Walther Kabel
Kriminal-Roman
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Das Licht des Vollmondes lag weich und träumerisch über der großen Waldblöße, ließ die Tautropfen im Grase zwischen den Baumstümpfen schillern und beleuchtete klar einen stattlichen Rehbock, der zwischen niederem Gestrüpp am Nordrande der Lichtung friedlich äste. Ein ganz schwacher Wind kam von der nahen See her – in sanften Stößen. Wie ein Erschauern ging es dann durch den Forst. Das Wispern der Blätter wurde zum Rauschen, das Säuseln der Kiefern zum Brausen, – bis wieder Stille eintrat, die zauberhafte Waldesruhe einer Julinacht. –
Am Stamm einer Buche, keine dreißig Meter von dem äsenden Bock entfernt, lehnte eine Gestalt, deren Umrisse hier im Baumschatten mit dem hellgrauen Schimmer der Buchenrinde fast in eins zerflossen.
Mit brennenden Augen starrte der in einen merkwürdigen Anzug gekleidete Mann auf die Lichtung hinaus. Die Jagdleidenschaft trieb ihm das Blut so heiß zu Kopfe, daß sein Gesicht wie im Fieber brannte.
Seine bebenden Hände umspannten einen derben Krückstock mit eiserner Spitze, führten den Stock nun langsam an die Schulter, als wäre es eine Büchse. Er zielte – tat ganz so, als hätte er eine wirkliche Waffe in der an Hand.
Seit fünf Nächten begnügte er sich mit diesem kindlichen Spiel – seit er ausgespürt hatte, daß der prächtige Sechsender, dieser alte schlaue Bursche, gerade diese Lichtung zur Äsung erkoren. –
Dann ließ er den harmlosen Stock sinken – mit einem Seufzer, den das erneute Erschauern des Forstes übertönte.
„Feigling – Feigling!“ grollte eine Stimme in seinem Innern. „Elender Feigling!“
Der Wind trug vom Seestrande verwehte Walzerklänge herüber – von der Strandhalle des Seebades Misdroy her, – kaum erkennbar noch als Musik – und doch Laute, die das Ohr des Mannes mit Bitterkeit auffing. Musik – Walzer! Das war das Leben dort – das Genießen – die Daseinsfreude!
Und er – er ausgeschlossen von alledem, einer, der sich selbst verbannt hatte aus der Gemeinschaft der Menschen – aus Feigheit, aus jämmerlicher Furcht. –
Das Dröhnen eines Büchsenschusses zerstörte den friedvollen Zauber der Sommernacht.
Der Bock schnellte hoch – ging in wilder Flucht ab – brach nach fünf Sätzen zusammen.
Dann Stimmen – zornig, erregt, heiser vor Haß, keuchend in Angst und ohnmächtiger Wut.
Ein zweiter Schuß.
Ein Aufschrei.
Ein dumpfer Fall. –
Zuckende Hände krallten sich in raschelndes Laub und dünne Farnstengel. –
Der Wald brauste auf.
Verwehte Klänge vom Strande – deutlicher als bisher. Der Refrain des Walzers – Lebenshunger, Liebessehnen, eine Jubelhymne des Genusses.
– – – – – – – –
Heinz Gorgentin verbeugte sich immer wieder.
Wieder hatte der Schmelz seiner Stimme und seine Art, wie er seine Walzerlieder sang, die Herzen betört.
Man applaudierte – man rief: „Zugabe – Zugabe!“ Er lächelte, machte eine komische Handbewegung nach der Kehle, zuckte die Achseln und verließ hastig das Podium, eilte in den Nebenraum und setzte sich neben den Komiker Werner Bank an den Künstlertisch.
Händereibend kam vom Büfett der Wirt der Strandhalle herbei. Er hatte gut schmunzeln. Seit die Kabarettgesellschaft „Lustige Sieben“ in seinem Lokal auftrat, war die riesige Glasveranda stets bis auf den letzten Platz gefüllt.
„Ein Glas Rotwein, Herr Gorgentin?“ meckerte er vertraulich. „Der Hals muß Ihnen ja ganz trocken sein –“
Bank blies dem Beherrscher der Strandhalle über den Tisch hinweg sehr ungeniert eine Wolke Zigarettenrauch ins Gesicht.
„He – he, – wie der Hahn jetzt anders kräht!“ meinte er ironisch, und sein faltiges, mageres Clowngesicht[1] verzog sich zur spöttischen Fratze. „Als ich vor acht Tagen Ihnen vorschlug, es mit uns zu versuchen, waren Sie wie Eis, Herr Henneberg. Jetzt sind Sie wie Butter!“
Henneberg schluckte die Pille und schmunzelte weiter.
Gorgentin trank den Rest seines Bierglases aus und erwiderte kühl:
„Sehr liebenswürdig, Herr Henneberg. Ein andermal – mit Dank! Heute will ich diesen Sommerabend genießen.“ – Und zu Bank: „Kommen Sie mit, oder hält Sie die Pflicht als Direktor unseres glorreichen Siebengestirns hier zurück? Ich will in den Wald. Vollmondzauber, Bank! Lockt das nicht?“
„Es lockt!“ Und der Komiker erhob sich, nahm Henneberg dann beim obersten Rockknopf und sagte:
„Hahn – denn „Henne–berg“ ist für einen Vater von fünf Rangen ein Unsinn! – wie steht’s mit der Zulage? Ja oder nein? Vierzehn Tage sind wir Ihnen verpflichtet. Fünf haben wir hinter uns, und morgen beginnen erst die großen Ferien! Da wird sich Misdroy bis zur letzten Dachkammer füllen!“
Henneberg war mit einem Schlage nur noch Geschäftsmann.
„Ich kann bei Gott nicht! Die Unkosten! Es geht wirklich nicht, Bankchen!“ jammerte er.
„Gut – gut. Dann schreibe ich also für Ahlbeck zu – vom fünfzehnten ab.“
Der dürre Wirt krümmte sich, als hätte er plötzlich Leibschmerzen.
„Sie – Sie sind ein – ein –“
„– Erpresser!“ lachte der Komiker „Ne, Hähnchen, nur Geschäftsmann wie Sie! Guten Abend. – Wiedersehen!“
„Abgemacht!“ rief Henneberg da und streckte Bank die Hand hin.
„Sie sind Zeuge, Gorgentin,“ meinte der Komiker. „Herr Henneberg verlängert das Engagement bis zum ersten August unter den heute mittag von mir gestellten Bedingungen.“
Dann faßte er Gorgentin unter und ging mit ihm durch den Seitenausgang auf die stille Straße hinaus, verfolgt von einem heimlichen Fluche Hennebergs, der nun am Büfett das Glas Rotwein selbst trank, um den Ärger hinabzuspülen, daß Bank ihn nun doch zu dieser Zusage gezwungen hatte. –
Gorgentin, um anderthalb Köpfe größer als der knabenhafte Komiker, deutete von der Strandpromenade aus auf die See, auf der in breiter Bahn das Mondlicht silbern schimmerte.
„Danach habe ich mich gesehnt, Bank! Deshalb nahm ich Ihr Anerbieten an! Ich liebe das Meer –“
„Schwärmer!“ brummte Werner Bank. „Sie sollten besser mit Ihren beiden Füßen recht fest auf nüchternem Boden stehen – recht fest! Sie könnten so leicht Ihr Glück machen. Die Weiberherzen fliegen Ihnen nur so zu!“
„Hören Sie auf, Bank! Nur das Thema nicht! Wenn Sie wüßten, was für Überwindung es mich allabendlich kostet, das Podium zu betreten!“
„Man gewöhnt sich dran, lieber Gorgentin. Als Zahnarzt wären Sie trotz Ihrer äußeren Erscheinung verhungert – trotz des Doktor-Titels und trotz Ihres Könnens, das ich ja am besten zu beurteilen vermag, da ich die Beweise Ihrer Kunstfertigkeit im Munde trage. Als Kabarettsänger werden Sie nie hungern. Im Gegenteil! Nur ein wenig mehr Unternehmungsgeist, und Sie angeln sich hier ein Goldfischchen. Die Helma Lork saß wieder mit dem Affen-Papa hinten auf der Weinestrade.“
Gorgentin blieb stehen. „Helma Lork? Die Dunkelblonde etwa? Woher kennen Sie den Namen?“
„Ich kenne alles, was ich kennen will. – Gehen wir weiter. – Der Affen-Papa ist Kriegslieferant a. D., jetzt Rittergutsbesitzer, Rittergut Kramlack, Kreis Wollin, fünf Kilometer von Misdroy ab. Helma einziges Kind, verliebt in einen gewissen Doktor Gorgentin, Hauptstütze der Lustigen Sieben. Es liegt nur an Ihnen, wie die Sache endet.“
Sie hatten den Wald erreicht, klommen den sandigen Weg zum hohen Küstenrand empor.
Gorgentin schwieg. Banks geschäftsmäßige Worte hatten sein Feingefühl verletzt.
Dann ganz unvermittelt: „Eine Geldheirat – niemals! Dazu bin ich zu unmodern!“
„Und singen lieber Walzerlieder!“
„Es werden andere Zeiten kommen –“
„Wann?! – Sie Optimist! Passen Sie nur auf, was uns noch bevorsteht! Heute am 5. Juli 1922 leben wir noch wie im Paradiese – würden wir nach einem Jahre sagen! – Wetten, daß es mit uns weiter bergab geht?“
Heinz Gorgentin blieb stumm.
Ein wildes Kaninchen flitzte über den Weg. Rechter Hand schrie ein Käuzchen – der Totenvogel im Volksmunde.
„Was haben Sie eigentlich davon, nachts durch den Wald zu laufen?“ fragte Bank nach einer Weile.
„Dasselbe wie Sie, wenn Sie Ihre paar Tausender im Hasard verlieren: Anregung, Nervenkitzel! Ich bin eines Försters Sohn!“
„Ah – daher! Das Blut macht’s! Ererbte Neigung.“
– Sie bogen rechts in den Hochwald ein.
Der Komiker prallte plötzlich zurück. Ein Reh war dicht vor ihnen flüchtig abgegangen. Man hörte noch eine Weile das Rauschen der Büsche.
Gorgentin lachte gutmütig „Nervenkitzel, Bank, – sagte ich’s nicht?!“
Bank knurrte: „Zum zweiten Male passiert mir das nicht. Ich habe keine Nerven!“
Sein so alt erscheinendes verkniffenes Gesicht hatte sich vor Schreck gerötet.
Der Weg lief auf eine große Lichtung zu. Dort, wo er sich, von alten Buchen eingefaßt, in die mondhelle Blöße hineinzog, schimmerte es wie eine helle gewölbte Toreinfahrt.
„Das malt kein Maler,“ meinte Gorgentin träumerisch. „Sehen Sie nur da vor uns die silbern glänzenden Büsche an der Lichtung. Ist das nicht schön!“
Der Komiker hielt Gorgentin plötzlich am Ärmel zurück.
„Hören Sie!“ flüsterte er. „Da – da stöhnte jemand.“
Sie hatten die Lichtung fast erreicht.
Nun vernahm auch Gorgentin etwas wie einen qualvollen Seufzer.
„Ein Mensch!“ hauchte Bank. „Zweifellos ein Mensch!“
Dann fuhren sie beide zusammen.
Links von ihnen ein schriller Aufschrei.
„Hilfe – Hilfe –!“
Der Schrei brach jäh ab.
Wieder ein tiefes Aufstöhnen.
Stille nun. –
Durch den Hochwald geht ein Erschauern. Die Wipfel beugen sich vor der Majestät des Todes.
Werner Bank war vorwärtsgeeilt. Angst war ihm fremd.
Langsamer folgte Gorgentin. Alles Blut war ihm aus den Wangen gewichen. Der Schrei hatte ihn an etwas erinnert. Er wußte nicht gleich, woran. Er hatte im Kriege die Todesschreie Unzähliger gehört. Und doch: das war es nicht! Das, wonach er jetzt in seinem Gedächtnis suchte, hatte sich unter anderen Begleitumständen ereignet.
Dann Banks Stimme:
„Hierher, Gorgentin! Ein – ein Toter!“
Da lag ein Mann mit leicht ergrautem kurzen Vollbart auf dem Rücken, dicht neben einer Buche – mit weit aufgerissenen Augen.
Ein mittelgroßer, hagerer Mann, gekleidet in einen Anzug, der aus lauter grünen und grauen Stoffflicken zusammengenäht war und deshalb vom Waldboden sich kaum abhob.
Die Jacke, Weste und das Hemd des Mannes waren über der behaarten Brust geöffnet. Ein verlorener Mondstrahl, durch das Blätterdach gleitend, beleuchtete die blutige Einschußwunde rechts über dem Herzen.
Ein derber Krückstock lag keine zwei Schritt weiter, daneben eine Doppelbüchse mit kurzen Läufen.
„Ein Wilderer,“ flüsterte Bank, indem er sich wieder aufrichtete. „Die Kleidung verrät es. Das echte Wildererhabit, auch die selbstgenähten Lappenschuhe.“
Gorgentin starrte dem Toten ins Gesicht.
„Ich muß ihn kennen,“ murmelte er geistesabwesend.
„Stimmt,“ nickte Bank lebhaft. „Es ist der Herr, der in der früheren Ziegelei wohnt – da drüben! – Wer mag ihn erschossen haben? Ein Förster?“
Der frühere Zahnarzt vergegenwärtigte sich das Bild der Ruinen der ehemaligen Ziegelei mit dem kleinen baufälligen Wohnhaus an der Straße. Vor drei Tagen war er mit Bank auf einem Vormittagsspaziergang dort vorübergekommen.
Ja – ganz genau besann er sich noch auf das von wildem Wein umrankte, niedere Häuschen und auf die Mädchengestalt, die ganz flüchtig am Fenster aufgetaucht war. Bank, der schon weitergegangen, hatte sie nicht bemerkt, hatte vielmehr den bärtigen Mann beobachtet, der jenseits der Straße in der tiefen, eingezäunten Lehmgrube mit einem Netze in dem moorigen Teiche Karauschen gefischt hatte. Dann war ein Postbote gekommen, und den hatte Bank aus Neugierde gefragt, wer denn hier in der romantischen Einsamkeit der verräucherten Ruinen und dieser großen schluchtartigen Lehmgrube wohne. Da hatte der alte Briefträger auf den fischenden Mann gedeutet und erwidert: „Herr Rentner –“ – Den Namen hatten weder Bank noch Gorgentin verstanden.
Und nun lag dieser selbe Mann hier im feierlichen Rauschen des Hochwaldes, umspielt von den durch das wehende Blätterdach herabtanzenden Strahlen, tot, erschossen da. –
Gorgentin kam zum Bewußtsein, daß der Komiker ihn etwas gefragt hatte – nach dem, der den tödlichen Schuß abgefeuert haben könnte.
„Ein Förster?“ meinte er nachdenklich. „Nein, der hätte den Verwundeten hier doch nicht so –“
„– so elend allein verrecken lassen,“ beendete Bank den Satz. „Da haben Sie ganz recht. Der Mann starb ja erst vor wenigen Minuten. Wir hörten seinen letzten Schrei. – Seltsam genug ist das alles, lieber Gorgentin –“
– – – – – – – –
Herr Emil Lork und Helma bestiegen den vor der Strandhalle wartenden leichten Jagdwagen.
Der Kutscher in tadelloser Livree schwang sich hinten auf.
Helma berührte mit der Peitsche kaum den Rücken des einen der beiden feurigen Füchse, als diese auch schon kraftvoll anzogen und im flottem Trab davongingen.
Henneberg hatte vor der Tür gestanden und dienerte dem entschwindenden Gefährt nach. Dabei grinste er höhnisch und neidisch zugleich. – Dieser Lork –! Wie hochnäsig der nur wieder an den Hutrand gefaßt hatte! Dieser – dieser Oberschieber, dieser ehemalige Viehhändler! Immerhin – der trank jetzt Abend für Abend hier seine zwei Pullen vom teuersten Rotwein! Natürlich Gorgentins wegen! Natürlich war Gorgentin der Magnet für die kalte Schönheit von Tochter! Das fühlte ja ein Blinder mit dem Stock! Die Weiber wurden ja alle verrückt, wenn der Doktor sang, kriegten blanke Augen und rückten unruhig auf den Stühlen hin und her. –
Henneberg betrat wieder sein im Frühjahr neu gestrichenes, schmuckes Restaurant, wo jetzt gerade Sennorita Tortadilla, die echte Spanierin aus der Ackerstraße in Berlin, in etwas knapper Gewandung eine Art Bauchtanz zeigte, der den männlichen Teil der Zuschauer in ähnliche Stimmung versetzte, wie dies Gorgentins sinnlich-weiche Walzerlieder bei der holden Weiblichkeit taten. –
Lork rauchte eine Importe, die noch den goldpapiernen Fabrikring trug, und ärgerte sich, daß Helma darauf bestanden hatte, sofort aufzubrechen, und daß ihm daher die Tortadilla entgangen war, für deren fabelhafte Gelenkigkeit er ein von Tag zu Tag steigendes Interesse hatte.
Der Wagen gelangte sehr bald in den Hochwald. Das Licht der beiden hell brennenden Wagenlaternen tanzte über die blanken Rücken der Pferde und über die Bäume und Büsche an den Wegrändern hin.
Vater und Tochter schwiegen und hingen ihren Gedanken nach, die – in der Strandhalle zurückgeblieben waren.
Helma hatte über der Nase eine feine Falte. Sie war enttäuscht. Nicht einen einzigen Blick hatte sie heute von diesem Manne aufgefangen, der – das war bei ihr seit heute beschlossene Sache – ihr gehören sollte um jeden Preis – ihr allein! Sie wußte ja, daß Heinz Gorgentin nicht lediglich Kabarettsänger war, daß nur die Not der Zeit ihn gezwungen hatte, diesen neuen Beruf zu ergreifen. Henneberg hatte ihr es vorhin anvertraut – unter strengster Diskretion natürlich.
Im Lichte der Wagenlaternen tauchte da auf dem Waldwege ein schlanker Herr auf.
Helma erkannte ihn sofort: Gorgentin!
Er winkte.
Sie zog die Zügel an, brachte die Füchse zum Stehen. Ihr Herz jagte plötzlich. Eine feine Röte färbte ihr schmales Gesicht dunkler. – Was nur konnte Gorgentin veranlaßt haben, den Wagen hier zu erwarten?
Gorgentin stand schon neben dem Wagenschlag grüßte, sagte verbindlich, aber sichtlich erregt:
„Verzeihung, – Herr Lork, nicht wahr?“
Emil Lork beugte sich vor.
„Ja, Rittergutsbesitzer Lork. – Ah – Sie sind’s, Herr Gorgentin. Nun sehe ich erst, wen ich vor mir habe. – Was gibt’s?“
Gorgentin zögerte. „Die – die Meldung ist vielleicht nicht für Damennerven geeignet, Herr Lork. Vielleicht folgen Sie mir drüben nach der Lichtung hin. Wir hörten Ihren Wagen nahen, und Herr von Gugen schickte mich hier an den Weg.“
Bevor der überraschte und auch etwas erschrockene Lork noch etwas erwidern konnte, sagte Helma ungeduldig:
„Möchtest Du mich nicht vorstellen, Papa!“
Lork, beeilte sich, das Versäumte nachzuholen.
„Meine Tochter Helma – Herr Gorgentin –“
Er wollte noch mehr hinzufügen.
„Sprechen Sie, Herr Gorgentin,“ bat Helma hastig. „Was ist denn vorgefallen? Meine Nerven brauchen Sie nicht zu schonen.“
„Mein Freund Bank und ich haben vor zehn Minuten etwa den Rentner Ramminger, der von Ihrem Herrn Vater, gnädiges Fräulein, das Ziegeleihäuschen gepachtet hat, anscheinend beim Wildern erschossen aufgefunden. Uns gesellte sich dann Herr von Gugen zu, der von einem Pirschgang kam.“
„Wie – erschossen?!“ rief Lork entsetzt. „Und – dort auf der Lichtung? Das ist ja mein Grund und Boden dort!“
„Ja – deshalb sollten Sie auch sofort benachrichtigt werden, Herr Lork, meinte Herr von Gugen.“
Lork sprang schon trotz seines rundlichen Bäuchleins gewandt aus dem Wagen.
„Gehen wir!“
Helma widersprach. „Ich komme mit! Einen Augenblick –“
Sie machte Miene, ebenfalls auszusteigen.
„Gnädiges Fräulein, der Anblick ist wirklich nichts für Damenaugen,“ warnte Gorgentin höflich. „Herr von Gugen ließ auch noch bitten, Ihr Herr Vater möchte sofort durch den Kutscher den Amtsvorsteher und den Landjäger in Misdroy benachrichtigen lassen.“
Helma war mit raschem Sprung neben den beiden Herren.
„Franz mag dann umkehren,“ meinte sie kurz. „Sie leisten mir hier auf dem Wege wohl Gesellschaft, Herr Gorgentin. Allein würde ich mich ängstigen.“
„Sehr gern, gnädiges Fräulein – Herr Lork, – bitte nach dorthin – der Lichtung zu –“ –
Der Wagen fuhr davon, und Lork schritt etwas zaudernd in den Wald hinein. –
Helma triumphierte heimlich. Der erschossene Ramminger störte sie nicht weiter. Der Mensch war ihr stets schon widerwärtig gewesen. Sie hatte ihn längst im Verdacht, der bisher nie ertappte Wilddieb zu sein, der seit Monaten den sorgsam geschonten Rehen und Hirschen mit unglaublicher Frechheit nachstellte. Was machte es da aus, wenn den Mann heute das Verhängnis ereilt hatte! Wilderers Ende! Damit mußten diese Leute ja stets rechnen! – Ihr war die Hauptsache, daß sie nun auf ganz unverfängliche Art Heinz Gorgentin kennengelernt hatte.
Gorgentin, der schon durch die Auffindung des Toten und durch jene nervenaufpeitschenden letzten Schreie des Todwunden erregt und in eine besondere Stimmung geraten war, sah sich hier nun mit einem Male demselben jungen Weibe gegenüber, deren Blicke mit so deutlichem Interesse auf ihm geruht hatten, wenn er, stets erst etwas befangen, durch den Wohllaut seiner Stimme vom Vortragspodium herab den dicht besetzten Raum mit Sehnsucht nach träumerischem Liebesglück erfüllt hatte.
Banks brutal-geschäftsmäßige Redensarten fielen ihm ein: „Sie angeln sich hier ein Goldfischlein!“
Nun stand das Goldfischlein vor ihm im hellen Mondschein – zum ersten Male so dicht, daß er jede Einzelheit des schmalen Antlitzes unterscheiden konnte.
Ja – Bank hatte recht: sie war schön und reizvoll, diese Helma! Sie hatte nichts mehr von der Tochter des einstigen Viehhändlers an sich, der dort in Stettin noch vor vier Jahren in einem sehr – sehr ärmlichen Hinterhause gewohnt und dessen damals siebzehnjährige Tochter für den Vater alle Schreibereien erledigt haben sollte, wie Henneberg gestern am Künstlertisch geringschätzig und doch wohl innerlich vor Neid berstend erwähnt hatte. –
Helma sagte plötzlich: „Gehen wir auf und ab, Herr Doktor –“
Gorgentin zuckte doch leicht zusammen. – Herr Doktor! Sie wußte also, wer er war!
„Bitte, gnädiges Fräulein –“
Er trat links neben sie. So schritten sie den Weg entlang.
„Erzählen Sie mir doch, wie Sie Ramminger fanden,“ bat Helma. „Hörten Sie denn den Schuß noch, der ihn niederstreckte?“
Gorgentin stellte fest, daß Helmas Stimme weich, wenn auch etwas energisch klang.
Er erstattete Bericht, erwähnte alles, jede Kleinigkeit, mußte Fragen beantworten, die Helma einstreute.
„Merkwürdig!“ meinte sie jetzt. „Sehr merkwürdig, daß Herr von Gugen hier in unserem Revier auf einem Pirschgang sich befand.“ Sie blieb stehen. „Wissen Sie, daß mein Vater von Herrn von Gugen das Rittergut Kramlack gekauft und daß Gugen für sich nur das kleine Vorwerk Sandkuhl behalten hat?“
Gorgentin war stutzig geworden. Durch Helma Lorks Worte hatte es wie eine versteckte Verdächtigung hindurchgeklungen. Auch Bank hatte nach dem Auftauchen Gugens am Tatort sich ganz seltsam benommen. Überhaupt: der Komiker war Gorgentin heute geradezu ein Rätsel geworden! Der kleine Mann mit dem gefährlichen, nicht klein zu kriegenden M… und hatte für alle Nebensächlichkeiten dieses Wildererdramas ein Interesse gezeigt, das ganz neue Eigenschaften des geschäftstüchtigen Leiters der Lustigen Sieben offenbart hatte.
So mußte Gorgentin nun Helma, deren Offenheit ihm gegenüber dieselbe Offenheit gestattete, erwidern:
„Daß Herr von Gugen der Vorbesitzer Kramlacks war, wußte ich bisher nicht, gnädiges Fräulein. Was aber Ihr Erstaunen über Gugens Pirschgang hier im Walde Ihres Herrn Vaters betrifft, so kann ich nur erklären, daß auch Bank dies sehr – sehr sonderbar zu finden schien.“
„Warum sagen Sie nicht statt „sonderbar“ das, was Ihnen auf der Zunge schwebte, nämlich – „verdächtig“?!“ meinte Helma leise.
In ihrem Verhalten war eine gewisse Berechnung. Ihr, die von ihrem Vater ein gut Teil Schlauheit und Menschenkenntnis geerbt und diese Eigenschaften nach der feineren Seite hin vervollkommnet hatte, war daran gelegen, rasch alle Förmlichkeit im Verkehr mit Gorgentin auszuschalten und eine Vertraulichkeit zwischen ihnen herbeizuführen die sich zunächst auf diese Wilddiebtragödie beschränken sollte. Sie war eben Diplomatin wie die meisten Frauen, war jetzt dank ihrer leichten Anpassungsfähigkeit und ihres Lerneifers längst große Dame und wußte daher genau, daß ein Mann wie Gorgentin anders genommen werden mußte als etwa ein bloßer Kabarettsänger. Sie dachte anderseits infolge ihrer Herkunft viel zu natürlich, um sich selbst über ihre Gefühle Gorgentin gegenüber etwa aus mädchenhafter Scheu täuschen zu wollen. Sie hatte bisher trotz aller Leidenschaftlichkeit, auch ein Erbteil ihres Vaters, nie etwas für einen Mann empfunden. Die Liebe zu Gorgentin war in ihr aufgeflammt wie ein verzehrendes Feuer. Aber gerade deshalb war sie auf ihrer Hut – vor sich selbst. Sie schätzte Gorgentin richtig ein. Sie hatte sehr wohl gemerkt, daß sein jedesmaliges Auftreten ihm Überwindung kostete, daß er erst nach den ersten Strophen seiner Lieder in Stimmung kam – durch sich selbst, daß er den drei „Damen“ der Lustigen Sieben, was der geschwätzige Henneberg gleichfalls angedeutet hatte, trotz deren Entgegenkommen aus dem Wege ging, also für eine Liebelei nicht zu haben war. –
Gorgentin nickte jetzt schwach. „Ja – ich dachte „verdächtig“ und sagte „sonderbar“, gnädiges Fräulein. Das haben Sie richtig herausgefühlt. Ich muß jedoch bemerken, daß Herr von Gugen uns gegenüber behauptete, er sei nur von seinem eigenen Revier nach einem Pirschgang auf dem Wege zum Seestrand gewesen, um noch ein Bad zu nehmen. Ich habe mich da vorhin also wohl ungenau ausgedrückt.“
Helma schaute Gorgentin scharf an. „Herr Doktor – und Ihr Freund Bank? Mir scheint, der hat ebenfalls Verdacht geschöpft.“
„Ja. Ich will das nicht leugnen. Banks Benehmen, seine Fragen an Herrn von Gugen, – all das berührte mich –“ Er schwieg. „Da kommt Bank übrigens –“
Der kleine Komiker nahte sehr eilig.
„Bank,“ stellte er sich Helma selbst vor. „Entschuldigen Sie, bitte. Ich möchte nur mit Gorgentin etwas besprechen,“ sagte er dann sehr bestimmt.
„Des Erschossenen wegen, Herr Bank?“
„Gewiß. – Sie gestatten, daß wir uns ein paar Schritt entfernen, gnädiges Fräulein.“
„Nein, das gestatte ich nicht. Herr Doktor Gorgentin weiß, daß ich genau wie Sie Herrn von Gugen so etwas beargwöhne –“
„Ah?! Wirklich?! – Dann allerdings liegt die Sache anders. – Ich habe Ihrem Herrn Vater und Gugen soeben dort am Tatort erklärt, ich könnte den Anblick des Toten nicht länger ertragen, und bin davongegangen. In Wirklichkeit möchte ich die Rückkehr des Wagens hier abwarten und dem Landjäger ein paar Winke geben.“
„Inwiefern? – Verhehlen Sie mir nichts, Herr Bank. Wir drei wollen uns als Verbündete betrachten. Vielleicht gelingt es uns, den Mörder Rammingers zu entdecken oder besser – zu überführen. Einer der Förster meines Vaters hat den tödlichen Schuß fraglos nicht abgegeben. Unsere beiden Forstbeamten sind Leute, die einen Schwerverletzten niemals hilflos hätten liegen lassen. Ich weiß außerdem, daß die beiden heute nacht im Ostteile des Reviers patrouillieren, um dem Wilddieb endlich das Handwerk zu legen, der mir letztens sogar den prächtigen Vierzehnender vor der Nase weggeknallt hat –“
„Sie sind selbst Jägerin, gnädiges Fräulein?“
„Ja. Seit zwei Jahren.“
„Ihre Angaben sind ebenso wertvoll wie dem eigenen Gedankengang nach scharfsinnig. Gugens lahme Ausrede, er hätte am Strande ein Bad nehmen wollen, verdient wenig Glauben. – Bleiben Sie nur hier. Ich werde dem Wagen ein Stück entgegengehen.“
Und Bank nickte Helma und Gorgentin kurz zu und verschwand rasch hinter der nächsten Wegkrümmung. Hier blieb er stehen.
„Ich will die beiden nicht stören,“ dachte er. „Der Heinz ist als Mensch ein Prachtkerl, als Mann aber Weibern gegenüber noch zu sehr unbeschriebenes Blatt. Ich würde da der Entwicklung der Dinge nur hinderlich sein.“
– – – – – – – –
Der Mond war am Himmel weiter gezogen und hatte so eine Stelle am Firmament erreicht, von der aus er durch eine breitere Lücke im Blätterdach des Waldes sowohl den toten Wilderer als auch den an eine dünne Buche drei Schritt weiter gelehnt dastehenden Herrn Siegbert von Gugen beschien.
Außerhalb dieses hellen Fleckes, durch die Leiche und fünf Meter Zwischenraum von dem letzten des Geschlechtes derer von Gugen getrennt, saß Emil Lork auf einem Baumstumpf und rauchte mit stark erkünstelter Gelassenheit seine Importe weiter.
Es war, als ob Fäden einer geheimen Feindseligkeit sich von dem jungen, finsteren Gugen zu dem neuen Besitzer der Herrschaft Kramlack hinzögen.
Ein bedrückendes Schweigen herrschte. Die beiden Männer hatten sich nichts mehr zu sagen, seitdem Siegbert von Gugen glaubte, daß Lork als der schlauere und auch der gewissenlosere ihn beim Kauf des 18 000 Morgen großen Gutes gehörig hineingelegt hatte. Die zwölf Millionen, die Lork im Frühjahr 1919 für den freilich völlig heruntergewirtschafteten Besitz bezahlt hatte, waren heute nach drei Jahren ein Nichts und würden noch mehr zu einem Trinkgeld zusammenschrumpfen.
Der Mond schien Gugen voll ins Gesicht, da der jetzige Herr auf Sandkuhl, einem Vorwerk von kaum neunhundert Morgen mäßigen Bodens, die Jagdmütze weit nach hinten ins Genick geschoben hatte.
Die Züge des letzten, etwa neunundzwanzigjährigen Gugen zeigten deutlich slawische Blutmischung. Das schwarze, gescheitelte Haupthaar, die dunklen fein geschwungenen Augenbrauen und der kleine schwarze Schnurrbart im Verein mit einer messerscharfen Hakennase und einem etwas großen Munde mit vollen Lippen, dazu ein wie festgefrorener Ausdruck von unfreundlicher Verschlossenheit, gaben diesem gebräunten Männerantlitz etwas Unsympathisches, geradezu Drohendes. Man erriet, daß die Seele dieses Mannes von starken Leidenschaften zerwühlt wurde und daß hinter dieser hohen, weiß gebliebenen Stirn menschenfeindliche Gedanken wohnten. Um Siegbert von Gugens halb zugekniffene Augen lagen stets gelblich-braune Schatten. Öffnete er diese Augen einmal, so wurde man erst gewahr, wie nadelscharf und durchdringend deren Blicke waren.
Gugen hatte längst gemerkt, daß man ihn beargwöhnte. Dieser lächerliche kleine Komödiant – Bank hieß der Mensch – hatte seine bohrenden Fragen in Lorks Gegenwart wiederholt. Gugen fühlte sich tief gedemütigt, daß er der halb wie ein Befehl klingenden Bitte des Komikers, hier das Eintreffen des Amtsvorstehers und des Landjägers zu erwarten, den Umständen nach hatte entsprechen müssen. Sein Herz schlug schneller vor Unruhe und quälenden Gedanken, die fast Angst waren. Äußerlich blieb er gelassen, – selbst jetzt, als der Landjäger Timm aus dem Walde hervortrat, kurz grüßte und dann auch der elende Komödiant wieder erschien.
Timm war ein Riese von bedächtigen Bewegungen und noch bedächtigeren Worten.
Er hob die am Boden liegende Doppelbüchse auf. Der eine Lauf war abgefeuert und roch noch nach Pulverschleim.
Bank war auf die Lichtung hinausgeschlendert und näherte sich nun wieder den drei Männern und dem Toten, als Timm Herrn von Gugen gerade ausfragte.
Gugen behielt seine nachlässige Haltung bei. Er gab Antworten, die er bereits zweimal gegeben.
„Bitte – Ihr Gewehr,“ sagte der Landjäger da.
Gugen zögerte kaum merklich. Dann reichte er Timm die Büchsflinte.
„Der Kugellauf ist nicht geladen. Es steckt eine leere Hülse drin,“ sagte der Landjäger etwas weniger bedächtig.
„Ich habe in meinem Revier vor anderthalb Stunden auf einen Fuchs geschossen,“ erklärte Gugen barsch.
Timm wandte sich an Bank.
„Sie behaupten also, daß Herr von Gugen sich lautlos herbeigeschlichen habe, als Sie und Herr Gorgentin gerade schwiegen, und daß er bereits wieder kehrt gemacht habe, nachdem er den Toten von dem Gebüsch da kurz sich angesehen. Da riefen Sie ihn an. Sie beide standen im Schatten.“
„Ja, so ist’s,“ nickte Bank.
Timm drehte den Kopf nach Gugen hin. Der erklärte sofort in deutlich gereiztem Tone:
„Ich hielt Ramminger für tot, wollte den Tatort nicht betreten und Sie benachrichtigen. Deshalb wollte ich mich wieder entfernen.“
„Hm – und weshalb schlichen Sie heran, Herr von Gugen?“
„Weil ich Stimmen hier gehört hatte.“
Timm dachte: „Er ist ein schlauer Fuchs. Er weiß für alles eine Antwort. – Schade, daß der Amtsvorsteher verreist ist. Ich möchte Gugen auf meine Verantwortung allein doch nicht verhaften.“
Da mischte Bank sich ein. „Dort in der Lichtung liegt ein Rehbock mit frischem Blattschuß, Herr Landjäger.“
Timm schritt hastig auf die Blöße hinaus.
Die drei neben dem Toten Zurückbleibenden schwiegen, bis Lork näher an den kleinen Komiker herantrat und mit ihm flüsterte.
Banks Blicke waren starr zu Boden gerichtet. Er hatte da soeben etwas bemerkt, schob den rechten Fuß unauffällig etwas vor und drückte den kleinen Gegenstand tiefer ins tote Laub.
Dann gab er Lork zerstreut Antwort.
Timm kam wieder herbei.
„Wo haben Sie auf den Fuchs geschossen, Herr von Gugen?“ fragte er langsam. „Beschreiben Sie mir die Stelle recht genau.“
Gugen machte eine heftige Handbewegung, schien aufbrausen zu wollen und beherrschte sich offenbar nur mühsam, erklärte dann:
„Am Rande des Birkenbruches, wo die Holzbrücke anfängt.“
„Dann müßte man den Schuß auf dem Gehöft des Bauers Koppmann gehört haben,“ meinte Timm. „Koppmanns Tochter feiert heute Verlobung. Man wird dort bei offenen Fenstern in der großen Stube sitzen. Der Wind kommt von See. Der Knall muß bei Koppmanns gehört worden sein!“
Gugen hatte plötzlich die Jagdmütze mit dem langen Schirm tief ins Gesicht gezogen. Er schwieg.
„Weshalb haben Sie eigentlich wiederholt nachts das Ziegeleihäuschen umschlichen, Herr von Gugen?“ bohrte der Landjäger weiter, das Thema wechselnd.
Jetzt verließ Gugen seinen bisherigen Platz. Die Bewegung nach links brachte ihn aus dem Mondlicht hinaus in den Schatten.
„Ramminger hat sich bei mir darüber mal beschwert,“ fügte Timm hinzu. „Er hat Sie viermal nach Mitternacht seit dem fünfzehnten Juni bemerkt, wie Sie sich da in nächster Nähe der Ziegelei herumdrückten, stets mit der Büchsflinte. Er liebte nächtliche Spaziergänge. Ich bin ihm oft begegnet, – nie trug er ein Gewehr bei sich.“
Bank spitzte die Ohren. Dieser Timm gefiel ihm immer mehr.
„Es mag ein Zufall sein, daß Ramminger mich sah,“ meinte Gugen kühl. „Mein Wald grenzt an die Ziegelei. Ich – ich hatte Ramminger seit langem in Verdacht, der Wilddieb zu sein, der jedes geschossene Stück auf den nächsten Weg schleppte und nur das Gehörn mitnahm.“
„Dasselbe glaubt auch meine Tochter,“ platzte Lork heraus.
„Ich glaube es nicht,“ sagte Timm schlicht. „Noch etwas, Herr von Gugen. So weit mir bekannt, hat Doktor Stelter Ihnen das Baden in der See verboten, Ihrer Nieren wegen.“
„Das stimmt. Wer jedoch alles befolgen wollte, was die Ärzte –“
Timm unterbrach ihn. „Ich habe nach Swinemünde telephoniert. Wachtmeister Berndt mit dem Polizeihund kommt im Auto. So lange bleiben Sie hier, Herr von Gugen.“
Der war mit zwei Schritten vor dem Landjäger, rief heiser:
„Halten Sie mich etwa wirklich für –“
Und brach mitten im Satze ab, beendete ihn in hochfahrendem Ton: „Ganz wie Sie wünschen!“ und lehnte sich wieder an die junge Buche.
– – – – – – – –
Helma reichte Gorgentin vom Wagen herab die Hand.
„Auf Wiedersehen also morgen oder besser heute nachmittag, Herr Doktor. Seien Sie pünktlich. Und auch Sie, Herr Bank!“
Der Wagen fuhr davon.
Gorgentin und der Komiker schritten den Waldweg entlang Misdroy zu, wo sie in einem Häuschen am Südende wohnten.
Bank war von einer quecksilbrigen Lebendigkeit.
Absichtlich vermied er jede Frage, wie Helma dem Freunde gefallen habe. Er merkte ja, daß Gorgentin still und versonnen war. Vielleicht hatte der Doktor wirklich Feuer gefangen. Ihn würde das gefreut haben. Gorgentin war zu schade für das Wanderleben eines fahrenden Sängers. Ein Mann von dessen innerem Gehalt gehörte in geordnete Verhältnisse hinein.
„Dieser Gugen ist mir ein Rätsel,“ meinte er jetzt. „Der Hund hat seine Spur tadellos ausgearbeitet, hat sie genau verfolgt. Gugen kann meines Erachtens der Mörder nicht sein.“
Gorgentins Interesse erwachte.
„Nicht?“ fragte er überrascht.
„Nein. Gugen kam von Süden her durch den Wald, wie die Hundenase uns klar bewies, blieb etwa fünfzehn Meter von dem Tatort stehen, wandte sich nach Osten, umging den Tatort und näherte sich ihm wieder von Westen – von dort, wo wir ihn sahen. Wäre er der Mörder, müßte er Ramminger aus fünfzehn Meter Entfernung erschossen haben, wogegen vielerlei spricht, hauptsächlich aber die Tatsache, daß der tödliche Schuß aus nächster Nähe abgefeuert wurde.“
„Wie wollen Sie das wissen, Bank?“
Der Komiker faßte in die Westentasche.
„Sie werden schweigen, Gorgentin,“ sagte er leise.
„Bitte – was ist das?“
Und er hielt dem Doktor auf der flachen Hand einen kleinen matt gelblich blinkenden Gegenstand hin.
Dann sprach er weiter. „Und doch hat Gugen gelogen. Erstens: er wollte gar nicht baden gehen. Der Arzt hat es ihm verboten. – Zweitens: er hat auf keinen Fuchs am Rande des Birkenmoors geschossen. Man hat Bauer Koppmann bereits gefragt, der den Schuß hätte hören müssen. – Drittens: Gugen hat häufig Rammingers Häuschen nachts umschlichen, was er als Zufall hinstellen wollte. – Eine sehr, sehr dunkle Geschichte, die dunkelste, die ich je vorgehabt habe.“
Gorgentin war mit einem Ruck stehen geblieben.
„Vorgehabt? Vorgehabt? – Bank, wer – was sind Sie eigentlich?! Als Sie sich vor zwei Jahren bei mir behandeln ließen, nannten Sie sich Privatgelehrter. Als ich Ihnen im Mai zufällig im Cafee Vaterland begegnete und Ihnen mein Leid klagte, waren Sie angeblich Agent. Am 15. Juni kamen Sie zu mir und sprachen von Ihrer Gründung, der Lustigen Sieben, rieten mir, mit nach Misdroy als Kabarettsänger zu kommen. – Was sind Sie? Mir scheint, Sie – Sie sind –“
„Halt – nicht sagen, was Sie denken, Gorgentin. Ich bin hier Komiker. Ich bin alles, was Sie wollen.“
Gorgentin wußte Bescheid. – Dieser Bank – dieser Bank! Wer hätte das geahnt! –
Bank blickte nach rechts über das weite Meer hin.
„Es wird hell,“ meinte er. „Der neue Tag kommt.“
Im Osten lagerte ein klarer durchsichtiger Strich. Wie weiße Vierecke standen dort die Segel heimkehrender Fischerboote am Horizont.
„Gugen ist der Verhaftung nur entgangen, weil ich Timm davon abriet,“ sagte Bank und zündete sich hier auf der Strandpromenade eine Zigarette an, nachdem auch Gorgentin sich bedient hatte. „Timm ist ein heller Kopf, ohne Frage. Dieser Fall erfordert jedoch mehr als landläufige Beamtenklugkeit. Ich behaupte, mit dem Morde hat Gugen etwas zu tun, wenn er auch nicht der Mörder ist. Hier liegt das vor, was man in Romanen und Detektivgeschichten ein „Problem“ nennt, eine Verkettung besonderer Umstände mit Hineingreifen seelischer Momente. Probleme sind schwer zu lösen. Schon die Person dieses Ramminger, der vor einem Jahr in dieser Gegend auftauchte, dürfte es wert sein, sich genauer mit ihr zu beschäftigen. Timm schwört, daß Ramminger ein harmloser schrullenhafter Einsiedler gewesen, nichts anderes. Und doch: der Mann hat ein Wildererkostüm an, dem man den häufigen Gebrauch ansieht. – Überall Widersprüche!“ Bank seufzte etwas.
Gorgentin, weitergehend, fragte erstaunt:
„Einsiedler? Lebte er denn ganz allein in dem Ziegeleihäuschen?“
„Ganz allein. Alles besorgte er sich selbst, mit niemandem verkehrte er. Ein geheimnisvoller Mensch, ohne Frage.“
„Ich habe aber doch damals, als er in dem Teiche fischte, ein junges Mädchen einen Moment am Fenster gesehen,“ sagte Gorgentin kopfschüttelnd.
Bank lachte. „Ein Mädchen? Ausgeschlossen! – Sie haben mir davon nichts –“
„Weil ich es für zu wenig wichtig hielt, Bank. Ich bleibe dabei: es war eine junge Dame. Das Gesicht konnte ich hinter der Gardine nur als hellen Fleck erkennen. Ich hatte aber doch den Eindruck, daß das Weib jung, blond und hübsch war.“
Jetzt blieb Bank stehen.
„Doktor, stimmt das alles?“ fragte er ernst.
„Es stimmt. Das Mädchen trug einen grauen Rock, anscheinend Lodenstoff, dazu helle Bluse und eine Jacke darüber, einen dunklen kleinen Hut und in der Linken, die ich ganz deutlich sah, einen Dolch, wie man sie im Kriege benutzte anstelle der langen Säbel.“
Banks zerknittertes Gesicht mit der durch Schminke verdorbenen Haut war sehr nachdenklich geworden.
„Und Timm schwor Stein und Bein, daß Ramminger, der sich die Möbel für das Häuschen auf Auktionen zusammengekauft hat, mit niemandem verkehrte, nie Besuch empfing, nie einen Brief erhielt, nur Schmetterlinge und Käfer sammelte und wirklich ein ganz harmloses Kaninchen war, woran ich freilich nach alledem sehr stark zweifele.“ – Eine längere Pause. Dann:
„Das Mädchen, das Sie sahen, oder genauer, die junge Dame, muß sich bei Ramminger heimlich aufgehalten haben. Hält sich vielleicht noch dort auf. – Hm – wie wär’s, Gorgentin, wollen wir mal nach der Ziegelei gehen? Wollen wir uns Rammingers Heim genauer anschaun – von innen?“
Und Bank zwinkerte dem Freunde listig zu.
„Timm wird dort ja ebenfalls nun Haussuchung abhalten. Aber – erst muß er die Leiche wegbringen, ins Spritzenhaus von Misdroy. Das dauert eine halbe Stunde mindestens. Diese halbe Stunde genügt mir.“
Gorgentin schüttelte den Kopf. „Sie wollen also – eindringen, ohne Erlaubnis, Bank! Das kann uns Ungelegenheiten zuziehen.“
„Wenn man uns erwischt – vielleicht!“
„Weiß denn der Landjäger, was Sie in Wahrheit sind?“
„Gott behüte! Damit er’s seiner Frau und am Stammtisch weiterplaudert, denn – diese braven Provinzler können ja nicht dichthalten! – Also – machen Sie mit, Gorgentin?“
„Ja – auf Ihre Verantwortung, Bank!“
– – – – – – – –
Der Jagdwagen hielt vor der Freitreppe des Schlosses Kramlack. Helma stieg aus, gab dem Kutscher die Zügel und reichte ihrem Vater die Hand.
„Gute Nacht, Papa –“
„Gute Nacht, Kind. – Guten Morgen zu sagen wäre richtiger. Es ist heller Tag. – Ah – Klaus, was gibt’s denn?“
Ein Wirtschaftseleve kam vom Seitenflügel des weitläufigen Bauwerks herbeigeeilt.
„Wir haben eine Diebesjagd gehabt, Herr Lork,“ meinte er atemlos. „Wächter Krahnke hat den Kerl beobachtet, wie der sich an der Seitenpforte des Nordflügels zu schaffen machte –“
Helma, die bereits die halbe Freitreppe emporgestiegen war, drehte sich um.
Der Eleve Klaus machte ihr eine Extraverbeugung und wurde rot. Er war in Helma verliebt – wie alle Männer hier in Kramlack.
„Der Kerl muß einen Nachschlüssel gehabt haben,“ fuhr Klaus fort, halb zu Helma gewandt. „Krahnke[2] rief ihn an. Da schlug der Kerl die Tür zu und riegelte von innen ab. Krahnke alarmierte uns. Wir fanden aber nur noch dort im Saal den einen Flügel des dritten Fensters offen, durch den der Spitzbube entwischt ist. Trotzdem suchten wir das ganze Schloß ab. Gestohlen ist nichts, Herr Lork.“
Lork fluchte. „Natürlich Berliner schwere Jungen – natürlich! Werden wohl mehrere gewesen sein. Die geben jetzt ja in der Provinz Gastrollen. Hätte ihnen so gepaßt, mein Silber mitzunehmen! Verdammte Bande! – Klaus, gleich heute lassen Sie überall noch Sicherheitsschlösser anbringen. Telephonieren Sie nach Swinemünde an den Schlossermeister.“
„Soll besorgt werden.“ –
Helma stieg die Treppe weiter empor. Der eine Flügel der hohen geschnitzten Eichentür hatte sich geöffnet. Der Diener stand in der Vorhalle, sah recht verschlafen aus, nahm Helma den Seidenmantel und den Hut ab und wünschte dem gnädigen Fräulein ehrerbietigst guten Morgen.
Er schaute Helma dann nach, wie sie langsam die tief nachgedunkelte, läuferbelegte Treppe aus der Vorhalle in den ersten Stock hinaufschritt, den Kopf etwas gesenkt.
Er grinste, der elegante Johann. Er wußte: das gnädige Fräulein hatte an dem Komödianten dort in Misdroy einen Narren gefressen! Das ganze Schloß wußte es – vom Oberinspektor bis zur Küchenmagd hinab. Und – alles grinste – alles! – wenn auch darin keine heimliche Feindseligkeit lag. Nein, Helma war nicht unbeliebt bei den Leuten. Sie wußte sich mit jedem zu stellen. –
Als Helma den Hauptflur nach ihren Zimmern entlangschritt, öffnete sich eine der vielen Türen und Sybille von Derstra, Helmas Gesellschaftsdame, steckte den aschblonden Kopf in den Flur.
„Ah, Billchen, noch auf?“ meinte Helma erstaunt.
Das Fräulein von Derstra, weit zierlicher, dafür aber auch üppiger als Helma, zog die Tür weiter auf. Sie trug einen seidenen kostbaren Kimono, reich bestickt, den Helma ihr letztens zum Geburtstag geschenkt hatte.
„Ich konnte nicht mehr einschlafen, nachdem die Diebesjagd mich geweckt hatte,“ erklärte sie und drückte kurz Helmas Hand.
„Sie haben sich doch nicht geängstigt, Billchen? – Nein, nein, das sähe Ihnen nicht ähnlich. Kommen Sie doch bitte mit zu mir hinüber. Ich habe Ihnen ja so viel zu erzählen.“
Sybille huschte dann neben Helma den Flur entlang.
In Helmas Salon standen die Balkontüren weit offen. – Das Schloß lag auf einer Anhöhe, und durch den durch den Hochwald geschlagenen Ausblick konnte man in der Ferne die von den ersten Strahlen der Morgensonne glitzernde See wie einen von Grün eingerahmten Spiegel erkennen.
Sybille war in die offene Tür getreten, wandte Helma den Rücken zu und schien ganz versunken in die köstliche Fernsicht.
„Was haben Sie denn erlebt, Helma?“ fragte sie träumerisch. Und doch: wer ihr Gesicht sah, mußte erstaunt sein, wie wenig dieser verträumte Ton zu dem Ausdruck ihres vollen und doch keineswegs weichlichen Gesichts paßte. In den grauen großen Augen, deren Tiefen wie erfüllt von Schwermut waren, schimmerte es wie angstvolle Spannung. Der Mund mit den stark gewölbten Lippen war etwas geöffnet, – ebenfalls wie in quälender Erwartung.
Helma trat dicht hinter Sybille, umschlang sie.
Lehnte den Kopf auf ihre Schulter und flüsterte:
„Ich habe ihn kennen gelernt, Billchen!“
Sie war jetzt ganz verliebtes Mädel – ganz – ohne Scheu vor der anderen. Sie hatte die große Dame abgestreift. Die Leidenschaft, die Sehnsucht ließen sie jede Verstellung vergessen.
Sie sah nicht, wie ein Schatten von Enttäuschung über die Züge Sybille von Derstras glitt.
„Durch einen Zufall, Billchen! Denken Sie: der Ramminger ist der Wilderer, dem wir seit Monaten nachspüren. Irgend jemand hat ihn erschossen –“
Sie berichtete recht verworren, was sich an der Waldlichtung ereignet hatte. Sie dachte nur an Heinz Gorgentin.
„Nachmittags kommt er her, Billchen. Da werden Sie ihn singen hören. Nur für uns beide soll er singen.“
Sie küßte Sybille glückselig auf den Nacken.
Die Lippen des Fräuleins von Derstra waren fest zusammengepreßt.
Falten zogen sich plötzlich zum Kinn von den Mundwinkeln hinab, Falten der Qual, des heimlichen Leids.
„Weshalb waren Sie nur gerade am ersten Juli mit nach Misdroy gekommen, Billchen,“ plapperte Helma ahnungslos weiter. „Dann hätten Sie Gorgentin heute ebenfalls –“
Sybille hatte eine heftige Bewegung gemacht.
„Gorgentin interessiert mich nicht, Helma! – Sind Sie so gar nicht abergläubisch? Durch einen – einen Todesfall jemand kennen lernen, – mich würde das nachdenklich stimmen –“
Helma trat plötzlich zurück. Diese Worte hatten sie wie ein eisiger Hauch getroffen.
Sybille sprach schon weiter: „Wer mag den Ramminger wohl erschossen haben? Etwa einer unserer Förster? – Doch nein, die sind in der Nacht ja im östlichen Revier gewesen –“
Helma blickte starr auf Sybilles aschblondes Haar, das zur Nacht in losem Zopf um den Hinterkopf gelegt war.
Und Helmas Gedanken eilten zurück zu jenem Abend des ersten Juli, als auch Sybille mit auf der Weinestrade der Strandhalle gesessen und dann auf dem Heimwege erklärt hatte, daß sie für Kabarettvorträge nichts übrig habe und die Strandhalle nicht mehr besuchen würde.
Hatte Sybille etwa genau wie sie selbst gleich am ersten Abend sich verliebten Träumereien hingegeben? Hatte Sybille wie sie sofort Feuer gefangen? War’s Eifersucht, die jene schroffe Körperbewegung hervorgerufen, eine Bewegung, als hätte Sybille sie abschütteln wollen?
Helma war so verwirrt, daß sie auf die Frage der anderen erst aufmerksam wurde, als die aschblonde Derstra schärferen Tones wiederholte:
„Wer mag Ramminger erschossen haben?“
Sie will nicht mehr über Gorgentin sprechen, dachte Helma schmerzlich berührt. Noch nie war ja zwischen ihr und Sybille in diesen drei Monaten, seit die Gesellschaftsdame ihren Einzug auf Schloß Kramlack gehalten, auch nur die leiseste Verstimmung entstanden.
Und erwiderte rasch:
„Man hat Herrn von Gugen im Verdacht!“
„Wen?!“ – Sybille war herumgefahren „Wen?! – Herrn von Gugen?!“
Dann aber drehte sie sich wieder mit einem Achselzucken um und sagte: „Gugen –?! Das ist doch ein Unsinn.“
Es machte Helmas Charakter nur Ehre, daß sie Sybille nun rasch zu versöhnen trachtete. Sie erzählte ganz genau, welche Verdachtsgründe gegen Gugen vorlägen. Sybille hatte sich an den Türrahmen gelehnt und schwieg.
Dann ganz plötzlich:
„Wer ist denn dieser Bank, den Sie da immer wieder erwähnen?“
„Der Komiker, Billchen, – der Komiker der Lustigen Sieben. Besinnen Sie sich: der das Lied vom toten Frosch vortrug.“
„Ach – der! Ich glaubte, es sei ein Polizeibeamter, ein Detektiv, den Herr Gorgentin kennt.“
„Bewahre! Detektiv! – Aber ein feiner Kopf ist’s!“
Sybille hatte die Augen jetzt geschlossen, als täte ihnen diese Überfülle des Morgenlichtes weh. Ihr Gesicht sah um viele – viele Jahre älter aus. Es schien verfallen, krankhaft abgespannt.
Helma hatte sich in einen der kleinen Seidensessel gesetzt und berichtete, daß die Leiche Rammingers nun ins Spritzenhaus geschafft würde.
Dann klopfte es kurz, und Emil Lork trat hastig ein. Sein gefärbter Schnurrbart hing an der einen Seite trübe herunter. Seine Backen waren blaurot vor Aufregung.
Ohne das Fräulein von Derstra zu beachten, rief er seiner Tochter zu:
„Helma – das geheime Wandfach in meinem Schlafzimmer ist ausgeräumt worden! Denk’ Dir: das Geld – die Schmucksachen – alles weg!“
– – – – – – – –
„Wir schleichen von hinten an das Häuschen heran,“ sagte Bank, als sie sich der Ziegelei auf fünfhundert Meter genähert hatten. „Hier dieser Waldpfad führt um die Ziegelei herum. Wollen uns jetzt still verhalten. Man kann nie wissen, ob das Mädchen, falls es eben noch bei Ramminger sich aufhält, nicht durch des Rentners lange Abwesenheit unruhig geworden ist und nach ihm ausschaut.“
Heinz Gorgentin schritt hinter Bank drein und schwieg.
Ihm war dieses eigenmächtige Vorgehen nicht angenehm. Anderseits mochte er vor Bank auch nicht ängstlich erscheinen. Die Neugier, mehr vielleicht noch jener Sensationshunger, der fast jedem Menschen innewohnt, drängte außerdem seine Bedenken zurück. –
Gorgentin fand jetzt Zeit, über diese erste Begegnung mit Helma Lork genauer nachzudenken.
Helma hatte ihm gefallen. Er gab sich gar keine Mühe, in dieser Hinsicht sich selbst etwa belügen zu wollen.
Er hatte ein anmaßendes, auf die Millionen ihres Vaters sich etwas einbildendes junges Mädchen mit dem künstlich angelernten Gehabe der Weltdame zu finden geglaubt, und – er war aufs höchste überrascht worden, ein Weib anzutreffen, das sich durchaus natürlich benahm und deren geistige Fähigkeiten ihren äußeren Vorzügen durchaus die Wage hielten.
Helma war alles andere, nur nicht die Tochter eines Emporkömmlings. Und Gorgentin bedauerte aufrichtig, daß sie mit ansehen mußte, wie ihr Vater durch allzu jugendliche und allzu elegante Kleidung und durch ein lächerlich wirkendes übervornehmes Getue all das verdarb, was sein einziges Kind durch taktvolles und angemessenes Verhalten an Eindruck auf die Umgebung erzielte. Ganz besonders hatte es Gorgentin gefallen, wie offen Helma im Laufe des Gesprächs betont hatte, daß der alteingesessene Grundbesitz der Nachbarschaft jeden Verkehr mit ihnen ablehnte, und noch hinzugefügt hatte, dies würde sich mit der Zeit wohl ändern, da sie hoffe, ihren Vater allmählich an die neuen Verhältnisse mehr anzupassen.
Alles in allem: Gorgentin beschäftigte sich bereits in Gedanken mehr mit Helma, als er dies je für möglich gehalten. Und – er schämte sich dessen nicht! Es war nicht der Reichtum Emil Lorks, der ihm Helma näher gebracht hatte, es war vielmehr lediglich ihre Persönlichkeit, die eines jungen Weibes voller Temperament und guter Anlagen. –
Bank war am Rande des Waldes stehen geblieben. Gorgentin trat neben ihn.
Vor ihnen lagen der eingestürzte Ringofen mit dem schiefen Schornstein, die morschen, grünbemoosten Trockengestelle für die Ziegel und rechter Hand am Wege das kleine Häuschen inmitten eines nicht allzu ausgedehnten Gartens.
Bank winkte und schritt weiter. Bald standen sie unter den Obstbäumen des Gartens, konnten die vier Hinterfenster beobachten, deren grünschillernde alte Scheiben das Muster der von innen vorgehängten rotgeblümten Decken undeutlich erkennen ließen.
Der Komiker schlich auf die plumpe Tür zu. Der abgeblätterte Ölfarbenanstrich legte die Maserung des Buchenholzes frei.
Bank bückte sich und führte einen Dietrich in das Schlüsselloch ein. Der so harmlos ausschauende Haken aus Eisendraht tat seine Schuldigkeit. Ein zweimaliges Schnappen, und die Tür war offen.
Im selben Moment, als Bank sie aufschob, sah auch Gorgentin in dem halbdunklen Flur, der bis zur Vordertür reichte, eine weibliche Gestalt, die jetzt blitzschnell die Vordertür aufriß und auf den sonnbeschienenen Weg hinauslief.
Bank hatte mit zwei – drei Sätzen den Flur durchquert, hatte jedoch Pech, stolperte über die Schwelle und flog wie ein waidwunder Hase sich überkugelnd in ein großes Beet Goldlack im schmalen Vordergärtchen.
Gorgentin war glücklicher. Ohne lange zu überlegen war er ebenfalls dem Mädchen nachgestürmt, beeilte sich um so mehr, als er sofort den grüngrauen Lodenrock erkannt hatte, dazu blondes Haar, das in losem Knoten frisiert in der Sonne golden leuchtete.
Das Mädchen schwang sich bereits über die Einzäunung der Lehmgrube, als Gorgentin erst mitten auf dem staubigen Wege war.
Er jagte weiter.
Er sah, daß die Blonde jetzt am Rande der Lehmgrube entlangeilte, dann – verschwand.
Ein kühner Satz ließ ihn den Zaun im Sprunge nehmen.
Nun erspähte er den Flüchtling wieder.
Starr vor Staunen machte er halt.
Das Mädchen rutschte dort zwanzig Meter nach rechts hin die abschüssige Wand hinab, hatte den Rock vorn etwas durch die Beine gezogen und landete wohlbehalten unten auf den Füßen, warf einen scheuen Blick zu dem Verfolger empor und lief noch hastiger am Rande des kleinen Teiches dem Westausgang der schluchtartigen Grube zu.
Hinter Gorgentin jetzt Banks keuchende Stimme:
„Wir müssen sie fangen! – Vorwärts! Sie nach rechts herum, ich nach links!“
Gorgentin wandte den Kopf.
„Sie erreicht die Schonung drüben doch früher als wir, Bank. Es hat keinen Zweck. Ich habe ihr Gesicht gesehen. Ich erkenne es wieder. Es war ein Bauernmädel.“
Bank machte kehrt, rieb sich das Knie, fluchte leise.
Sein Gesicht war von den Staubfäden des Goldlackes gelblich gepudert, was so sonderbar wirkte, daß Gorgentin lächeln mußte.
„He – was feixen Sie?!“ brummte Bank wütend.
Das Mädchen war bereits die westliche Schluchtwand emporgeklommen und im Dunkel der Schonung untergetaucht.
„Säubern Sie sich das Gesicht,“ meinte Gorgentin, seine Heiterkeit bezähmend.
Bank kletterte ärgerlich über den Zaun und betrat das Häuschen. Er hinkte ein wenig.
Als der Doktor nun ebenfalls in der Stube rechter Hand erschien, kniete Bank vor einem zurückgeschlagenen schäbigen Läufer und einer – ausgehobenen Diele.
„Aha – aha!“ sagte der Komiker strahlend und nickte Gorgentin zu. „Das hier ist ein Paket Kugelpatronen, Kaliber 9, und das hier ein Jagdglas!“
Er hatte beides aus dem Fußbodenversteck herausgenommen und reichte es Gorgentin.
„Und dies hier – wahrhaftig! – ein Dolch!“
„Derselbe, den ich in der Hand des Mädchens sah,“ fügte Gorgentin eifrig hinzu.
Bank bückte sich noch tiefer.
„Hier ein Bündel Papiere, mit Bindfaden umschnürt!“
Er sprang auf die Füße.
„Die Papiere muß ich durchsehen, Gorgentin.“
Er setzte sich an den mit Wachstuch überzogenen Tisch.
„Wenn Sie wollen, schauen Sie sich weiter im Hause um. Timm wird nette Augen machen. Das harmlose Kaninchen entpuppt sich genau so wie ich’s vermutet hatte: Ramminger ist Wilderer – ein ganz gerissener dazu! – Na – Lork hat nun wenigstens sein Geld nicht umsonst für mich ausgegeben.“
Gorgentin horchte auf.
„Wie – Sie sind von Lork etwa des Wilddiebes wegen hergerufen worden?“ fragte er dann ganz fassungslos.
„Und ob! Natürlich, Gorgentinchen! – Nun stören Sie mich aber nicht. Gönnen Sie mir zehn Minuten Alleinsein!“
Er schnürte das Papierpäckchen auf.
Gorgentin ging in den Flur, drückte die Tür leise ins Schloß und öffnete die andere, gegenüberliegende.
Dieser Vorderraum war bis auf einen Kleiderschrank und vier große Kisten leer.
Nach links ging eine zweite Tür in die Küche, deren Fenster nach dem Gemüsegarten hinauslagen.
Auch die Küche genau so armselig wie die getünchten Stuben. Hier noch dazu ausgetretener, schmutzstarrender Ziegelboden. Die Decke rauchgeschwärzt. Die Hängelampe von Fliegen umschwirrt und punktiert. Ein ekler brenzlicher Geruch benahm Gorgentin fast den Atem. – Er hatte, um den Raum besser überblicken zu können, die rotgeblümte, löcherige Tischdecke vom Fenster losgehakt. Am liebsten hätte er die Fensterflügel aufgerissen. Aber er wagte es nicht.
Während er noch durch die halbblinden Scheiben in das freundliche Grün des Gartens schaute, bemerkte er hinten an der Gartenpforte einen Mann, der jetzt hastig näherkam.
Gorgentin traute seinen Augen nicht. Der Mann war – Herr von Gugen, – jetzt ohne Büchse, im übrigen genau so angezogen, wie Gorgentin ihn vor kaum anderthalb Stunden im Walde gesehen hatte.
Gorgentin ahnte, daß den Gutsbesitzer wohl eine besondere Absicht hierher führte, daß Gugen fraglos ebenfalls vor der Haussuchung durch Timm hier eindringen wollte.
Bank hatte die Hintertür wieder abgeschlossen. Das wußte Gorgentin. Rasch trat er in den Flur, zog die Küchentür leise zu. Dieses Abenteuer begann ihn zu reizen. Er würde Bank beweisen, daß er als Gehilfe gut zu gebrauchen sei.
Er lauschte. Von draußen fiel nur durch die schmalen, mit Spinngeweben bedeckten Fenster über den beiden Eingangstüren Licht in den Hausflur.
Nun wurde ein Schlüssel vorsichtig ins Schloß gesteckt. Der Schloßriegel schob sich zurück. Die Tür ging auf – nach innen. Gorgentin hatte sich geschickt hinter die Tür geklemmt.
Er hörte Gugen stoßweise atmen.
Dann schritt der Gutsbesitzer hastig vorwärts, legte die Hand auf den Drücker der rechten Tür – der Tür jener Stube, in der Bank saß.
Gorgentin wartete.
Gugen öffnete die Tür.
Prallte zurück.
Warf sie ins Schloß.
Der Schlüssel steckte von außen. Im Nu hatte er ihn umgedreht, sprang zur Tür gegenüber, verschwand dahinter.
Gorgentin eilte ihm nach. Gugen sollte ihm nicht entkommen.
Riß die Tür auf.
Leer.
Und stürmte in den Flur – durch den offenen Hintereingang in den Garten.
Nichts – nichts! Von Gugen keine Spur!
Und er hätte ihn doch unbedingt noch sehen müssen! Gugen hatte ja keine vier Sekunden Vorsprung.
Gorgentin lief und befreite Bank, der schon von innen wütend gegen die Füllung trommelte.
„Was soll das?!“ grobste der Kleine ihn an.
„Gugen war hier! Gugen schloß die Tür ab –“
„Gugen?! Himmel – wo ist er?!“
Gorgentin erzählte kurz.
Bank wartete den Schluß gar nicht ab, lief in das andere Vorderzimmer, blickte sich wild um, schoß auf den Schrank los, packte den Schlüssel, und – mit kräftigem Ruck war die Tür offen.
„Bitte, Herr von Gugen,“ sagte Bank höflich „Kommen Sie nur heraus.“
Gugens blasses, von Schweißperlen glänzendes Gesicht erschien zwischen den an Knaggen hängenden Kleidungsstücken.
Bank hatte in die Schlüsseltasche gefaßt, war einen Schritt zurückgetreten und hielt einen winzigen Revolver Gugen vor die Brust.
„Ich warne Sie!“ sagte er mit Nachdruck. „Ich bin zur Führung einer Waffe berechtigt.“
Der Gutsbesitzer lächelte verächtlich, entstieg vollends dem Schranke und maß den Kleinen geringschätzig von oben bis unten.
„Weil Sie ein Spitzel sind,“ meinte er eisig. „Ich ahnte es schon im Walde. – Was wünschen Sie von mir?“
„Merkwürdige Frage! – Was wollten Sie denn hier?“
Gorgentin stand mit angehaltenem Atem dabei.
Gugen hatte ihn nur flüchtig angeschaut, wandte sich wieder Bank zu.
„Sind Sie Polizeibeamter?“
„Komiker, nebenbei noch anderes. – Was wollten Sie hier?“
„Und Sie?!“ Gugen hatte seine Sicherheit wiedergewonnen. Seine Augen wurden wieder schmal und klein. Gorgentin fand, daß der Gutsbesitzer bei Tageslicht weit weniger unsympathisch[3] wirkte. Er glaubte genügend Menschenkenner zu sein, um aus diesem finsteren Gesicht mehr als nur hochmütige Verschlossenheit und menschenfeindliche Ablehnung herauslesen zu können. Diese bereits von Falten durchfurchten Züge waren die eines Menschen, der ein großes Leid durchgemacht hat, nahm Gorgentin an. Dieser letzte des Geschlechts derer von Gugen mochte die Bürde schwerer Schicksalsschläge mit sich herumschleppen.
Seltsam: auch Bank steckte die Waffe plötzlich wieder in die Tasche. – „So kommen wir nicht weiter, Herr von Gugen,“ meinte er höflich. „Daß Sie der Mörder Rammingers nicht sind, weiß ich. Es ist wohl besser, wir verlassen nun gemeinsam dieses Haus, damit Timm uns hier nicht trifft. Ich will nur noch die Sachen in das Versteck zurücklegen.“
Gugen hatte die Augen weit geöffnet. „Versteck – Sachen? Was für Sachen?“
„Sie können sich die Gegenstände ja ansehen.“ Und Bank schritt in die andere Vorderstube hinüber.
Gugen folgte ihm. – Gorgentin kam hinterdrein. Er vermutete, daß Bank aus feiner Berechnung seine Taktik gegenüber Gugen geändert hätte.
Der Gutsbesitzer zeigte für die Patronen und das Jagdglas wenig Interesse.
Die Papiere band der Komiker wieder zusammen und meinte: „Nichts von Wichtigkeit ist darunter. Alte Rechnungen, Briefe, – alles bezieht sich auf den toten Ramminger.“
Gugen fragte plötzlich: „Sie sind Privatdetektiv, Herr Bank?“
„Ja.“
Bank legte die Sachen in das Fußbodenversteck zurück.
„Und Sie sind des Wilddiebes wegen hergekommen, der auch mein Revier nicht schonte?“
„Ja.“
Gugen machte eine ungeduldige Handbewegung.
„Glauben Sie, daß Sie durch diese Kürze etwas erreichen?“ fragte er scharfen Tones.
„Was ich erreichen wollte, hatte ich erreicht, Herr von Gugen. Ihr geringes Interesse an diesen Gegenständen beweist mir, daß Sie hier – noch etwas anderes suchen wollten.“
Gugen zuckte die Achseln. „Ich wollte das suchen, was Sie gefunden haben: die endgültigen Beweise, daß Ramminger ein alter Wilderer ist.“
Banks zerknittertes Gesicht hob sich höher. Der kleine Mann schien zu wachsen.
„Herr von Gugen, wenn ich Ihnen meinen richtigen Namen nennen würde, dürften Sie auf jede weitere Lüge in der Überzeugung verzichten, daß diese Lügen zwecklos sind. Ich werde Ihnen aber erst morgen mittag diesen Namen nennen – zugleich mit dem des Mörders Anton Rammingers! – Gehen wir! Ich lasse alles hier so, wie ich es angetroffen habe. Die Diele war ausgehoben, der Läufer zurückgeschlagen. – Gehen wir –“
Gugen sagte schnell: „Ich bin weder auf Ihren noch den Namen des Mörders neugierig. Ich lehne jede weitere Unterredung mit Ihnen ab. Meinetwegen erzählen Sie Timm, daß ich hier war. Oder besser: ich werde es ihm selbst mitteilen. Timm beargwöhnt mich. Da war es mein gutes Recht, alles zu tun, um mich von diesem Verdacht zu reinigen. Ich wollte hier nur die unumstößlichen Beweise –“
Bank fiel ihm ins Wort.
„Lassen Sie doch die Ausflüchte! Sie haben sich ja bereits verraten.“
Gugen biß sich auf die Lippen machte kehrt und ging davon.
– – – – – – – –
„Er hat den richtigen Schlüssel zur Hintertür gehabt,“ sagte Bank, der dem Gutsbesitzer gefolgt war und gesehen hatte, wie dieser den noch im Schloß der Tür steckenden Schlüssel abzog und mitnahm. „Er schaute sich nicht ein einziges Mal um. Daß er den Schlüssel besitzt, ist nicht weiter wunderbar. Auch dieses Häuschen hat ihm ja einst gehört.“
Gorgentin blickte den kleinen Mann versonnen und doch mit einer gewissen Ehrerbietung an. – Wer war Bank? Wer durfte, wie er es getan hatte, so ohne jede Prahlerei oder Effekthascherei behaupten, den Mörder bis morgen mittag entdeckt zu haben?
Bank lächelte plötzlich. „Gorgentin, man liest Ihnen die Gedanken von der Stirn ab.“ Er trat näher zu ihm hin, reckte sich auf den Fußspitzen hoch und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Gorgentin stand regungslos. Er mußte die Überraschung erst verwinden. Bevor er dann irgend etwas äußern konnte, sagte Bank gleichmütig:
„Das, was Gugen hier suchte, muß seiner Vermutung nach hier in diesem Raume liegen. Er ist ja von der Hintertür geradeswegs hierher gegangen. Er wird Ramminger wohl einmal von draußen beobachtet haben durch die Fenster –“ – Seine Stimme wurde immer gedehnter, klangloser. Man merkte, sein Hirn arbeitete mit Hochdruck. „Es ist dies hier dieselbe Stube, in der Sie das blonde Mädchen – also keine Dame, lieber Gorgentin – am Fenster sahen – mit dem Dolch da in der Hand. – Was wolltest Du mit dem Dolche, sprich[4], o blonde Maid?! Was wohl?! Wie hattest Du ihn gefunden – hier unter den Dielen? Warst Du Rammingers Vertraute?“
Und nach kurzer Pause: „Nun werde ich suchen, was Gugen suchte. Halten Sie derweil im Flur Wache, Gorgentin, oder besser im Gemüsegarten. Sie können von dort den Weg nach beiden Seiten hin beobachten und mich rechtzeitig warnen, damit wir verschwinden, falls Timm naht.“
Er ging voran bis zur Hintertür, öffnete sie mit dem Dietrich.
„Guten Erfolg, Bank,“ sagte der Doktor und trat in den Sonnenschein hinaus, fand ein geschütztes Plätzchen hinter ein paar Fliedersträuchern und behielt den sandigen Weg im Auge.
In der Nähe standen Rammingers vier Bienenkörbe. Das Summen der fleißigen Tierchen war deutlich zu hören.
Gorgentin gähnte mehrmals. Die Müdigkeit kam – kam mit solcher Macht, daß er sich an einen rissigen Birnbaum lehnte und die Augen für einen Moment schloß.
Helma Lork erschien seinem geistigen Blick – klar und scharf, wie er sie im Mondlicht vor sich gesehen.
Das Bild verschwand. Gorgentin ward sich seiner Pflicht bewußt, riß die Augen auf.
Bank, der ganz leise herangekommen, nickte ihm zu.
„Ja, es ist Zeit, daß wir schlafen gehen, lieber Gorgentin. Allons also – nach Hause!“
„Haben Sie etwas gefunden?“ platzte Gorgentin neugierig heraus.
„Ja. Ich hab’s aber natürlich liegen lassen.“
Er schritt weiter. Erst im Walde kam Gorgentin dazu, ihn zu fragen:
„Was fanden Sie denn?“
„Eine sehr kostbare Platinherrenuhr mit einem Monogramm in Brillanten, eine Platinuhrkette dazu, drei Herrenringe, einen Doppelring, sogenannter Witwerring, eine Krawattennadel, bestehend aus einem kleinen Raubtierzahn, in Platin gefaßt, und ein goldenes Zigarettenetui mit demselben Monogramm.“
„Rammingers Monogramm?“
„Nein.“
„Und wo fanden Sie die Sachen?“
„In einem feinen Versteck: hinter einer Kachel der Vorderseite des braunen mächtigen Ofens! Die Kachel war so geschickt mit Lehm wieder eingefügt, daß ich kaum darauf aufmerksam geworden wäre, wenn – wenn eben nicht der Lehm der einen Ritze bereits herausgekratzt gewesen wäre und vor dem Ofen gelegen hätte. Ich denke, das wird das blonde Mädchen getan haben, die wir vorhin verscheuchten. Sie ist also keine Vertraute Rammingers. Im Gegenteil: sie hatte es auf ihn und seine Schätze abgesehen!“
Gorgentin war stehen geblieben.
„Sie meinen, sie hatte sich ins Haus eingeschlichen und suchte, hat auch damals gesucht, als Ramminger fischte?“
„Ja. Und den Lehm hat sie mit der Dolchspitze herausgekratzt. Man sah es der Spitze noch an. – Gehen wir weiter –“
Gorgentin verarbeitete all das Neue erst in Gedanken.
Dann:
„Das Mädchen hatte ein derbes, wenn auch ganz hübsches Gesicht und war doch wohl eine Einheimische. Ich begreife nicht, Bank, wie dieses Mädchen für Rammingers Geheimnisse –“
Bank faßte in die Westentasche und unterbrach Gorgentin.
„Das Mädchen ist Rammingers Mörderin. Gugen weiß das.“
Wie ein Blitz trafen diese Worte den Doktor. Er starrte auf Banks Hand, in der wieder die kleine Messingpatronenhülse lag, die Bank ihm schon vor einer Stunde drüben im Walde gezeigt hatte.
„Ich will Ihnen die Zusammenhänge erklären, lieber Gorgentin,“ fuhr Bank ruhig fort. „Bevor ich diese Patronenhülse einer modernen Repetierpistole, Kaliber 6,8, auf dem Waldboden unweit des Toten nach der dicken Buche zu bemerkte, hatte ich schon in dem losen Sande vor dem Schlupfloch eines Kaninchenbaus den scharfen Abdruck zweier Frauenstiefel gesehen. Es ist ja mein Beruf, mehr zu sehen als andere. Als ich dann nach dem Wege hinüberging, wo Sie und Fräulein Lork warteten, fand ich dieselbe Frauenfährte auf einer freien Stelle in dem erdigen Kreis eines wieder ausgefüllten Loches eines ausgerodeten Baumstumpfs. Die Frau war – gelaufen. Die Spur verriet es. Es war aber noch eine Spur da: die eines Mannes – Gugens! – An dieselbe Stelle führte uns nachher der Polizeihund.“
Sie hatten jetzt das Ende des Waldes erreicht. Misdroy lag im Tale unter ihnen, weiterhin das sonnbestrahlte Meer.
„Die Wilderertragödie am Rande der Lichtung dürfte sich wie folgt abgespielt haben. – Ramminger unternahm wieder einen seiner nächtlichen Spaziergänge – ohne Waffe –“
„Ohne Waffe?! Es lag doch eine Büchse –“
„Warten Sie ab. – Ramminger ist fraglos ein alter Wilddieb. Aber hier hat er nicht gewildert. Timm scheint ihm aufgelauert zu haben, traf ihn aber stets unbewaffnet. – Der Rentner hatte wohl festgestellt, daß der Rehbock die Lichtung dort zum Äsen bevorzugte. Sein Wildererherz erfreute sich in diesen hellen Nächten an dem Anblick des äsenden Tieres. Um wenigstens in etwas an frühere Zeiten erinnert zu werden, hatte Ramminger gestern nacht den Flickenanzug angelegt. So hat er den Bock, neben der dicken Buche stehend, beobachtet. Die Stelle war genau zu erkennen. Er hat sich an den Baum gelehnt – lange Zeit. Auch das war zu erkennen. Dann fiel ein Schuß, der den Bock niederstreckte. Der Schuß kam aus Gugens Büchse –“
„Er ist der Wilderer, der nie das erlegte Wild mitnimmt, nur das Gehörn?“
„Ja – er! – Hören Sie weiter. Nach echter Wilddiebmanier wollte Gugen den Bock sofort von der Lichtung holen, bevor der Knall einen Förster herbeilockte. Er unterließ es aber, weil er etwas hörte, das ihn warnte –“
„Was?“
„Vielleicht Stimmen. Sehr wahrscheinlich sogar – streitende Stimmen. – So, nun wollen wir uns erst mit einer anderen Person beschäftigen, dem blonden Mädchen. Dieses war Ramminger gefolgt, hatte sich bis in seine Nähe geschlichen. Als der Schuß fiel, mag sie angenommen haben, Ramminger sei der Schütze gewesen. Sie muß einen Grund gehabt haben, ihn seiner Wilderei wegen zur Rede zu stellen. Daß ein anderer den Schuß abgegeben, ahnte sie nicht. Sie hatte eine Repetierpistole mit. Sie erschoß Ramminger. Ob sie es mit Überlegung, im Affekt oder vielleicht gar aus Notwehr getan hat, wird sich herausstellen. Kaum sank Ramminger zu Boden, als sie wahrnahm, daß er nur einen derben Krückstock bei sich hatte – kein Gewehr! Um ihre Tat – sie hielt Ramminger für tot – zu verschleiern, lief sie nach der Ziegelei, nach dem Häuschen, wo, wie sie wußte, in dem Fußbodenversteck Rammingers Büchse lag. Sie wußte es, weil sie das Häuschen schon öfters durchsucht hatte. In ihrer Kopflosigkeit ließ sie das Versteck dann offen. Wir fanden ja den Läufer zurückgeschlagen und das Dielenstück ausgehoben. Ramminger hätte das Versteck nie offen gelassen.“
„Allerdings nicht!“
„Sie nahm die Büchse mit, nachdem sie aus einer Patrone die Kugel und etwas Pulver entfernt und so einen Schuß, der kaum geknallt haben kann, abgegeben hatte, damit der eine Lauf nach Pulverschleim röche.“
„Ah – ich verstehe!“
„So kehrte sie nach dem Tatorte zurück, warf die Büchse neben den Bewußtlosen und eilte wieder davon. Ohne Zweifel hat sie angenommen, Ramminger sei nicht mehr am Leben.“
„Und Gugen?“
„So warten Sie doch! Nicht so stürmisch! – Das Mädchen muß auch nachts häufiger Rammingers Haus umschlichen haben. Hierauf ist Gugen aufmerksam geworden. Und – deshalb fand er selbst sich so oft nachts in der Nähe der Ziegelei ein, wo Timm ihn wieder bemerkte.“
„Es tagt – es tagt!“ meinte Gorgentin staunend über so viel scharfsinnige logische Phantasie.
„Gugen, behaupte ich, hat das Mädchen an der Stimme erkannt, als es mit Ramminger neben der dicken Buche in Streit geriet. Er suchte ihr nachzueilen, erreichte sie nicht, blieb in der Nähe, verbarg sich, sah nicht, daß das Mädchen die Büchse neben Ramminger legte. Als wir dann den soeben erst Verschiedenen fanden, trieb ihn die Sorge um das Mädchen herbei. Er tat so, als ob er den Toten jetzt erst entdeckt hätte, tat, als wollte er Timm benachrichtigen. Das wissen Sie ja alles, lieber Gorgentin. In Wahrheit wollte er nur mit dabei sein, wenn die Behörde den Tatbestand untersuchte.“
„Er liebt das Mädchen!“
„Vielleicht! Jedenfalls: er hatte ein großes Interesse daran, festzustellen, ob der Verdacht sich etwa auf das Mädchen lenken würde. Dieses Interesse war stärker als seine Bedenken, daß er selbst als Wilddieb nun entlarvt werden könnte.“
„Liebe –!“ sagte Gorgentin nochmals.
„Vielleicht! – Dasselbe Interesse trieb ihn dann in das Häuschen, wo wir ihn erwischten. Er wollte dort eben endlich herausbringen, was das Mädchen dort stets gewollt haben mochte. Mithin wußte er auch, daß sie heimlich des öfteren in das Haus eingedrungen war.“
„Ohne Frage!“ nickte Gorgentin, dessen Müdigkeit wie weggewischt war. „Er ahnte, daß sie etwas suchte. Er wollte daher selbst suchen.“
„Ja – in dem rechten Vorderzimmer.“ Bank hatte sich eine Zigarette angezündet. „Der Fall liegt leider – zu klar!“ fuhr er sinnend fort. „Das Problem ist zu leicht zu lösen gewesen –“
„Wie meinen Sie das?“
„Daß ein Fehler in der Rechnung sein wird.“ Er blies den Rauch stoßweise von sich. „Ein Fehler, der alles über den Haufen wirft.“
„Sie zweifeln an der Richtigkeit Ihrer eigenen Schlüsse?“
„Leider. – Meine Theorie sieht verführerisch aus. Alles stimmt so schön. Und – manches wird auch stimmen, nur – nur eins nicht!“
„Und das wäre?“
„Hm – überlegen Sie mal, Gorgentin: weshalb spionierte das Mädchen Ramminger nach, weshalb wagte sie sich in das Häuschen selbst am Tage hinein, als Ramminger fischte? – Wußte sie etwas von den Wertsachen im Ofen? Wie hängen diese kostbaren Gegenstände mit alledem zusammen? – Ich finde darauf keine Antwort.“
Gorgentin blickte grübelnd den Weg entlang.
Rechter Hand lag eine Räucherei. An Schnüren hingen Flundern in der Sonne zum Trocknen. Ein Mann befühlte sie, ob sie schon für den Räucherofen reif seien. Neben dem Manne, bisher verdeckt durch einen Haufen Holz, stand Timm, der Riese, eine Pfeife im Munde.
Nun sah er Bank und Gorgentin, winkte, kam rasch herbei.
„Die Herren sind noch unterwegs?“ fragte er.
Bank lächelte etwas. „Sie wollen ja nur auf den Strauch schlagen. Gugen hat Ihnen ja bereits erzählt, daß wir in Rammingers Häuschen waren. Dort rechts geht er dem Walde zu.“
Timm wurde etwas verlegen.
„Sie – Sie hätten das nicht tun sollen, Herr Bank. Es bleibt Hausfriedensbruch, unbefugtes Eindringen in –“
„Wenn schon. Ist es Ihnen nicht wertvoller, daß wir Gugen dort überrascht haben?“
„Hm – es ist verständlich, daß er Ramminger völlig entlarven wollte.“
„Ah so – ganz recht! Ja, natürlich, – Ramminger entlarven!“
„Haben Sie noch etwas gefunden, Herr Bank?“
„Gugen wird es Ihnen mitgeteilt haben. – Ist Wachtmeister Berndt mit dem Polizeihund noch da?“
„Er trinkt bei mir Kaffee –“
„Dann – auf Wiedersehen, Herr Timm.“
„Auf Wiedersehen.“ –
Gorgentin versank in seinem möblierten Zimmer sofort in tiefen Schlaf.
Bank aber ging, ohne dem Freunde etwas davon gesagt zu haben, zu Timm und sprach mit dem Wachtmeister.
– – – – – – – –
Berndt und Bank schritten dem Walde zu. Der Wachtmeister hatte den Hund an der Leine.
„Es war also ein Strolch, meinen Sie?“ fragte Berndt nochmals.
„Ja. Mir schien’s, als käme er aus Rammingers Häuschen.“
„Und der Kerl kniff aus?!“
„Wie gehetzt. Er rutschte die Lehmwand hinab. Dort wird der Hund die Fährte schon aufnehmen.“
Berndt blickte den Komiker von der Seite an.
„Entschuldigen, Herr Bank, sind Sie wirklich Komiker? Auch Freund Timm erklärte, Sie – Sie verständen so sehr viel von unserem Handwerk.“
„Ich trete in der Strandhalle auf. Aber ich interessiere mich für alles Ungewöhnliche.“
„So – so.“ –
Sie näherten sich von Osten der Lehmgrube, von der Schonung her, in der das Mädchen verschwunden war, das Bank nun aus bestimmten Gründen in einen Strolch verwandelt hatte. Er ließ sich nicht gern in die Karten sehen. Nie weihte er jemand ein, der ihm das Spiel vielleicht täppisch verderben konnte.
Der Hund bewährte sich abermals. An einem unten an der Lehmwand herausragenden spitzen Holz hatte der graugrüne Lodenrock ein Stück der Borte verloren. Dies genügte dem Tiere, Witterung zu nehmen.
Die Fährte ging quer durch die Schonung, bog nach Westen ab, lief durch den Wald auf die Chaussee und auf das Dörfchen Kramlack zu.
Hier verbellte der Hund die verriegelte Gartentür des Schulhauses.
„Schade,“ sagte Bank gähnend. „Der weite Weg war umsonst. Wir wollen kehrt machen. Ich hoffte, der zerlumpte Mann sei vielleicht hier in der Nähe zu Hause. Es wird doch ein Vagabund gewesen sein. Wir können dem Kerl nicht meilenweit nachrennen.“
Berndt war sehr einverstanden damit.
Ein Wagen, der nach Misdroy fuhr, nahm die beiden und den Hund mit zurück. Berndt bekam dann die versprochenen Zigarren, drückte Bank die Hand und ging wieder zu Timm.
Als der Landjäger von dem alten Bekannten hörte, was dieser mit Bank inzwischen unternommen hatte, schmunzelte er.
„Berndt, da hast Du Dich von dem Berliner fein einwickeln lassen! Das ist nie im Leben ein Komiker, sag’ ich Dir! Ich werd’ schon rauskriegen, was er ist! – Aha – da kommt schon der Wagen vom Gute Kramlack. Vorwärts – von der Mörderjagd zur Diebesjagd! Der Lork tobte am Telephon, versprach mir weiß Gott was, wenn wir dem Spitzbuben die Beute wieder abjagen würden.“
Sie fuhren mit dem Hunde nach Schloß Kramlack. Und – sie hatten Glück: der Dieb hatte die gesamte Beute in einem großen Rhododendrenbeet dicht vor den Saalfenstern verborgen, wo der Hund das Paket – die Wertsachen und das gestohlene Geld waren in einen Bogen Packpapier lose eingeschlagen – sehr bald aufspürte.
– – – – – – – –
Nachmittags vier Uhr.
Helma saß in Sybilles Zimmer auf dem Diwanrand, während das Fräulein von Derstra auf dem Diwan lag, mit halb geschlossenen Augen, auf der Stirn eine Kompresse.
„Billchen, ich muß nun gehen,“ sagte Helma herzlich. „Die Herren werden sofort eintreffen. – Ist es denn wirklich nicht möglich, daß Sie wenigstens mit uns zusammen Kaffee trinken?“
„Es geht nicht,“ erwiderte Sybille gequält. „Ich leide selten an Migräne. Dann aber auch so arg, daß ich niemand sehen mag. Alles ist mir dann zu viel. Ich will zu schlafen versuchen.“ –
Helma hatte den Kaffeetisch im Park unter den Buchen decken lassen. Sie sah dieser zweiten Begegnung mit Gorgentin mit banger Erwartung und der unbestimmten Angst entgegen, Gorgentin könnte heute bei dem hellen Sonnenlicht vielleicht nicht so zwanglos-liebenswürdig sein wie in der Nacht, wo der dämmernde Mondschein die Menschen unwillkürlich weicher und zugänglicher stimmte.
All ihre Sorge war umsonst. Gorgentin überreichte ihr mit einem halben Scherzwort, das doch eine besondere Bedeutung hatte, einen am Wegrande selbstgepflückten Strauß roter wilder Mohnblüten.
Helma war glücklich. Am Kaffeetisch hatte dann Emil Lork den fidelen Bank, der hier alle Schleusen seines fabelhaften Mundwerks aufzog, bald völlig mit Beschlag belegt.
Helma erwähnte so nebenbei auch Sybille von Derstra, ihre Freundin und Gesellschaftsdame. Gorgentin machte ein paar höfliche Redensarten – sehr bedauerlich, daß das Fräulein Migräne habe –, und damit war das aschblonde Billchen vorläufig erledigt.
Nach dem Kaffee besichtigte man das Schloß.
Inzwischen war Bank von dem Rittergutsbesitzer, der zu Ehren seiner Gäste einen hellen Flanellanzug, weiße Schuhe und einen weißen Selbstbinder angelegt hatte, bereits über den Diebstahl sowie die rasche Wiedererlangung des Gestohlenen ganz genau unterrichtet worden.
Zwischen gepfefferten Witzen und Schnurren brachte Bank immer wieder die Rede auf diesen Diebstahl, ließ sich jetzt, als Helma und Gorgentin längst den Festsaal verlassen hatten, das Fenster zeigen, aus dem der Dieb entflohen war, und sah sich von diesem Fenster aus das Rhododendronbeet an, wo das Paket von dem Hunde aufgestöbert worden war.
Banks Gedanken eilten nach dem Schulhause des Dörfchens Kramlack hin, suchten nach der Brücke, die diesen merkwürdigen Diebstahl vielleicht mit Rammingers Häuschen und der blonden Bauerndirne verband, die er noch heute nachmittag kennen zu lernen hoffte. Hatte er doch inzwischen schon in Erfahrung gebracht, daß dieses Mädchen eine entfernte Verwandte des Lehrers, Waise und Tochter des ehemaligen Ziegeleimeisters Johann Schrapauß war, der bis 1915 in dem Häuschen gewohnt hatte, bevor eben der Ziegeleibetrieb aufgegeben wurde. –
Helma zeigte Gorgentin gerade ihren Salon und die Durchsicht vom Balkon nach der See hin, als auch Lork und Bank durch die offen stehende Tür vom Flur eintraten.
Gorgentin hörte zerstreut zu, wie Bank Helma einige Schmeicheleien über diesen Salon sagte. Die anerkennenden Worte waren wohlverdient: Helma hatte hier alles vermieden, was irgendwie nach Protzerei aussehen könnte.
Des Doktors Augen ruhten wieder auf einer der zahlreichen Photographien, die auf dem modernen Damenschreibtisch standen.
Helma sagte plötzlich: „Das ist Sybille von Derstra –“
Sie nahm das Kabinettbild in die Hand.
Gorgentin konnte es nun ganz deutlich sehen. Sein Gesicht war wie versteinert vor Verblüffung.
Den beiden Lorks entging das. Nicht so Bank, der dem Freunde plötzlich einen leichten Rippenstoß gab und ihm zuraunte:
„Schweigen Sie!“,
bevor er laut rief: „Gorgentin, Sie werden sich in Fräulein von Derstra noch verlieben!“ – ein abgeschmackter Scherz, der Helma das Blut in die Wangen trieb, da sie an die Szene heute in aller Frühe dachte, wo sie doch Zeichen von Eifersucht bei Billchen wahrzunehmen geglaubt hatte.
Rasch stellte sie Sybilles Bild wieder auf die Schreibtischplatte zurück.
Gorgentin war durch die Warnung Banks, die noch dazu von einer jede Träumerei verscheuchenden handgreiflichen Mahnung begleitet gewesen war, wieder völlig Herr seiner selbst geworden.
Er bekam es sogar fertig, Bank ebenso scherzend zu erwidern:
„Ich verliebe mich nicht in Bilder, lieber Bank, nur in Lebende!“,
und erreichte so, daß der kleine Zwischenfall äußerlich weiter ganz harmlos erschien. –
Dann schlug Bank vor, man könnte sich mal das nahe Dorf Kramlack ansehen, dessen uralte Kirche noch aus der Schwedenzeit stammen solle, wie er gehört habe. Er liebe alte Kirchen.
Lork ließ denn auch den Jagdwagen anspannen. Als Helma, bevor man einstieg, noch schnell nach oben eilte, um Sybille zu fragen, ob sie vielleicht mitkommen wolle, fand Bank Gelegenheit, Gorgentin zuzuflüstern:
„Was war’s mit dem Bilde der Derstra?! Sie machten ja ein Gesicht, als ob Sie Satanas und nicht ein ganz nettes üppiges Mädel sahen?“
Gorgentin blickte sich scheu nach Lork um, der die Pferde des Jagdwagens streichelte.
„Mit der jungen Dame war ich einmal verlobt – vor fünf Jahren, kurze Zeit –“
„Heiliger Bimbam – verlobt?!“
„Außerdem muß diese Dame jetzt anders –“
Da hatte Lork dazwischen gerufen:
„Kommen Sie sich mal diese Rappen ansehen, meine Herren! Mein Stolz sind die Tiere!“
So konnte Gorgentin den Satz nicht beenden. –
Helma hatte sich von Billchen abermals einen Korb geholt. Sybille hatte behauptet, die Migräne sei noch ärger geworden. –
Man fuhr nach Kramlack, das keine zwei Kilometer nach Süden zu lag.
Helma kutschierte. Gorgentin saß neben ihr; Lork und Bank hinten im Wagen.
Gorgentin hatte seine Freude an Helma, an dieser Fahrt, an den Kornfeldern – an allem. Jugenderinnerungen wurden wach. Sein Vater, der als Förster dort oben in der Romintener Heide ein Fuhrwerk besessen, hatte seinen einzigen Jungen schon früh mit der Zügelführung vertraut gemacht. So konnte Gorgentin denn sehr gut beurteilen, ob Helma von der Kunst des Pferdelenkens wirklich etwas verstand.
Wenn er jetzt an den gestrigen Abend zurückdachte und an Banks etwas taktlose Vorschläge, sich doch das Goldfischlein zu angeln, kam ihm all das gar nicht mehr so unsinnig und unmöglich vor. Freilich – das Goldfischlein schied dabei völlig aus! Hier handelte es sich lediglich um Helma – um Helma als Weib! Und dieses junge Weib gefiel ihm immer mehr. –
Vor dem Schulhause rief Lork der am Fenster erscheinenden Frau des Lehrers zu, doch den Kirchenschlüssel sofort nach der Kirche zu schicken.
Der Wagen fuhr weiter. Keine hundert Meter noch, und das Kirchlein, umgeben von einem Friedhof und einer hohen meterdicken Mauer, tauchte zwischen dem Grün uralter Kastanien auf.
Man stieg aus. Ein Dorfjunge hielt die Pferde, die man losgesträngt hatte.
Man betrat den Friedhof. Lork zeigte den beiden Gästen ein paar uralte Gräber und das Erbbegräbnis der Familie von Gugen, eine Kapelle aus dunklem Granit mit kunstvoller Eisentür.
Bank, der sich neben Gorgentin gedrängt hatte, raunte ihm zu:
„Sie kommt! Die blonde Dirne! Drehen Sie sich nicht um.“
Und laut zu Lork: „Das Mädchen bringt den Kirchenschlüssel –“
Lork ging ihr entgegen. „’n Tag, Anna. Wie schaut’s?“
„Danke, gnädjer Herr –“
Auch Helma rief ihr einen Gruß zu.
Anna Schrapauß sah nur die Rücken der beiden anderen Herren und machte ahnungslos kehrt.
Bank wandte sich um.
„Ein nettes Mädel, gnädiges Fräulein.“
„Ein armes Mädel, Herr Bank.“
„Hm – und sieht so adrett aus, trägt einen so schicken Lodenrock –“
„Oh – den hat Sybille ihr letztens geschenkt.“
Bank hielt den Atem an.
„Fräulein von Derstra scheint ja sehr gutmütig zu sein,“ meinte er. „Einen so tadellosen Rock verschenkt man in der heutigen Zeit doch nicht so leicht.“
„Ist Billchen auch – herzensgut! Freilich, daß sie den Rock weggab, wunderte mich selbst.“
Auch Gorgentin dachte in diesem Moment dasselbe wie Bank: daß Sybille den Lodenrock vielleicht nur hätte loswerden wollen! –
Bank eilte dem Mädchen plötzlich nach.
„Ich möchte ihr ein Trinkgeld geben – für das Bringen des Schlüssels!“ rief er mit halb zurückgewandtem Kopf.
Er holte sie erst auf der Dorfstraße hinter dem Jagdwagen ein.
„Fräulein – einen Augenblick –“
Sie erkannte ihn und wurde blutrot vor Verlegenheit.
„Fräulein,“ lächelte Bank harmlos, „weshalb liefen Sie heute früh denn so hastig vor uns davon? Wir tun doch niemandem etwas. – Da – bitte, diese fünfhundert Mark stecken Sie in Ihre Sparbüchse, oder besser, kaufen Sie sich etwas dafür, denn in diesen glorreichen Zeiten können die fünfhundert vielleicht nach drei Monaten nischt mehr wert sein.“
Anna stammelte ein paar Dankesworte.
„Nicht wahr, Sie werden mich nicht verraten, Herr,“ fügte sie flehend hinzu. „Ich hab’ wirklich nicht stehlen wollen.“
„Weshalb waren Sie denn in dem Häuschen?“
Anna hatte zu dem netten Herrn rasch Vertrauen gefaßt.
„Oh – das kann ich Ihnen hier nicht so schnell erklären.“
„Schade –“
Da – vom Friedhof her Lorks Stimme:
„Bank, so kommen Sie doch!“
„Ja – gehen Sie nur voraus!“ rief Bank. Und hastig zu dem Mädchen:
„Ich muß Sie in Ruhe sprechen, Fräulein. Es soll Ihr Schade nicht sein. Erwarten Sie mich gegen halb acht auf dem Waldwege vom Schlosse nach Misdroy bei dem großen Stein.“ Er meinte einen erratischen Block von fast zwei Meter Höhe.
Anna zauderte. – „Sie müssen kommen!“ drängte Bank. „Ich – ich helfe Ihnen suchen!“ – Der letzte Satz war ein Probeschuß, aber ein Treffer.
Das Mädchen hatte die Augen aufgerissen.
„Der Herr weiß, daß ich –“
„Ja, ja, – auf Wiedersehen. Halb acht – an dem Stein!“
Und er lief zur Friedhofspforte.
– – – – – – – –
Da die Gäste um acht Uhr wieder in Misdroy sein mußten, hatte Helma das Abendessen bereits für halb sieben bestellt.
Als der Wagen vor der Freitreppe des Schlosses wieder vorfuhr, meldete der Diener sofort, daß Fräulein von Derstra vorhin mit dem Einspänner nach Misdroy zum Arzt gefahren sei, um sich ein Migränemittel verschreiben zu lassen. Sollte Doktor Stelter nicht daheim sein, so würde sie in Swinemünde einen Arzt aufsuchen und vielleicht dort im Hotel übernachten.
Helma war sehr besorgt um Sybille, rief Doktor Stelter telephonisch an und hörte, daß Sybille bisher dort nicht vorgesprochen habe.
„Sie wird wohl gleich nach Swinemünde gegondelt sein,“ meinte Lork achselzuckend. „Migräne –! Mach’ nicht so viel Aufhebens davon, Kind!“ – Das Fräulein von Derstra war ihm ein steter wandelnder Vorwurf. Er hatte in der ersten Zeit sich ihr auf seine Art nähern wollen. Sybille hatte ihn abfallen lassen und dies auf eine Weise, daß Emil Lork sie seitdem insgeheim haßte.
Bank hatte Gorgentin einen besonderen Blick zugeworfen ob dieser plötzlichen Sehnsucht Sybilles nach ärztlicher Behandlung. Gorgentin verstand den Blick nicht ganz. Er merkte nur, daß Sybille – vor ihm geflohen war.
Man setzte sich zu Tisch. Die Tafel war sehr feierlich im Speisesaal gedeckt worden. Fünf der Gutsbeamten nahmen daran teil. –
Helma wußte jetzt, daß ihre Herzenswünsche in Erfüllung gehen würden. Es bedurfte keiner Diplomatie von ihrer Seite mehr, Gorgentin an sich zu fesseln. Sie war Weib – sie fühlte, daß sie ihm nicht mehr gleichgültig war.
Das Essen verlief in behaglichster Stimmung. Lork hatte alten Rotwein aus dem Keller heraufholen lassen. Bank sprühte vor Geistreicheleien. Er war ein tadelloser Gesellschafter, erzählte von Japan mit derselben Fachkenntnis wie von dem Goldgräberleben in Klondyke.
„Waren Sie denn wirklich an all den Orten, Herr Bank?“ fragte der Oberinspektor zweifelnd.
„Als Komiker kommt man weit herum. Ich kenne nur ein Land nicht: Patagonien!“
Der Oberinspektor nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, wo dieses Patagonien liegen mochte. –
Dann war es für Gorgentin und Bank Zeit zum Aufbruch. Der Jagdwagen hielt bereits draußen vor der Freitreppe. –
Helma erwiderte den Druck von Gorgentins Hand ohne Scheu und blickte ihn strahlend an. Weshalb sollte sie heucheln?
Der Wirtschaftseleve Klaus hätte diese Komödianten vergiften mögen! Er litt alle Folterqualen der Eifersucht.
Dann rückte der Wagen an, bog in die Allee ein. Gorgentin schwenkte den Hut. –
Zehn Minuten drauf befahl Bank dem Kutscher zu halten. Er hatte Gorgentin schon Bescheid gesagt.
So schritt er denn dem mächtigen Stein, der neben dem Wege auf einer Schneise lag, allein zu, während der Wagen nach Misdroy weiterfuhr. –
Anna erschien ganz pünktlich. Sie trug einen Marktkorb am Arm. Sie kam aus Misdroy, wo sie Einkäufe besorgt hatte.
Bank gab ihr die Hand. „Das ist recht von Ihnen, Fräulein Anna, daß Sie mich nicht warten ließen. – Gehen wir ein Stück in den Wald. Dort hinten liegt eine entwurzelte Buche. Setzen wir uns dort nieder.“
Anna war weder verlegen noch ängstlich. Nur neugierig war sie, woher der Herr wohl wissen mochte, daß sie noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben hatte, die Ersparnisse ihres ganz plötzlich verstorbenen Vaters doch noch zu finden, der das Geld nach übler, aber nicht ausrottbarer Sitte nicht auf die Sparkasse gebracht, sondern irgendwo versteckt hatte.
Nun saßen Bank und das Mädchen nebeneinander auf dem Buchenstamm. Nun begann Bank zu fragen, hörte so von den noch immer nicht gefundenen ersparten 5000 Mark des Ziegeleimeisters.
„Waren Sie vor ein paar Tagen auch mal vormittags in Ihrer früheren Wohnung, in dem Häuschen, Fräulein Anna?“ meinte er dann.
„Nein. Vormittags nie. Meist abends, Herr, wenn Ramminger seinen Nachtspaziergang machte. Ich war ja überhaupt nur vier – nein, fünf Mal da, seit der alte Herr dort wohnt.“
Bank fühlte: die log nicht!
„Wo waren Sie in der verflossenen Nacht, Fräulein, bevor Sie morgens so gegen halb vier das Häuschen aufsuchten?“
„Bei Bauer Koppmann zum Verlobungsfest, Herr, – so bis gegen zwei. Dann kam der Landjäger Timm und erzählte, daß Ramminger tot sei und daß er die Leiche ins Spritzenhaus bringen würde. Da dachte ich mir, das ist ’ne gute Gelegenheit, nochmals ordentlich nachzusehn, ob Vater das Geld –“
„Schon gut, Fräulein. Sie hatten also einen Schlüssel zur Vordertür. Haben Sie die Diele im Vorderzimmer ausgehoben?“
„Nein. Das war schon alles so, als ich die Stube betrat.“
„Kennen Sie Herrn von Gugen näher?“ Er sah sie von der Seite an, ob sie verlegen werden würde.
„Nein, Herr. Wie sollte ich?!“
„Besuchte er nicht ebenfalls heimlich das Häuschen?“
Anna schüttelte den Kopf. „Davon weiß ich nichts.“
„Oder – tat’s eine junge Dame vielleicht?“
„Eine – eine junge Dame?! Herr, was sollte die dort wohl?“
Bank war enttäuscht. Aber er forschte weiter.
„Den schönen Lodenrock hat Ihnen Fräulein von Derstra geschenkt? Wann?“
„Ja. Er ist wie neu.“ Sie lächelte glücklich. „Vor drei Tagen war’s.“
Aha – nachdem Gorgentin sie dort am Fenster gesehen hat! dachte Bank. Sie wollte den Rock also wirklich loswerden – aus Vorsicht!
„Sind Sie öfters im Schloß, Anna?“ fuhr er ebenso gemütlich fort.
„Nein, Herr. Fräulein von Derstra bestellt mich nur, wenn Sie was zu flicken oder zu stopfen hat.“
„Fragte das Fräulein Sie mal über das Häuschen aus?“
„Ja. Aber das ist schon lange her. Das war sehr bald, nachdem das Fräulein zu Lorks gekommen war.“
„Und sagten Sie ihr, daß Sie noch einen Schlüssel zur Vordertür besäßen?“
„Ich wollte nicht lügen, Herr. Sie versprach mir auch, nichts zu verraten. Ich mußte ihr auch mal den Schlüssel mitbringen und zeigen.“
„Und da hat sie natürlich davon einen Wachsabdruck genommen und einen Nachschlüssel anfertigen[5] lassen!“ dachte Bank und triumphierte.
„Fräulein von Derstra ist wohl sehr ängstlich?“ meinte er dann.
Anna lachte. „Ach nein, gar nicht, Herr! – Sie denken wohl, weil sie immer die kleine Pistole bei sich hat?“
„Ja, Fräulein Anna. Das dachte ich.“
Er überlegte, ob es noch etwas zu fragen gäbe.
„Wollen Sie mir nun wirklich helfen, Herr?“ sagte sie schüchtern. „Es waren fünftausend Mark in Gold, Herr. Das sind heute viele, viele Hunderttausende.“
„Wissen Sie genau, daß es Gold war?“
„Genau, Herr.“
„Nicht etwa Schmucksachen – Uhr, Kette, Ringe – dergleichen?“
„Nein, nur Gold. Und es muß im Hause liegen.“
„Haben Sie den Lehm aus der einen Ofenfuge herausgekratzt, Anna, – dort in der rechten Vorderstube?“
„Ja – heute morgen. Ich hatte mich drauf besonnen, daß Vater mal, als ich noch klein war, nachts an dem Ofen herumarbeitete. – Lachen Sie mich nicht aus, Herr: ich habe davon geträumt, und als ich aufwachte, fiel mir ein, daß es ja tatsächlich so war, daß ich eben nachts von meinem Bett als zehnjähriges Mädchen –“
„Schon gut, Anna. Ich werde Ihnen helfen. Sprechen Sie aber zu niemandem davon.“
„Wo werd’ ich, Herr! Nur – nur –“ – sie errötete – „nur meinem Bräutigam möcht’ ich’s sagen, dem Franz Koppmann, dem Ältesten von Bauer Koppmann. Der alte Koppmann will nichts von mir wissen, weil ich nichts habe. Franz und ich tun auch vor andern ganz fremd zueinander.“ Sie seufzte.
Bank drückte ihr einen Tausender rasch in die Hand.
„Auf Wiedersehen, Anna. Ich werde alles für Sie tun, was ich kann.“
Er schritt davon.
Anna starrte auf die Banknote. Sie vergaß vor Freude, Bank ein Dankeswort nachzurufen.
– – – – – – – –
Nach der Abfahrt der Gäste hatte Emil Lork mit Helma einen Spaziergang durch den Park gemacht.
Er hatte dem schweren Rotwein kräftig zugesprochen, und das erhitzte Blut zauberte ihm immer wieder die tadellos gewachsenen Beine der Sennorita Tortadilla vor Augen.
„Wie wär’s, Helmachen, mit der Strandhalle?“ fragte er plötzlich, obwohl er wußte, daß Helma schon Bank erklärt hatte, sie würde wohl nur noch selten das Kabarett besuchen.
Es war ihr jetzt geradezu peinvoll, daß Heinz Gorgentin vor so viel Frauenaugen seine seichten Lieder sang.
Er gehörte ihr – nur ihr!
„Nein, Papa,“ erwiderte sie fast schroff. „Fahre doch allein!“
Lork blieb stehen und blickte sie prüfend an.
„Sag’ mal, Helmachen, wie denkst Du Dir die Geschichte mit dem Gorgentin eigentlich?“ meinte er etwas unsicher.
„Ich werde ihn heiraten, Papa.“
„Donnerwetter! Du wirst! Und – wenn er nicht will? Oder wenn er nur – mein Geld will? Dazu bist Du doch zu schade.“
„Er wird mich wollen – nur mich. – Er ist Arzt und Zahnarzt, Doktor dazu –“
„Hm – hoffentlich stimmt das. Bank ist auch nicht Komiker, sondern – ganz unter uns, Helma! – sondern Detektiv.“
„Das habe ich vermutet –“
„Der berühmteste Privatdetektiv Berlins, Kind. Ich habe ihn hergerufen, bezahle ihn – des Wilddiebs wegen! Die Schweinerei muß ein Ende haben!“
„Du –?!“ Helma hätte das nie im entferntesten geahnt. „Du hast ihn –“
„– beauftragt, den Wilddieb unschädlich zu machen, so oder so! Bank hat die Lustige Sieben nur deshalb gegründet, weil er unerkannt hierher kommen wollte.“
Helma lächelte. „Papa, Gorgentin ist nicht Detektiv, ist Arzt – Zahnarzt. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“ Sie wurde wieder ernst. „Ob es nicht ginge, daß Du ihn loskaufst? Ich meine, daß er nicht mehr aufzutreten braucht? Ich will das nicht. Er soll nicht da auf dem Podium stehen und sein Lächeln allen darbieten – seine Stimme, seine ganze Person! Ich will das nicht!“
„Warum soll das nicht gehen, Kind? Wenn Du willst! Ich werde noch heute mit Bank und Henneberg sprechen. Jeder Mensch hat einen Preis. – Liebst Du ihn so, Helma, so sehr?“ Er nahm ihre Hand und streichelte sie.
„Ja. Ich liebe ihn, Papa –“
„Gut, gut. Dann – dann kaufe ich ihn los.“
Lork küßte seine Einzige auf die Stirn. Er hatte die Tortadilla vergessen. Er kam sich mit einem Male so uralt vor, dachte, daß er vielleicht übers Jahr Großvater sein würde.
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Siegbert von Gugen war gerade in seinem sehr bescheiden eingerichteten Herrenzimmer im Gutshause von Sandkuhl in finsterem Brüten auf und ab gegangen, als das Telephon geschrillt und Sybille sich gemeldet hatte.
„Hier Bill,“ hatte sie sich zu erkennen gegeben. „Ich muß Sie unbedingt sprechen, Herr von Gugen. Bitte kommen Sie sofort nach dem Hafengasthaus in Ostswine – mit Ihrem Einspänner ohne Kutscher. Geben Sie aber acht, ob man Ihnen nicht folgt. Jeder Radler wäre verdächtig.“
Gugens Gesicht strahlte mit einem Mal.
„Ich komme. In einer halben Stunde bin ich da.“
„Ich werde Ihnen doch besser ein Stück auf der Chaussee entgegengehen. – Schluß.“
Gugen gab Befehl zum Anspannen, schob eine Browningpistole in die Tasche und legte für alle Fälle sein heute nachmittag eigenhändig geschriebenes Testament in die oberste Schieblade seines Schreibtisches.
Seit dieser Bank sich eingemischt hatte, fühlte er, daß die Dinge einem jähen Ende zutrieben. Ihm war das nicht weiter schreckvoll. Er hatte mit dem eigenen Leben in den letzten Monaten stets gespielt, hatte stets den Tod vor Augen gehabt.
Nur – nur Sybille von Derstra machte ihm das Scheiden etwas schwer. –
Er ging langsam vor das schlichte Gutshaus und erwartete den Wagen, stieg ein und fuhr in scharfem Trab davon.
Als er die Chaussee erreicht hatte, blickte er zurück. Weit und breit keine lebende Seele.
Da war er beruhigt. Die scharfe Falte über der Nase glättete sich etwas. Sein Gesicht bekam einen weniger finsteren und brutalen Ausdruck, zerfloß sogar bald in einer Weichheit und Versonnenheit, wie noch niemand sie an dem letzten Gugen hatte beobachten können. Dieses Gesicht war wie ein wohlbehütetes Geheimnis.
Sybille – Billchen! dachte er in scheuer Zärtlichkeit. Und seufzte.
Ja – wenn die Verhältnisse anders gelegen hätten! Wenn er nicht der verarmte, gemiedene Siegbert von Gugen gewesen wäre! Gemieden von allen Standesgenossen, die es ihm nicht verziehen, daß er Kramlack an den Emporkömmling, den Lork, verschleudert hatte!
Gugen preßte die Lippen zusammen.
Wahnsinn war es, was er dann getan, – Wahnsinn, unreif, unwürdig seiner selbst und seiner Vorfahren!
Kleinliche Rache – nichts weiter! Und – Lork hatte ihn bei dem Ankauf des Gutes doch nicht einmal betrogen! Nein – davon konnte keine Rede sein! Wer hatte 1919 ahnen können, daß die Papierlappen immer mehr entwertet würden?!
So grübelte Gugen vor sich hin, hielt Gericht über sich selbst, kam zu dem Entschluß, noch heute freiwillig ein Ende zu machen. Ihm lag am Leben nichts mehr. Er schämte sich vor sich selbst.
Nur – Sybille! Sybille!
Und abermals seufzte er, vergegenwärtigte sich jenen Maimorgen, an dem er Sybille zum ersten Male allein im Walde getroffen und beobachtet hatte.
Damals hatte Sybille sich in einer Erregung befunden, die Gugen nicht begriff, hatte plötzlich auf dem schmalen Waldpfade halt gemacht, die Fäuste drohend wie gegen einen unsichtbaren Feind geschüttelt und Worte ausgestoßen, die dem Lauscher in den Büschen wie das haßverwirrte Gestammel einer Wahnsinnigen geklungen hatten und ihm noch heute zum Teil unverständlich waren, obwohl er doch seitdem mit Sybille so und so oft heimlich zusammengetroffen war und eine seltsame Art von Freundschaft sich zwischen ihnen entwickelt hatte, von der nicht einmal Helma Lork etwas ahnte.
Freundschaft?! Freundschaft? – Gugen lachte bitter auf. Er durfte ja keinem Weibe von Liebe sprechen – keiner, die wie er zu einem Gesellschaftskreise gehörte, dessen Ehrbegriffe genau so überzüchtet waren wie diese altadligen Familien selbst. –
Ein Auto kam an Gugen von Misdroy her in schnellstem Tempo vorüber. Den einen der Insassen kannte er. Er war der Amtsgerichtsrat Döhn, der fraglos des Mordes wegen in Misdroy gewesen.
Wieder erschien die dicke Falte auf Gugens Stirn.
Der Mord! – War es ein Mord?!
Und plötzlich mit einem Schlage bei ihm die Erkenntnis: er durfte nicht sterben – vorläufig nicht! Er hätte als Zeuge vielleicht gebraucht werden können. –
Und weiter und weiter rollte der leichte Wagen mit dem einsamen Manne.
Bis in der Ferne jenseits wogender Felder über einer Reihe von Bäumen die Spitzen schlanker Schiffsmasten auftauchten: der Hafen von Swinemünde!
Bis Gugen Sybille bemerkte, die rechts vom Wege in einem Heidestück zwischen ärmlichen Kiefern saß, den Kopf in die Linke gestützt – in trüben Gedanken offenbar.
Er knallte mit der Peitsche. – Sie schrak empor, kam eilig der Straße zu, reichte ihm die Hand. Ihre großen hellen Augen waren wie verschleiert.
„Ich danke Ihnen,“ sagte sie schlicht.
Er half ihr beim Einsteigen.
Nun saß sie neben ihm – ganz dicht.
Der zarte Duft eines wohlgepflegten Frauenkörpers umgab ihn.
„Wohin?“ fragte er verwirrt.
Sie zog den Schleier herab.
„In den Wald – nach Misdroy hin – wo wir allein sind –“ Sie sagte es ohne Erregung, ohne Scheu, wie eine, die weiß, was sie will.
Der Wagen bog in den nächsten Feldweg ein.
Drüben nach Westen zu sank die Sonne hinter dem Park von Swinemünde immer tiefer.
Die beiden schwiegen. Das Pferd ging im Schritt. Die Räder mahlten im Sande.
Sybille schaute mit zusammengekniffenen Lippen starr geradeaus.
Wenn der Wagen rüttelte, wenn sie dabei dichter an Gugen gepreßt wurde, fühlte dieser genau an der Hüfte durch die dünne Seide der Manteltasche Sybilles den harten Druck von Metall.
Dann begann sie plötzlich:
„Wir hatten bisher sehr ernste Geheimnisse voreinander. Die vergangene Nacht verpflichtet mich, Ihnen gegenüber ganz offen zu sein –“
Gugen blieb stumm.
Sybille überwand die letzte Scheu.
„Ich habe Ramminger erschossen. Und – Sie wissen es!“
Gugen blieb stumm.
„Mehr noch, – Sie – Sie haben mich schützen wollen, haben sich selbst dadurch bloßgestellt –“
Die Stimme versagte ihr fast.
„Helma hat mir alles erzählt – alles! Vorläufig ahnt noch niemand, daß ich den tödlichen Schuß abgab. Man hält Sie für den – Mörder. Man wird die Wahrheit ermitteln. Ich weiß, daß Lork einen Detektiv beauftragt hat, hier –“
„Bank?“ flüsterte Gugen hastig.
„Ja – angeblich Bank, in Wahrheit jener Werner Witt, der auch die Mörder des Ministers Großjahn gefunden hat – der berühmte Witt! Er sollte hier den Wilddieb unschädlich machen. Und – Sie, Sie haben sich nun meinetwegen in der verflossenen Nacht verraten, sich selbst ans Messer geliefert – meinetwegen!“
Sie schluchzte auf, schlug die Hände vor das verschleierte Gesicht.
Gugen fühlte sich hilflos. Mit diesen verzweifelten Selbstanklagen Sybilles hatte er nicht gerechnet. Er ließ unwillkürlich die Zügel ganz locker, und das Pferd stand mit einem Male still und begann das Laub der jungen Buchen am Wegrande abzurupfen.
„Ich wußte es längst, daß Sie – Sie der – der Wilderer waren,“ schluchzte Sybille weiter. „Ich hatte Sie nachts gesehen, wenn ich auf versteckten Pfaden zu Rammingers Häuschen eilte. – Oh – wären Sie doch gestern nur auf Ihre eigene Sicherheit bedacht gewesen! Ich – ich bin es ja gar nicht wert, daß Sie mich zu schützen suchten! Was wissen Sie von mir?! Einen Namen –! Und – der ist falsch!“
Gugen wandte den Kopf. Er war nicht mehr hilflos – er sah jetzt hier neben sich eine Entwurzelte – halb Gescheiterte – wie er selbst es war!
Er nahm ihre Hände zart in die seinen, drückte sie sanft herab.
„Wer sind Sie, Sybille?“
Sie schaute ihn aus tränenumflorten Augen erstaunt an.
„Ach – Sie wenden sich nicht von mir ab?! Auch jetzt nicht?“ stammelte sie.
„Ich hätte wohl das geringste Recht dazu,“ meinte er bitter. „Wer sind Sie?“
„Heinz Gorgentins einstige Verlobte – Doktor Gorgentins – verflossene Braut, die er aufgab, weil – sie es wollte, weil ein Mann wie Gorgentin mich nie verstehen konnte, weil ich damals zu jung war, dies rechtzeitig zu begreifen –“
Er ließ ihre Hände nicht los, drückte sie, daß Sybille zusammenzuckte.
„Wer sind Sie?“ Es klang hart und befehlend.
„Ein Mädchen, das die Rachgier hierher führte – hier in die Nähe des angeblichen Ramminger! Und ein Mädchen, das in Ihnen ähnlichen dumpfen Haß spürte – gegen Lork, den neuen Reichen.“
„Ja – der sinnlose Haß, unbegründet, kindisch wie die Wut eines Schwachen gegen den Starken, der das Leben beherrschte nach seiner Art,“ sagte Gugen leise.
Sybille suchte ihre Hände freizumachen.
„Ich wollte mit Ihnen alles ruhig und gelassen besprechen.“ Sie raffte sich auf. „Ich wollte Sie nur noch um eins bitten –“
„Nur noch?“ unterbrach er sie. „Und dann –?“
„Dann – dann wollte Sybille von Derstra verschwinden – wieder untertauchen in dem Häusermeer von Berlin und derjenigen danken, die ihr die Möglichkeit gegeben, sich hier – mit falschem Namen zu schmücken, – meiner Freundin, der einzigen, die alles weiß.“
„Und ich?“
Wieder schaute sie ihn an.
„Wenn ich verschwinde, wird man Ihnen nichts beweisen können – nichts!“
„Vorhin sagten Sie, ich hätte mich selbst ans Messer geliefert –“
„Falls ich nicht – fliehe – ja! So aber wird Ramminger für –“
„Sie täuschen sich.“ Er beugte sich näher zu ihr hin. „Sybille, wir beide haben nur auf etwas zu hoffen: auf Werner Witts Großmut! Einen Witt betrügt man nicht. Ich behaupte, er weiß bereits alles.“
„Alles? Unmöglich! Selbst dann nicht, wenn Gorgentin mein Bild in Helmas Salon gesehen haben sollte. Hat er es gesehen, so war er – vornehm genug, Helma zu verschweigen, daß er auch die wahre Sybille von Derstra kennt, nicht nur Sybille Harms –“
„Also doch Sybille – Sybille Harms –“
„Tochter eines – Wilddiebes, eines Vaters, den sie über alles liebte!“ Sie zitterte plötzlich. „Eines, den sie rächen wollte, dessen Mörder sie suchte und alles andere darüber vernachlässigte, die leichten Herzens dem Verlobten das Jawort zurückgab, weil sie doch nicht für ihn paßte, weil sie frei sein wollte! –Verstehen Sie es, Siegbert, daß man sich so vollkommen in Haß- und Rachegedanken versenken kann, daß man sich vor sich selbst erniedrigt fühlt und doch wie von finsterer Gewalt getrieben alle Weiblichkeit abstreift und zur Abenteurerin werden kann? Was bin ich denn anders?! Alle moralischen Hemmungen einer guten Erziehung warf ich ab – alles! Selbst Sie belog ich, spielte vor Ihnen Sybille von Derstra, die etwas kapriziöse, aber feingebildete Gesellschaftsdame Helma Lorks!“
„Sie irren sich, Sybille – Sie wußten längst, daß ich der Wilddieb war, der es nur auf das Gehörn der Beute abgesehen hatte. Ich wußte, daß Sie Ramminger nachspürten – nachts in Männerkleidern –“
Sie hielt den Atem an.
„Wir kannten also gegenseitig unser Geheimnis, Sybille, und blieben doch Freunde, waren glücklich, wenn wir uns im Walde zusammenfanden, glücklich und dann auch frei von der Last, die uns bedrückte. War es nicht so?“
Sie nickte zaghaft.
„Ja – so war es. Und – schön war es! Wir sahen den Winterwald gemeinsam erwachen zu neuer grüner Herrlichkeit. Wir freuten uns über jeden gefiederten Sänger, der sich wieder einfand nach –“
Er ließ sie nicht ausreden.
„Sybille – es ist schön! Es ist! Weshalb – es war?! Sollten wir beide Hand in Hand nicht doch siegen können, wir – zwei halb Entwurzelten?! Sollte es sich nicht verlohnen, um eine gemeinsame Zukunft zu kämpfen?! – So, wie wir uns kennen gelernt haben, im stillen Forst, in der reinen Natur, fern all den Lügen gesellschaftlicher Formen, – so lernt man sich wirklich kennen!“
Er legte den Arm um sie und zog sie an sich.
Das Wägelchen stand mitten im rosigen Lichte der scheidenden Sonne.
Und auf dem Wägelchen küßten sich zwei, vor denen die Zukunft noch dunkel lag wie das dichte Gewölk dort am westlichen Horizont, hinter dem der Sonnenball allmählich verschwand.
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In der Strandhalle zischte leise der Scheinwerfer und bestrahlte grell Werner Banks leicht geschminktes Clowngesicht.
„Die hochverehrten Damen, Frauen, Jungfrauen, Herren, Männer und tugendsamen Jünglinge werden gestatten, daß heute eine kleine Programmänderung eintritt. Nicht wie sonst wird der Liebling aller, Heinz Gorgentin, die Perle der Lustigen Sieben, als Nummer fünf Ihnen das Herz voll Sehnsucht träufeln, sondern er wird ausnahmsweise die erste Nummer machen, ich selbst die zweite. Ein ehrenvoller Ruf ist an uns beide ergangen, noch heute abend trotz des drohenden Gewitters drüben in Swinemünde ein Wohltätigkeitsfest durch den Zauber unserer Gegenwart zu verschönen. – Also, Perle aller[6] Walzersänger, – bitte wollen Sie beginnen!“
Bank blickte sich um, schüttelte den Kopf, rief lauter: „Gorgentin – man sehnt sich nach Ihnen!“
Statt Gorgentin erschien die Sennorita Tortadilla auf dem Podium und flüsterte Bank etwas zu.
Bank machte ein Leichenträgergesicht, wandte sich wieder an die Damen, Frauen, Jungfrauen und so weiter und erklärte mit gefalteten Händen:
„Der Vogel singt nicht mehr! Die Stimmbänder sind ihm plötzlich gelähmt worden. Deshalb wird Sennorita Tortadilla, zum Trost heute weniger bekleidet denn je, sofort einen exquisiten Walzer hinlegen, der zum mindesten die Herren, Männer, Gatteriche und Jünglinge für den Ausfall des Hauptmatadors entschädigen dürfte.“
Nach diesen mit liebenswürdiger Frechheit und vieldeutigem Mienenspiel ins Publikum geschmetterten Worten verschwand Bank eiligst und stand nun im Nebenzimmer Gorgentin, Lork und Henneberg gegenüber, schnauzte sofort scheinbar wütig den Hauptmatador an:
„Mensch, sind Sie denn rein des Deibels! Das ist glatter Kontraktbruch!“
„Sachte, immer sachte!“ mahnte Emil Lork und grinste schlau. Daß Helma hinter alledem steckte, durfte er ja nicht laut werden lassen. „Herr Doktor Gorgentin ist von mir als Zahnarzt – verstehen Sie, als Zahnarzt – vorläufig verpflichtet worden – für mich, meine Tochter und ganz Kramlack. – Was kostet der Kontraktbruch?“
Bank zwinkerte Gorgentin zu. „Nischt, Herr Lork. Ich gebe den Doktor aber erst von morgen frei, verstehn Sie! Heute singt er in Swinemünde – als Wohltäter.“
„Dagegen habe ich nichts,“ schmunzelte Lork. „So – und nun begießen wir die Sache!“
Bank sah nach der Uhr. „Um neun Uhr habe ich den Wagen bestellt. Zwanzig Minuten bewillige ich noch.“
Zwischen ihm und Gorgentin war alles genau vereinbart worden, damit sie nachher ohne Aufsehen verschwinden könnten. – Im Swinemünder Kurhaus fand tatsächlich ein Wohltätigkeitskonzert statt. Bank hatte daher, nie verlegen um eine Ausrede, sofort eine glänzende Komödie gemimt, als ob er von Swinemünde telephonisch angerufen worden sei. –
Am Künstlertisch freute man sich über die Maßen ob Emil Lorks reicher Weinspende. Bank trat dann noch nach der Tortadilla auf, die sich sofort neben den Herrn Rittergutsbesitzer setzte und ihn das drohende Großvatertum rasch vergessen ließ.
Um neun drückten Gorgentin und Bank sich ganz unauffällig.
Es goß draußen bereits in Strömen. Im Westen flammten über der See immer wieder Blitze auf, denen der Donner jedoch erst in langen Zwischenräumen folgte. In ihre Gummimäntel gehüllt, Gummischuhe an den Füßen und dicht unter ihre Schirme geschmiegt, eilten die beiden durch den Ort nach Süden zu, bis sie den Weg erreicht hatten, der durch den Wald zur Ziegelei führte. Schweigend schritten sie dahin, umgeben von schwärzester Finsternis, die sich nur zuweilen durch die aufzuckenden Blitze in sekundenlange geisterhafte Helle verwandelte.
Gorgentins Gedanken weilten in Schloß Kramlack bei Helma. Er ahnte, daß sie es gewesen, die Lork veranlaßt hatte, ihn von diesem Vertrag mit der Lustigen Sieben zu befreien. Er erkannte daraus, wie sehr sie ihn liebte und wie wenig sie sich scheute, diese Liebe auch einzugestehen. Sie war eben eine Vollnatur, ungekünstelt, war Weib mit manchen Schwächen wohl, aber noch größeren Vorzügen. –
Bank flüsterte: „Angelangt! Wir benutzen den Vordereingang. Mein Dietrich wird auch mit dem Schloß fertig werden.“
Auf der Schwelle unter dem vorspringenden Dach zogen sie die Gummischuhe aus, um im Flur keine feuchten Fußspuren zu hinterlassen.
Bank öffnete leise die Tür der rechten Vorderstube. In demselben Moment fuhr ein Blitz herab, dessen feurige Bahn durch die weißen Fenstervorhänge deutlich zu erkennen war.
Das Häuschen erzitterte unter einem so gewaltigen Donnerschlag, als sollte es aus den Fugen gehen.
Die Fenster klirrten. Von der Decke bröckelten Kalkstückchen ab.
Die beiden Männer verharrten wie betäubt auf demselben Fleck.
Merkwürdigerweise hörte der Regenguß ebenso urplötzlich auf.
Der gewaltigen elektrischen Entladung folgte eine unheimliche Stille.
Dann von draußen her wieder ein Lichtschein – rasch stärker werdend.
Der Blitz hatte eine alte, abgestorbene Kiefer am Rande der Lehmgrube in Brand gesetzt.
Sie lohte auf wie eine Riesenfackel. –
Gorgentin sagte beklommen: „Und bei dem Unwetter erwarten Sie Sybille hier, lieber Witt?!“
„Sie wird erscheinen! Gerade heute. Sie ist doch nicht umsonst angeblich zum Arzt gefahren.“
Die Leuchtkraft der brennenden Kiefer spendete auch bis hierher trotz der Vorhänge ein ungewisses Licht.
Bank, oder besser Detektiv Witt trat an den Ofen heran, lockerte die Kachel und legte die Schmucksachen auf die Wachstuchdecke des Tisches. Dann griff er abermals mit der Hand in die Höhlung hinein, tastete umher, spürte, daß der Ziegelstein, der dem Versteck als Decke diente, sich bewegen ließ und – hielt gleich darauf einen völlig rußgeschwärzten Lederbeutel in der Hand.
„Die Ersparnisse des Ziegeleimeisters Johann Schrapauß, lieber Gorgentin!“ triumphierte er.
Gorgentin hatte sich hinter den Tisch auf das schwarze löcherige Glanzledersofa gesetzt.
Witt nahm jetzt neben ihm Platz. „Zweifeln Sie noch, daß Sybille kommen wird? Gibt es eine günstigere Nacht für sie als diese?“
Gorgentin, das Herz voller Weichheit, erwiderte ebenso leise: „Sie tut mir leid. Sie war stets ein wenig überspannt. Soll sie nun für das, was sie als ihre Pflicht ansah, im Gefängnis büßen?!“
Witt lehnte sich zurück. „Das hängt von ihr allein ab. Hat sie diesen Ramminger, der ja richtig Bersdorf heißt, in der Notwehr erschossen, dann –“
Er legte plötzlich Gorgentin die Hand auf den Arm.
„Still – hörten Sie? Das war die Hintertür. – Schnell – rücken wir das Sofa von der Wand ab –“
Nicht lange, und die Stubentür ging langsam auf.
Ein dünner Lichtstrahl tanzte über die wenigen Möbelstücke hin.
Gugen trat ein, hinter ihm Sybille.
Gugen war bleich. Seine Nerven streikten. Er hatte seit gestern nur im Sessel eine Stunde geschlummert.
Sybille Harms sah, daß seine Hand, die die Taschenlampe hielt, zitterte.
Heiße Zärtlichkeit strömte ihr zum Herzen. Was hatte Gugen ihretwegen nicht alles schon gewagt, wie hatte er ihretwegen sich der Gefahr ausgesetzt, entlarvt zu werden!
Sie drängte sich an ihn.
„Siegbert, ich hätte nicht noch dieses von Dir verlangen sollen,“ flüsterte sie scheu.
Gugen starrte auf die Tischplatte.
Etwas wie ein erstickter Schrei kam ihm über die Lippen.
Sybille sah nun ebenfalls die Uhr nebst Kette, die Ringe, das schwere goldene Zigarettenetui. Sie fuhr zurück. Sie umklammerte Gugens Arm. Jetzt war sie die Schwache, von unbestimmter Angst Gefolterte. Sie war klug genug, sich sofort zu sagen, daß diese seltsame, unbegreifliche Zurschaustellung dieser Wertsachen, denen ihr ganzes Sinnen und Trachten gehört hatte, in einer bestimmten Absicht geschehen sein müßte.
Auch Gugen hatte denselben Gedanken.
Er biß die Zähne zusammen. Seine Hand glitt in die Tasche des Staubmantels, kam mit der Browning wieder zum Vorschein.
„Eine – Falle!“ preßte er hervor.
Der Lichtstrahl eilte suchend durch den dürftigen Raum.
Ein leises Knacken. Gugen hatte die Sicherung zurückgeschoben.
Sybille bebte am ganzen Körper.
Ein neuer Blitz – ein nicht minder betäubender Donner.
Dann wieder Stille.
Und hinter dem Sofa nun Witts Knabengestalt, Witts Stimme:
„Ich denke, wir erledigen die Sache auf friedlichem Wege, Herr von Gugen –“
Sybille schrie leise auf.
„Stecken Sie bitte die Waffe wieder weg, Herr von Gugen,“ fügte Witt wie mahnend hinzu.
Auch Gorgentin hatte sich erhoben. Der Lichtkreis lag auf ihnen mit grellem Schein.
Gorgentin sagte sanft, obwohl die Erregung ihn an allen Nerven zerrte:
„Sybille, Sie haben von uns nichts zu fürchten. Nur aufrichtig müssen Sie sein.“
Aus Witts linker Hand schoß nun ebenfalls ein Lichtkegel dem Paare entgegen.
„Schließen Sie die Stubentür und riegeln Sie ab, Herr von Gugen,“ sagte Witt in demselben Tone, der nichts Drohendes an sich hatte. „Für alle Fälle riegeln Sie ab!“
Gugen schob die Waffe in die Tasche und tat, wie Witt es verlangte.
„Gorgentin hat mich bereits genügend eingeweiht,“ begann Witt wieder. „Ihr Vater, Fräulein Harms, hatte in der Nähe von Berlin eine kleine Jagd gepachtet, wilderte aber in den Nachbarrevieren, obwohl er genügend Vermögen besaß, auch ein besseres Jagdgebiet sich zu leisten. Er war Wilddieb aus Leidenschaft. Eines Tages fand man ihn im Nachbarrevier erschossen und ausgeplündert auf. Er hatte wertvolle Sachen bei sich gehabt. Alles war verschwunden. Die polizeilichen Ermittlungen führten zu nichts. Infolge der Geldentwertung waren Sie, Fräulein Harms, dann etwas in Not geraten. Sie hatten den Freund Ihres Vaters, den Rentner Bersdorf, im Verdacht, der Mörder und Dieb gewesen zu sein. Damit nicht herauskäme, daß Ihr Vater dauernd die Nachbarreviere geschädigt hatte, wovon Bersdorf, selbst Wilderer, Kenntnis hatte, äußerten Sie Ihren Verdacht nur Gorgentin gegenüber und begannen Beweise gegen Bersdorf zu sammeln, der dann eines Tages von Berlin angeblich nach Amerika auswanderte. Sie ermittelten, daß er hier als Ramminger wohnte. – Bitte – nun sprechen Sie weiter –“
Sybille richtete sich höher auf. „Ich werde nicht lügen. Ich habe in der verflossenen Nacht das Schloß in Männerkleidung, wie schon öfters, verlassen. Ich war Bersdorf nachgeschlichen. Als der Schuß fiel, der den Rehbock niederstreckte, glaubte ich, Bersdorf wäre der Schütze gewesen.“
„Ich war’s,“ schaltete Gugen ein.
„Ich trat vor, wollte Bersdorf als auf frischer Tat ertappten Wilderer zwingen, ein Geständnis abzulegen. Er sollte zugeben, meinen Vater aus Habgier ermordet und beraubt zu haben, sollte mir die Wertsachen ausliefern. Er drang mit dem Krückstock auf mich ein, schlug zu. Meine Pistole entlud sich, da der Hieb meinen rechten Handrücken traf. Bitte – hier ist der dick aufgelaufene Striemen –“
„Danke, Fräulein Harms. Das genügt mir vollkommen. Ich weiß auch, daß Sie zum Schein im Schlosse Kramlack den Dieb gespielt haben und –“
Sybille hatte sich jäh umgewandt – der Tür zu.
„Es kommt jemand,“ hauchte sie entsetzt.
Die Türklinke kreischte schon.
„Öffnen!“ rief Landjäger Timm. „Im Namen des Gesetzes, öffnen Sie!“
Gugen nahm mit einem wehen Blick Abschied von Sybille, hatte die Browning rasch an die Schläfe geschoben.
Witt war neben ihm, drückte den Arm zur Seite.
„Herr von Gugen, ich denke, Sie sind Sybillens Bräutigam!“ sagte er mit einem feinen Lächeln.
Dann riegelte er die Tür auf.
„Ah – guten Abend, Herr Timm. Treten Sie nur ein. Wir werden Ihnen helfen, einen Bericht an die Staatsanwaltschaft aufzusetzen. Ramminger war Wilddieb, woran Sie kaum mehr zweifeln dürften. Fräulein von Derstra dort, oder besser Fräulein Harms, hat Ramminger erschossen. Er schlug ihr über die Hand. Die ganzen Begleitumstände sprechen für Fräulein Harms Schuldlosigkeit.“
Witt sprach weiter. – Timm schickte dann einen Bericht ab, der Gugens Anwesenheit am Tatort und sein Verhalten einwandfrei erklärte. Als Wilddieb von Kramlack galt der tote Bersdorf, der sein Ende reichlich verdient hatte.
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Das Ehepaar Gugen und Gorgentins sind eng befreundet. Emil Lork weiß noch heute nicht, wer ihm die Rehböcke und Hirsche weggeknallt hat. Wenn er mit Gugen und seinem Schwiegersohn Skat spielt, nennt er den Pique-Buben stets „Ramminger“. Weshalb, bleibt dunkel.
Anna Schrapauß hat ebenfalls ihren Franz Koppmann geheiratet. Die Hochzeit fand schon Ende Juli statt.
Werner Witt wurde letztens zu Gorgentins zur Taufe eingeladen. Emil Lork färbt sich seinen Schnurrbart nicht mehr, seit er Großvater ist.
Ein Wilddieb hat sich im Kramlacker Revier nie mehr gezeigt.
Ende.
Anmerkungen: