leer.
Birk lief in die Küche, in den Garten.
„Leni – Leni!“
Nichts – nichts.
Rochus Leeberg knurrte: „Verdammt – nette Geschichten.“
Birk tauchte aus dem Dunkel des Gartens wieder auf.
„Es war ein Signal. Es hat hier noch nie ein Käuzchen geschrien, Rochus. Ein Signal für Leni –“
„Ein Käuzchen, Berd?“
„Ja –“ – Er war verstört. Er sah sich einer schwierigen Lage gegenüber. Was sollte er nun, wenn die Polizei hier erschien, über Leni angeben – was nicht? – Wo nur Warp sein mochte?! Warp würde ihm raten können. Zu Warp hatte er Vertrauen.
„Rochus, Du hast natürlich vor dem Cafee Bauer umsonst aufgepaßt,“ wandte er sich an den Freund.
„Ja – ganz umsonst. Ich bemerkte niemand, der dort auf und ab ging.“
„Sahst Du Warp?“
„Nein – Wir wollten uns doch hier draußen treffen. Ich wartete bis kurz vor neun. Dann bestieg ich den Autoomnibus nach Halensee. Warp hat sich mir nicht zu erkennen gegeben.“
Die Freunde standen jetzt in Birks Zimmer. Rochus Leeberg fuhr fort: „Der Wächter hat mir schon erzählt, daß ein Weib den Hasso weggelockt hat. Und hier – das sieht man – ist alles durchsucht worden. Da haben die Schufte vorher noch den alten Degner beseitigt.“
Birks Augen ruhten auf dem Kopfteil des Bettes. Dann zog er mit einem Male sein Taschenmesser, trat an das Bett heran und löste das kleine schwarze Brettchen, hinter dem das falsche Radium in der Aushöhlung des Holzes hätte liegen müssen. Doch: das Stück Seide war nicht mehr da.
Rochus Leeberg nickte Birk zu. „Die Schufte wollten beides holen, die Spielkarte und das Radium!“
Birks Gedanken waren schon wieder bei Leni. – Weshalb hatte sie sich entfernt? Wer hatte ihr das Signal gegeben? Etwa ihr Vater Theodor Welterhaus?
„Nein“ entschied der vor sich hingrübelnde Birk, – „nein, Welterhaus ist tot, ist hier durch das Radium langsam zu Tode gequält worden. Eines Morgens wird Degner ihn tot im Bett aufgefunden haben. Da hat er ihn dann irgendwo verscharrt. Wellerhouse war ja nicht polizeilich gemeldet. Degner hätte viele Scherereien gehabt, wenn er den Todesfall angezeigt hätte. Leni sagte ja, daß die Briefe ihres Vaters plötzlich ausgeblieben seien. Es wird schon so sein. Es ist dies meine Theorie, und ich halte vorläufig daran fest. Degners Benehmen mir gegenüber, sein stetes Ausweichen, wenn ich die Rede auf den Amerikaner brachte, spricht ebenfalls für die Richtigkeit dieser Theorie.“
Rochus hatte ihn still beobachtet.
„Berd, was wird bei alledem wohl herauskommen?!“ meinte er und setzte sich in den altehrwürdigen Ohrensessel. „Hat Helene Welterhaus Dir denn keinen Aufschluß über das Treffaß gegeben?“
„Nein. Und sie wird es auch nicht tun. Sie darf es nicht. Ich bin durch das Wiedersehen mit ihr nur wenig klüger geworden, was das Rätsel betrifft. Ich hoffte schon, der Lösung nahe zu sein. Dann sanken noch dichtere Vorhänge herab. Eigentlich ist das Ganze jetzt unergründlicher denn je. Wir werden an den Kern, fürchte ich, nicht herankommen.“
Und nach einer Pause: „Hat Dir der Wächter Reinke denn gesagt, daß Degner irgendwie tödliche Verletzungen hatte?“
„Ja – eine Schädelwunde, die stark blutete. Er behauptete, er habe Degner nach dem Puls gefühlt, jedoch nichts von Pulsschlag gespürt. Ob ich mal hingehe und nachsehe? Vielleicht –“
– – – – – – – –
In der noch offenen Stubentür waren zwei Gestalten erschienen: Reinke, der den alten Bildhauer umgefaßt hatte und stützte!
Leeberg sprang sofort zu, half Degner zum Sessel geleiten.
Reinke erklärte kurz: „Das war also man bloß ein Irrtum. Herr Degner kam mir entgegen, als ich ins Kontor wollte.“
„Ich – ich bin oben vom Zaun herabgestürzt,“ sagte der Bildhauer matt.
Birk war in die Küche geeilt, brachte eine Schüssel mit Wasser und zwei saubere Handtücher.
Degner lehnte mit geschlossenen Augen im Sessel. Leeberg reinigte die Wunde, die durchaus ungefährlich war. Der alte Mann mußte bei dem Sturz mit dem Schädel irgendwo aufgeschlagen sein.
Birk zog den Wächter abseits. „Haben Sie schon telephoniert, Herr Reinke? – Nein? Dann ist es gut. Bitte, sprechen Sie vorläufig über diese Dinge nicht. Hier, nehmen Sie nur –“ Er drückte ihm einen Fünftausender in die Hand. „So, wir danken Ihnen, Herr Reinke. Sie müssen ja nach dem Holzplatz zurück.“
Reinke ging davon. –
„Hast Du vielleicht Kognak, Rum oder Wein hier?“ fragte Leeberg jetzt. „Degners Puls ist etwas matt –“
„Ein Rest Rum muß in der Küche stehen, Rochus.“
„Verdünne ihn mit Wasser – schnell!“ –
Degner schluckte gehorsam den ungesüßten kalten Grog.
„Fühlen Sie sich besser?“ meinte Leeberg, den Puls kontrollierend.
„Ja –“
„Dann werden wir Sie zu Bett bringen –“
Der Alte schlug die Augen auf. Ein scheuer Blick glitt durch die getünchte armselige Stube. Dieser Blick hatte Leben, Ausdruck. Daher fragte Birk auch:
„Sie sind vor den Leuten geflohen die hier eindrangen?“
„Es – es war nur ein Mann – ein einzelner, ein Buckliger mit schwarzem Bart. Er klopfte an die Hintertür und rief, er hätte einen Brief an mich abzugeben – von Ihnen, Herr Doktor – und auf Antwort zu warten. Ich öffnete, ließ aber die Sicherheitskette vorgelegt. Da warf der Fremde sich gegen die Tür. Der Kettenhaken riß, und die aufspringende Tür schleuderte mich zu Boden. Bevor ich noch aufstehen konnte, hatte der Mensch mich schon gepackt und stieß mich die Kellertreppe hinab. Die Kellertür schloß er zu. – „Wenn Sie um Hilfe rufen, schlage ich Sie nieder!“ drohte er noch. – Er wußte nicht, daß der Keller sich bis unter das Atelier hinzieht. Dort in der Bretterbude mit dem Glasdach befindet sich eine Falltür. So gelangte ich ins Freie, lief über die Straße und wollte über den Zaun des Holzhofes klettern. Dabei verlor ich oben auf dem Zaun das Gleichgewicht und stürzte hinab, wurde ohnmächtig –“
Birk stand dicht vor dem Sessel. „War der Mann der Sprache nach ein Ausländer, Herr Degner?“
„Nein. Er sprach sogar etwas Dialekt. So, wie sie in Thüringen sprechen, Herr Doktor.“
Birks Augen weiteten sich einen Moment. – Thüringen?! Nahe bei Gotha hatte das Schloß des Grafen Hackfeld-Gürzen gelegen! Sollte also seine Vermutung zutreffen, daß das ganze Geheimnis schon mit dem Tage der fluchtartigen Abreise Theodor Welterhaus’ von Schloß Gürzen begonnen hatte, daß das Rätsel also zehn Jahre zurückreichte?
Er beugte sich etwas zu dem Greise hinab.
„Herr Degner, wußten Sie, daß Wellerhouse in Wahrheit Theodor Welterhaus hieß?“
Des Alten angstvolle Blicke änderten den Ausdruck.
„Nein. Das wußte ich nicht, Herr Doktor –“
Birk wollte jetzt Gewißheit haben.
„Wo begruben Sie Wellerhouse, Herr Degner?“
Des alten Mannes Mund öffnete sich. Ein dumpfes Gurgeln drang daraus hervor. Sein weißumrahmtes Gesicht wurde dunkelrot, dann erdfahl.
„Sagen Sie die Wahrheit!“ mahnte Birk streng. „Sie fanden Wellerhouse eines Morgens tot im Bett auf, nachdem er schon längere Zeit über starke Kopfschmerzen, Mattigkeit und anderes geklagt hatte –“
Degners zitternde Hände reckten sich plötzlich empor.
„Haben – Sie – Erbarmen mit mir,“ flehte er. „Ich – ich will alles gestehen. Es ist so, wie Sie soeben sagten, Herr Doktor. Ich – ich habe Wellerhouses Leiche dann abends in meinen Handwagen gelegt, mit Säcken zugedeckt und bin bis zu einem Neubau am Fehrbelliner Platz gefahren, wo ich den Toten rasch auf den Fahrdamm legte. Ich habe noch von weitem beobachtet, daß ein Auto dort halt machte und die Leiche mitnahm. Seitdem habe ich nichts mehr von Wellerhouse gehört. Man wird ihn wohl als unbekannt begraben haben.“
„Und er war bestimmt tot?“
„Ja. Er kränkelte schon lange. Er hatte da auf dem Kopf große wunde Stellen. Alle Haare gingen ihm aus. Einen Arzt wagte er nicht zu konsultieren. Er verließ sein Zimmer ja nur abends nach Dunkelwerden. Er fürchtete sich beständig vor seinen Feinden. Er sagte mir, er sei in Amerika Mitglied eines anarchistischen Klubs gewesen, habe sich mit den anderen entzweit und werde nun verfolgt, da man von ihm Verrat der –“
Birk ließ ihn nicht ausreden. „Hat Wellerhouse Ihnen gegenüber jemals ein Treffaß erwähnt, Herr Degner? Vielleicht als geheimes Erkennungszeichen jenes Klubs?“
„Nein, niemals.“
„Erhielt er je Briefe?“
„Nein, nie. Er lebte hier wie in freiwilliger Gefangenschaft. Aber – Wellerhouse war ein guter Mensch. Wir sind uns recht nahe getreten in den vier Monaten. Er kann kein Verbrecher oder dergleichen gewesen sein.“
Leeberg mischte sich ein. „Berd, jetzt müssen wir Herrn Degner Ruhe gönnen.“
Der alte Bildhauer blickte Birk scheu an. „Werden – Sie mich bei der Polizei anzeigen, Herr Doktor?“
„Nein. Dazu liegt keine Veranlassung vor, Herr Degner. Seien Sie ganz ohne Sorge.“ –
Die Freunde halfen Degner dann beim Auskleiden und legten ihn zu Bett.
Als sie Birks Zimmer wieder betraten, saß da in dem Ohrensessel ein altes zerlumptes Weib mit einer Stahlbrille auf der knallroten Nase. Das Weib hatte die Füße weit von sich gestreckt und – rauchte eine Zigarette.
– – – – – – – –
„Da wären wir,“ sagte Stuart Warp.
Rochus Leeberg lachte. „Unglaublich – fabelhaft! Also das waren Sie, Herr Warp, der da vor dem Cafee Bauer als Bettlerin stand!“
„Das war ich. – Im Luxusomnibus konnte ich nicht gut nach Halensee hinaus. Ich mußte die Straßenbahn benutzen. Degners interessantes Verhör habe ich vom Flur aus mit angehört. Die Sache mit dem Anarchistenklub ist natürlich Unsinn.“
Birk und Rochus setzten sich auf den Bettrand.
„Der Kerl hat also nun doch hier das Zimmer durchsucht,“ fuhr Warp fort.
„Und das falsche Radium mitgenommen – als einziges,“ erklärte Doktor Birk.
„Ja – die Mordwaffe wollte er entfernen, das Radium. – Ein seltsamer Fall, dies alles.“ Er rauchte sich die zweite Zigarette an. „Haben Sie Miß Welterhaus getroffen, Herr Birk?“
„Getroffen und mancherlei erfahren.“ Er erzählte alles. Nur daß Leni und er sich in alter, neu erblühter Liebe wieder zusammengefunden, verschwieg er.
Warp schaute grübelnd vor sich hin.
„Das rotblonde Weib, die Helma Wattner, war sehr vorsichtig,“ sagte er dann. „Ich blieb vom Nollendorfplatz wieder hinter ihr. Und doch entschlüpfte sie mir. Nun sitzen wir also auf dem trockenen, meine Herren. Miß Helene ist weg, die Wattner ist weg, der Kerl ist weg! – Nur – das Treffaß haben wir noch.“
Er bückte sich, zog den linken zerrissenen Gummizugschuh aus und holte aus dem Schuh die in Papier gewickelte Spielkarte heraus.
„Dies wird der Magnet sein, Herr Doktor Birk!“ Er hob das Treffaß hoch. „Helene wird an Sie schreiben und Sie bitten, ihr das Treffaß auszuhändigen. Und Sie – werden es tun, fürchte ich.“ Er sprach sehr bedächtig. „Denn Ihre Jugendfreundin muß Ihnen doch sehr nahe stehen – sehr!“
„Woraus schließen Sie dies, Herr Warp?“ fragte Berd Birk etwas gereizten Tones.
„Weil Sie das Lichtbild in Doktor Leebergs Sprechzimmer verschwinden ließen. Die Dame ist Ihre Braut, Herr Birk, behaupte ich, – wieder Ihre Braut geworden. Stuart Warp liest aus Männeraugen ebensoviel heraus wie aus Frauenaugen. Und Ihre Augen glänzten, als Sie von der Begrüßung im Auto sprachen. – Ja, Sie würden das Treffaß fraglos Miß Helene bedingungslos ausliefern, würden nichts mehr fragen. Und dann würde das große Rätsel ewig Rätsel bleiben. Das – darf nicht sein.“
Birk war verlegen geworden. Warp hatte nicht so ganz unrecht.
„Deshalb werde ich das Treffaß behalten, Herr Birk –“ – Warp hatte noch mehr hinzufügen wollen.
„Das werden Sie nicht!“ rief da eine scharfe Stimme von der Tür her, die noch immer offenstand. „Werfen Sie mir die Karte zu, oder –“
Drei Augenpaare stierten den schwarzbärtigen buckligen Mann an, der dort, in jeder Hand einen Revolver, im Türrahmen sich aufgepflanzt hatte.
Dann sagte Warp, indem er sich mit dem Treffaß Luft zufächelte:
„Das nennt man Pech!“
„Nein, das nennt man Dummheit! Wie konnten Sie drei hier bei offener Stuben- und Hintertür verhandeln?! – Los, werfen Sie die Karte! Oder –!“
Warp holte auch gehorsam mit der Hand zum Wurfe aus, meinte jedoch plötzlich: „Eine Spielkarte so zu werfen daß sie in einer bestimmten Richtung fliegt, ist nicht ganz einfach. Worauf ich Sie hiermit aufmerksam mache.“
Der Mann mit den Revolvern erwiderte kalt: „Schleudern Sie die Karte dicht über dem Fußboden entlang!“
Warp schien Zeit gewinnen zu wollen. Birk und Rochus schauten jetzt nur nach ihm hin. Warp war ihre letzte Hoffnung gegenüber den beiden drohenden Revolvermündungen. Sie ahnten, daß er das Treffaß so ohne weiteres dem Feinde nicht ausliefern würde.
„Gestatten Sie noch eine Bemerkung,“ sagte Stuart Warp nur zu dem Buckligen. „Dieses Treffaß wegen haben Sie Theodor Welterhaus durch Radiumbestrahlung heimtückisch ermordet –“
Man sah, daß der Mann zusammenzuckte.
„Ja. Sie sind überrascht, daß Ihr Verbrechen nun doch an den Tag gekommen ist,“ fuhr Warp fort. „Ich kann Ihnen sogar noch eine zweite Überraschung bereiten: das, was Sie vorhin dort aus dem Kopfteil des Bettes als Radium mitnahmen, ist lediglich fettige Brotkrume und Zigarrenasche, eine Erfindung Doktor Birks. Das echte Radium liegt bereits im Tresor der Amerikanischen Botschaft.“
Der Mann im Türrahmen stieß ein nicht ganz zwanglos klingendes Hohngelächter aus, in das Warp sofort einstimmte, wodurch der Bucklige noch mehr außer Fassung geriet.
„Werfen Sie jetzt die Karte!“ zischte er dann. „Ich kenne Ihre – Späße! Ich zähle bis drei. Dann drücke ich ab.“ – Man merkte es seiner Stimme an, daß er nicht umsonst drohte.
Stuart Warp bückte sich ganz tief auf die Dielen hinab, ließ die rechte Hand, die das Treffaß hielt, wie zur Probe ein paar Wurfbewegungen dicht über dem Fußboden machen und – benutzte diese Augenblicke dazu, mit der Linken in den zerschlissenen Rock seines Bettlerinnenkostüms zu greifen, was so geschickt geschah, daß weder die Freunde noch der Bucklige dies gewahr wurden.
Dann flog das Treffaß die drei Schritt zur Tür hin, prallte gegen die Türschwelle, wich nach rechts ab und glitt unter einen dicht neben der Tür stehenden Stuhl.
Der Bucklige beobachtete Warp scharf, wie dieser sich jetzt wieder aufrichtete.
Warps Linke lag in den Rockfalten. Die Rechte legte er auf die Armlehne, blinzelte den Mann an und sagte achselzuckend: „Ich jage Ihnen das Treffaß schon wieder ab!“
Die Karte war mit der Bildseite nach oben gefallen. Sie schimmerte wie ein heller Fleck auf den Dielen unter dem Rohrstuhl. Der Bucklige trat etwas vor und streckte das linke Bein zur Seite, um das Aß mit der Stiefelspitze näher heranzuziehen. Seine Augen glitten beständig von Warp zu den Freunden, dann zu der Karte hinab.
Er scharrte das Aß allmählich unter dem Stuhle hervor. Es lag nun wieder dicht vor der Schwelle.
Der Mann war überaus vorsichtig. Er beugte die Knie, kniete auf die Schwelle nieder, senkte die linke Hand samt dem Revolver, zielte mit dem anderen weiter auf Warp und hob so das Treffaß auf.
„Nun haben Sie es,“ lachte Stuart Warp plötzlich. „Ja – nun haben Sie es – nämlich das – falsche! Sehen Sie sich doch mal die Rückseite an!“
Der Mann grinste, hatte auch den linken Revolver wieder schußbereit vorgestreckt.
„So plump müssen Sie mir nicht kommen, Herr Warp!“ höhnte er.
Warp hatte sich im Sessel zurückgelehnt – so recht bequem.
„Legen Sie Ihre Revolver vor sich auf die Dielen,“ befahl er jetzt, und dies war kein Scherz mehr. Seine Stimme war hell und schneidend wie das Schrillen einer Signalpfeife. „Ich habe Ihnen Ihre Verbrechen vorgehalten. Sie bedrohen uns mit der Waffe in der Hand. Das genügt. Gehorchen Sie!“
Der Bucklige kniete noch. Ein tückischer Blick flog zu Warp hin.
„Werden Sie nicht frech, Sie Spitzel!“
„Gehorchen Sie –!“ – Warp hatte es mit voller Lungenkraft gebrüllt.
Der Kniende schrak zusammen. „Hund, Du willst nur Hilfe herbeirufen! Ich –“
Er hatte sich schnell aufgerichtet, hatte jedoch dabei nicht verhindern können, daß seine vorgestreckten Arme beim Hochgehen aus der knienden Stellung aus der Richtung kamen.
Ein dünner Knall sprang aus Warps Schoß auf – noch einer – ein Zweiter – ein dritter.
Der Mann im Türrahmen wurde wie von unsichtbarer Gewalt nach hinten in den Flur geworfen, schlug mit dem Kopf im Umsinken gegen die Küchentür und taumelte schwerfällig zu Boden.
Die Revolver fielen polternd auf die Dielen. Das Treffaß flatterte hinterdrein.
Birk und Leeberg waren hochgeschnellt. Warp stand jetzt vor dem Sessel, in der Linken eine spielzeugähnliche kleine Mehrladepistole.
„Nehmen Sie diesen Ausgang nicht zu tragisch, meine Herren,“ sagte Warp gelassen. „Als ich von Ihnen vorhin den Namen Helma Wattner hörte, fiel mir sofort der Hochstapler John Wattner ein, den wir schon seit Jahren suchen. Da es aber bei uns drüben ebenso viele Wattners wie hier Meiers und Schmidts gibt, da ich ferner John Wattner noch nie persönlich gegenübergestanden habe, wußte ich bis zuletzt nicht, ob unser Mann hier dieser John Wattner vielleicht sei. Die Möglichkeit war gegeben, da Wattner, früher Artist und zwar Verwandlungskünstler, mit unserem Gegner die Fertigkeit des blitzschnellen Wechselns der Maske gemeinsam hatte. Erst als er sich aus der knienden Stellung erhob, sah ich seinen rechten Handrücken, wo John Wattner, wie uns bekannt, ein großes rotes Brandmal hat. Dieses[6] Mal gab mir die Gewißheit, daß es der berüchtigte John war. Ich wußte, daß er zumindest mich nicht schonen würde. Seine Gewalttätigkeit schreckt vor nichts zurück. Es kam eben darauf an, wer zuerst abdrückte.“
– – – – – – – –
John Wattner hatte die eine Kugel in die Schläfe, die beiden anderen quer durch die Brust erhalten. Er war tot.
Rochus und Warp trugen die Leiche ins Zimmer und legten sie auf die Dielen. Birk hatte die beiden Revolver und das Treffaß aufgehoben. Letzteres steckte er in die Tasche.
Auch der alte Bildhauer, den die Schüsse aus dem Bett gescheucht hatten, erschien nun in einem langen Schlafrock lautlos wie ein Gespenst und stellte sich neben den Toten, dem Warp gerade den falschen Bart und die Perücke abnahm. Der Greis murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Birk, der ihm am nächsten stand, konnte immerhin etwas davon halb erraten: „– nun hätte der Ärmste Ruhe vor seinem eigenen Blut!“
Birks wacher Geist griff die letzten Worte begierig auf. „– Eigenes Blut – eigenes Blut!“ – Er wußte ja, daß Lenis Vater aus erster Ehe einen ungeratenen Sohn besaß, der nie mehr erwähnt wurde. Nur durch einen Zufall war Leni einmal eine Äußerung über diesen Stiefbruder entschlüpft, der mehrere Jahre älter als sie war und den Theodor Welterhaus notgedrungen zu seinem nach Amerika ausgewanderten Bruder abgeschoben hatte. –
Birk sah hier eine neue Spur vor sich, die aus der Gegenwart rückwärts in die Vergangenheit lief. Er wollte den alten Degner jetzt sofort zwingen, ihm alles mitzuteilen, was er von „Thomas Wellerhouse“ wußte, – alles! Der Bildhauer hatte ja offenbar vieles davon unterschlagen.
„Herr Degner,“ sagte er laut, und Warp und Rochus schauten sofort auf, „ist dies Theodor Welterhaus’ Sohn Johannes?“ – Er deutete dabei auf den Toten.
„Ja. – Jetzt darf ich’s wohl sagen, Herr Doktor. Es ist Johannes Welterhaus, auch ein Mitglied des Anarchistenklubs. Durch das Los wurde er dazu bestimmt, seinen Vater zu beseitigen. – Mehr weiß ich wirklich nicht.“
Leise schlich er wieder davon – in sein Zimmer hinüber.
Warp blickte ihm nach. „Wir kommen dem Kern des Rätsels Schritt um Schritt näher,“ meinte er. „Grauenvolles hat sich uns enthüllt: ein Sohn, der dem Vater durch Radiumstrahlen das Hirn aus dem Schädel sengt! – Was wird die völlige Lösung bringen?!“
Dann horchten die drei Herren auf – lauschten dem tiefen Kläffen eines Hundes, das aus dem Gemüsegarten kam.
„Hasso!“ sagte Birk mit besonderer Betonung. „So bellt Hasso nur, wenn er sich freut. – Ob der Hund etwa einen Totgeglaubten gefunden hat? Ob die Käuzchenrufe doch von Lenis Vater herrührten?“
Warp blickte Berd Birk an. „Sie sollten zu meinem Handwerk abschwenken. Sie haben das Zeug dazu –“
Birk eilte schon in den Flur. Die Hintertür war weit offen. Drei Gestalten kamen den Gartenweg entlang.
Hasso sprang vor ihnen her.
„Leni – Leni!“ rief Birk leise.
Eine der Gestalten löste sich von den anderen, flog auf Birk zu.
Nun stand Helene Welterhaus vor ihm.
„Berd, ist es wahr: Johannes ist tot, von Warp erschossen? – Helma Wattner kam uns dort drüben in den Müllbergen entgegengestürmt. Mein Vater vertrat ihr den Weg. Da erzählte sie, was hier geschehen. – Denke Dir, Berd: Helma ist Johannes’ Gattin!“
„Er ist tot, Leni,“ bestätigte Birk leise.
Helene Welterhaus flüsterte: „Gott sei Dank – Gott sei Dank! Ich habe diesen Elenden nie als meinen Bruder angesehen. Ich habe ihn gehaßt, verachtet! – Berd, nun wirst Du alles erfahren. Mein Vater ist erst heute mittag aus dem Krankenhause entlassen worden, wo man ihn glücklich wieder gesund gepflegt hat, obwohl er wochenlang am Rande des Grabes stand –“
Der graubärtige hochgewachsene Mann, der Helmas linkes Handgelenk fest umklammert hielt, trat in den Lichtkreis der Flurtür.
Hinter Birk waren jetzt auch Leeberg und Warp erschienen.
Leni hatte ihrem Vater hastig ein paar Worte zugeraunt.
„Ich bin Theodor Welterhaus,“ sagte er zu den drei Herren. „Gehen wir in Degners Wohnzimmer. Ich will Ihnen mitteilen, was es mit dem Treffaß auf sich hat.“
Hasso rieb seinen Kopf immer wieder freudig an Welterhaus’ Schenkel.
„Schon gut, Hasso, schon gut,“ beruhigte Lenis Vater gerührt das treue Tier.
Warp hatte sich neben Helma Wattner gestellt.
„Sie geben doch den Radiumdiebstahl zu?“ fragte er sie kurz.
Sie war so verstört, daß sie wie willenlos nickte. „Ich – ich tat es auf – auf seinen Befehl – auf Johns Befehl. Ich habe von Helenens Laboratoriumschlüsseln Wachsabdrücke genommen und danach falsche Schlüssel anfertigen lassen. So konnte ich –“
„Schon gut. – Sie schickten das Radium dann John zu?“
„Ja –“
„Und Sie wußten, wozu er es hier gebrauchen wollte?“
Helma zitterte. „Er – er wollte seinen Vater nur – nur gesundheitlich so – so weit schädigen, daß dieser den – den Widerstand endlich aufgeben sollte –“
Welterhaus schritt voran durch den Flur. Keinen Blick warf er nach links in Birks erleuchtetes Zimmer hinein, wo der Tote lag.
Der alte Degner mußte wohl gelauscht haben. Die Tür seiner Schlafstube ging auf.
„Welterhaus – Welterhaus, Sie leben?!“
In der Freude seines Herzens breitete er die Arme aus. Die beiden umarmten sich. Dann zog Welterhaus den Bildhauer mit in das Wohnzimmer, wo sich nun auch die übrigen einfanden, zuletzt Stuart Warp, der Helma Wattner nicht mehr aus den Augen ließ.
Leni und Birk standen dicht nebeneinander am Fenster. Welterhaus und Degner hatten sich auf das altertümliche Sofa gesetzt. Warp schob seiner Gefangenen, die sich kaum noch aufrecht halten konnte, einen Stuhl hin. Rochus Leeberg lehnte an der Tür und rauchte nervös eine Zigarette.
Welterhaus wandte sich an Birk:
„Wer hat das Treffaß? – Bitte – geben Sie es mir.“
Nun hielt er es in der Hand.
„Man muß es in Wasser legen,“ begann er. „Dann weicht der Klebstoff auf, der die beiden Pappstücke der Vorder- und Rückseite verbindet. Auf der Innenseite des Vorderteils steht eine Skizze der Farm meines verstorbenen Bruders. Diese Skizze hat er selbst gezeichnet, nachdem er an zwei Stellen seiner weiten Viehweiden Petroleum in geringer Tiefe erbohrt, die Bohrlöcher wieder verstopft und die Stellen unkenntlich gemacht hatte. – Mein Sohn Johannes aus meiner ersten Ehe war damals noch auf meines Bruders Richard Farm. Er ahnte, daß sein Onkel wertvolle Erdöllager entdeckt hatte. Richard hütete sich, ihm etwas davon anzuvertrauen. Er war kränklich und schrieb mir, ich sollte sofort meine Stellung bei dem Grafen aufgeben und mit Helene zu ihm kommen. Sein Brief enthielt Andeutungen über die Petroleumlager. Ich reiste denn auch mit Leni Hals über Kopf ab. Als wir auf der Farm eintrafen, war Richard bereits vor fünf Tagen beerdigt worden. Richards Notar in der nächsten Stadt händigte mir dann einen versiegelten Umschlag aus, der das Treffaß, ein Testament und ein Schreiben für mich enthielt. Ich war Erbe der Farm und des Geheimnisses der Erdölquellen geworden, die ich jedoch vorläufig nicht ausnutzen konnte, da eine amerikanische Aktiengesellschaft noch für acht Jahre das Alleinrecht auf Bohrversuche in der ganzen dortigen Gegend besaß. – Mein Sohn Johannes hatte Helene und mich nach meiner Rückkehr von dem Notar belauscht. Er verlangte Schweigegeld. Sonst wollte er der Gesellschaft anzeigen, daß Richard unerlaubterweise nach Öl gebohrt und auch Öl gefunden hätte. Ich wußte, daß Millionen auf dem Spiele ständen. Ich gab ihm eine große Summe. Er vergeudete sie, wurde Falschspieler, Abenteurer, Betrüger, erpreßte dann stets neues Schweigegeld, bis ich mich genötigt sah, die Farm zu verpachten und mit Leni nach Neuyork zu flüchten, wo der Elende, wie wir hofften, uns nicht finden würde. Aber – er fand uns. Er wurde immer unverschämter. Um ihm zu entgehen, beschloß ich, für immer zu verschwinden. Ich kam scheinbar bei einem Dampferunfall ums Leben, wohnte dann in einem Dorfe unweit Neuyork als Gärtner unter anderem Namen. – Johannes ahnte die Wahrheit, beobachtete Leni ständig und hoffte so, meinen Aufenthaltsort auszukundschaften. Leni hatte ihm gesagt, daß das Treffaß, die wertvolle Skizze der Erdöllager, mit meiner Leiche verschwunden sei. Bald fühlte ich mich in dem Dorfe nicht mehr sicher. Johannes war jetzt auf die Skizze begehrlicher denn je. Das Bohrrecht der Aktiengesellschaft war erloschen, und die Skizze hatte einen Wert von Millionen. – So ging ich nach Berlin, nachdem mich zwei Mordanschläge zuletzt überzeugt hatten, daß mein ungeratener Sohn tatsächlich mein Versteck ermittelt und sich nicht gescheut hatte, mir nach dem Leben zu trachten. – Was hier in Berlin geschah, wissen Sie, meine Herren. – Ich kann mich nun bei alledem von einer Schuld nicht freisprechen: ich habe aus Geldgier der Aktiengesellschaft die Tatsache der erfolgreichen Bohrversuche meines Bruders verschwiegen und mich dadurch Johannes in die Hand gegeben, obwohl Leni mich stets beschwor, das Treffaß der Gesellschaft zu überlassen, die mir ja fraglos dafür einen hohen Preis bezahlt hätte. So bin auch ich denn in gewissem Sinne ein Betrüger gewesen. Jetzt aber will ich auch dies Schuldgefühl von mir abwälzen: der Gesellschaft soll noch nachträglich ihr Recht werden!“
– – – – – – – –
Acht Tage drauf verließ Berd Birk für immer Berlin, um in Gesellschaft seiner Braut, deren Vaters, Warps und Hassos die Reise nach Neuyork anzutreten.
Auf dem Lehrter Bahnhof gab es einen sehr bewegten Abschied zwischen Degner, Rochus Leeberg, Frau Tonerl und den Scheidenden.
Der ewige Student hatte die Augen voller Tränen.
„Mein Junge,“ sagte er schluckend zu Berd, „falls es mit der Praxis nicht besser wird, werde ich auf der Farm Deines Schwiegervaters Kuhmelker und Schafscherer. Das erinnert doch wenigstens so etwas an den ärztlichen Beruf!“ –
Nun – Leebergs konnten in Berlin bleiben, und dem alten Bildhauer ging es fernerhin auch recht gut. Die Freunde aus Amerika erwiesen sich als wahre Freunde. Den Briefen lagen stets Dollarnoten bei. Das Treffaß hatte dem alten Welterhaus doch noch eine Million eingebracht.
Ende.
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Kabels Kriminal-Bücher |
Das Atlantikgespenst Mink Tschuan Thomas Bruck, der Sträfling Die rote Rose Die Schildkröte Die grüne Schlange Das Teekästchen Die Todgeweihten Der Krokodillederkoffer Treff-Aß |
Zu beziehen durch jede Buchhandlung sowie direkt vom Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44. |
Anmerkungen: