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Die leere Villa

 

 

Walther Kabel

 

Die leere Villa

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

Die Kiefern rauschten und stöhnten unter den Stößen des Regenwindes, der in dieser kühlen Juninacht des Jahres 1923 über den Berliner Vorort Zehlendorf und die nahen Wälder dahinbrauste.

In ganzen Sturzbächen kam der Regen herab, rieselte an dem linken Türfenster des geschlossenen Autos, das soeben auf einer Straße nahe am Walde halt gemacht hatte, wie ein rasch sich abrollender halb durchsichtiger Vorhang blasenwerfend entlang und trommelte auf dem Verdeck des Kraftwagens wie abprallende Hagelkörner.

Der Chauffeur sprang vom Führersitz und löschte die Scheinwerfer. Er war klein und behende wie ein Affe, war durch die große Autobrille völlig unkenntlich und schlug noch den Kragen des Ledermantels hoch, knöpfte ihn zu und ließ sein Gesicht hinter diesem Kragen noch mehr verschwinden.

Dann öffnete er die dem rechten Straßengraben, an dem das Auto hielt, zugekehrte Tür und rief ein paar Worte in einer fremden Sprache den beiden Insassen zu, die jetzt ähnlich vermummt wie der Chauffeur rasch ausstiegen und ein längliches Paket heraushoben, das ein zusammengerollter in Leinwand gehüllter Teppich sein konnte.

Auch diese beiden waren klein und schlank, behende und kräftig. Sie trugen das schwere Paket in den Wald, fanden sich hier trotz der Dunkelheit gut zurecht und gelangten nach fünf Minuten auf einen sandigen Weg, der an einer älteren Schonung hinlief.

Nach weiteren fünf Minuten standen sie vor der hinteren Gartentür einer kleinen, ganz einsam gelegenen Villa, deren Front dem tief im Tale während einer kurzen Regenpause matt blinkenden See, Krumme Lanke genannt zugekehrt war.

Diese Gartentür hing schief in den Angeln. Der Garten selbst war verwahrlost. Unkraut überall, faulendes Laub, vom Winde hereingewehte Äste und Zweige der nahen Kiefern und Fichten. –

Abermals hörte der Regen auf.

Für Sekunden fiel bleiches Mondlicht auf das graue Haus, von dessen Mauern der Putz in großen Stücken abgebröckelt war, so daß die Ziegelsteine hindurchgrinsten.

Kein Vorhang an den Fenstern, kein Lichtschimmer. Die Fensterscheiben zum Teil zerbrochen: Löcher, durch die der Regen eindrang. –

Die beiden Gestalten betraten das Haus durch die Hintertür, legten das Paket im Flur auf die kahlen Dielen, schlossen die Tür wieder ab und horchten.

Horchten minutenlang.

Irgend etwas mußte ihren Argwohn erregt haben.

Die tiefe Finsternis ringsum, draußen der Sturm mit seiner Symphonie von Geräuschen, nun irgendwoher aus dem Hause eine Folge unheimlicher Töne, ähnlich dem jämmerlichen Schreien eines kleinen Kindes: es gehörten gute Nerven dazu, dies alles hinzunehmen!

Die beiden Männer bückten sich, wollten die Last wieder emporheben.

Da – von oben her aus dem ersten Stock das Knallen einer Tür, die von der Zugluft zugeworfen zu sein schien.

Hastiger noch griffen sie nach dem langen Paket, waren dann sofort im Keller verschwunden, dessen Tür gleich linker Hand unter der Treppe lag. –

Die Villa, ein schmuckloser Bau mit einer Glasveranda und zwei Erkern, hatte nur zwei Stockwerke.

Im Querflur der ersten Etage lauerte dasselbe tiefe Dunkel wie in den unteren Räumen.

Da lehnte ein Mann neben einem halb in die Wand eingelassenen mächtigen Schranke und hielt eine Katze im Arm, der er sanft den Rücken streichelte. Sie schnurrte behaglich. Ihre Pupillen dehnten und verengerten sich. Der grünliche Schimmer ihrer Raubtieraugen war das einzige in dieser Finsternis von Mann und Katze Erkennbare.

Er stand und wartete, lauschte. In der rechten Hand, mit der er das Tier zart an sich drückte, hielt er eine jener kleinen Repetierpistolen, die Spielzeugen gleichen und doch durch einen Fingerdruck Menschenleben auslöschen.

Die Katze, die er soeben aus einem der leeren Zimmer herausgeholt hatte, sprang jetzt von seinem Arm herab.

Die Dunkelheit verschluckte sie.

Der Mann hob langsam das linke Bein und löste die Senkel seines Schuhes, der vom Regen durchweicht und schwer wie Blei war.

Auch den anderen zog er aus, knüpfte die Senkel zusammen und warf die Schuhe über die Schulter.

Der eine schrammte an der losgeblätterten Tapete entlang. Das Geräusch des raschelnden, kleisterharten Papiers ließ dicht vor dem Manne die grünlichen Katzenaugen wieder aufleuchten.

Die beiden Lichter der Tieraugen verharrten an derselben Stelle, bald kleiner, bald größer.

„Sie sitzt!“ dachte der Mann. „Sie ist mein Warner. Flüchtet sie, kommt jemand. Ihre Sinnesorgane sind besser als die meinen.“

Und er wartete wieder.

Wartete mit der zähen Geduld eines, der an solche Nächte gewöhnt ist, der keine Nerven kennt. –

Der Sturm nahm zu.

Die Reste der Zinkrinnen des Hauses (die meisten waren längst gestohlen worden) klapperten mißtönend. In den Schornsteinen heulte es wie verstimmte Orgelpfeifen.

Neue Regenfluten spien die tiefziehenden Wolken aus.

Der Mann beobachtete die Augen des Tieres unausgesetzt.

Er wußte nicht, wie es kam: aber mit einem Male kroch ihm ein leises Grauen den Rücken hoch wie die weichen Striche einer eisigen Hand und nistete sich in seinem Herzen als ein ihm bisher fremdes Gefühl ein.

Nur ganz dunkel erinnerte er sich, daß in seinen Kinderjahren es einst etwas gegeben, wovor er, sonst ein tapferer kleiner Bub, eine krankhafte Angst empfunden: vor einem Skelett, das der Arzt seines Heimatstädtchens besessen und im Schlafzimmer so aufgestellt hatte, daß Fritz Görges es über die Straße hinweg vom elterlichen Balkon sehen konnte, wenn das eine Schlafstubenfenster zum Lüften offenstand.

Fritz Görges versuchte jetzt, dieses jäh erwachte Grauen durch ein überlegenes Lächeln zu bannen.

Es gelang nicht.

Es wurde noch stärker. Sein Pulsschlag beschleunigte sich.

Und plötzlich fiel ihm alles das ein, was der alte Rentner Krauske ihm über seine Beobachtungen und über die seltsamen Gerüchte, die einige Wochen die Einwohner von Zehlendorf in Atem gehalten, erzählt hatte.

Fritz Görges war ein Mann der modernen Zeit. War ein Vertreter des sagenumwobensten aller Berufe. Damals, als der grauhaarige Krauske ihm mit ernsten Augen gegenübergesessen und über die leere Villa der Frau von Rohrschütz gesprochen hatte, über dieses Haus, das trotz des erschreckenden Wohnungsmangels leer stehen blieb und das schon drei vorwitzige Mieter in die Flucht geschlagen hatte, – damals hatte Fritz Görges den alten, aber noch so frischen Herrn ebenfalls angelächelt und gemeint: „Herr Krauske, wenn ich einmal Zeit habe, will ich mich mit der leeren Villa beschäftigen. Es mag ja irgend etwas Besonderes hinter alledem stecken, aber jedenfalls nichts“ – und er lächelte stärker – „nichts Übernatürliches. Die Zeiten, wo man an derlei Dinge glaubte, sind vorbei. Spukgeister und ähnliche Vertreter der vierten Dimension haben im Jahre 1923 endgültig abgewirtschaftet.“

Auch diese seine Worte fielen ihm jetzt ein.

Aber – er lächelte schon seit Minuten nicht mehr.

Jedes Klappern der losen Stücke der Dachrinnen ließ ihn leicht zusammenfahren. Er fühlte, daß sich unter der flachen Öltuchmütze auf der Stirn feine Perlen bildeten: Schweiß – kalter Schweiß! – fühlte, daß sein Gesicht dagegen unnatürlich brannte.

Und stierte zu Boden auf die beiden grünlichen Lichter, die jetzt stärker als zuvor glommen, die geradezu funkelten.

Hörte mit einem Male ein Röcheln der Katze, sah die Augen des kleinen Raubtieres hin und her schnellen, wollte den rechten Arm heben, um dorthin – kaum zwei Schritt vor sich aufs Geratewohl eines der Nickelmantelgeschosse zu senden.

Denn – die Stimme versagte ihm ja.

Er hatte soeben rufen wollen – ein drohendes Halt!

Er wußte: da war irgend ein Geschöpf, das die Katze zu töten suchte.

Er hörte das Entlangschrammen ihrer Krallen an hartem Stoff, merkte, daß die Augen des Tieres erloschen. Er war wie gelähmt. Er hatte das unklare Empfinden, als ob er langsam in den Boden versänke.

Er raffte all seine Energie nochmals zusammen.

Zunge und Arm gehorchten ihm nicht mehr.

Die kleine Repetierpistole entfiel seiner Hand, polterte auf die Dielen.

Das war Fritz Görges’ letzte Wahrnehmung, bevor das Grauen ihn besiegte und er langsam mit dem Rücken an den losen raschelnden Tapeten entlangrutschte und haltlos zusammensank.

– – – – – – – –

Der elegante Herr, der sich am anderen Morgen bereits um acht Uhr in der Privatwohnung des Notars und Justizrats Demke eingefunden hatte, übergab dem öffnenden Mädchen eine Karte, auf der in auffallend schmuckloser Schrift, deren Grundstriche dick wie Balken standen, mit noch frischer Tinte geschrieben stand:

Edgar Meinart,
z. Z. Hotel Esplanade,
Berlin.

Der Notar hatte Meinart erwartet.

In dem vornehm eingerichteten Arbeitszimmer des Justizrats saßen dann die beiden Herren und schauten sich nach der ersten herzlichen Begrüßung nochmals wie prüfend an.

Die Sonne fiel in breiten Bahnen durch die hohen Fenster ins Zimmer.

Meinarts bartloses braunes Gesicht mit den dicken Wulsten um die Mundwinkel und den vielen Faltenrinnen auf der Stirn hatte einen versonnen-schmerzlichen Ausdruck.

„Wir sind beide alt geworden, Herr Justizrat,“ sagte er nun und streckte ihm wiederum die Hand hin.

Demke drückte sie fest und behielt sie in der seinen.

„Mein lieber Edgar, die heutige Zeit läßt die Jahre und das Leben im Galopp dahinjagen. – Ich habe mich so sehr gefreut, als Sie, der Totgeglaubte, mich gestern abend im Büro anriefen. Erst wollte ich –“

Er schwieg.

Meinart war aufgesprungen und an die linke Wand getreten, wo das Bild eines jungen Paares im Goldrahmen hing.

Lange schaute er es an. Dann nahm er es herab und wandte sich um.

„Eine Bitte, Herr Justizrat,“ sagte er mit einer Stimme, in der eine Welt von Schmerz zitterte. „Ich besitze kein einziges Bild von Thea mehr. Alles ging mir ja damals beim Untergang des Dampfers verloren.“

Wieder blickte er die schlanke Gestalt und das schmale Gesicht seines Weibes mit umflorten Augen an.

„Behalten Sie das Bild, lieber Edgar,“ erklärte Demke leicht gerührt. „Setzen Sie sich wieder. – So, nun will ich Ihnen erzählen, was ich von den letzten Stunden Ihrer Gattin weiß. Viel ist es nicht. Die liebe Verwandtschaft Theas hatte schon dafür gesorgt, daß der alte Demke nicht ans Krankenbett gelassen wurde.“

Meinart unterbrach ihn bald.

„Es ist mir unbegreiflich, daß die Sippe wieder Gewalt über Thea bekam,“ meinte er grübelnd. „Wissen Sie nicht wie es zuging, daß Thea nach meinem Tode – meinem mutmaßlichen Tode! – wieder zu ihrer Tante zog? Ich hatte sie doch pekuniär so gestellt, bevor ich damals vor neun Jahren mich auf das Südsee-Abenteuer einließ, daß sie sorgenfrei leben konnte.“

„All dies entzieht sich meiner Kenntnis, lieber Edgar. Die vornehme – Sippe, heute stolzer denn je, da die Herren Großagrarier die Papierlappen kaum mehr unterbringen können trotz Luxusautos, Brillanten, echten Teppichen und sonstigen, dem Steuerfiskus ein Schnippchen schlagenden Neuanschaffungen, – diese ganze Verwandtschaft Ihrer Gattin hatte gegen mich einen förmlichen Bund geschlossen. Ich habe Thea nur noch ein einziges Mal von fern gesehen, nachdem die Nachricht Ihres Todes hier in Berlin bekannt geworden. – Die Einäscherung war für meinen Geschmack zu prunkvoll.“

Er schilderte in kurzen Worten, wie selbst der offenbar genau unterrichtete Geistliche die Person des Gatten der Toten nur mit ein paar nichtssagenden Sätzen erwähnt hatte.

Meinarts Lippen waren fest zusammengepreßt. Die Falten auf der Stirn waren jetzt wie Stränge.

„Sie werden dann also noch heute die Herausgabe der Urne verlangen, Herr Justizrat,“ erklärte er finster. „Thea war mein. Selbst ihre Asche soll nicht in dem haßverpesteten Familienbegräbnis bleiben!“

Der Notar seufzte. „Es wird einen Prozeß geben, Edgar. Eine teure Geschichte heutzutage – langwierig dazu.“

„Das Geld spielt keine Rolle. Die acht Jahre auf der Insel haben mich zum Milliardär gemacht.“

Demke beugte sich überrascht vor. „Nicht möglich!“

„Was sollte ich wohl tun, wenn ich nicht in der Einsamkeit dort den Verstand verlieren wollte?! Arbeiten mußte ich – mich beschäftigen! Im Sande des einzigen Baches von Toluwata fand ich Gold in winzigen Körnern. Erst wusch ich es mit primitiven Werkzeugen, die ich mir nach vieler Mühe herstellte, aus dem Sande heraus. Dann entdeckte ich die Stelle in den Felshügeln, wo es herstammte: eine Goldader. Als das amerikanische Vermessungsschiff mich nach achtjährigem Einsiedlerleben befreite, nahm ich fünf Säcke aus Robbenfellen voller Gold mit.“

Der Justizrat murmelte ein „Unglaublich!“

Meinart machte eine schroffe Handbewegung.

„Was nützt mir der eitle Tand?! Nichts! Nichts! – Damit Sie, der alte Freund meines Vaters es gleich erfahren: ich habe in Neuyork ein Testament deponiert und mein Vermögen zur Hälfte Ihnen und Ihren Nachkommen, zur andern Hälfte dem Deutschen Reiche vermacht. – Bitte – keinen Dank, Herr Justizrat! Ich stehe allein auf der Welt da. Sollte ich also nicht an Sie und die Ihrigen denken?! – Noch eine Frage, bevor wir Ihre Gattin begrüßen gehen. Können Sie mir einen zuverlässigen tüchtigen Privatdetektiv empfehlen? Ich will keine Mühe scheuen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Ich muß wissen, weshalb Thea wieder in das Haus ihrer Tante zurückgekehrt ist – trotz des Hasses, der zwischen ihnen stand!“

Der Notar überlegte. Ein Lächeln flog sekundenlang um seinen Mund.

„Es gibt hier in Berlin viele Detektivfirmen von bestem Ruf. Aber – es gibt nur einen einzigen Künstler unter den Privatfahndern: Fritz Görges! Wenn Sie sich nicht an seinen Eigenheiten stoßen, lieber Edgar, – er ist nämlich wortkarg und grob, dazu voller Schrullen, kann ich Ihnen Görges empfehlen. Er wohnt in der Alten Jakobstraße Nr. 258. Das Haus gehört ihm. Es ist wohl das älteste der ganzen Straße, schmal, nur zwei Stockwerke, nur drei Fenster Front. – Na – Sie werden ja sehen. Und hier geht Sehen über Sagen.“ –

Meinart frühstückte mit dem Ehepaar Demke und der ältesten unverheirateten Tochter und fuhr dann mit der Wannseebahn nach Zehlendorf hinaus, um all die Orte wieder aufzusuchen, die mit seinem kurzen romantischen Liebesglück verknüpft waren.

Auf der Station Zehlendorf-Mitte stieg er aus und wanderte bald auf stillen Waldpfaden der Krummen Lanke, dem kiefernumrauschten See zu. –

Nach der stürmischen regnerischen Nacht hatte der Wettergott ein Einsehen gehabt und wieder einmal klaren Sonnenschein, Wärme und wolkenlosen Himmel gespendet.

Vor der leeren, verfallenen Villa der Frau Baronin Wilhelma von Rohrschütz stand auf dem sandigen, noch feuchten Wege ein älterer, bescheiden gekleideter Herr, neben sich einen halbblinden, fetten Foxterrier, und starrte über den grünbemoosten Staketenzaun in gedankenvoller Reglosigkeit auf das einsame verwahrloste Haus.

Meinart kam langsam vom See her den kaum noch erkennbaren Weg entlang, machte halt, als er des alten Graubarts ansichtig wurde, und wollte schon seitwärts in den Forst einbiegen, um erst abzuwarten, bis der Mann dort sich entfernt hätte, als der Hund blaffend anschlug.

Da wandte der Rentner Krauske wie erschrocken ruckartig den Kopf und schaute Meinart mißtrauisch an, bis etwas wie ein Schimmer von freudiger Überraschung über sein gutes altes Gesicht hinglitt und er nun schnell auf Meinart zukam, den Hut etwas lüftete und zögernd fragte:

„Verzeihen Sie. Sollte ich mich so sehr täuschen? Wir sind uns doch vor Jahren hier öfters begegnet, hier in den Wäldern. Ich wußte auch Ihren Namen einst, da Ihre – Ihre Braut –“

„Edgar Meinart,“ sagte der andere rasch, und auch seine ernsten Augen strahlten auf.

Das lebhafte Hin und Her von Fragen und Antworten zwischen den beiden Männern, die als Zufallsbekannte von früher her hier wieder zusammengetroffen waren, flaute ab.

Der alte Herr blickte jetzt scheu nach der leeren Villa hinüber.

„Sie wundern sich, Herr Meinart, daß sie unbewohnt ist,“ meinte er bedächtig. „Ja – darüber wundern sich viele. Vor einem Jahr war die Villa hier in Zehlendorf[1] in aller Munde. Neugierige umlagerten sie am Tage. Damals war gerade die schwedische Familie wieder ausgezogen, die sie gemietet hatte. Der Herr war ein Beamter der schwedischen Gesandtschaft in Berlin.“

Meinart wurde aufmerksam. „Das klingt ja scheinbar ganz geheimnisvoll,“ ermunterte er den Rentner zu näheren Angaben.

Krauske rückte die goldene Brille zurecht. Eine gewisse Verlegenheit zeigte sich in seinen Zügen.

„Hm – würden Sie mir einen Gefallen tun?“ meinte er zögernd und brachte einen großen Schlüssel aus der Außentasche seines fadenscheinigen Rockes zum Vorschein. „Ich – ich habe mir den Schlüssel von dem Gastwirt Prill dort unten am See ausgebeten. Prill glaubt, ich hätte einen neuen Mieter für die Villa gefunden. Ich machte Andeutungen, als ob ich mir einen Vermittlerlohn verdienen möchte. Ich mußte doch einen Grund angeben, weshalb ich in die Villa hineinwollte.“

Er wurde immer verlegener.

Meinart bat hastig: „Sprechen Sie doch ganz offen, Herr Krauske. Hier liegt, scheint’s, wirklich ein Geheimnis vor. Sie wissen ja, daß alles mich interessiert, was die Villa betrifft. Hier wohnte Thea, als ich sie auf einem Spaziergang am Seeufer kennenlernte. Von hier entführte ich sie, da man sie wie eine Gefangene behandelte, als der Familie Rohrschütz bekannt geworden, daß wir uns heimlich verlobt hatten und uns im Walde häufiger trafen. Thea war volljährig. Mir konnte niemand etwas deswegen anhaben, daß ich sie halb mit Gewalt mit mir nahm. Und – hierhin ist Thea dann zurückgekehrt, als 1914 im Herbst die Nachricht auch nach Deutschland gelangte, daß der amerikanische Frachtdampfer Ohio mit Mann und Maus südlich der Johnston-Inseln untergegangen und daß als Passagier der deutsche Kaufmann Edgar Meinart an Bord gewesen und mit umgekommen sei. Unbegreiflicherweise zog Thea wieder zu der Baronin. Hier ist sie dann auch bald an Grippe verstorben. – Die Sehnsucht hat mich gleich heute hier herausgeführt.“

Krauske sah, wie schmerzlich es in dem Gesicht Meinarts zuckte.

„Eine traurige Heimkehr für Sie,“ sagte er mitleidig. „Das Schicksal hat Ihnen hart mitgespielt. Acht Jahre auf einem weltfernen Inselchen der Südsee. Und hier stirbt Ihnen derweil die Gattin! Oh, ich weiß, was es heißt, eine Lebensgefährtin verlieren! Auch ich bin mit fünfunddreißig Jahren Witwer geworden!“

Er drückte Meinarts Hand und fuhr in lebhafterem Tone fort: „Ich habe keinen Grund, Ihnen zu verschweigen, weshalb ich mir den Schlüssel zu der leeren Villa geben ließ. Ich möchte nur nicht, daß es an die Öffentlichkeit kommt, daß hier in dem einsamen Hause wieder Dinge vorgehen, die aufklärungsbedürftig sind. – Wollen Sie mich begleiten, Herr Meinart? Die Unruhe treibt mich in das Haus hinein. Aber allein traute ich mich nicht, nach – nach Görges zu suchen.“

„Görges – der Detektiv?“ entfuhr es Meinart.

„Ja. – Kennen Sie ihn?“

„Er wurde mir empfohlen. Ich werde ihn vielleicht brauchen.“

„So so. – Dann kommen Sie, kommen Sie! Görges ist gestern abend von meiner Wohnung etwa um zehn Uhr hierher gegangen. Er wollte“ – der alte Herr stieß die Zaunpforte auf – „nachher mir Bericht erstatten. Ich habe bis fünf Uhr morgens auf ihn gewartet. Um neun Uhr vormittags, vor zwei Stunden, rief ich seine Nummer in Berlin an. Seine Haushälterin erklärte, er sei noch nicht zurückgekehrt. Da packte mich die Angst, daß ihm etwas zugestoßen sein könnte, und“ – Krauske schloß die Haustür auf – „ich holte mir den Schlüssel.“

Meinart trat als erster ein. Dann folgte etwas zögernd der alte Herr und der keuchende, halbblinde Hund. Der Flur war hell. Die Dielen, mit Schimmelpilzen bedeckt, hatten sich geworfen und knarrten bei jedem Schritt. –

Edgar Meinart hatte des alten Rentners Gegenwart völlig vergessen. Zum ersten Mal befand er sich jetzt in diesen Räumen, wo Thea von Rohrschütz jahrelang gewohnt hatte. Mit tiefer Wehmut ging er im Erdgeschoß von Zimmer zu Zimmer. Was ihn hergeführt, daß Fritz Görges hier vielleicht irgendwo als Opfer seines Berufs tot liegen könnte, – er dachte nicht mehr daran! Er dachte nur an Thea, die Eine, die Einzige, das Weib seiner Liebe.

Überall hingen die Tapeten von den Wänden.

Durch zerbrochene Fensterscheiben war Laub hineingeweht. Kleine Pfützen standen unter den Fenstern auf den gewölbten, faulenden Dielen. Die Türen waren durch die Nässe so verquollen, daß sie sich kaum öffnen ließen.

Meinart stieg die Treppe empor. Oben im ersten Stock hatte Thea das nördliche Giebelzimmer bewohnt. Von dort aus dem Fenster hatte sie dem Geliebten Zeichen gegeben, von dort war sie nachts auf der Leiter herabgeklettert, die er von einem anderen Grundstück bis hierher geschleppt hatte. Das war die Nacht vom 13. zum 14. Mai 1912 gewesen – die Entführung. Noch drei Schritt, und Meinart konnte oben den Flur entlangschauen, der durch zwei Fenster genügend Licht empfing.

Das erste, was Meinart sah, war eine tote Katze, die neben einem Wandschrank auf den Dielen lag, alle Viere von sich gestreckt.

„Eine Katze!“ sagte Krauske hinter ihm ängstlich.

Da wurde Meinart sich wieder der Gegenwart bewußt.

Der Terrier knurrte.

„Still – kusch’ Dich, Lumperl!“ mahnte der nervöse alte Herr.

Meinart stand dicht vor der Katze, bückte sich.

Kein Verwesungsgeruch! – Das Tier konnte noch nicht lange tot sein. Es war ein gelber Kater mit etwas helleren Rückenstreifen.

„Herr Gott – Gastwirt Prills Kater!“ rief Krauske jetzt mit gedämpfter Stimme. „Gestern nachmittag lebte er noch, als ich Prill am Gartenzaun begrüßte.“

Meinart richtete sich wieder auf.

„Der Kater ist erwürgt worden, Herr Krauske. Die Zunge hängt heraus, und die Augen sind blutunterlaufen. – Gehen wir weiter –“

Der alte Herr hatte sich verfärbt.

„Erwürgt! Und – und Görges?“ stammelte er.

„Wir werden ihn finden, falls er hier ist.“ Meinart stieß die Tür des Zimmers auf, in dem Thea gewohnt hatte.

Krauske blieb ihm dicht auf den Fersen.

Meinart überblickte den viereckigen Raum.

Leer – leer – vergilbte Tapeten mit dunkleren Flecken, wo Möbel gestanden und Bilder gehangen hatten.

Dort rechts war Thea nach kurzer Krankheit in ihrem Bett gestorben.

Meinart drängte die Tränen zurück.

Hinter ihm flüsterte Krauske etwas. Er achtete nicht darauf. Seine Gedanken waren bei der Toten, die hier einsam, umgeben von Haß und Feindseligkeit verschieden war.

Krauske sagte lauter, zupfte Meinart am Ärmel:

„Ich – ich hörte etwas – im Hause –“

Meinarts Gedanken glitten zurück zu Görges, den man suchen wollte.

Er schaute den alten Herrn an. Der war bleich geworden.

„Ich hörte eine Tür knarren,“ hauchte er. „Unten wo – im Erdgeschoß!“

Auch Lumperl war in den Flur getrottet und stand mit spitzen Ohren da, knurrte leise.

„Warten Sie!“ Meinart eilte auf Fußspitzen zur Treppe – die Stufen hinab.

Unten horchte er.

Alles still. –

Krauske hatte die Angst bis zur Treppe getrieben. Er atmete erleichtert auf, als Meinart wieder nach oben kam.

Nun gingen sie sämtliche Räume durch, auch auf den Boden, nachher in den Keller, der nur drei Gelasse hatte. Alles leer. –

Von den Türen waren die Messingdrücker zum Teil gestohlen. In der Küche fehlte der halbe Herd, ebenso wie sämtliche Ofentüren längst Liebhaber gefunden hatten.

„Sie sehen, Görges ist nicht hier,“ sagte Meinart, als sie nach einer halben Stunde wieder im unteren Flur standen.

Sie verließen das Haus und schritten durch den Wald dem Gasthause Prills zu, kamen an den See, an der Badeanstalt vorüber.

Der alte Herr war jetzt recht gesprächig. Er war froh, daß Görges nichts zugestoßen zu sein schien.

„Ich will Ihnen nun erzählen, wie ich dazu veranlaßt wurde, an Görges zu schreiben,“ meinte er bedächtig.

„Halt – erst noch bitte die Erklärung, weshalb die Villa trotz der Wohnungsnot leer steht,“ unterbrach Meinart ihn. „Ich möchte eben über das Haus ganz genau Bescheid wissen, bevor – ich selbst es miete.“

Krauske machte mit einem Male halt, stierte den Jüngeren durch die blinkenden Brillengläser entsetzt an.

„Das werden Sie schön bleiben lassen, Herr[2] Meinart!“ rief er. „Nein – das wäre Leichtsinn! Man soll sich nicht unnötig in Gefahr begeben. Görges hat mich zwar ausgelacht, als ich –“

„Eins nach dem andern, Herr Krauske. Gehen wir uns bei Prill stärken,“ fiel Meinart ihm ins Wort. „Sagen Sie aber nichts von dem toten Kater und stellen Sie mich Prill als den Herrn vor, der die Villa mieten wird – als Amerikaner namens – Morton, ja – Morton. – So, nun bitte Bericht –“

Krauske war ganz verwirrt.

„Oh – Sie sollen alles hören, gewiß!“ begann er hastig. „Jetzt erst recht, wo Sie die Absicht haben, Ihr Geld zwecklos zum Fenster hinauszuwerfen! Denn Sie werden keine drei Nächte dort in der Villa bleiben, werden die Miete für nichts bezahlen! Ganz abgesehen von – Doch nein, ich will mir mehr Mühe geben, der Reihe nach zu schildern, was ich weiß. – Ich bin seit dreißig Jahren Zehlendorfer. Ich kenne hier jeden Menschen, jedes Haus, habe den Ort wachsen sehen. Die Villa der Baronin Rohrschütz ließ sich vor etwa fünfundzwanzig Jahren ein Mann bauen, der einst in der Geschichte seines Vaterlandes eine große Rolle gespielt hat und dann für immer Konstantinopel verlassen mußte: Mahmud Taschri-Pascha, ein Türke! Er wollte ganz einsam leben. Er hatte zwei andere Türken mitgebracht, seine Diener. Die drei hausten in der Waldvilla fünf Jahre. Dann fühlte der Pascha sich wohl auch hier vor seinen politischen Feinden nicht mehr sicher, verkaufte die Villa an die verwitwete Baronin Rohrschütz, geborene Freiin von Pranger, und verschwand. Man sagt, er sei nach Schweden übergesiedelt. Die Baronin wohnte hier bis kurz nach dem Tode Ihrer Gattin, Herr Meinart. Dann zog sie aus. Sie hatte eine andere Villa von einer Verwandten geerbt, in der Villenkolonie Grunewald. – Das Haus hier, dessen Aufsicht Prill übernommen hatte, sollte nach dem Wunsch der Baronin leer stehen bleiben. Nur während der Sommermonate gestattete sie, daß Berliner Ferienkinder dort untergebracht wurden. Als im Jahre 1920 die Wohnungsjagd immer nachdrücklicher wurde, als die Gemeinden freie Wohnungen beschlagnahmten und die Wohnungsämter die Hausbesitzer und Mieter getreu dem Grundsatz „Wo eine Behörde regiert, der gesunde Verstand sich verliert“ angeblich im Interesse der Allgemeinheit zu schikanieren begannen, sollte auch die Rohrschützsche Villa besetzt werden. Damals war jedoch bereits alles aus dem Hause gestohlen, was irgend mitnehmenswert gewesen; damals schon hätten die Instandsetzungsarbeiten Unsummen verschlungen. Jedenfalls: die Villa blieb bis zum Oktober 1921 unbewohnt. Dann zog eine westpreußische Flüchtlingsfamilie von elf Personen ein. Die Möbel borgten die Leute sich zusammen. Der Mann war seines Zeichens Tischlermeister, hatte noch seine betagten Eltern und zwei Schwestern bei sich. Grubergs – so hießen die Leute – hielten es in der Villa genau vierzehn Tage aus. Eines Morgens kam Gruberg zu Prill gelaufen und erklärte, er könnte in dem verwünschten feuchten Kasten nicht länger bleiben. Es – gehe dort um –“

Meinart lächelte verstohlen, wurde gleich wieder ernst.

„Von der ersten Nacht an, behauptete Gruberg, habe es in der Villa – gespukt. Ein Lärm, dessen Ursachen nicht zu ergründen wären, hätte ihn und die Seinen allnächtlich im Schlafe gestört. Er würde daher das kleine Anwesen, das er zu kaufen beabsichtige, heute noch erstehen. – Kurz: Grubergs gaben das unheimliche Quartier auf.“

„Eine Frage: fand sich denn kein Käufer für die Villa?“

„Die Baronin wollte nicht verkaufen. Sie hätte ein schönes Stück Geld verdienen können. Einmal bot ihr ein Ausländer, ich glaube ein Chinese, drei Millionen. Damals stand der Dollar 1800. – Die Villa war nun wieder leer bis zum Frühjahr 1922. Im April mietete ein Berliner Schieber sie. Der Mann hieß Perl und hatte früher eine Hökerei gehabt, hatte mit Frau und drei Kindern in einer Stube hinter dem Laden gehaust, ließ sofort drei Zimmer der Villa im Oberstock möblieren, zog ein, bestellte Handwerker, die inzwischen die übrigen Räume in Stand setzen sollten, und – zog nach sechs Tagen wieder aus.“

„Es spukte?!“ sagte Meinart gedehnt.

„Ja – es spukte! Dabei war dieser Perl ein Mann von Mut! Und doch – er kniff mit den Seinen aus. Die Villa duldete ihn nicht. Perls Frau –“ – der alte Herr machte eine Pause – „mußte in ein Sanatorium. Sie war abends noch in die Küche gegangen, um etwas zu holen. Ihr Mann hörte sie plötzlich gellend schreien, raste die Treppe hinab, fand sie ohnmächtig in der Küche vor. Die Ärmste soll sich noch heute nicht völlig erholt haben –“

„Und – weshalb schrie sie – weshalb der Schreck, die Angst?“ fragte Meinart gespannt.

„Sie hat behauptet, ein „Untier“ sei ihr an die Kehle gesprungen – ein zottiges Ungeheuer. Tatsächlich fand man Kratzwunden an ihrem Halse.“

Meinart dachte an die erwürgte Katze.

„Wer es vielleicht ein großer Affe, Herr Krauske?“

„Aha – dasselbe hat auch Görges vermutet! – Nein, die Frau hat ausdrücklich erklärt, das Tier habe einen hellen Pelz gehabt. Und die großen Affenarten sind sämtlich dunkelhaarig.“

„Wie stellte sich denn die Ortspolizei zu diesem Vorfall?“

„Die Villa wurde genau durchsucht, wurde eine Weile beobachtet. Dann gab man es auf, die Sache zu klären. Und – dann zog die schwedische Familie ein. Es war ein Graf Axelström, sehr vornehme, reiche Leute. Sie machten es genau so wie Perls, möblierten erst die Zimmer im Oberstock, bestellten Handwerker und – zogen nach fünf Tagen schleunigst aus.“

„Nicht möglich!“

„Doch – doch! – Der Graf hatte gleich eine Köchin, einen Diener und einen Chauffeur sowie zwei große Hunde mitgebracht. In der ersten Nacht wurden die Hunde getötet. Der Graf ließ die Kadaver auf Gift untersuchen. In der Tierärztlichen Hochschule in Berlin wurde nur festgestellt, daß – die Todesursache nicht festzustellen sei.“

„Und dann?“

„Dann begann der Spuk abermals – genau wie bei Grubergs und Perls. Die Gräfin siedelte schon nach der dritten Nacht in ein Pensionat in Zehlendorf über, nachdem Köchin, Diener und Chauffeur – gekündigt und sofort die Villa verlassen hatten.“

„Das zottige Untier – zeigte sich das ebenfalls?“

„Nein, Herr Meinart. Der Graf hatte die beiden letzten Nächte zwei Freunde zu sich genommen. Diese beiden Herren wären beinahe erstickt – in ihren Betten. Sie schliefen oben in dem Balkonzimmer. Der Graf hatte die Öfen mit Steinkohlen heizen lassen, um die Nässe aus Wänden und Fußböden herauszubringen. Aus dem Ofen des Balkonzimmers trat Kohlenoxydgas aus, und nur ein Zufall führte den Grafen noch rechtzeitig herbei.“

„Aber – da muß die Polizei doch –“

„– wieder eine Untersuchung eingeleitet haben, meinen Sie! Hat sie auch getan. Es fand sich nicht der allergeringste Beweis dafür, daß bei der Geschichte etwa Menschenhände mit im Spiele gewesen. – Ganz Zehlendorf sprach damals nur von der leeren Villa. So heißt sie hier allgemein. Nun – seitdem hat sich kein Mieter mehr gefunden, Herr Meinart, und auch Sie dürften nun –“

„Sie irren“ unterbrach Meinart den besorgten alten Herrn. „Ich miete – als Mr. Allan Morton. Denn ich besitze Papiere auf diesen Namen.“

„Um Himmels willen!“ stöhnte Krauske. „Lassen Sie sich doch warnen! Ich –“

„Haben Sie noch mehr zu berichten?“

Krauske seufzte. „Ja! Meine eigenen Beobachtungen aus dem verflossenen Winter und jetzt aus dem Mai. – Ich bin Freiluftfanatiker, Herr Meinart. Ich gehe am Tage mindestens meine sechs Stunden spazieren. Im Februar dieses Jahres führte mich gegen sieben Uhr abends ein Zufall dort an der Schonung entlang, wo der Weg zur Villa abbiegt. Da sah ich zwei Leute, die aus der Richtung der Villa herkamen – mit Autobrillen, hochgeschlagenen Pelzkragen. Ich verbarg mich in der Schonung. Es war bereits ziemlich dunkel. Die Männer gingen dicht an mir vorüber und unterhielten sich in einer Sprache, die ich nicht kenne. Ich wollte hinter ihnen drein, verlor sie aber aus den Augen. – Das war am 15. Februar. Am 19. ging ich absichtlich um dieselbe Zeit an der Schonung entlang und dann auf die Villa im Bogen zu. Mit einem Male hörte ich einen Eichelhäherruf – drei Mal. Und zugleich sah ich, daß das eine Hinterfenster der Villa für Sekunden hell wurde.“

„Weiter!“

„Hm – da – da bin ich ängstlich geworden und mit Lumperl davongelaufen. Als ich die Straße erreichte, erkannte ich ein Auto, in das rasch sechs Leute einstiegen, die aus dem Walde über den Graben sprangen. Das Auto raste dann an mir vorüber. Ich hatte mich hinter einen Baum gedrückt.“

„Es – raste?“

„Ja! Die Kerle fuhren wie der Teufel!“

„Und dann?“

„Dann – wagte ich mich nicht mehr nach Dunkelwerden in die Nähe der leeren Villa. Erst am 15. Mai, als ich von Prill von einer Vereinssitzung kam, hatte ich – hm ja – hatte ich etwas viel getrunken –“

„Und da gab der Alkohol Ihnen Mut –“

„Freilich, – ich hatte auch noch Prills sehr scharfen Dobermann Caesar mit, der mir nachgelaufen war. Es mochte so etwa elf Uhr sein, als ich vom See her die Schonung entlangkam. Und – da sah ich vier Leute von der Straße her in den Weg nach der Villa einbiegen. Zwei trugen ein langes rundes Paket. Ich hielt Caesar das Maul zu, da er sonst gebellt hätte.“

„Sie folgten den Leuten?“

„– Nein. Ich wagte es nicht. Ich ging rasch der Straße zu und hörte noch gerade ein Auto davonfahren. Am anderen Morgen schrieb ich an Görges, dessen Namen ich aus Zeitungsberichten kannte. Er besuchte mich denn auch, ließ sich alles erzählen und versprach mir, sich um die Villa so etwas zu kümmern, wenn er Zeit hätte. Er ist ja stets sehr beschäftigt. Dann erschien er gestern abend ganz überraschend bei mir und begab sich nachher in den Wald nach der Villa.“

Meinart holte tief Atem. „Wissen Sie auch, Herr Krauske, daß Ihre Schilderung selbst mich jetzt aufgeregt hat?! Ich verstehe nicht, daß Görges so lange gezögert hat, die Sache näher zu untersuchen.“

„Ich kann ihm kein Honorar zahlen, Herr Meinart. Er ist Berufsdetektiv. Er lebt von seiner Tätigkeit. Da mußte die leere Villa eben zurückstehen.“

„So – so! Ja – Geschäft ist Geschäft. Trotzdem wundere ich mich, daß Görges so wenig Interesse zeigte.“

Der alte Herr schritt die Treppe zum Restaurationsgarten empor.

„Es bleibt also bei Allan Morton“ fügte Meinart hinzu. „Ich miete! Hat Prill Vollmacht abzuschließen? Wird das Wohnungsamt nicht Schwierigkeiten machen?“

„Prill hat Vollmacht. Das Wohnungsamt hat die Villa von der Liste gestrichen. Es zieht ja doch niemand mehr ein.“

„Ich – werde es!“

– – – – – – – –

Meinart und der alte Herr hatten bei Prill gut gegessen, hatten den Mietvertrag zunächst mündlich festgelegt und gingen nun durch den Ort dem Bahnhof Zehlendorf-Mitte zu, da Meinart nach Berlin zurückkehren wollte.

Hinter ihnen her schlenderte ein unscheinbarer Mann, der einen Rucksack auf den Rücken trug, einen derben Stock in der Hand hatte und leise vor sich hin pfiff.

Dieser blondbärtige, so recht bieder ausschauende Mann stand neben Krauske und Meinart an der Bahnsteigsperre, als der Rentner sich hier von dem Milliardär verabschiedete, und studierte scheinbar eine Ankündigung der Eisenbahndirektion.

Meinart war gegen drei Uhr nachmittags wieder in Berlin, bestieg ein Mietauto und fuhr nach der Alten Jakobstraße Nr. 258.

Das Haus machte von außen einen mehr als bescheidenen Eindruck. An der uralten verwitterten, aber reich geschnitzten Haustür hing ein kleines Porzellanschild:

Fritz Görges,
Ermittlungen.

Links an der Türfüllung war der Druckknopf einer elektrischen Klingel zu sehen, darüber unter einer dicken Glasplatte ein Papier mit folgenden Warnungen in Rundschrift:

Betteln zwecklos!
Sprechzeit nur 8–9, 7–8.
Bissige Hunde!

„Sehr einladend!“ dachte Edgar Meinart. „Ich hätte mir den Weg hierher also sparen können. Es ist jetzt erst halb vier. Ich werde um sieben wiederkommen müssen. Oder ob ich wenigstens mal anfrage, ob Görges abends auch bestimmt daheim ist?“

Er läutete.

Nein – er wollte läuten. Er hatte den Finger noch nicht auf dem Druckknopf, als hinter ihm jemand sagte:

„Görges ist nicht zu Hause, Herr Meinart.“

Meinart ließ die Hand sinken und schaute sich um.

Vor ihm stand ein Herr mit dunklem Spitzbart, mit unauffälliger Eleganz gekleidet, ein liebenswürdiges Lächeln um die Lippen.

„Verzeihung, mit wem habe ich das Vergnügen?“ fragte Meinart erstaunt, da der Fremde ihn mit dem richtigen Namen angesprochen hatte und ihm doch ganz unbekannt war. Er hatte diesen Herrn noch nie gesehen.

„Fritz Görges,“ stellte der andere sich vor. „Ich habe Sie hier vor der Tür erwartet, Herr Meinart,“ fügte er mit größter Selbstverständlichkeit hinzu. „Es wäre doch schade, bei dem schönen Wetter in der Stube zu sitzen, wo wir alles in frischer Luft erörtern können. Dort hält mein Auto. Bitte – steigen wir ein.“

Meinart war nicht leicht zu verblüffen. – Woher wußte Görges, daß er ihn besuchen wollte?!

„Justizrat Demke hat mich wohl angemeldet?“ fragte er.

„Nein. Ich stand auf dem Bahnhof Zehlendorf-Mitte neben Ihnen, Herrn Krauske und Lumperl. Der Terrier, der mich erkannte, hätte mich beinahe verraten. Sie beide achteten jedoch nicht auf das freundliche Wedeln des Stummelschwänzchens. – Bitte –“ Und er deutete abermals auf das offene Taxameterauto.

Sie stiegen ein.

„Rousseau-Insel,“ rief der Detektiv dem Chauffeur zu.

Der Wagen ruckte an.

„Sie waren also noch in Zehlendorf, als Krauske und ich zum Bahnhof gingen,“ begann Meinart, nachdem er den eleganten Görges nochmals gemustert hatte. „Krauske hat Sie in der Nacht übrigens sehnsüchtig erwartet. Er war Ihretwegen in Sorge.“

„Und das mit einigem Recht,“ nickte Görges. „Ich war erst vor einer Stunde zum Bewußtsein gekommen, als Sie beide die leere Villa betraten. Ich wußte nicht, wer Sie waren, Herr Meinart. Sonst hätte ich mich gezeigt. Ich verließ das Haus durch die Hintertür, nachdem Sie beide nach oben gegangen waren. Die Tür knarrt abscheulich. Vielleicht haben Sie es gehört –“

„Allerdings. Und der alte Herr wurde blaß vor Schreck.“

„Einer der Mutigsten ist er nicht. Nun es ist ja auch besser, daß er sich nicht allein an dieses Abenteuer herangewagt hat. Es steckt mehr dahinter, als ich anfangs annahm. Auch ich habe in der verflossenen Nacht zwei Leute beobachtet, die mit einem großen, mindestens anderthalb Meter langen Paket das Haus betraten. Krauskes Beobachtungen stimmen also.“

Meinart mußte sich erst an Görges’ nüchterne Art gewöhnen. Der Detektiv sprach das alles in ungezwungenstem Plauderton hin, als wären es Dinge, die er nur von anderer Seite gehört hätte und die ihn selbst nichts angingen.

„Erzählen Sie mir doch bitte Genaueres,“ meinte der Milliardär nun, der immer wieder auch an Demkes doch völlig unzutreffende Äußerung dachte, daß Görges ein sehr grober und sehr schrullenhafter Mensch sei. Hiervon merkte er nicht das geringste. Dieser Görges hier neben ihm war ein durchaus liebenswürdiger, wenn auch sehr abgeklärter Mann.

„Da ist nicht viel zu erzählen, Herr Meinart,“ erwiderte Görges mit leichtem Achselzucken. „Ich betrat die Villa gegen elf Uhr, fand oben in einem Zimmer eine Katze, die durch eine zerbrochene Scheibe hereingeschlüpft war und wohl nicht wieder herauskonnte. Sie schrie jämmerlich. Ich nahm sie auf den Arm, damit sie sich beruhigte. Dann sah ich vom oberen Flurfenster zwei Leute mit einem langen Paket von hinten auf die Villa zukommen. Sie hatten einen Schlüssel zur Hintertür. Leider knarren die Dielen ja überall so infam, daß ich mich darauf beschränken mußte, am selben Platze zu verharren.“

Er schilderte nun auf ebenso knappe Art, wie die Katze erwürgt und er selbst von einem unerklärlichen Lähmungsgefühl befallen und dann ohnmächtig wurde.

„Als ich wieder zu mir kam, war es heller Tag. Neben mir lag der tote gelbe Kater, unter mir meine Repetierpistole. Der Kopf war mir zunächst noch schwer und benommen, als hätte ich es mit den Folgen eines starken Rausches zu tun. Ich erholte mich rasch, durchsuchte das ganze Haus und – fand nichts von Bedeutung, nur die Spuren erdiger Füße im Hinterflur. Dann erschienen Sie und Krauske. Ich stand auf der Kellertreppe und verließ nachher das Haus, beobachtete Sie beide weiter, sah Sie auf der Terrasse des Prillschen Festhauses sitzen und nahm ein paar Tische weiter Platz.“

Meinarts Kopf fuhr herum. „Wie – Sie waren der Mann mit dem Rucksack? Sie saßen so, daß ich Sie gerade vor mir hatte. Aber – aber Krauske hat Sie doch ebenfalls gesehen. Er erkannte Sie nicht.“

„Erkannte?! Mein Rucksack enthielt drei Verkleidungen. Bei Krauske war ich stets so, wie man Fritz Görges daheim sieht. Wie sollte er mich erkennen?! – Nicht wahr, Sie wollen die Villa mieten, Herr Meinart, oder haben schon gemietet?“

„Ja. Das Haus ist mir teuer. Dort hat –“

„Das weiß ich alles, Herr Meinart. Sie sind der Gatte Thea von Rohrschütz’. Krauske hat auch von Ihrer Gattin mir einiges erzählt.“

Das Auto glitt durch das Brandenburger Tor.

Meinarts Gesicht umdüsterte sich.

„Meiner verstorbenen Frau wegen wollte ich Ihre Hilfe in Anspruch nehmen,“ sagte er nach kurzer Pause. „Außerdem wollte ich Sie bitten, mit mir die Villa zu beziehen, vielleicht in der Maske eines Dieners, Herr Görges. Die Geldfrage spielt keine Rolle. Ich kann Ihnen jedes Honorar zahlen.“

„Ich bin nicht billig, Herr Meinart,“ erklärte der Detektiv offen.

„Stellen Sie Ihre Forderung –“

„Drei Millionen monatlich und Ersatz der Unkosten.“

„Das nennen Sie teuer?! Ich bewillige Ihnen zehn Millionen. Ist die Sache abgemacht?“

„Abgemacht. – Die Besprechung erledigen wir wohl besser bei einer Tasse Mokka in dem Cafee der Rousseau-Insel. Sie kennen wohl das kleine primitive Lokal, Herr Meinart. Ich sitze dort sehr gern. Man genießt Natur und studiert Menschen. Bei warmem Wetter ist dort schwer ein freier Tisch zu bekommen.“

Meinart hatte einem Straßenbahnwagen entgegengeschaut, der völlig überfüllt von Charlottenburg kam.

Plötzlich schnellte er im Auto hoch, stierte dem rasch vorübergleitenden Wagen nach, sank dann wieder auf den Sitz zurück.

Er war aschgrau im Gesicht geworden, murmelte nun wie erklärend:

„Es war eine Ähnlichkeit –“ Er seufzte schmerzlich.

„Mit Ihrer Gattin?“ fragte Görges leise.

„Ja – eine – eine überraschende Ähnlichkeit. Die Dame stand auf dem Vorderperron eingekeilt zwischen anderen. Ich sah nur den Kopf –“

Er seufzte wieder.

Görges stand rasch auf und rief dem Chauffeur zu:

„Kehrt! Dem Straßenbahnwagen nach! Schnell!“

Er setzte sich wieder.

In Meinarts tief gebräuntes, während der acht Jahre auf Toluwata von Wind und Sonne wie gegerbtes Gesicht war die Farbe zurückgekehrt.

„Es ist besser, daß Sie sich davon überzeugen, daß es wirklich nur eine Ähnlichkeit war,“ sagte Görges jetzt. „Sonst beschäftigen Sie sich in Gedanken immer wieder mit dieser Begegnung.“

Meinart nickte. „Das würde ich tun, da haben Sie recht. Wer je so geliebt hat, wie ich Thea liebte, hält das Unmöglichste für möglich – selbst daß Tote wieder auferstehen –“ Um seinen Mund zuckte es vor Gram.

Görges beobachtete ihn still. Er hatte einen Moment lang die Absicht, Meinart offen mitzuteilen, was er vermutete. Doch – sollte er Hoffnungen wecken, die vielleicht wieder in Nichts zerrannen?!

Er schwieg. Aber in ihm war eine starke Unruhe.

Das Auto holte den Straßenbahnwagen erst ein, als bereits an einer Haltestelle ein Teil der Fahrgäste ausgestiegen war.

Meinart musterte die Menschen auf dem Vorderperron mit sehnsüchtigen Blicken.

Die Dame mit dem schlichten grauen Strohhut war nicht mehr da.

„Schade!“, meinte Görges scheinbar gleichmütig.

Er befahl dem Chauffeur, wieder zu wenden. Aber er merkte sich: Linie 6, um drei Uhr achtundvierzig Minuten. Der Wagen kam aus dem Stadtteil Moabit. Man konnte für alle Fälle mal nachforschen.

„Besitzen Sie ein Bild Ihrer Gattin?“ wandte er sich an Meinart, der jetzt tief in Gedanken dasaß.

„Ja. Justizrat Demke schenkte mir es. – Bitte –“

Er holte das Bild aus der Tasche hervor.

Görges betrachtete das Gesicht Thea Meinarts sehr lange.

„Danke –“ Er reichte das Bild dem Milliardär zurück. „Vielleicht werde ich es noch brauchen.“

– – – – – – – –

Das kleine Cafee der Rousseau-Insel war gut besetzt. Görges und Meinart fanden noch einen freien Tisch an der oberen Brüstung.

Der Kellner brachte die beiden Kännchen Mokka und Gebäck.

„So,“ meinte der Detektiv, nachdem er sich aus Meinarts Zigarrentasche bedient hatte. „Nun bitte ich, mir Ihre Wünsche vorzutragen. Dabei wird es wohl nötig sein, mir auch alle Einzelheiten Ihrer Verlobung, Heirat und so weiter mitzuteilen.“ Er legte ein kleines Notizbuch neben sich. „Auch über die Familienverhältnisse Ihrer Gattin unterrichten Sie mich bitte. Nach Krauskes Andeutungen muß die Familie von Rohrschütz ja mit einem unglaublichen Adelsstolz behaftet sein.“

„Ich will zunächst über mich sprechen,“ begann Edgar Meinart mit gedämpfter Stimme und beugte sich etwas über den Tisch. „Ich bin armer Leute Kind. Mein Vater war Schlossermeister in Gollnow in Pommern. Meine Eltern verstarben früh. Ich kam zu meinem Onkel Albert Meinart hier nach Berlin in die Lehre. Ich hatte nur die Volksschule und dann das Gymnasium bis Obertertia besucht. Mein Onkel besaß ein Materialwarengeschäft. Nachher gelang es mir, bei einer Exportfirma unterzukommen. Ich hatte abends die Handelsschule besucht und bildete mich allein im Englischen und Französischen weiter. So wurde ich Korrespondent. Mit achtundzwanzig Jahren war ich zweiter Prokurist der Firma. Damals lernte ich meine spätere Frau eines Tages zufällig am Ufer der Krummen Lanke kennen. Acht Wochen später verlobten wir uns heimlich. – Thea war das einzige Kind des Barons Alexander von Rohrschütz, der als Hauptmann wegen Fälschung von Schießbüchern, also wegen allzu großen Ehrgeizes letzten Endes, mit schlichtem Abschied entlassen worden war. Die Familie von Rohrschütz hatte sich von ihm völlig losgesagt. Er fristete als Agent mit Frau und Kind in Hannover sein Leben. Nach seinem und seiner Gattin frühem Tode nahm die Baronin Wilhelma von Rohrschütz, Witwe des Präsidenten Arnold von Rohrschütz, die damals vierzehnjährige Thea in ihr Haus auf –“

Görges machte sich Notizen.

„Also in die – leere Villa,“ warf er ein.

„Ja. – Nachdem wir uns verlobt hatten, erklärte Thea mir sofort, daß sie niemals die Einwilligung ihrer Verwandten zu einer Heirat mit mir erhalten würde. Dazu sei die Familie zu adelsstolz. Thea selbst sah Welt und Menschen infolge ihrer in so dürftigen Verhältnissen verbrachten Jugendjahre mit anderen Augen als ihre Sippe an. Ihr galt der Charakter etwas, nicht der Name. – Trotz unserer Vorsicht kam die Baronin Wilhelma doch hinter unser Geheimnis. Eines Tages erhielt ich einen Brief des Oberhauptes der Familie von Rohrschütz, des Majoratsherrn Heribert von Rohrschütz auf Schloß Draken in Mecklenburg, – einen hochfahrenden Brief, in dem er mir jede weitere Annäherung an Thea verbot. Ich schrieb, unter Beifügung seines Briefes, zurück, daß meine Braut mündig sei und selbst über sich verfügen könnte. – Thea wurde fortan auf Schritt und Tritt bewacht, bis –“

„– Sie Ihre Braut entführten –“

„Ja – ich hatte für sie bereits ein Unterkommen bei Justizrat Demke besorgt, der ebenfalls aus Gollnow stammt und mit meinem Vater befreundet war. Demke erzwang von der Familie die Herausgabe der nötigen Papiere. Wir heirateten und bezogen in Moabit, Turmstraße 32, eine Dreizimmerwohnung. Die Familie von Rohrschütz hatte inzwischen auf einem Familientage Thea in aller Form verstoßen –“

Görges lachte ironisch.

„– und Thea dies durch eingeschriebenen Brief mitgeteilt. Dieses Schreiben atmete einen Haß und eine Feindseligkeit aus, die ich einfach nicht für möglich gehalten. Es stand darin unter anderem, daß Theas Vater bereits den Namen Rohrschütz entehrt und daß sie allen Grund gehabt hätte, durch ein striktes[3] Befolgen der berechtigten Wünsche der Familie diese Schmach wieder gutzumachen. – Sie sollte nämlich einen sechzigjährigen Grafen heiraten, der schon zweimal wegen gewisser Strafrechtsparagraphen für längere Zeit in ein Sanatorium für „Nervenkranke“ sich zurückgezogen hatte. – Diesen Haß bekamen nicht nur Thea und ich, sondern auch Demkes zu spüren. Erlassen Sie mir die Schilderung all der Schikanen, mit denen wir verfolgt wurden. Thea verlangte zum Beispiel die Auslieferung der wenigen Möbel ihrer Eltern. Der Familienrat ließ durch seinen Anwalt antworten, die Möbel würden zur Tilgung eines Darlehns einbehalten werden, das der Majoratsherr seinem Bruder, dem gescheiterten Hauptmann, einst gegeben –“

„Unglaublich! Zum Glück gibt es nicht mehr allzu viele dieser feinen Herrschaften solcher Art in Deutschland.“

„Nein, wohl kaum. – Im März 1914 machte mir die Firma dann das Anerbieten, für sie in der Südsee auf den Marschall-Inseln eine Faktorei zu gründen und zu leiten. Um vorwärtszukommen, nahm ich an. Thea sollte mir später folgen. Der Dampfer Ohio, den ich dann in der Südsee zu einer Informationsreise benutzte, ging im Sturm unter. Ich allein rettete mich, trieb drei Tage auf dem Meere und rettete mich auf die Insel Toluwata, ein Eiland von kaum dreitausend Meter Durchmesser. Dort lebte ich acht Jahre – als Robinson.“

Görges, der diese Einzelheiten nicht kannte, hatte sich weit vorgebeugt.

„Und – Sie verloren nicht den Verstand in der jahrelangen Einsamkeit?“ meinte er mitfühlend.

„Nein – ich wollte gesund bleiben – für mein Weib! Ich wurde – Goldgräber. Als reicher Mann landete ich in Neuyork. Dort erst erfuhr ich, daß Thea nicht mehr lebte.“

„Hatten Sie nicht viel unter dem Ansturm von Reportern zu leiden, – Sie als Robinson?“

„Nein. Ich war vorsichtig. Ich hatte den Leuten des Vermessungsschiffes, das mich befreite, einen anderen Namen angegeben. Ich rechnete damit, daß ich inzwischen für tot erklärt und daß Thea vielleicht eine neue Ehe eingegangen sein könnte. Sie war ja noch so jung. Ich nannte mich Morton. Auf dem Dampfer Ohio war nämlich ein Deutschamerikaner dieses Namens gewesen. Da er nicht schwimmen konnte, gab er mir seine Papiere und Wertsachen, als der Dampfer zu sinken begann. Die Papiere habe ich noch. Die Wertsachen schickte ich von Neuyork seinen Eltern. Den Zeitungsberichterstattern entzog ich mich durch häufigen Hotelwechsel. Noch heute wissen außer Demkes, die unbedingt verschwiegen sind, nur noch Sie und Krauske, daß der jetzt im Hotel Esplanade wohnende Edgar Meinart der Totgesagte ist.“

„Ein Roman – ein Roman!“ meinte Görges sinnend.

„Allerdings! Ein trauriger Roman! Acht Jahre als Einsiedler – dann die Nachricht, daß die eine tot ist, der ich meine Schätze zu Füßen legen wollte!“

Görges hörte nicht mehr hin.

Soeben waren drei Ausländer, drei Chinesen, den Gang zwischen den Tischen entlanggekommen. Sie waren wohl im Auto auf der nahen Straße vorgefahren, da sie Lodenmäntel trugen.

Einen der Chinesen, die etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein mochten, faßte der Detektiv besonders scharf ins Auge.

Sie fanden keinen freien Tisch mehr, kehrten um und wollten die Wasserterrasse wieder verlassen.

Görges erhob sich schnell, ging ihnen nach, kam wieder zu Meinart zurück und flüsterte:

„Bezahlen Sie für mich. Um sieben Uhr abends erwarte ich Sie bei mir. – Wiedersehen.“

Er eilte den dreien nach, die in ein dunkelblaues Auto mit herabgeklapptem Hinterverdeck stiegen, sprang in sein eigenes Auto hinein, das er hatte warten lassen und das er stets nur tageweise mietete, folgte dem anderen Kraftwagen bis zum Cafee Rumpelmeier auf dem Kurfürstendamm, ließ sich hier am Nebentisch nieder und blieb den Chinesen auch eine Stunde später auf der Spur.

– – – – – – – –

Meinart wanderte zu Fuß durch den Tiergarten nach Moabit, um sich das Haus in der Turmstraße von außen anzusehen, in dem er sein junges Liebesglück genossen hatte.

Von schmerzlichen Gedanken bewegt stand er auf der anderen Straßenseite und blickte zu den Fenstern empor, hinter denen einst Thea als junge Hausfrau gewaltet hatte.

Wieder fiel ihm da die Dame auf dem Vorderperron der Straßenbahn ein.

Es lag so nahe, daß er gerade jetzt an diese Begegnung dachte. Die Sehnsucht nach der Toten war wieder übermächtig in ihm. So vergegenwärtigte er sich denn nochmals die wenigen Sekunden, in denen sein starrer Blick auf dem Antlitz jener Frau mit dem grauen Strohhut geruht hatte.

Ein halbirrer Gedanke keimte da wieder, aus heißem Sehnen geboren, in seinem einsamen Herzen auf: daß Thea vielleicht doch noch lebe, daß irgendwelche Intrigen der Familie sie ihm nur hatten entziehen wollen! Im nächsten Augenblick wies er all das weit von sich. Demke hatte ja Theas Einäscherung beigewohnt, und die Aschenurne stand nun seit Jahren im Erbbegräbnis der Familie im Schloßpark zu Draken.

Gewaltsam zwang er sich zu nüchternstem Denken. Nur nicht sich in den Irrwegen leerer Hoffnungen verlieren, nur nicht den Schmerz um die Tote noch verdoppeln durch derartige Hirngespinste!

Er fuhr in des Justizrats Büro und wurde auch sofort vorgelassen, bat Demke, das Schreiben wegen der Herausgabe der Urne noch zurückzuhalten, da es zweckmäßiger sei, der Familie Rohrschütz die Tatsache seines Wiederauftauchens vorläufig noch zu verheimlichen, womit der Justizrat auch ganz einverstanden war.

„Wer weiß, was die Sippe sonst unternimmt, um Ihnen die Urne nicht aushändigen zu müssen,“ meinte er. „Wollen erst mal sehen, was Görges ermittelt hinsichtlich der Gründe, die Thea in das Haus der Baronin zurückkehren ließen. Es können da doch nur recht dunkle Dinge vorliegen.“

„Ohne Zweifel!“ sagte Meinart eifrig. „Ich habe so die Ahnung, daß man Thea belogen, vielleicht Ungünstiges über mich, den Toten, mitgeteilt hat. Es ist doch auch sehr auffallend, daß Thea sich nie mehr bei Ihnen sehen ließ, nachdem sie erst wieder der Familie verfallen war. Thea war Ihrer Gattin und Ihnen zu großem Dank verpflichtet, und – undankbar war sie gewiß nicht!“

„Görges wird es schwer werden, all das zu klären,“ nickte der alte Herr gedankenvoll. „Freilich – er hat wohl schon Schwierigeres bewältigt. Man soll ja mit Ausdrücken wie Genie und dergleichen nicht so leicht herumwerfen, aber, Fritz Görges ist ein Genie. – Wie hat er Ihnen gefallen, Edgar?“

„Sehr gut. Nur – grob ist er wahrhaftig nicht!“

Demke lächelte. „Warten Sie ab. Wenn Sie als sein Auftraggeber mal etwas tun, was ihm nicht paßt, schnauzt er Sie an, daß Sie sich wundern werden.“

„Hm – das kann ich mir gar nicht denken –“

„Na – ich hab’s wiederholt erlebt. Seine Grobheit ist natürlich die eines geistig überlegenen Menschen.“

– – – – – – – –

Als ein schlicht gekleidetes Hausmädchen Meinart gegen halb acht die Treppe emporführte und ihm oben im Flur Hut und Stock abnahm, wo allerlei altväterlicher Hausrat umherstand, als das Mädchen dann an eine hohe Flügeltür klopfte und drinnen[4] gedämpft ein Herein erklang, war Meinart recht gespannt, wie Fritz Görges wohl ohne Maske aussehen würde.

Zunächst sah er in dem dick vollgequalmten Zimmer gar nichts, da die Fenstervorhänge zugezogen waren und nur die grüne Glocke einer Schreibtischlampe wie ein grüner Halbmond in den Tabaksschwaden zu schweben schien.

Dann ein leises Knacken, und eine elektrische Krone mit zwölf matten Birnen flammte auf.

Neben der zweiten Tür des Zimmers stand ein hagerer Mann mit glänzendem haarlosen Schädel in einen schäbigen Schlafrock gehüllt und nickte mit dem mageren bartlosen Totenkopf Meinart kurz zu.

„Einen Augenblick,“ sagte der Kahlköpfige mit blecherner Stimme, die der des eleganten Görges vom Nachmittag wenig glich. „Ich will nur die Uhr stellen –“

Er trat an eine reichgeschnitzte hohe Standuhr heran, öffnete die obere Glastür vor dem Zifferblatt und wandte sich wieder nach Meinart um.

„Nicht wahr, die Uhr geht eine halbe Stunde vor. Es ist doch erst sieben, und nicht halb acht. Um sieben hatte ich Sie hergebeten.“

Meinart merkte: das war ein Hieb seiner Unpünktlichkeit wegen.

„Nein – es ist fünf Minuten vor halb acht, Herr Görges,“ erwiderte er, nachdem er den Deckel seiner Taschenuhr hatte springen lassen. „Ich habe mich bei Demke verspätet. Entschuldigen Sie schon –“

Görges klappte die Glastür zu, sagte dabei:

„Meine Zeit kostet jetzt Ihr Geld, Herr Meinart. Ich glaubte schon, Sie wollten Ihren Auftrag zurückziehen – Bitte – nehmen Sie Platz –“

Meinart schluckte auch diese Pille herunter, drückte Görges die Hand und dachte: „Jetzt sieht er wie ein weltfremder Gelehrter aus!“

Görges schlurfte auf gestickten Pantoffeln träge im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt.

So fand Meinart Zeit, die Einrichtung des langgestreckten Raumes sich anzusehen.

Das Zimmer glich einem Museum. Hier waren Werte aufgestapelt, die heute ungezählte Millionen kosteten. Dann hatte Meinart das Gefühl, von zwei Augen belauert zu werden. Da lag denn auch in dem Ausschnitt des riesigen Diplomatenschreibtisches ein prächtiger Wolfshund, die großen Ohren steil aufgerichtet, den Kopf auf den Vorderpfoten. Die braunen großen Augen des Tieres ließen nicht von dem Besucher ab. Ein ernster Ausdruck menschlicher Intelligenz war in diesen Augen.

„Harald, begrüße Deinen neuen Herrn,“ sagte Görges da.

Der Hund erhob sich, schritt langsam zu Meinart hin und reichte ihm, sich setzend, die rechte Pfote.

„Harald nehmen wir mit in die Villa,“ erklärte der Detektiv. „Er muß als Ihr Eigentum gelten, Herr Meinart. – Harald – auf Dein Lager!“

Der Hund kehrte zum Schreibtisch zurück.

Görges wanderte wieder hin und her, während Meinart ihm eingehend erklärte, was er ermitteln solle.

„Demke meinte ebenfalls, daß man Thea durch irgendwelche Lügen in die Villa zurückgelockt hat,“ sagte er zum Schluß.

„Davon bin auch ich überzeugt.“ Görges holte eine Kiste Zigarren, Aschbecher und Feuerzeug und stellte es vor Meinart auf den Tisch. „Lügen, die Sie herabsetzen. – Besinnen Sie sich. Gibt es in Ihrer Vergangenheit irgendwelche dunklen Punkte, die sich zu Ihrem Schaden auslegen ließen?“

„Nein. Nicht einmal eine Liebschaft habe ich gehabt.“

Fritz Görges war vor Meinart stehen geblieben.

„Eine andere Frage. – Sie waren ja Zeuge, wie ich nachmittags den drei Chinesen folgte. Hatten Sie jemals mit Chinesen etwas zu tun?“

Wieder verneinte Meinart. „Glauben Sie denn etwa, daß die drei Gelben es auf mich abgesehen haben?“ fügte er hinzu.

Der Detektiv antwortete nicht sogleich. Er blickte an Meinart vorüber auf eine alte halblebensgroße Bronzestatue des Gottes Buddha und verlor sich in tiefes Grübeln.

Dann ganz unvermittelt:

„Es kann ja ein Zufall sein! – Der rechte Lederärmel des einen Chinesen war vollständig zerkratzt. Man hatte mit braunem Schuhkrem den Schaden verdecken wollen. Mir fiel es trotzdem auf.“

Meinart vermochte dem Gedankengang Görges’ nicht so schnell zu folgen. Er schwieg.

„Ich denke an den erwürgten Kater, Herr Meinart,“ fuhr der Detektiv fort. „Ich schilderte Ihnen ja, daß ich deutlich das Entlangfahren der Krallen des Tieres über harten Stoff hörte, bevor ich ohnmächtig wurde. Die Katze kann also den Ärmel des Ledermantels zerkratzt haben.“

Der Milliardär begriff jetzt die Bedeutung dieser Vermutung.

„Es können also Chinesen sein, die in der leeren Villa irgend etwas treiben,“ meinte er. „Fragten Sie mich dieses Verdachtes wegen, ob ich mal mit Chinesen zusammengeraten sei?“

„Ja. Aber – nicht nur zusammengeraten! Ob Sie überhaupt irgend einen Chinesen irgendwie mal näher kennen gelernt haben – das wollte ich wissen.“

Meinart schüttelte den Kopf. Görges erklärte weiter:

„Und doch spricht vieles dafür, daß diese gelben Studenten tatsächlich mit den Geheimnissen der Villa zusammenhängen, daß sie es eben sind, die Krauske mit einem Paket beobachtet hat und die ich gestern nacht gleichfalls mit einem Paket das Haus betreten sah. Die Leute waren klein von Statur. Das hat auch Krauske betont. Und die Fußspuren unten im Flur waren wie die von Damenschuhen – fast winzig.“

Meinart hatte aufgehorcht. „Sie haben also bereits ermittelt, daß die drei von heute nachmittag Studenten sind?“

„Ja. Ich kenne auch ihre Wohnung, ihre Namen. Ich weiß weiter, daß es im ganzen acht Studenten sind, die sich gemeinsam das Auto halten, dem ich heute folgte. Ich kenne die Garage des Kraftwagens und die Nummer. Einen Chauffeur leisten die acht sich nicht. Sie bedienen das Auto allein. Zwei sind im Besitz von Fahrerscheinen.“

Görges griff bedächtig nach einer Zigarre. „Bitte – langen Sie doch zu, Herr Meinart –“ – Er rieb das Feuerzeug an.

„Nur eins bliebe bei allem dunkel: was suchen diese ausländischen Studenten in der Villa?! Was tun sie dort?! Weshalb verscheuchen sie jeden, der das Haus mietet, auf halb gewaltsame Weise?!“

Meinart rauchte ein paar Züge. „Wenn – wenn es Falschmünzer wären,“ sagte er zögernd.

„Daran habe auch ich schon gedacht. Aber – all das fällt ja haltlos in sich zusammen gegenüber der Tatsache, daß ich auch die Kellerräume aufs genaueste durchsucht habe. Da gibt es keine Geheimtür in den Mauern, kein verborgenes Gelaß. Ebensowenig ist derartiges oben im Hause vorhanden. Wie sollte es auch?! In der heutigen Zeit ist diese Art Romantik ausgestorben.“

Er zog sich einen Sessel heran und nahm dicht vor Meinart Platz.

„Es ist ja vorläufig gleichgültig,“ sponn er denselben Gedanken fort, „wer diese Leute sind, die in die Villa schleichen, beladen mit großen schweren Paketen. Die Tatsache bleibt bestehen: eine Anzahl Männer benutzt das leere Haus zu irgendwelchen dunklen Zwecken, verjagt jeden Mieter, hat auch mich gestern durch irgend ein geruchloses Gas wehrlos gemacht –“

Meinart fragte schnell: „Gas?! – So war es nicht das Grauen, das Ihnen –“

„Nein!“ erklärte der Detektiv schroff. „Meine Nerven haben lediglich erst nach dem Einatmen einer bestimmten Gasmenge gestreikt. Was ich zuerst für die Folgen starker seelischer Erregung, eben für die Folgen des Grauens hielt, waren bereits Vergiftungserscheinungen: Kältegefühl auf dem Rücken, Schweißaustritt auf der Stirn, Lähmung der Gliedmaßen. – Noch nie, Herr Meinart, haben meine Nerven versagt. Und – ohne Übertreibung! – ich habe schon anderes erlebt als gestern nacht! – Lassen wir jetzt alle theoretischen Erörterungen. Sie sind zwecklos. Wir werden ja in der Villa selbst prüfen können, was geschieht. Sprechen wir über den Einzug, die Möblierung, das Personal, das wir mitnehmen.“

Er wurde lebhafter. „Sie als Allan Morton, Herr Meinart, werden außer mir, dem Diener, noch eine Köchin und ein Hausmädchen mieten. Das heißt, ich besorge diese beiden weiblichen Hilfskräfte. – Wir wollen den Einzug beschleunigen. Die Möbel können morgen schon gekauft werden –“

So schrieb er Meinart genau vor, was alles zu geschehen hätte. Nichts vergaß er. Er mußte sich diese Einzelheiten sehr sorgfältig überlegt haben. –

Dann lud Görges den Milliardär zu einem einfachen Abendessen ein. Seine Köchin hielt alles schon bereit. Meinart lernte so auch die übrigen Räume des alten Hauses kennen. Vor Tisch hatte Görges sich noch umgezogen, erschien aus seinem Schlafzimmer in tadellosem dunklen Anzug – jeder Zoll wieder ein Mann von Welt.

– – – – – – – –

Vier Tage später.

Die leere Villa war nicht mehr leer. Es war Abend, und im Oberstock strahlten alle Fenster in blendender Helle.

Tapezierer hatten in den fünf Räumen der ersten Etage die Wände mit neuen Tapeten versehen. Maler hatten Fußböden, Türen, Fenster frisch lackiert. Dekorateure waren in den nach Kleister und Lack duftenden Zimmern tätig gewesen. Zuletzt erschienen zwei Möbelwagen, deren Inhalt unter der Aufsicht des Dieners des reichen Amerikaners abgeladen und in die mit Decken belegten Räume getragen und aufgestellt wurde.

Der Diener Mr. Allan Mortons war ein älterer graubärtiger Mann mit dicken grauen Augenbrauen, einem grauen, durchgezogenen, pomadeglänzenden Scheitel und einem Auftreten, als wäre er hier der Herr und Gebieter.

Am vierten Tage abends war dann auch der Amerikaner mit seinem Hunde in der Villa eingetroffen. Die Haustür war bekränzt. Der Garten, von zwei Leuten in Ordnung gebracht, empfing den neuen Mieter mit blühenden Rhododendren-Sträuchern und anderen bunten, freundlichen Blüten. Gelber Kies knirschte unter Meinarts Füßen, als er der Haustür zuschritt, wo der Diener Joseph Trabner, die Köchin Marie und das Stubenmädchen Anna den gnädigen Herrn feierlich herausgeputzt erwarteten.

Draußen auf dem Waldwege aber drängte sich die Zehlendorfer Jugend mit offenen Mündern am grüngestrichenen Zaun und begaffte den Dollarkönig, der es nun wagen wollte, der Spukvilla Trotz zu bieten.

Um halb acht Uhr abends am 17. Juni hatte so Allan Morton seinen Einzug gehalten. Es war noch taghell, und die Neugierigen, darunter auch einige Erwachsene, kamen auf ihre Rechnung.

Dann begann es zu regnen, wurde dunkel.

Bald war der Waldweg wieder so einsam wie stets. Die Kiefern rauschten, von den Nadeln tröpfelte der Regen, und des Waldes düstere Schatten umlagerten das Haus wie finstere Mauern. –

Meinart hatte sich Theas Zimmer als Wohn- und Studierraum herrichten lassen. Daneben lag sein Speisezimmer, nach vorn heraus, dann das Schlafzimmer. Das vierte, nach hinten heraus, bewohnte der Diener, das fünfte die beiden weiblichen Dienstboten, die nicht mehr ganz jung waren.

Anderthalb Stunden nach seinem Einzug nahm Meinart in der Villa die erste Mahlzeit ein. Joseph bediente bei Tisch. Er hatte es so gewollt. Die Rolle als Diener sollte, obwohl man doch im Hause Spione nicht zu fürchten hatte, in allem getreu durchgeführt werden.

Draußen regnete es stärker. Die Tropfen schlugen gegen die Scheiben – ununterbrochen.

Joseph trug den Nachtisch, Butter, Käse, Pumpernickel, auf. Dabei sagte er leise zu Meinart:

„Harald schnuppert schon wieder an der Kellertür herum und winselt leise.“

Meinart hatte dieselbe Meldung vor einer halben Stunde schon einmal erhalten. Da hatte Fritz Görges jedoch kein so versonnen-ernstes Gesicht gemacht wie jetzt.

„Harald wittert etwas,“ fügte Görges hinzu. „Ich weiß nur nicht, ob man jetzt sofort am ersten Abend ihn in den Keller lassen soll. Ich möchte lieber warten und –“

Ein langgezogenes, schrilles Heulen des Hundes ließ ihn den Satz nicht beenden.

Meinart legte Messer und Gabel hin und horchte.

Das Heulen erstarb, schwoll wieder an.

Die Töne erfüllten das ganze Haus.

Ein Windstoß fuhr gegen die Fenster, als würde mit nassen Lappen gegen die Scheiben geschlagen.

Meinarts Stirn zog sich zu Wülsten zusammen.

„Ein netter Empfang, lieber Görges!“

„Bitte – Joseph! Wie oft soll ich’s Ihnen sagen, daß ich keinen Görges kenne!“

Meinart stand auf. „Gut denn! Ich befehle, daß Sie mit mir und Harald sofort den Keller durchsuchen. Sie haben bisher nichts gefunden. Sie haben keine Hundenase.“

Joseph verbeugte sich, folgte Meinart zur Tür, den Flur entlang, die Treppe hinab, an der Glaspendeltür vorbei in den Hinterflur.

Aus der offenen Küchentür fiel eine breite Lichtbahn auf den Kellereingang. Dort stand Harald mit gesträubter Rückenmähne, schaute Joseph wie bittend an.

Die Bitte hieß: „Öffne mir die Tür!“

In der Küche lehnten Marie und Anna nebeneinander am Tisch und beobachteten kritisch und mit einer Gelassenheit, die von Frauen gegenüber einem so verdächtigen Benehmen eines Hundes nur in ganz seltenen Fällen bewahrt werden dürfte, den prächtigen, hochbeinigen Harald, dessen hochstehende Ohren so steif aufgerichtet waren, daß sie sich berührten.

Meinart warf einen erstaunten Blick auf die beiden weiblichen Hausgenossen. Er hatte sie blaß, verängstigt und jammernd vorzufinden geglaubt. Ihm selbst fiel ja das Heulen des Hundes auf die Nerven. Er hätte es den Mädchen, die Görges gemietet hatte, nicht im geringsten verdacht, wenn sie schon vorhin nach oben geflüchtet wären. –

Joseph nahm Harald am Halsband und öffnete die Tür der Kellertreppe, faßte in die Tasche der dunkelblauen Livreejacke und holte eine kleine elektrische Lampe hervor.

Der Lichtkegel schoß in das Dunkel des Treppenhauses[5] hinab.

Die Treppe war schmal und völlig aus Eisen, mit durchbrochenen eisernen Stufen.

So gingen die beiden denn nun mit dem Hunde in den muffig riechenden Keller hinab, Joseph voran.

Als sie am Fuße der Treppe angelangt waren, zitterte der Hund vor Erregung und winselte, drängte wieder der Treppe zu.

„Halten Sie ihn, Herr Meinart,“ sagte Görges leise.

Meinart mußte alle Kraft anwenden, um von dem starken Tiere nicht vorwärtsgezogen zu werden.

Der weiße Lichtkegel der Taschenlampe suchte unter der Treppe.

Dann bückte der Diener sich.

„Ein toter Iltis!“ sagte er, faßte mit der Rechten unter die letzte Stufe und hob zwischen Bauschutt den Kadaver eines Iltis empor.

„Ekelhaft!“ entfuhr es Meinart.

Aus dem von weißen Würmern zerfressenen Leibe des kleinen Kadavers war ein Ballen von Würmern auf die Eisenplatte gefallen, auf der die Treppenwangen ruhten.

Görges machte ein enttäuschtes Gesicht.

„Ich habe etwas anderes zu finden gehofft, Herr Meinart.“

„Was denn?“

Görges schwieg, beobachtete den Wolfshund, der den Kadaver zitternd anknurrte.

Verwesungsgestank verbreitete sich. Görges hielt den von Würmern völlig erfüllten und leer gefressenen Iltis an den Genickhaaren hoch.

„Führen Sie den Hund nach oben,“ meinte er dann. „Ich werde den Kadaver sofort im Walde vergraben.“

Meinart war froh, dem widerlichen Geruch zu entgehen und zerrte Harald die Treppe empor.

Nach einer Weile rief Görges ganz laut:

„Marie – Anna, kommt mal her!“

Die Mädchen sahen sich den toten Iltis an.

„Kein Wunder, daß der Gestank von Harald gewittert wurde,“ sagte die Köchin mit merkwürdig tiefer Stimme.

„Fegt nachher die Würmer zusammen,“ befahl Görges. „Holen Sie ein paar Zeitungen, Anna. Ich will den Kadaver einpacken.“

„Was hattest Du denn hier zu finden erwartet, Fritz?“ fragte Anna flüsternd. Auch ihre Stimme war nicht die eines Weibes.

Görges blickte sie ärgerlich an. „Ich verbitte mir diese plumpen Vertraulichkeiten! Ich bin Joseph Trabner! Zum Teufel – bleibt Ihr denn immer klägliche Anfänger?! – Vorwärts – die Zeitungen!“

Anna eilte gehorsam nach oben. Sie war groß und kräftig, während die um einen Kopf kleinere Köchin eine recht rundliche Gestalt hatte.

Görges schickte Marie nach Besen und Schaufel. Sie zögerte.

„Wer wacht nun die erste Hälfte der Nacht?“ fragte sie.

„Ich – die ganze Nacht. Es gibt ein Unwetter. Das Barometer ist daumenbreit gefallen.“

Anna kam mit den Zeitungen. Görges legte den stinkenden Kadaver auf das Papier und hüllte ihn ein.

Gleich darauf betrat er, einen langen Lodenumhang über den Schultern, mit Spaten und dem Papierpaket durch die Hinterpforte des Gartens den Wald.

Es goß jetzt in Strömen. Es war eine Nacht ähnlich der, als Fritz Görges zum ersten Mal in die Villa eingedrungen war.

Er blickte nach dem Hause zurück. Wie durch Schleier sah er die Umrisse des Gebäudes. Aus dem Küchenfenster strahlte Lichtschein in das Dunkel des Gartens. Die Regentropfen schlugen dem Detektiv auf die Öltuchmütze, ins Gesicht.

Unter einer der ersten Kiefern vergrub er den Kadaver, ging dann ins Haus zurück, nachdem er das wieder zugeworfene Loch recht fest gestampft hatte.

An der Gartenpforte machte er halt.

Es war ihm, als hätte er soeben aus der Tiefe des Waldes das Krächzen eines Eichelhähers vernommen.

Er horchte gespannt.

Rentner Krauske hatte ja erwähnt, daß er ebenfalls einmal diese Vogellaute gehört, als er die Männer beobachtete, die hier ihr Wesen trieben.

Nichts mehr – nur das Knarren der windgeschüttelten Stämme und das Rauschen von Regenströmen und schwankenden Ästen und Zweigen. –

Görges lächelte. Diese Nacht kam ihm gerade recht. In einer solchen Nacht würden die Unbekannten vielleicht sofort etwas gegen die neuen Bewohner der Villa unternehmen.

Diesmal war er gewappnet. Diesmal mochten die Leute nur versuchen, ihn wieder zu betäuben! Sie würden sich wundern! –

Der Detektiv betrat die Villa, verschloß die Hintertür, schob den neu angebrachten Patentriegel vor und hakte die neue Sicherheitskette ein.

Den Spaten aber lehnte er so gegen die Tür, daß er sofort umfallen mußte, wenn man die Tür zu öffnen versuchte.

– – – – – – – –

Elf Uhr.

Meinart und die Mädchen waren zur Ruhe gegangen. Görges saß oben dicht am Treppengeländer auf einem der schweren Lederstühle des Eßzimmers im Dunkeln. Vor ihm auf dem Treppengeländer waren die drei Druckknöpfe festgeschraubt, die zu den in die drei Schlafräume führenden Alarmleitungen gehörten. Diese drei Leitungen hatte Görges heute nachmittag selbst gelegt, nachdem die letzten Handwerker gegangen waren. Die zugehörigen Glocken hingen über den Betten. Ein Druck auf zwei der Knöpfe, und Görges konnte Meinart und die Mädchen sofort herbeirufen.

Den Hund hatte Görges absichtlich in Meinarts Schlafzimmer gelassen. Harald war zu stürmisch für eine Aufgabe wie diese. –

Der Sturm umtobte das Haus. Ein so miserables Wetter wie in diesem Juni 1923 hatte man seit langem nicht mehr gekannt. Nachts sieben, acht Grad, am Tage kaum zehn Grad. Dazu Regen – Regen, ständig bewölkter Himmel.

Görges fror nicht. Unten in den Zimmern waren alle Öfen geheizt, um das Haus wieder auszutrocknen. Die Öfen waren von einem Töpfer nachgesehen worden. Sie brannten tadellos.

So stieg denn aus dem Erdgeschoß durch den Treppenschacht behagliche Wärme empor. Unten standen alle Türen offen, damit die warme Luft kreisen konnte. –

Neben Görges auf dem Flurläufer lagen eine Gasmaske, ein Gummiknüttel und eine große Karbidlaterne. Die Laterne brannte. Aber der dichtschließende Schieber war vor die Glasscheibe gerückt. Nicht ein Lichtstrahl drang heraus in die lastende Finsternis.

An alles hatte Görges gedacht. Bei dem ersten verdächtigen Geräusch wollte er die Gasmaske vorbinden. Dann war er sicher vor betäubenden Gasen. In seiner rechten Jackentasche steckte die gespannte, entsicherte Repetierpistole.

Görges sah den kommenden Dingen mit größter Ruhe entgegen. Es würde etwas geschehen – irgend etwas. Er ahnte es.

Er hatte die Unterarme auf das Geländer gelehnt und den Kopf vorgebeugt. So hatte er die Treppe gerade unter sich, mußte trotz des Lärmens des Unwetters jedes verdächtige Geräusch hören.

Er trug Schuhe mit Filzsohlen. Die Treppen, die Flure waren mit neuen weichen Läufern belegt, die Stufen und Dielen wieder festgenagelt worden. Sie knarrten nicht mehr.

Görges zog die Taschenuhr, sah nach der Zeit. Die dunklen Striche der Zeiger auf dem Leuchtzifferblatt standen dicht vor der Zwölf. – „Erst eine Stunde!“ dachte Görges. „Ich wünschte, es geschähe etwas!“

Es geschah nichts.

Die Regenböen gingen über die Villa hinweg, setzten aus, kamen wieder. Keine Dachrinne klapperte mehr. Auch die waren ergänzt worden. Die Sturmstöße durchsausten den Forst, heulten in den Schornsteinen.

Und rings um Fritz Görges hing die Finsternis wie schwarze Tücher. Nicht einmal die Umrisse des Flurfensters waren zu erkennen.

Wieder verstrich eine halbe Stunde.

Dann ging es wie ein Ruck durch den Leib des Detektivs.

Irgendwoher von unten aus dem Hause ein leises Kreischen – ganz kurz.

Stille.

Görges beugte sich weiter vor, hielt den Atem an, lauschte.

Wollte mit der Rechten nach der Gasmaske greifen, faßte auf die glühend heiße gewölbte Spitze der Karbidlaterne.

Der Schmerz der versengten Fingerspitzen peitschte sein Hirn auf.

Was war das?! Hatte er wieder zu spät die Gasmaske anlegen wollen?!

Ein Eiseshauch kroch ihm den Rücken empor. Er fühlte die Schweißperlen aus der Haut dringen.

Mit letzter Kraft tastete er nach den Druckknöpfen.

Und sank langsam auf den Stuhl zurück, sank nach links auf den Flurläufer mit dumpfem Poltern, das nicht mehr als Geräusch über die Schwelle seines schwindenden Bewußtseins trat.

– – – – – – – –

Rentner Krauske, in einen alten Ölrock eingeknöpft, den Schirm dicht über den Kopf haltend, kam den Waldweg entlang.

Hinter ihm trottete mißvergnügt mit dem Hundemäntelchen über dem Rücken der halbblinde Terrier.

Es war elf Uhr vormittags. Krauske wollte den Dollarkönig besuchen. Er war neugierig, wie Mr. Morton sich eingerichtet hatte. Die Zehlendorfer sprachen von fünfzehn bis zwanzig Millionen für die Reparaturarbeiten der Spukvilla.

Krauske betrat den Vorgarten, sah neben der Haustür den neuen Klingelknopf, läutete, hörte drinnen die Glocke schrillen.

Wartete.

Es regnete wieder – ganz sacht. –

Krauske läutete abermals.

Er wunderte sich. Im Hause blieb alles still.

Lumperl stand mit hängendem Stummelschwänzchen dicht an die Beine seines Herrn gedrückt da und fror.

Krauske läutete zum dritten Male.

Ihm war bereits unbehaglich zu Mute.

Das Unbehagen wurde zur ungewissen Angst.

Herr Gott – ob man Morton etwa ermordet hatte – und auch Fritz Görges – auch die Mädchen?

Der alte Herr wußte ja, daß Görges hier den Diener Joseph spielte. Er war in alles eingeweiht worden.

Lumperl schaute mit milchigen Augen zu Krauske empor.

Und Krauske sagte zu seinem Hunde, dem einzigen Wesen, das ihm teuer war: „Lumperl, ich denke, wir holen die Polizei!“

Dann überlegte er sich’s doch wieder anders, umschritt die Villa, kam in den Hintergarten, – stutzte.

Die Hintertür weit offen.

Der alte Herr stierte in den Flur hinein.

Da lag ein Spaten. Da lag der Wolfshund Harald dicht an der Kellertreppe mit offenem Maul und heraushängender Zunge.

Rentner Krauske überlief ein Zittern. Er fühlte, daß sich ihm die Haare unter dem Filzhut sträubten.

Lumperl begann zu winseln.

Krauske blickte sich scheu um. Er hatte das Empfinden, als könnte ihn jeden Moment einer der Leute mit den Autobrillen, einer der Vermummten, anspringen und niederstoßen.

Doch – er war allein. Einsam dort der Wald mit den hochragenden schlanken Stämmen.

Der alte Herr wurde ruhiger. Trotz des dünnen Regens lag so helles Tageslicht über der Umgebung, daß es schien, als müßte die Sonne plötzlich das leichte Gewölk zerteilen.

Und die Sonne kam auch. Ein blauer Fleck am Himmel erweiterte sich rasch. Und mit einem Schlage fluteten gleißende Strahlen herab, zauberten über der Villa und der gegenüberliegenden niederen Schonung einen prachtvollen Regenbogen hervor.

Krauske schöpfte Mut und Zuversicht aus der farbenfrohen Naturerscheinung, die – ein Zufall – wie ein glückverheißendes Zeichen das Haus überspannte.

Er schlich näher an die offene Tür heran.

Und – auf einer der untersten Schwellen der Treppe dort im Hintergrunde des Flurs saß ein Mensch, den Kopf in die Hände gestützt, die Ellbogen auf den Knien. Saß und schwankte wie ein Trunkener hin und her.

Der alte Rentner erkannte an dem pomadeglänzenden Scheitel den Diener Joseph – Fritz Görges.

Görges lebte.

Und das verscheuchte Rentner Krauskes letzte Bedenken. Er klappte den Schirm zu, trat ein, ging zu Görges hin, der nun ein wenig den Kopf hob.

„Holen Sie – mir – Kognak. Oben – aus dem Eßzimmer,“ lallte Görges.

Krauske hastete an dem Detektiv die Treppe empor.

Und – prallte zurück.

Hier oben dicht an der Treppe drei reglose Menschen – hingestreckt wie vom Blitz gefällt: Meinart und die beiden Mädchen!

Krauske mußte über den Körper der Köchin hinwegsteigen. Er zitterte, seine Knie bebten. Aber er raffte sich zusammen – fand im Büfett eine bereits entkorkte Flasche Kognak, ein Weinglas. –

Görges schluckte mühsam, würgte den Alkohol hinab.

„Soll ich die Polizei benachrichtigen?“ fragte Krauske schüchtern.

„Nein! Auf – auf keinen Fall!“ –

Zwei Stunden später lagen Meinart und die Mädchen auf ihren Betten. Auch diese drei waren wieder zu sich gekommen. Krauske schüttelte den Kopf, als die Köchin mit rauher Stimme ein zweites Weinglas Kognak verlangte und wie Wasser hinabgoß. –

Görges hatte schon vorher die Hintertür wieder versperrt und auch den Wolfshund in eins der Vorderzimmer unter ein geöffnetes Fenster gelegt.

Jetzt saß er neben Meinarts Bett und sagte mit matter Stimme:

„Wir sind ausgeplündert worden. Ihre Uhr, Ringe, Brieftasche, meine Uhr – alles gestohlen, auch das Silberzeug aus dem Büfett, dazu der Perser aus Ihrem Arbeitszimmer. Auch die Mädchen vermissen ihre Wertsachen.“

Krauske schlich mit der fast leeren Kognakflasche in der Linken herein.

„Unser Doktor mit der Universalmedizin!“ lächelte Görges schwach.

Meinart richtete sich etwas auf. „Wir werden die Vorfälle dieser Nacht doch zur Anzeige bringen müssen, lieber Görges –“

„Joseph – Joseph!“ verbesserte der Detektiv unwirsch. „Wie Sie wollen – ganz wie Sie wollen, Herr Morton,“ fügte er hinzu. „Dann kündige ich aber meine Stellung sofort. Ich sehe keinen Grund, die Polizei herbeizurufen – gar keinen! Entweder haben Sie zu Ihrem Joseph Vertrauen oder nicht. Ich erkläre nochmals: Sie sollen in jeder Hinsicht zufrieden gestellt werden.“

Es war etwas in diesem selbstbewußten Ton, das Meinart rasch fragen ließ:

„Sie haben etwas Neues entdeckt?“

Görges blickte zu Boden „Vielleicht, Herr Morton. Darüber später, wenn die Zeit gekommen.“

Meinart legte sich in die Kissen zurück. „Nun gut. Dann werden auch Sie schweigen, Herr Krauske. Dann bleibt vorläufig alles unter uns.“

Der alte Herr, neben den sich Lumperl auf den Teppich gelegt hatte, machte ein ganz friedliches Gesicht.

„Von mir erfährt niemand auch nur ein Sterbenswörtchen. Ich bin keine Plaudertasche,“ sagte er fest.

Fritz Görges erhob sich. „Versuchen Sie jetzt zu schlafen, Herr Morton. Die Dosis Kognak wird Sie müde gemacht haben. Die Fenster bleiben offen, damit Sie den Lungen recht viel frische Luft zuführen. – Auf Wiedersehen –“

Er winkte Krauske, und sie verließen das Zimmer, gingen in das der Mädchen hinüber, dessen Tür nur angelehnt war. Der Flurläufer hatte ihre Schritte gedämpft. Als Görges die Tür aufstieß, saßen Marie und Anna bereits auf dem Bettrand, die Köchin – mit einer brennenden Zigarre im Munde, die sie jetzt hastig zu verbergen suchte.

Görges warf Marie einen wütenden Blick zu. Krauske war starr. Eine Zigarren rauchende behäbige Köchin war immerhin eine Seltenheit.

Görges drückte die Tür ins Schloß.

„Setzen Sie sich, Herr Krauske. Ich möchte Sie nun völlig ins Vertrauen ziehen.“

Der alte Herr nahm auf einem der einfachen Rohrstühle Platz.

Görges wandte sich an die Köchin.

„Du hast jetzt doch bereits betreffs Deines Geschlechts bei Herrn Krauske Verdacht erregt, Boltz. Deine infame Leidenschaft für gewickelte Tabakblätter müßte eigentlich von mir mit Entlassung bestraft werden. Ein Mensch, der seine Lüste nicht zu bezähmen vermag, ist für mich als Gehilfe unbrauchbar.“

Krauske machte große Augen. Er begriff jetzt alles: Marie und Anna waren verkleidete Detektive.

Unwillkürlich mußte er über Boltz’ zerknirschtes Gesicht dann lachen.

Boltz sagte kläglich: „Mich bringt nur Tabak wieder auf die Beine! Entschuldige schon.“

Görges lächelte nun selbst. „Marie heißt also in Wirklichkeit Karl Boltz, Herr Krauske, und die schlanke Anna ist Vater dreier mustergültig ungezogener Rangen und heißt Ernst Menk. Wir drei arbeiten seit Jahren zusammen, ohne daß die Öffentlichkeit etwas davon weiß. – So, nachdem nun diese Vorstellung erledigt ist, möchte ich Sie –“

Er hielt inne. Im Flur hatte die Glocke geschrillt, die mit dem Druckknopf der Haustür in Verbindung stand.

„Besuch!“ meinte Görges unwillig. „Sehen wir nach, wer es ist –“

Er eilte ins Speisezimmer und lugte durch die Vorhänge hindurch. Krauske war ihm gefolgt.

„Eine alte Dame,“ flüsterte Görges.

„Ja – die Baronin,“ ergänzte der Rentner.

Görges fuhr herum. „Die Baronin Wilhelma von Rohrschütz?“ fragte er überstürzt.

Krauske nickte. „Sie will sich vielleicht den neuen Mieter ansehen.“

Der Detektiv preßte die Lippen zusammen. „Mit dieser Überraschung habe ich nicht gerechnet,“ stieß er dann hervor. „Morton-Meinart würde sie ja fraglos wiedererkennen. Ich muß –“ – er überlegte – „ich muß sie empfangen – ich – als Morton. Es geht nicht anders. – Kommen Sie –“ –

Gleich darauf öffnete Anna der hageren Dame die Haustür und bat sie nach oben, führte sie in Meinarts Studierzimmer und erklärte, Herr Morton würde sofort erscheinen.

Die Baronin, im blauseidenen Regenmantel und dunkelbraunen Lederhut, setzte sich in einen der Klubsessel neben den Mitteltisch, nahm das an langer goldener Kette hängende Lorgnon vor die hochmütigen, strengen Augen und schaute sich das Zimmer an.

Ihr weißes Haar verriet durch die tadellose Frisur die helfende Hand einer geschickten Zofe. Über der schmalen, großen Nase lag auf der Stirn eine tiefe Falte. Die künstlich verdunkelten Augenbrauen waren gerade und berührten sich fast über der Nase. Der kleine Mund mit den dünnen Lippen verstärkte noch den unsympathischen Zug von Hochmut und Kälte in diesem leicht gepuderten Greisinnengesicht.

Doch – dieser Ausdruck änderte sich, je länger die Baronin hier in diesem Raume sich allein überlassen blieb, je mehr Erinnerungen dieses Zimmer in ihr lebendig werden ließ.

Etwas wie Unruhe trat in den kühlen, strengen Blick, der nun auf jener Wand ruhte, wo Theas Bett gestanden hatte.

Merkwürdig – dort gerade hatte man bis anderthalb Meter über dem Boden die Wand nicht mit der neuen Tapete überzogen. Dort grinste noch die alte verfleckte Tapete mit ihrem häßlichen Blumenmuster die Baronin an – dort war deutlich zu erkennen, wo das Bett Theas seinen Platz gehabt hatte.

Dann öffnete sich schon die Tür nach dem Flur und Görges trat ein – im blauen Anzug, einfach, aber elegant.

Machte der Baronin eine leichte Verbeugung.

„Mein Name ist Allan Morton,“ sagte er mit leichtem fremdländischen Akzent.

Er nahm der Baronin gegenüber an der anderen Seite des Tisches Platz.

„Womit kann ich Ihnen dienen?“ fragte er dann sofort geschäftsmäßig.

Er trug jetzt nur die graue Perücke und hatte den falschen Bart abgelegt und das Gesicht durch bräunlichen Puder dunkler getönt.

Die immer noch stattliche Greisin hatte das Lorgnon wieder an die Augen geführt und musterte den angeblichen Amerikaner sehr ungeniert. Der Mann interessierte sie lediglich, weil ihr Gastwirt Prill von dessen enormen Reichtum erzählt hatte.

„Ich bin die Besitzerin dieser Villa,“ sagte sie nun mit einer klanglosen, kalten Stimme. „Ich wollte Sie kennenlernen, Herr Morton. Ich hatte erwartet, daß Sie mir einen Besuch machen würden“

„Herr Prill hatte ja weitgehendste Vollmacht. Es war ein Geschäft wie jedes andere,“ erwiderte Görges gleichmütig.

„In Amerika mögen die gesellschaftlichen Gebräuche andere sein,“ meinte die Baronin sehr von oben herab. Sie war es nicht gewöhnt, daß man sie nur mit dem kahlen „Sie“ anredete. Dieser Mensch mißfiel ihr gründlich.

Görges blieb jetzt stumm, lehnte sich im Sessel zurück und streckte die Beine weit von sich.

Die graublauen Augen der Baronin glitten wieder nach dem großen Wandfleck hin, wo Theas Bett gestanden und wo man jetzt nur ein kleines Rauchtischchen hingestellt hatte.

„Weshalb ist die Stelle dort nicht ebenfalls neu tapeziert worden?“ fragte sie kurz.

„Die Tapete reichte nicht. Es muß erst wieder von der Fabrik eine Rolle beschafft werden.“

Der Baronin genügte diese Erklärung.

Sie kam sich mit einem Male hier sehr überflüssig vor. Sie hatte erwartet, daß Morton sie sehr zuvorkommend empfangen und sie bitten würde, die bereits renovierten Räume zu besichtigen.

Görges schwieg und schaute sie beharrlich an. Das verwirrte sie. Empörung stieg in ihr hoch. Der Mann war ein Flegel – ohne jede Lebensart. Der Ärger war stärker in ihr als die Genugtuung, daß dieser Morton eine märchenhafte Miete zahlte – und gleich für ein Vierteljahr vorausgezahlt hatte.

„Ich fürchte, Sie werden es nicht lange in der Villa aushalten,“ sagte sie mit leiser ironischer Schadenfreude. „Sie kennen doch die Gerüchte, die hier in Zehlendorf über dieses Grundstück umgehen?“

Görges zuckte die Achseln.

„Ich bin Geschäftsmann. Gerüchte stören mich nicht. Höchstens an der Börse –“

Die alte Dame wurde rot vor Enttäuschung. Diesem Menschen war nichts anzuhaben.

„Gestatten Sie übrigens eine Frage,“ fuhr Görges fort. „Hat hier einmal ein Chinese gewohnt?“

Er beobachtete sie scharf, aber unauffällig. Er sah, daß sie leicht zusammenzuckte und die Augen senkte.

„Ich habe hier nämlich etwas gefunden, was nur einem Chinesen gehört haben kann,“ sprach er in gleichgültigstem Tonfall weiter.

Die Züge der Baronin wurden spitz vor Spannung.

„Was haben Sie gefunden?“ fragte sie überhastet. Es war ein deutlicher Unterton von Angst in ihrer Stimme.

Görges triumphierte innerlich. Aber – er wollte diesen Trumpf nicht voreilig ausspielen. Er ahnte, daß die Baronin – lügen würde, wenn er sie nicht in die Enge trieb.

„Sollten Sie das nicht wissen?!“ meinte er kühl.

Sie wurde jetzt verlegen. Ihre Finger zogen die Lorgnonkette straff, ihre Augen wurden kleiner vor wachsender Unruhe.

„Der Gegenstand lag in einem nicht alltäglichen Versteck,“ fügte Görges unbarmherzig hinzu, um die Folter noch mehr anzuspannen. „In einem Versteck in diesem Zimmer, das einer der Tapezierer fand, als er die Tapete abbürstete – dort, wo anscheinend früher ein Bett seinen Platz hatte.“

Er deutete auf den großen Wandfleck.

„Dort war ein Fetzen Tapete lose und mit einer Reißzwecke wieder befestigt worden. Dahinter war ein Loch in dem Kalkputz –“

Die Baronin konnte ihre Ungeduld nicht länger meistern.

„Was für ein Gegenstand war’s?“ rief sie fast schrill.

Sie war unter der Puderschicht erblaßt. Ihre Lippen zuckten.

„Wohnte ein Chinese hier?“ fragte Görges gelassen, als hätte er der Baronin Worte gar nicht gehört.

„Nein! – Möchten Sie mir nicht endlich Antwort geben!“ Sie zitterte vor Erregung.

„Oh – dann hat der Gegenstand doch kein Interesse für Sie, obgleich –“ – eine Kunstpause, feinste Berechnung.

Die alte Dame beugte sich vor, schlug mit dem langen Schildpattlorgnon auf den Tisch, rief noch schriller:

„Obgleich –? – So fahren Sie doch fort!“

„Ich begreife Sie nicht,“ meinte Görges, den Verwunderten spielend. „Wenn Sie keinen Chinesen gekannt haben, der von Ihnen mal die Villa gemietet hatte, dann –“

„Ich hatte während des Krieges einen chinesischen Arzt hier konsultiert,“ unterbrach sie ihn da, und man merkte, welche Überwindung ihr dies Geständnis kostete. „Im Kriege waren die hiesigen Ärzte sämtlich zum Militärdienst eingezogen. Es wohnte hier aber der Arzt der Berliner chinesischen Botschaft Doktor Taotse, ein älterer Herr.“

Görges mußte sich alle Mühe geben, das triumphierende Aufstrahlen seiner Augen zu verbergen.

„Ah so,“ nickte er. „Der Chinese hat Sie hier in der Villa behandelt –“

Zögern. – Dann ein unsicheres „Ja!“

Görges wußte: sie log! Taotse hatte Thea behandelt, nicht die Baronin!

Schon fragte diese auch, erfüllt von angstvoller Ungeduld:

„Der Gegenstand – was war’s, Herr Morton?“

Görges faßte in die Westentasche und brachte ein flaches Achatfläschchen zum Vorschein – mit einem eingeschliffenen Stöpsel und chinesischen Buchstaben in Gold auf beiden Seiten.

„Dies ist’s!“ Er streckte die Hand aus.

Die Baronin wollte nach dem kleinen runden Fläschchen greifen, aber Görges zog die Hand zurück und sagte:

„Es ist ein weißes Pulver darin. Man muß vorsichtig sein.“

Sie merkte den Doppelsinn des letzten Satzes nicht.

„Ein – ein Pulver?“ meinte sie, und ihr Gesicht wurde wieder eisig und hochmütig in jeder Linie. Ihre Angst war verflogen.

„Es kann harmlos sein – ein Medikament,“ sagte Görges weit liebenswürdiger. „Wo wohnt Doktor Taotse jetzt? Ich möchte ihm das immerhin wertvolle Achatfläschchen wieder zustellen.“

„Taotse ist tot, Herr Morton. Er kehrte 1919 nach Peking zurück. Ein Verwandter von ihm hat mir sein Ableben mitgeteilt.“

Görges steckte das Fläschchen wieder in die Tasche.

„Dann stand der Doktor mit Ihnen doch wohl auf vertrauterem Fuße, Frau Baronin?“ Er hatte die Beine angezogen und eine respektvollere Haltung angenommen.

„Vertraut – nein! Taotse war ein feingebildeter Mann, der gelegentlich bei mir verkehrte.“

„Könnte ich nicht den Namen und die Adresse jenes Verwandten erfahren, Frau Baronin, der Sie von Taotses Tod benachrichtigte? Ich nehme an, daß dieser Verwandte vielleicht in Berlin zur Zeit sich aufhält.“

„Oh – geben Sie mir nur das Fläschchen. Ich werde es abliefern.“

„Sehr liebenswürdig, Frau Baronin. – Gestatten Sie, daß ich es Ihnen sauber einpacke – in ein Schächtelchen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.“

Görges eilte hinaus – eilte in das Zimmer der Mädchen, wo er auch Krauske vorfand.

„Rasch – Papier her!“ sagte er.

Er schüttete einen Teil des weißen Pulvers aus dem Fläschchen und flüsterte:

„Menk, Du folgst der Baronin nachher. Ich muß wissen, wem sie das Fläschchen übergibt oder zuschickt, oder ob sie es behält.“ –

Fünf Minuten später verließ Frau Wilhelma von Rohrschütz die Villa. Görges gab ihr bis an die Gitterpforte das Geleit. Sie war nun mit dem Amerikaner wieder völlig ausgesöhnt.

– – – – – – – –

Görges kehrte ins Haus zurück – sehr langsam, sehr nachdenklich.

Und betrat das Zimmer, in dem der Wolfshund unter dem offenen Fenster lag.

Harald war aus der tiefen Betäubung erwacht, richtete sich taumelnd auf und wedelte seinen Herrn ganz vergnügt an.

Görges streichelte ihm den Kopf. „Ich hole Dir eine Schale Wasser,“ sagte er. –

Der Hund soff voller Gier im Sitzen, machte dann die ersten Gehversuche, erholte sich bald auch so weit, daß er Görges in den Flur folgte.

Als der Detektiv aber die Treppe emporstieg, war Harald schon an der Kellertür und winselte und kratzte, wurde immer dringlicher, stieß wieder ein kurzes Heulen aus und blickte dabei seinen Herrn an, der sich über das Treppengeländer gebeugt hatte und ihn sinnend beobachtete.

Das Heulen des Hundes war oben gehört worden.

Krauske und Boltz erschienen. Der Rentner hatte seinen Terrier in den Arm genommen, damit Harald Lumperl nicht etwa überfiele.

Görges winkte den beiden zu, eilte wieder die Stufen hinab und öffnete die Kellertür.

Freudig aufblaffend stürmte der Wolfshund in den Keller, machte am Fuße der Treppe halt, schnüffelte am Boden herum, winselte stärker, begann mit den Vorderpfoten auf der Eisenplatte zu kratzen, die mit den Treppenwangen zusammengenietet und in die Fliesen des Kellerganges eingelassen war.

Görges hatte die Taschenlampe eingeschaltet und beleuchtete den Hund.

Dann wandte er sich an Boltz und Krauske, die dicht hinter ihm standen und dem Tiere ebenfalls zuschauten.

„Der Iltis war es also nicht, der Harald in den Keller lockte,“ sagte er, Boltz dabei ansehend. „Ich glaube, ich bin einem weiteren Teil des Geheimnisses auf der Spur.“

Er schritt sechs Stufen hinab, drehte sich um, besichtigte nun die Stelle, wo die eisernen Treppenwangen sich oben an den Rand der Mauer lehnten.

„Boltz – bitte!“

Boltz trat neben ihn, beugte sich vor.

„Donnerwetter – hier haben ja die Enden der Treppenwangen Gelenke!“ rief er leise.

„Ja – und somit läßt die ganze Treppe sich unten hochheben,“ fügte Görges hinzu. „Gehen wir in den Keller. Probieren wir.“

Sie stützten dann die Schultern unter eine der Stufen.

„Los!“ kommandierte Görges.

Die Treppe hob sich – und mit ihr die große Eisenplatte.

Die Gelenke oben kreischten ein wenig.

„Herr Krauske – her mit dem Pfahl dort aus der Ecke!“ rief Görges keuchend.

Er stellte ihn als Stütze unter eine Stufe.

Dann ein abermaliges kräftiges Anheben.

Wieder wurde die Treppe gestützt.

Nun sah man bereits, daß unter der Eisenplatte sich ein viereckiges Loch befand.

Harald winselte, gebärdete sich wie toll, lag auf dem Bauche vor dem Loch und – war dann mit einem kurzen Satz in der Tiefe verschwunden.

Auch der halbblinde Terrier auf Krauskes Arm winselte stärker, bog den Kopf nach unten und schnüffelte.

Görges bemerkte jetzt erst einen in die gewölbte Decke des Kellerganges eingelassenen Ring, der gerade über dem Ende der Treppe sich befand. Der starke Eisenring war innen blank gescheuert, während er im übrigen mit Rost bedeckt war.

„Wenn wir ein Tau hätten,“ sagte Görges und deutete auf den Ring.

„Hier liegt ja eins!“ rief Krauske. „Hier in der Ecke, wo der Pfahl stand.“

Und er warf mit der Fußspitze etwas Bauschutt beiseite und nahm das Tau auf.

Die drei Männer hörten jetzt Harald in der Tiefe bellen, dann wieder heulen.

„Rasch!“ keuchte der dicke Boltz, dessen Pausbackengesicht hochrot vor Anstrengung und Ungeduld war.

Görges befestigte das eine Ende des Taus um die unterste Treppenstufe und zog das freie Ende durch den Ring.

Boltz packte mit zu.

Ruckweise lüftete sich die Eisenplatte samt der Treppe immer mehr.

Krauske trat vor Erregung immerfort von einem Fuß auf den andern, als hätte er kalte Beine.

Ganz von selbst stellte er den Pfahl dann als Stütze unter die zweitletzte Stufe.

Görges und Boltz ließen das Tau fahren.

Der Lichtschein der inzwischen angezündeten Karbidlaterne fiel in die viereckige Öffnung.

Eine eiserne Leiter lief dort hinab – nach unten, wo die drei Männer den Wolfshund, die Nase bald in der Luft, bald auf dem Fliesenboden, suchend umherlaufen sahen.

Görges kletterte hinab. „Bleib oben, Boltz,“ befahl er. „Her mit der Laterne!“

Harald bellte seinem Herrn dumpf entgegen.

Nun konnte der den niederen quadratischen Raum überblicken, ließ den Lichtschein umhergleiten.

Mauern, dick mit Schimmelpilzen bedeckt.

In der Mitte ein langer, mit Zinkblech benagelter Tisch. Drei Holzstühle, in einer Ecke ein schmaler Schrank mit offener Tür – leer.

Ein paar Zinkeimer in der anderen Ecke, ein eiserner Waschständer mit Emaillewaschschüssel und Seifennapf, in dem noch ein Stück Seife lag.

Sonst nichts – nichts.

In der Luft aber neben dem Moderduft ein anderer Geruch, – süßlich – ekelhaft. –

Fritz Görges prüfte die Luft, zog sie durch die Nase langsam ein.

Dann nickte er befriedigt, beobachtete Harald, der noch immer unschlüssig, unsicher umherlief, winselte, bellte.

Görges untersuchte den Raum genauer.

Boltz rief von oben hinab:

„Nun – was gibt’s, Fritz?“

„Komm’!“

Boltz erschien, schaute sich enttäuscht um.

„Hm!“ meinte er nur.

Görges leuchtete in die Zinkeimer hinein. In dem einen lag noch ein Aufwischlappen. Zwei enthielten Reste von Wasser.

„Sie waren hier,“ sagte Görges kurz.

„Die – die chinesischen Studenten?“

„Wer sonst –“ – Und Görges nahm den Aufwischlappen und stieg die eiserne Leiter empor.

„Was haben Sie gefunden?“ fragte Krauske atemlos.

„Nichts – und doch genug! Wenn Sie hinabwollen – bitte! Ich halte Ihren Hund.“

Nach einer Weile kamen auch Krauske und Boltz nach oben. Harald kletterte auf Görges’ Zuruf allein die Leiter hoch.

„Du bleibst hier,“ sagte Görges zu Boltz. „Herr Krauske begleitet mich.[“ Und an Krauske gewandt: „][6]Lumperl können wir nicht brauchen. Boltz mag ihn bei sich behalten.“

Dann ließ er den Wolfshund die Witterung des Scheuerlappens nehmen.

Harald versagte nicht. Görges, einen Spaten in der Hand, hielt ihn an der Leine. So ging es durch die Hinterpforte in den Wald – immer geradeaus. Zuweilen zögerte Harald, fand dann sehr bald die Fährte von neuem und drängte mit aller Kraft vorwärts.

Krauske blieb Görges dicht auf den Fersen. Er hätte den Detektiv so vieles fragen mögen. Er wagte es nicht. Görges hatte nur Augen für den Hund.

Dann ging’s am Rande einer großen Sandgrube entlang – bis zu deren Eingang mit tief eingeschnittenen Wagengeleisen. Hier gab Görges Harald frei. Aufbellend stürmte das prächtige Tier vorwärts, machte an der steilen Nordwand halt, begann sofort wie toll den Sand mit den Vorderpfoten wegzukratzen.

– – – – – – – –

Meinart war vor Erschöpfung eingeschlafen.

Sein Schlaf war tief und traumlos. Er hörte nichts von dem Besuch der Baronin, nichts von der Unruhe im Hause, als der Wolfshund Einlaß in den Keller begehrt hatte.

Nach einer Stunde waren Görges und Krauske mit Harald aus dem Walde zurückgekehrt. Auch Ernst Menk war inzwischen wieder eingetroffen, hatte die Nachricht mitgebracht, daß die Baronin das Achatfläschchen am Seeufer unten, nachdem sie sich scheu umgesehen, unauffällig ins Wasser geworfen hatte.

In der Küche standen nun die vier Männer flüsternd beieinander.

Boltz und Menk, das weibliche Personal, hörten[7] starr vor Staunen Görges’ Bericht an.

Zum Schluß sagte er: „Also Ihr wißt nun Bescheid: Meinart erfährt vorläufig nichts von dem Kellerraum und der Sandgrube!“

Auf dem Küchentisch lag ein Stück Leinwand, in das eine Anzahl kleinerer Gegenstände eingehüllt waren. Die Leinwand nebst Inhalt hatten Görges und Krauske im Sande der Grube gefunden. Sie enthielt die Beute der Diebe: das Silberzeug, die Uhren – und so weiter.

„Verbergt die Sachen in Eurem Zimmer,“ fuhr Görges fort. „Ich werde mich jetzt wieder in Joseph verwandeln. – Marie, Sie machen sich an die Zubereitung des Mittagessens heran – etwas, das schnell geht. Herr Krauske bleibt zu Tisch hier. Wir haben wohl alle Hunger.“

Der alte Herr sah noch ganz verstört aus.

„Ich – ich habe keinen Hunger,“ stammelte[8] er. „Dürfte ich um einen Kognak bitten? Der – der Anblick dort war nichts für – für alte Nerven.“

Anna eilte nach oben, die Kognakflasche zu holen.

Görges klopfte dem Rentner auf die Schulter.

„Nach einer halben Stunde sind Sie wieder ganz auf dem Posten, Herr Krauske! Sie müssen nur nicht mehr daran denken. Kommen Sie mit auf mein Zimmer; legen Sie sich eine Weile auf den Diwan, rauchen Sie eine Zigarre. Ich gebe ja zu: schön war der Anblick nicht! Wir werden uns auch ordentlich die Hände waschen müssen, sonst werden wir den Geruch nicht los.“

Um vier Uhr nachmittags weckte Joseph seinen Herrn.

Meinart fuhr empor, schaute sich wild um.

„Herr Morton, bitte zu Tisch,“ sagte Joseph ganz in der Haltung des gutgeschulten Dieners.

Meinart zwinkerte mit den Augen. Draußen schien die Sonne. Die Helle im Zimmer blendete ihn.

„Ist – ist das alles wirklich passiert?“ fragte er unsicher. „Mir kommt es jetzt wie ein Traum vor – wie ein wüster Traum.“

„Es ist noch mehr geschehen, Herr Morton, und – es wird auch noch mehr geschehen.“ Er deutete auf das Nachttischchen. Da lagen Meinarts Brieftasche, Uhr, Ringe.

„Die Diebe hatten die Beute im Walde vergraben,“ erklärte Joseph gleichmütig. „Harald nahm ihre Fährte auf. Die Leute stahlen nur, um ihre wahren Absichten zu verdecken. Es lag ihnen nichts an den Wertsachen. Sie wollten eben nur das Haus räumen – für immer, und mitnehmen, was ihnen gefährlich schien.“

Meinart blickte Görges verständnislos an.

„Inzwischen war auch die Baronin hier, Herr Morton. Das erzähle ich Ihnen bei Tisch. Herr Krauske wird Ihnen Gesellschaft leisten. – Bitte, machen Sie sich fertig. Die Spiegeleier werden kalt.“

Meinarts Kopf war bei dem Worte Baronin hochgeruckt.

„Die Rohrschütz?“ rief er ungläubig.

„Ja. – Sie gestatten, – ich will den Tisch decken.“

Und Görges verschwand. –

Krauske und Meinart aßen die Suppe. Görges stand neben dem Tisch.

„Ich habe Ihnen diesen Fund bisher verheimlicht, Herr Morton,“ setzte er seine Erklärungen fort. „Ich war gerade im Zimmer, als der Tapezierer mit der Bürste das Stück Tapete losriß und das Achatfläschchen herausfiel, das mit seinem chinesischen Goldbuchstabenschmuck abermals auf Chinesen hinwies. Dieser Doktor Taotse hat fraglos Ihre Gattin behandelt, nicht die Baronin, deren schlecht verhehlte Angst während unserer Unterredung deutlich darauf hinweist, daß bei dieser Erkrankung Ihrer Gattin irgend etwas nicht stimmte.“

Meinart wechselte die Farbe. „Wie soll ich das verstehen, lieber Görges?“ fragte er beklommen.

„Bitte – Joseph! Wir sind noch nicht am Ziel, Herr Morton. Bis dahin bitte – Joseph! – Wir werden zwar ans Ziel gelangen, vielleicht heute noch. Aber es können auch weitere Verwicklungen eintreten. Ich liebe es, bei einem einmal festgelegten Programm bis zuletzt zu bleiben. – Ihre Frage, was ich hinsichtlich der Krankheit Ihrer Gattin vermute, kann ich Ihnen leider nicht beantworten. Meine Vermutungen sind zu schwerwiegend, um sie ohne weitere Beweise schon auszusprechen.“

Meinart wurde ungeduldig. Sein Gesicht rötete sich.

„Sie spannen mich ja auf die Folter! Glauben Sie, daß – daß Thea keines natürlichen Todes gestorben ist?“

Görges zögerte. Dann –

„Ich nehme an, daß Ihre Gattin das Achatfläschchen von Doktor Taotse erhalten und es dort verborgen hat, wo ein Zufall es wieder ans Tageslicht brachte. Sobald ein mir befreundeter Chemiker den Inhalt des Fläschchens untersucht haben wird, werde ich völlig im Klaren sein. – Ich bitte Sie, den Speisen recht kräftig zuzusprechen, Herr Morton. Sie müssen frisch sein. Ich will Sie nachher mit nach Berlin nehmen. – Ich hole den zweiten Gang –“

Er verließ das Zimmer.

Meinart seufzte. „Der Mensch quält mich, Herr Krauske!“

„Aber – er hilft Ihnen!“ tröstete der alte Herr.

Ein Achselzucken – ein trübes Lächeln. „Helfen – helfen?! Mein Lebensinhalt ist zerstört. Thea ist tot. Sie wissen ja am besten, was es heißt, einem geliebten Weibe nachtrauern!“

„Das weiß ich,“ nickte Krauske. „Ja – das weiß ich. Ich – ich weiß aber auch, daß über diesem Hause sich ein Regenbogen wölbte – ein prachtvoller Regenbogen. Ich bin vielleicht etwas abergläubisch. Es war am Vormittag, als ich das farbenfrohe Himmelszeichen sah. Seitdem ist Schlag auf Schlag nur Gutes eingetroffen.“

Joseph trat mit dem Tablett ein. Da unterdrückte Meinart die Frage, was Krauske denn unter „Gutes“ verstehe. – „Gutes“ hätte für ihn ja nur Theas Rückkehr aus dem Reiche der Schatten bedeutet. Diese Rückkehr war unmöglich.

Und doch: durch des alten freundlichen Herrn seltsame Worte, die wie eine Prophezeiung geklungen hatten, war in des Milliardärs einsamem Herzen, der nichts so sehr verachtete wie das Geld und nichts so sehr liebte wie seine Erinnerungen an die Dahingeschiedene, abermals eine ungewisse, unsinnig scheinende Hoffnung aufgeflackert: die, daß Thea noch lebe, daß er sie wiederfinden würde!

Gedankenverloren befolgte er Görges’ Wunsch und aß mechanisch, was der vorsorgliche Krauske ihm auflegte.

Thea – Thea! – Immer wieder rief sein Herz in leidenschaftlichem Sehnen den einen Namen. –

Görges füllte die Rotweingläser.

Dann schrillte im Arbeitszimmer das Telephon.

„Ich werde fragen, wem es gilt,“ sagte Görges und eilte ins Nebenzimmer an den Schreibtisch, nahm den Hörer ab.

„Hier Joseph Trabner,“ meldete er sich. „Ah – Sie sind’s, Gromp. – Wie –? Ich habe nicht verstanden. – Nicht möglich!“

Das Blut schoß ihm in die Wangen.

„Es war also dieselbe Straßenbahn und genau dieselbe Zeit? – Sehen Sie, Gromp, es hat doch gelohnt. Und – wie hat’s gelohnt! Sie versprachen sich erst so wenig davon – Wiederholen Sie mir den Namen und die Wohnung. – Danke. – Nun hören Sie mal genau zu, Gromp. Sie müssen bis abends sieben Uhr festgestellt haben, ob einer der acht chinesischen Studenten mit einem Arzte Doktor Taotse, früher hier in Zehlendorf wohnhaft, nachher in Peking verstorben, verwandt ist und ob derselbe Student – es wird ein Mediziner sein – bei der Baronin in der Grunewaldvilla verkehrt oder doch zuweilen sie besucht. Die Adresse der Studenten haben Sie ja. Sparen Sie nicht mit dem Gelde, wenn es gilt, Leute auszuhorchen. Es kommt hier auf eine Handvoll Millionen nicht an. – Gut, ich verlasse mich auf Sie. Um sieben treffen wir uns im Pschorrbräu[9] in der Tauentzienstraße. – Wiedersehen.“

Er legte den Hörer weg, der geschniegelte Joseph, und lächelte ein fast glückseliges Lächeln.

Als er aber für die beiden Herren im Speisezimmer den Nachtisch auftrug, war er wieder Joseph mit dem verschlossenen Domestikengesicht.

– – – – – – – –

Der Student der Medizin Ming Taotse kam gegen halb acht Uhr abends aus der chirurgischen Klinik, wo es heute besonders interessante Operationen gegeben hatte.

Ming war wie alle seine Landsleute von einem wahren Bienenfleiß. Dieses rücksichtslose Strebertum der Ausländer auf deutschen Universitäten hatte nach dem Kriege Formen angenommen, die immer mehr den Unwillen der deutschen Studentenschaft erregten.

Ming Taotse, klein und schmächtig, sprang mit affenartig flinken Bewegungen die Treppen in dem vornehmen Mietshause empor, wo er bei einer verwitweten Frau Sanitätsrat die beiden besten Zimmer gemietet hatte und dafür anständig bezahlte, da er genügend Geld besaß. Er schloß die Flurtür auf und legte im Flur den leichten Gummimantel und den Hut ab.

Die Sanitätsrätin erschien aus der Küche.

„Zwei Herren erwarten Sie,“ erklärte sie ihrem Mieter auf englisch, denn dessen deutsche Sprachkenntnisse waren nur gering.

Das gelbliche Gesicht des jungen Chinesen veränderte sich nicht im geringsten. Und doch durchzuckte ihn ein heißer Schreck bei dieser Mitteilung.

„Was wünschen die Herren?“ fragte er kühl. „Wer sind die beiden? Bekannte von mir?“

„Nein. Sie waren noch nie hier. Der eine ist Amerikaner. Der andere – ein Detektiv.“

Das Asiatengesicht blieb gleichmütig.

„Danke,“ sagte er nachlässig und schritt der Tür des Badezimmers zu.

Die Sanitätsrätin verschwand in der Küche. Sie, die jetzt so schwer zu kämpfen hatte, um nur das Sattessen zu haben, war heute froh wie seit langem nicht. Erst war da nachmittags gegen halb sechs ein eleganter Herr bei ihr gewesen, der ihr sehr bald zwei Hunderttausendmarkscheine in die Hand gedrückt hatte. Dann jetzt der Amerikaner und der Detektiv, die ihr genaue Verhaltungsmaßregeln und – das Doppelte gegeben, dabei versprochen hatten, daß sie keinerlei Unannehmlichkeiten haben würde. Nun konnte sie von dem vielen Gelde – denn für sie war es viel Geld – Vorräte einkaufen. –

Ming Taotse hatte nur die Tür des Badezimmers geöffnet, ließ sie offen, glitt lautlos zum Garderobenständer zurück und nahm Hut und Mantel, wollte zur Flurtür.

Die Tür rechter Hand, die in sein Wohnzimmer führte und die erste neben dem Wohnungseingang war, ging plötzlich auf und Görges, äußerlich noch Joseph Trabner vertrat ihm den Weg.

„Wohin?“ fragte er ironisch in englischer Sprache. „Fliehen – nicht wahr? Der Detektiv hat Ihnen einen Schreck eingejagt, Mr. Ming – Bitte – hier hinein! Gehorchen Sie!“

Der Student war nun doch zurückgeprallt.

Görges hatte ihn schon mit der rechten Hand am Ärmel gepackt.

„Vorwärts! Keinen Widerstand!“ drohte er.

Ming gehorchte. Görges führte ihn zu einem der Plüschsessel.

Die Fenstervorhänge waren zugezogen. Die elektrische Krone brannte.

In dem anderen Sessel saß Meinart, fiebernd vor Erwartung.

Görges schloß die Tür ab und steckte den Schlüssel zu sich. Dann stellte er einen Stuhl neben den Sessel des Chinesen, nahm Platz und sagte: „Ihren Fluchtversuch sah ich voraus. Er beweist Ihr schlechtes Gewissen. Wenn Sie auch nur eine einzige Lüge jetzt bei dem Verhör aussprechen, werden Sie und Ihre sieben Freunde, alles Mediziner, verhaftet. Hüten Sie sich also! –Anderseits könnten Sie vielleicht auf Nachsicht rechnen, falls Sie rückhaltlos ehrlich sind.“

Ming saß kerzengerade da. Mantel und Hut auf den Knien. Auch jetzt waren seine Züge unbewegt. Er blieb stumm.

„Sie kennen mich von Ansehen?“ fragte Görges nun, der immer noch im Zweifel war, ob er alles das aus diesem jungen Menschen herauspressen würde, was er wohl nur von ihm erfahren konnte. Auch er befand sich in einem ähnlichen Zustand gespanntester Erwartung wie Meinart.

„Ja,“ erwiderte Ming zaudernd.

Da atmete Görges erleichtert auf.

„Sie kennen mich, weil Sie die Villa in Zehlendorf beobachtet haben, als die Handwerker in den letzten Tagen dort tätig waren? Da haben Sie mich wohl im Garten gesehen.“

„Ja.“

„Sie sind seit dem Jahre 1920 hier in Deutschland,“ fuhr Görges lebhafter fort. Er wußte jetzt: der Student hatte Angst vor der Polizei, wünschte eine friedliche Einigung. „Ihre Studien sind im Juli beendet, auch die Ihrer Freunde. Sie haben bereits Plätze für den 28. Juli auf einem Dampfer belegt, um heimzukehren. Sie und Ihre Freunde haben den geheimen Kellerraum in der Villa, den sich der türkische Pascha als Zufluchtstätte aus Furcht vor seinen politischen Gegnern anlegen ließ, als Anatomiesaal zum Sezieren und Präparieren von Leichen benutzt, die Ihnen von bestochenen Totengräbern geliefert wurden. Sie waren es, die allen Mietern des Hauses das Leben dort verleideten und sie verscheuchten. Ist es so?“

Pause. Dann ein leises „Ja.“

„Ich freue mich, daß Sie ehrlich sind, Mr. Ming. Es soll Ihr Schade nicht sein. – Durch unseren Einzug in die Villa wurden Sie jetzt vor die Frage gestellt, ob Sie auch uns verjagen sollten, nachdem Sie mich oben im Flur schon vorher betäubt und wohl aus meinen Papieren ersehen hatten, daß ich Berufsdetektiv war. Da Sie ohnehin Ende Juli Deutschland verlassen wollten, lag Ihnen nichts mehr daran, Ihren Präparierraum für sich zu behalten. Sie beschlossen, die Villa zu räumen.“

Meinart atmete nur noch stoßweise vor geradezu nervenaufpeitschender Spannung. All das war ihm ja völlig neu.

„Da Sie befürchteten, der Geheimkeller könnte entdeckt werden,“ sprach Görges ebenso sachlich weiter, „wollten Sie nicht nur Ihre anatomischen Präparate unten aus dem Schranke, sondern auch Ihre Instrumente, Flaschen, Retorten und die drei Leichen mitnehmen, die bereits zum Teil für Ihre wissenschaftlichen Studien benutzt – also zerschnitten worden waren. Die Sturmnacht gestern kam Ihnen sehr gelegen. Durch das eine Kellerfenster, dessen Gitter durchsägt ist und sich wieder einfügen läßt, gelangten Sie in den Keller und haben dann durch eine Schlauchleitung ein betäubendes neuartiges Gas in die Flure strömen lassen. Ich sank bewußtlos um, ebenso der Herr dort und die beiden Mädchen, die mir zu Hilfe eilen wollten. Sie haben dann wohl das Gas abgestellt, als Sie uns vorläufig erledigt hatten, haben uns, um den Anschein eines räuberischen Überfalles zu erwecken, ausgeplündert und die Leichen und alles andere in der Sandgrube verscharrt, wohin ich heute mittag durch meinen Wolfshund geführt wurde, obwohl Sie Ihre Spuren durch Besprengen mit Lysol für die Witterung des Tieres im Walde auszulöschen versucht hatten.“

Ming nickte, als Görges ihn fragend ansah.

„Wir haben die letzten Ereignisse nun erledigt,“ fuhr der Detektiv fort. „Jetzt kommt die Vergangenheit und die Person Ihres Großvaters, des Gesandtschaftsarztes Dr. Taotse, an die Reihe.“

Die Schlitzaugen des Chinesen weiteten sich etwas vor Überraschung.

„Sie, Mr. Ming, können nur von Ihrem Großvater das Geheimnis des Zugangs zu jenem Keller erfahren haben. Dr. Taotse wieder hat in der Villa einmal eine Dame behandelt, eine Verwandte der Baronin Rohrschütz. Ich nehme an, daß auch Dr. Taotse jenen geheimen Raum schon zu ähnlichen Zwecken benutzt hat und daß die Baronin ihm und später auch Ihnen dies stillschweigend gestatten mußte, weil bei der Erkrankung jener jungen Dame Dinge mitspielten die Ihrem Großvater eine gewisse Macht über die Baronin gaben. – Äußern Sie sich hierzu.“

Meinart beugte sich weit vor, hielt den Atem an.

Der Chinese lächelte schlau. „Versprechen Sie mir, die Polizei aus dem Spiele zu lassen, und ich werde reden. Anders nicht.“

„Wir versprechen es!“ rief Meinart da. „Ich bin der Gatte jener jungen Dame, Mr. Ming. Ich habe ein Anrecht darauf –“

Der Student hatte eine Bewegung der Überraschung gemacht.

„Sie – Sie sind Mr. Meinart?“ sagte er zweifelnd.

„Ich bin es. – Sprechen Sie!“

Ming blickte Meinart starr an. „Wenn ich das gewußt hätte!“ murmelte er. Und lauter: „Ich weiß jetzt, daß Sie mich und meine Freunde schonen werden. Ihre Gattin ist meinem Großvater ja zu Dank verpflichtet.“

Meinart überhörte in seiner Aufregung das „ist verpflichtet“.

Görges mischte sich wieder ein. „Kennen Sie auch die Gründe, Mr. Ming, die Frau Thea Meinart bewogen, in das Haus ihrer Tante zurückzukehren?“

„Ja. – Lassen Sie mich erzählen – Die Baronin hatte kaum erfahren, daß jener Dampfer untergegangen war, auf dem Sie sich befunden hatten, Mr. Meinart, als sie Ihre Gattin aufsuchte und ihr Briefe von Ihrer Hand vorlegte, aus denen zu ersehen war, daß Sie noch während Ihrer Ehe für Ihre frühere Geliebte und deren Kind gesorgt und mit dieser auch wiederholt heimlich zusammengekommen waren –“

Meinart sprang auf. Er war totenblaß. „Ah – diese – diese Infamie!“ keuchte er. „Diese – Gemeinheit! Das Mädchen war die Geliebte meines 1913 verstorbenen Freundes Rotter, Karl Rotter, dem ich auf dem Totenbett versprochen hatte, für Helene und das Kind zu sorgen. Ich habe es auch getan. Thea mochte ich davon nichts mitteilen. Rotter hatte von mir strengstes Stillschweigen verlangt. Er war mein einziger Freund. Die Briefe, die ich Helene schrieb, waren aber doch ganz kurz –“

„Gerade deshalb ließen sie sich vielleicht gegen Sie verwerten,“ warf Görges ein. „Beruhigen Sie sich jetzt! Nehmen Sie wieder Platz. Sie werden noch mehr hören –“ –

Ming fuhr fort: „Ihre Gattin glaubte von Ihnen schändlich betrogen worden zu sein. In der Zerrissenheit ihrer Seele, nun auch Ihr Andenken befleckt[10] zu sehen, ließ sie sich bewegen, wieder zu ihrer Tante zu ziehen, zumal sie ja ihre Niederkunft erwartete –“

Meinart stieß einen gurgelnden Schrei aus, so daß Görges rasch neben ihn trat und ihm stumm die Hand drückte.

„Die Baronin wollte aus Haß gegen Sie, Mr. Meinart, die Tatsache unbedingt geheim halten, daß Ihre Gattin ein Kind von Ihnen unter dem Herzen trug. Kaum hatte sie Ihre Gattin wieder in die Villa gelockt, als sie auch schon anfing, sie äußerst lieblos zu behandeln. Es kam zu erregten Szenen, und bei einer dieser Aussprachen ließ die Baronin sich von Haß und Wut übermannen und versetzte Ihrer Gattin einen Stoß, so daß diese hintenüberfiel und sich am Kopfe ziemlich schwer verletzte. Infolge der Körpererschütterung erfolgte eine vorzeitige Entbindung. Mein Großvater, der die Baronin bereits behandelt hatte, wurde gerufen. Das Kind war lebensfähig und sogar recht kräftig für ein Achtmonatskind. Ihre Gattin vertraute sich meinem Großvater an. Sie lebte in beständiger Angst, daß die Baronin ihr das Kind nehmen oder es – beseitigen könnte. Säuglinge sind so leicht zu –“

Wieder schrie Meinart auf. „Wo – wo ist das Kind?“

Görges gab Ming hinter Meinarts Rücken schnell ein warnendes Zeichen. Der Student verstand.

„Ich weiß es nicht, Mr. Meinart. Es lebt jedenfalls. – Ihre Gattin erkrankte dann aus steter Angst um ihr Kind am zweiten Tage nach der Geburt sehr schwer. Inzwischen hatte auch mein Großvater aus dem ganzen Verhalten der Baronin und deren Verwandtschaft die Überzeugung gewonnen, daß diese Angst berechtigt war. Zudem hatte Ihre Gattin ihm auch mitgeteilt, daß sie wie eine Gefangene bewacht worden sei, nachdem sie die Villa wieder betreten hatte, und daß die Baronin durch eine unvorsichtige Äußerung halb und halb zugegeben habe, jene Briefe seien durchaus unverfänglich und an eine Person gerichtet gewesen, die zu Ihnen durchaus nicht in fragwürdigen Beziehungen gestanden hätte. Jedenfalls faßte Doktor Taotse den Entschluß, Ihre Gattin für alle Zeit von den Nachstellungen dieser herzlosen Verwandtschaft zu befreien. Er gab ihr ein Pulver in einem Achatfläschchen, von dem sie heimlich bestimmte Mengen nehmen sollte. Es war das ein Mittel, das einen starrkrampfähnlichen Zustand erzeugte –“

Meinart schnellte hoch, stützte sich mit den Händen auf den Tisch. Er zitterte am ganzen Körper.

Ming sprach rasch weiter:

„Da Ihre Gattin das Geheimnis des Kellers kannte, fiel es meinem Großvater nicht schwer, nach dem angeblichen Tode der Kranken und nach deren Einsargung die noch Lebende nachts in den Keller zu schaffen – vorläufig, wobei ihm zwei Landsleute halfen. So wurde in dem Sarge – eine andere Leiche eingeäschert, während Ihre Gattin sich längst in Berlin bei einem Freunde Doktor Taotses befand, der auch von der Baronin das Kind sich hatte ausliefern lassen, da er es irgendwo bei Fremden unterbringen wollte. Die Geburt des Kindes war der Behörde nicht gemeldet worden. Mein Großvater, der die Baronin nun völlig in der Hand hatte, da sie sich doch Ihrer Gattin gegenüber einer schweren Körperverletzung schuldig ge–“

Endlich hatte Meinart da die Gewalt über seine Stimme wiedergewonnen.

„Meine – meine Frau lebt also noch?“ rief er Ming fast kreischend zu.

Görges legte ihm den Arm um die Schulter.

„Lieber Meinart – sie lebt! Heute hat mein Kollege Gromp, der die Straßenbahnen der Linie 6 absuchen sollte, sie ermittelt –“

Mit einem schluchzenden Schrei sank Edgar Meinart Görges an die Brust.

Er weinte, beruhigte sich nur schwer, bis Görges flüsterte:

„Ihre Gattin ist vorbereitet. Die Wiedersehensfreude wird ihr nicht schaden. Mein Kollege ist zu ihr gefahren Sie wohnt Mauerstraße 114 im Gartenhaus – unter dem Namen Thea Menke, ist Buchhalterin einer Fabrik in Moabit.“

Meinart trocknete die Tränen, preßte Görges Hand.

„Ich danke Ihnen – ich danke Ihnen!“

Er stürmte davon.

Ein Auto brachte ihn nach der Mauerstraße.

Und dann – dann hielt er Weib und Kind, einen prächtigen Jungen, in den Armen.

– – – – – – – –

Rentner Krauske und der Terrier standen drei Tage später vormittags wieder einmal vor der leeren Villa.

Sie war nicht mehr leer.

Das Glück war dort eingezogen. –

Ein Fenster flog oben auf. Zwei Köpfe erschienen – das Ehepaar Meinart.

„Kommen Sie doch herauf, lieber Krauske,“ rief Meinart strahlend. „Thea will Ihnen danken. Sie haben ja auch das Ihrige zu unserer Seligkeit beigetragen.“

Und als Krauske dann heimging, hatte er einen Scheck über eine märchenhafte Summe in der Tasche, sagte immer wieder gerührt und glückstrahlend zu seinem Lumperl:

„Ich wußte ja, daß alles gut enden würde! Der Regenbogen – der Regenbogen! Der Himmel lügt nicht!“

Ende.

 

 

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Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Zehlendort“.
  2. In der Vorlage steht: „Her“.
  3. In der Vorlage steht: „stricktes“.
  4. In der Vorlage steht: „drinenn“.
  5. In der Vorlage steht: „Treppenhalses“.
  6. Der Originaltext in der Vorlage lautet:
    Du bleibst hier,“ sagte Görges zu Boltz. „Herr Krauske begleitet mich. Lumperl können wir nicht brauchen. Boltz mag ihn bei sich behalten.“
    Der letzte Satz ergibt in diesem Zusammenhang keinen Sinn, da Görges ja mit Boltz spricht. Es ist nur dann sinnvoll, wenn die letzten beiden Sätze direkt an Krauske gerichtet werden. Daher wurde hier ein zusätzlicher Text eingefügt.
  7. In der Vorlage steht: „hörte“.
  8. In der Vorlage steht: „stammlete“.
  9. In der Vorlage steht: „Pschorbräu“.
  10. In der Vorlage steht: „beflekt“.