Erlebnisse einsamer Menschen
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.
W. Belka.
Die friedliche Stille eines warmen Maiabends lag über dem kleinen märkischen Dorfe Steinholz. Am westlichen Horizont flammte der Himmel noch in feuriger Glut als einen neuen klaren Frühlingstag verheißender Abschiedsgruß der Sonne.
Am Nordausgang des Dorfes lag rechter Hand von der Chaussee als letztes ein peinlich sauberes Anwesen, bestehend aus einstöckigem Wohnhaus, geräumigem Stall und zwei Morgen Land dahinter. Es gehörte seit zehn Jahren dem aus Berlin zugewanderten Tischlermeister Bölke, einem wortkargen, ernsten, ja fast finsteren Manne, mit dem niemand so recht warm werden konnte, der aber auch keinen Feind hatte. Nein, die meisten Steinholzer sprachen von Bölke mit größter Achtung. Man konnte ihm nichts vorwerfen, gar nichts, und daß er bei sich zu Hause allzu streng den Herrn und Gebieter spielte, ging ja niemand etwas an.
Hinter dem Stall hatte Friedrich Bölke einen Obst- und Gemüsegarten angelegt. Er war sein Stolz. So gute Äpfel und Birnen, wie der Dorftischler sie zog, gab es so bald nicht wieder.
Anna Bölke, ein schlankes, kräftiges Mädchen von neunzehn Jahren, benutzte die Abendstunde zum Gießen der Erdbeerbeete. Mit ihren dunklen, großen Augen, dem tiefbraunen, vollen Haar und der schmalen geraden Nase über leuchtend roten Lippen glich vollständig ihrer Mutter, die noch heute als stattliche Erscheinung manchen Blick auf sich zog. Leicht und gewandt handhabte sie die Gießkanne, füllte sie stets von neuem unter der Pumpe, verrichtete freudig ihre Arbeit in der Gewißheit, nachher vom Vater, dessen Liebling sie war, ein paar Worte der Anerkennung zu hören.
Abermals kam sie mit der vollen Gießkanne den Hauptweg entlang. Da trat plötzlich hinter einem Fliedergebüsch ein junger, städtisch gekleideter Mensch hervor. Es war Franz Kriegel, Bölkes Geselle, den er in diesem Frühjahr hatte einstellen müssen, weil er allein die Arbeit nicht schaffen konnte, die ihm ein Berliner Unternehmer übertragen, der in Steinholz ein paar Sommervillen errichten ließ.
Kriegel grüßte Anna, als hätte er eine große Dame vor sich. Er liebte es, in Kleidung und Benehmen stets mehr den Künstler als den Handwerker hervorzukehren, nannte sich auch stets nur „Kunsttischler“.
Anna blieb stehen, fragte sehr kühl nach seinen Wünschen. Die ebenso zudringliche wie überhöfliche Art Kriegels hatte ihr diesen Menschen längst unleidlich gemacht.
Auch jetzt spielte Franz Kriegel wieder den eifrigen Bewerber, erging sich in allerlei Schmeicheleien und sagte dann ganz unvermittelt: „Fräulein Anna, so darf das Verhältnis zwischen uns nicht länger bleiben. Ich ertrage es nicht, daß Sie mir ausweichen, wo Sie nur können. Ich liebe Sie, Anna, und ich möchte Sie gern zum Weibe haben.“ Sein blasses, mageres Gesicht mit den unruhigen Augen verriet deutlich seine Erregung, und seine Hand, die nun nach Annas Rechter griff, zitterte leicht.
Das Mädchen spürte kaum diese Berührung, als sie auch schon ihre Finger aus den seinen riß, zurücktrat und mit eisiger Ruhe erklärte: „Ich denke, ich habe Ihnen oft genug zu verstehen gegeben, daß Sie bei mir nichts zu hoffen haben. Ich werde nie Ihre Frau werden – niemals! Und jetzt rate ich Ihnen, den Garten zu verlassen. Sie wissen ganz gut, Vater will es nicht, daß Sie sich abends noch bei uns einfinden.“
Sie ergriff die Gießkanne und schritt an Kriegel vorbei tiefer in den Garten hinein.
Der junge Geselle mit dem blassen, verlebten Gesicht schaute ihr jetzt mit haßerfüllten Augen nach. Über seine Lippen kamen im Selbstgespräch drohende, von ohnmächtiger Wut zeugende Worte. Er hatte jetzt eingesehen, daß er dieses schöne, junge Weib, die er auf seine Weise liebte, trotzdem sie ihm sicherlich sehr bald mit ihrer strengen Keuschheit langweilig geworden wäre, nie erringen würde. Er, der sich für einen unwiderstehlichen Courmacher hielt, nahm diese Abweisung als persönliche Schmach hin. Seine Seele, in der nur schlechte Triebe schlummerten, war jetzt nichts als ein Tummelplatz finsterer Rachegedanken.
Die kurze Aussprache zwischen Anna und Kriegel war von Fritz Bölke, dem fünfzehnjährigen Bruder des Mädchens, belauscht worden. Fritz, der gerade in einem nahen Kieferngehölz Schlingen für wilde Kaninchen gelegt hatte, mochte ebenfalls den stets so überschlau und so vornehm tuenden Gesellen nicht leiden. – Er war ein mittelgroßer, aber sehr breitschultriger Junge von erstaunlichen Körperkräften und recht ungezügeltem Charakter, der nichts so sehr haßte, als in des Vaters Werkstatt mit Hobel und Säge hantieren zu müssen. In seinem Herzen wohnte eine stille Sehnsucht nach fremden Ländern, nach Abenteuern und Gefahren, und seine schönsten Stunden waren die, wenn er mit irgend einem spannenden Reisewerk in dem Kieferngehölz in der Sonne liegen und in Gedanken all das miterleben durfte, was kühne Forscher in fernen Erdteilen an aufregenden Begebnissen durchzumachen hatten.
Fritz war Kriegel nachgeschlichen und so Zeuge der Ablehnung der Bewerbung geworben. Ebenso hatte er auch des Gesellen haßverzerrtes Gesicht beobachtet und einige von dessen leise gemurmelten Worten verstanden.
Er folgte nun der Schwester, sagte ihr, daß sie nur recht daran getan hätte, diesen aufgeblasenen Menschen so kurz abzufertigen und fügte hinzu: „Ich begreife nicht, daß der Vater auf Kriegel so große Stücke hält. Vater ist freilich kein guter Menschenkenner. Mich nennt er nur Tagedieb, Faulpelz und dergleichen, obwohl er doch genau weiß, daß für mich nur ein Beruf gepaßt hätte: der des Forstbeamten. Ich liebe die freie Natur über alles, und –“
Er verstummte. Tischlermeister Bölke tauchte auf, trat zu seinen Kindern und fuhr den Jungen sofort grob an: „Hast wohl wieder Schlingen gestellt, Bengel ungehorsamer! Wirst noch ins Loch kommen dafür! Scher’ Dich ins Bett. Morgen früh um vier geht’s zur Stadt, Einkäufe machen. Muß auch die Versicherungsprämie endlich bezahlen, trotzdem ’s ein Unsinn ist! Wo’s zehn Jahre nicht gebrannt hat, wird’s auch in den nächsten zehn nicht brennen! Wenn der Kriegel mir heut’ nachmittag nicht so viel in den Ohren gelegen hätte, doch ja nicht so leichtsinnig zu sein, würd’ ich die Versicherung am liebsten kündigen –“
Fritz sagte Gute Nacht und schlich davon. Er und der Vater, dem er doch äußerlich mit seinem runden Gesicht, der kurzen Stupsnase und dem flachsblonden Haar so ähnlich sah, würden sich nie verstehen, nein, niemals! Er seufzte bekümmert. Am liebsten hätte er’s dem älteren Bruder gleichgetan, der als Sechzehnjähriger bereits davongelaufen war und von dem man nie mehr etwas gehört hatte. Ja, den Willi, den hatte nur der Vater aus dem Hause getrieben mit seiner erbarmungslosen, jeder Einsicht entbehrenden Strenge. Über zehn Jahre war der Bruder nun bereits verschollen. Und damals hatte der Vater Berlin den Rücken gekehrt und war in die Einsamkeit nach Steinholz gezogen. –
Drei Stunden später. – Die Abendröte hatte getrogen. Der Himmel war jetzt mit Wolken bedeckt, und ein starker Wind fuhr mit kurzen Stößen über das flache Land und das kleine Dorf hin. Tiefe Dunkelheit lagerte über der Erde. Und aus dieser drückenden Finsternis löste sich jetzt vom Gartenzaune Meister Bölkes eine Gestalt los, huschte um den Stall herum und begann mit einer Zange die Krampe des Schlosses der Stalltür geschickt loszuwuchten. Nun schlüpfte diese unheimlich lautlos sich bewegende Gestalt in das Fachwerkgebäude hinein; ein feiner Lichtstrahl einer Taschenlampe zuckte auf; die auf den Heuboden führende Leiter knarrte unter der Last eines Menschen, der gleich darauf eine dünne Wachskerze brennend so in das Heu stellte, daß nach vielleicht fünf Minuten das Flämmchen die trockenen Halme erfassen mußte. –
Fritz hatte in seiner Bodenkammer im Wohnhause bei einer kleinen Petroleumlaterne noch gelesen, hatte sich so in sein Buch vertieft, daß er alles ringsum über der „Goldkarawane“[1] vergaß. Dann aber vernahm er plötzlich die dumpfen Töne des Feuerhornes des Nachtwächters aus nächster Nähe, schaute auf, merkte, daß es in seiner Kammer so merkwürdig heiß war, hörte nun auch ein verdächtiges Knistern wie von brennendem Holze, riß den Vorhang seines nach der Chaussee hinausgehenden Fensterchens beiseite, sah ringsum Bäume und Felder taghell erleuchtet, war zunächst wie erstarrt vor Schreck, jagte dann aber in langen Sprüngen die Treppe hinunter, trommelte an die Türen der Schlafstuben der Eltern und Annas, rief ihnen gellend zu: „Der Stall und unser Dach brennen!“ und versuchte durch die Hintertür den Hof zu betreten, um aus dem Stalle wenigstens seinen Liebling, die Ziege Meckerle, zu retten.
Eine sengende Hitzewelle schlug ihm entgegen. Auch das Holz der Tür knisterte bereits verdächtig.
Und der erbarmungslose Weststurm trug weiter unausgesetzt den Funkenregen und die Glut des nur noch ein einziges Feuermeer bildenden Stalles auf das Wohnhaus zu, dessen Dachstuhl bereits gleichfalls hochlohte.
Die Dorfspritze ratterte herbei. Aber was half ihr dünner Strahl gegen das sturmgepeitschte, verheerende Element!
Im Nu war auch das Wohnhaus eine einzige Riesenfackel. Nichts rettete die Familie Bölke als das nackte Leben. – Meister Bölke saß in der Nähe völlig gebrochen im Chausseegraben, den Kopf in die Hände vergraben. Immer wieder dachte er dasselbe, immer wieder: die Versicherungsprämie war bereits vor zwei Wochen fällig gewesen. Nun erhielt er nichts ersetzt – nichts! Und – auch seine viertausend Mark Erspartes, die er in einem Holzkästchen in einem Versteck unter den Dielen verwahrt hatte, waren dahin – waren mitverbrannt. Ein Bettler war er nun – einer der ärmsten der Armen. – Er stöhnte verzweifelt auf. Und unwillkürlich eilten seine Gedanken zehn Jahre zurück. Da hatte er den Willi, nur weil der Junge abermals den Wunsch äußerte, Seemann werden zu dürfen, so unbarmherzig geschlagen. Und am anderen Morgen war der Willi verschwunden – auf Nimmerwiedersehen. Ob dies furchtbare Unglück heute nun vielleicht die Strafe dafür war, daß er gerade seine beiden Jungen stets so hart behandelt hatte?!
Und wieder seufzte Meister Bölke in unbeschreiblichem Jammer tief auf.
Da – da strich eine Hand über sein wirres Haar, das der Sturm hin und her zauste. Und eine leise Stimme flüsterte:
„Vater – nicht so traurig sein! Nicht alles haben wir verloren. Die Leute wollten mich ja nicht mehr hineinlassen in die brennende Stube. Aber ich hab’ mir eine nasse Decke umgenommen, und so hab’ ich – das Holzkästchen mit dem Gelde und den Briefen des Onkels August glücklich herausgeholt. Nur die Hände und die Füße sind ein bißchen angesengt, Vater. Hier ist das Kästchen. Nimm’s doch an Dich. Ich habe ja längst gewußt, wo das Versteck war, das nicht mal die Mutter kannte –“
Meister Bölke begann zu weinen – seit vielen, vielen Jahren zum erstenmal wieder. Und dann zog er seinen Jüngsten an seine Brust, küßte ihn, schluchzte:
„Bist – doch – ein braver Kerl – ein tapferer Kerl –“
Und Fritz streichelte wieder des Vaters in wenigen Stunden fast weiß gewordenes Haar und sagte eindringlichen Tones:
„Mut – nur Mut! Ich habe ja auch Onkel Augusts Briefe alle gerettet mit dem Kästchen. Und er hat uns ja so oft geschrieben, wir sollen auch nach Bolivia kommen, wo’s ihm doch als Schlosser so gut geht. Hier können wir mit Deinem Ersparten nicht viel anfangen, Vater. Aber drüben in Südamerika, – denk’ mal, da kriegt man Siedlungsland ganz umsonst zugewiesen, da fehlt es so an wirklich arbeitsamen Farmern – Vater – wir gehen nach Bolivia! Und wenn wir dort reich geworden, kehren wir in die deutsche Heimat zurück –“
Meister Bölke hielt noch immer die linke Hand seines Jüngsten fest, drückte sie nun, stand auf, sagte: „Junge, komm’ zur Mutter. Sie wird sich freuen, ihren Bruder drüben in Amerika wiedersehen zu können, denn – wir werden nun in der Fremde unser Glück versuchen!“
– – – – – – – –
Der Nordzipfel der Republik Bolivia schiebt sich als spitzer Winkel zwischen die Nachbarstaaten Peru und Brasilien ein. Dort, wo der Inambari-Fluß etwa die Grundlinie dieses als ein rechtwinkliges Dreieck anzusehenden Nordzipfels bildet, findet man ungefähr in der Mitte dieser Grundlinie das Städtchen Karmen[2]. Und wieder begegnen wir zwei Monate später der Familie Bölke abermals, ebenso auch dem eitlen Franz Kriegel, der es wirklich verstanden hatte, durch seine Teilnahme und Hilfsbereitschaft selbst das Mißtrauen Fritz Bölkes fast ganz zu überwinden, ebenso wie er durch sein zurückhaltendes Benehmen der schönen Anna gegenüber den Glauben in ihr erweckt hatte, er betrachte sie jetzt nur noch als seine gute Freundin. Meister Bölke selbst war froh gewesen, als Kriegel erklärt hatte, er wolle sich den Auswanderern anschließen. Der Kunsttischler besaß ja tatsächlich praktisches Verständnis für alles, konnte sehr fleißig sein und noch besser – heucheln. Gerade die Ablehnung seiner Werbung hatte seine erst nur mehr oberflächliche Neigung für Anna in eine verzehrende Leidenschaft verwandelt, und zäh und heimlich verfolgte er nun seine weiteren Absichten in der festen Überzeugung, schließlich doch zum Ziel zu gelangen.
Hier in dem entlegenen Städtchen hatte Frau Bölke nun auch ihren Bruder August Schwend in die Arme schließen können, der inzwischen seine Schlosserwerkstatt zu einer kleinen Fabrik für allerlei Eisenwaren ausgestaltet hatte. Aber auch Anna war hier ihrem Jugendgespielen Peter Streit nach fünf Jahren wieder gegenübergetreten, und einem scharfsinnigen Beobachter hätten Annas leuchtende Augen und frohes Lächeln beim Anblick des zum kräftigen Manne herangereiften einstigen Dorfgenossen unschwer verraten, wem ihr Herz gehörte. Peter Streit war damals nur deshalb gerade nach Karmen gegangen, weil Meister Bölke im Dorfe so viel von den Briefen seines Schwagers Schwend erzählt und weil der junge Streit als armer Tagelöhnersohn wenig Aussicht zu haben geglaubt hatte, die hübsche Anna je heimführen zu können, wenn er nicht in der Fremde es bald zu Wohlstand brachte. Vor kurzem nun war er Kompagnon August Schwends geworden, und gern hätte er sich nun sofort den Auswanderern angeschlossen, wenn er eben nicht gefürchtet hätte, seinen Gönner und Geschäftsteilhaber Schwend dadurch zu verletzen. –
Am 3. September konnte sich dann endlich der aus zwei mit Maultieren bespannten großen Wagen bestehende Auswandererzug von Karmen aus nach Norden in Bewegung setzen. Der Regierungsvertreter in Karmen hatte Meister Bölke die Auswahl des Siedlungslandes am Purus-Fluß völlig überlassen, hatte ihn aber gleichzeitig vor den nördlich in der Savanne hausenden Canamaris-Indianern gewarnt, die zuweilen als noch völlig wild lebende Rothäute einsame Farmen überfielen und dann schnell wieder in den endlosen Steppen nach der brasilianischen Grenze hin verschwanden.
Nun – Meister Bölke war mit allem gut versehen, auch mit Waffen. Und er zweifelte nicht, sich mit den Canamaris durch kleine Geschenke bald so weit anfreunden zu können, daß sie ihn völlig in Ruhe ließen.
Nach herzlichem Abschied von August Schwend und Peter Streit, die den Landsleuten ihren baldigen Besuch zusagten, lenkten die beiden Wagen in den lediglich aus ein paar Wagenspuren bestehenden Weg ein, der nordwärts führte. Eine Reise von etwa zwei Wochen lag nun noch vor den Auswanderern, ehe man den Purus-Fluß mit den schweren Lastgefährten erreichen würde. Außer den beiden Frauen, die im vordersten Wagen gleichzeitig wohnten, waren die sechs männlichen Begleiter – denn Bölke hatte noch einen Neger und zwei landeskundige Mestizen als Arbeiter angeworben – sämtlich beritten. Freilich – auch ans Reiten muß man sich erst gewöhnen. Es will wie alles gelernt sein. Das merkte auch Fritz sehr bald, der sich eingebildet hatte, aufs Pferd steigen und drauf sitzen bleiben wäre eine Kleinigkeit. Bereits am dritten Tage hatte er jedoch durch den Neger, der den poetischen und kriegerischen Namen Achilles sich zugelegt hatte und der das Deutsche leidlich beherrschte, so viel von der edlen Reitkunst profitiert, daß er mit seinem Braunen ewigen Frieden schloß und nie mehr beim Nehmen eines Hindernisses aus dem Sattel flog.
Überhaupt – hier war Fritz so recht in seinem Element! Seine heißeste Sehnsucht, einst auf dem Rücken eines flinken Pferdes, Revolver und Messer im Gürtel, die Büchse am Sattelknopf, einsame Steppen durchstreifen zu dürfen, war in Erfüllung gegangen. An der Seite des Negers, der bald sein bester Freund wurde, eilte er den Wagen stets weit voraus, suchte den besten Weg aus, die besten Lagerplätze, sorgte durch seine Büchse immer für frisches Wild und zeigte überhaupt eine Umsicht und Geschicklichkeit, daß Vater Bölke von Tag zu Tag mehr erkannte, welch brauchbaren Gehilfen sein Jüngster gerade jetzt in dieser Einöde der endlosen Savanne abgab.
Acht Tage waren die Auswanderer nun unterwegs. Weil man sich jetzt noch im bolivianischen Winter, das heißt der Periode der geringsten Niederschläge befand, spannte sich beständig ein blauer Himmel über den fruchtbaren Tälern, den dichten Wäldern und den stellenweise von mannshohem Grase bestandenen Savannen aus. Kein Unfall, nichts trübte die frohe Zuversicht der Deutschen, die sich hier fernab von aller Kultur eine neue Heimat schaffen wollten.
Am neunten Tage kam man an der letzten größeren Hazienda vorüber, die einem Spanier gehörte, der hier die Zucht des einheimischen Vikuna und Alpaka (zwei kleinere Spielarten des Lamas[3], ihrer Wolle wegen sehr geschätzt) im großen betrieb. Nun gab es auch nicht eine einzelne Wagenspur mehr, nun mußte Vater Bölke zusehen, daß er sich lediglich nach einer Karte zurechtfand.
Die endlosen Viehhürden der Hazienda mit ihren Tausenden von wolleliefernden Insassen verschwanden am Horizont. Jetzt war es mehr als vordem nötig, daß stets jemand den Wagen vorausritt und dafür sorgte, rechtzeitig auf größere, vielleicht weite Umwege erfordernde Hindernisse aufmerksam zu machen. Fritz und Achilles entfernten sich daher auch oft auf mehrere Kilometer von den Wagen, die ja nur ihrer Fährte zu folgen brauchten.
Es war am zehnten Reisetage kurz nach dem Aufbruch von dem letzten Lagerplatz, als der Neger, ein bereits grauköpfiger Mann mit einem wahren Stiernacken, seinen jungen Gefährten auf die Spuren einiger zwanzig Reiter aufmerksam machte, die, von Südost herkommend, plötzlich nach Norden abgeschwenkt waren. Die Fährte war noch frisch. Achilles schätzte ihr Alter auf kaum zwei Stunden. Er, der einst diese Gegend mit einem Trupp Goldsucher durchstreift hatte – Bolivias Hauptreichtum besteht ja in der Fülle von Gold- und Silbererzen, die die Erde birgt –, wußte sich nun zu erinnern, daß nordwärts am Acre-Flusse eine Farm lag, die einen Österreicher zum Besitzer hatte, der gleichzeitig auch aus dem Flußsande die spärlich vorkommenden Goldkörner auswusch. – Er machte auch kein Hehl daraus, wie sehr ihn diese Reiterschar beunruhige, in denen er entweder Canamaris- oder die noch kriegerischen Mojos-Indianer vermutete.
Die Rothäute, die Fritz bisher zu Gesicht bekommen hatte, waren für ihn, der an die Delawaren und Huronen aus dem Lederstrumpf gedacht, eine böse Enttäuschung gewesen. Allerdings waren es sämtlich halbzivilisierte Rote gewesen, deren Faulheit, Trunksucht und Unsauberkeit noch die der anderen Bewohner Bolivias, zumeist Mischlinge, übertraf. Nun aber sollte er sehr bald die Indianer Südamerikas so kennen lernen, wie sein abenteuerlustiges Herz sie sich wünschte.
Achilles hatte seinem Pferde die Sporen gegeben und jagte auf der Fährte weiter. Diese durchquerte einen lichten Wald von Lorbeerbäumen und riesigen Palmen und lenkte in ein breites Tal ein, durch das ein Fluß mit steinigen Ufern sich hindurchschlängelte. Der Wind kam von vorn und trug den beiden Reitern nun plötzlich den Schall mehrerer Schüsse entgegen. Der Neger zügelte sofort seinen hochbeinigen Rappen, machte ein sehr bedenkliches Gesicht und erklärte, er hielte es nicht für ausgeschlossen, daß die Roten die Farm des Österreichers überfallen hätten. Man täte gut, sich im Bogen von Osten her der Stelle zu nähern, wo noch immer einzelne Schüsse ertönten.
Zehn Minuten später lagen Achilles und Fritz dicht nebeneinander in einem Gebüsch am Rande eines Abhanges. Unter ihnen, etwa hundert Meter entfernt, befanden sich die Gebäude der kleinen Farm. Aus den Luken des Daches des Wohnhauses blitzte es von Zeit zu Zeit noch immer nach einem Gestrüpp hin auf, in dem offenbar die Angreifer steckten.
Der Neger ließ Fritz nun hier zurück, um noch schleunigst einen der Mestizen zur Hilfe herbeizuholen. Er meinte, daß man zu dreien die Roten wohl aus ihrem Versteck vertreiben könne. Er warnte Fritz noch, ja nicht etwa auf eigene Faust vorzugehen, da die Indianer offenbar ebenfalls Gewehre, wenn auch nur Vorderlader dem Klange nach, besäßen.
Fritz schlug in seinem Versteck das Herz bis zum Hals hinauf. Kein Wunder! War er hier doch Zeuge einer jener Szenen, wie er sie so oft mit fieberheißen Wangen daheim in Steinholz in Indianergeschichten gefunden hatte. Fester umklammerte er seine Doppelbüchse, deren Kugelläufe er nun schon genügend erprobt hatte, um seines Schusses völlig sicher zu sein.
Achilles war dann kaum zehn Minuten unterwegs, als das Feuer aus den Dachluken des Blockhauses dort unten lebhafter wurde. Nun gewahrte Fritz auch vier Rothäute, die im Grase wie die Schlangen auf einen Stapel gefällter Bäume zukrochen, von wo aus sie gut gedeckt die Verteidiger unter Feuer nehmen konnten. Weiter erblickte er aber auch dicht vor der Tür des Blockhauses die regungslose Gestalt eines Mannes, der dem Anzuge nach wohl einer der Arbeiter des Farmers sein mußte. Es war also bereits Blut geflossen, und diese Tatsache zerstreute des Knaben letzte Bedenken, von seiner Waffe Gebrauch zu machen. Er zielte auf den vordersten Roten, der den Holzstoß beinahe schon erreicht hatte, hielt aber auf die Beine, drückte ab – zum ersten Mal in seinem Leben auf einen Menschen.
Auf den Schuß hin schnellte der Rote empor, sank dann wieder zurück und duckte sich nun ganz tief in das dichte Gras. Die anderen drei blieben gleichfalls regungslos liegen. Trotzdem konnte Fritz ihre Gestalten undeutlich erkennen. Nachdem er eine neue Patrone in den Lauf geschoben hatte, zielte er auf den nächsten der Indianer. Kaum hatte dieser den Treffer durch einen Sprung in die Höhe angezeigt, als die beiden bisher unverwundeten in langen Sätzen nach dem Gestrüpp zurückjagten. Fritz jedoch, den nun bereits eine gewisse Kampfesfreude gepackt hatte, brachte noch einen von diesen zu Fall, worauf in dem Dickicht gleichzeitig mehrere Schüsse nach des Jungen Versteck abgegeben wurden, deren Kugeln freilich weit daneben gingen.
Dann erscholl von der Südseite des Tales her das gellende Geschrei des Negers, das Fritz nur zu gut kannte. Die Rothäute, die ihre Sache nun verloren gaben, schlüpften jetzt einzeln nach dem Fluß hinab, durchschwammen ihn und verschwanden drüben im Walde. Achilles und der Mestize Tejida, ein sehr mutiger, noch junger Bursche, verfolgten sie noch eine Strecke, kehrten dann aber ebenfalls nach der Farm zurück, wo inzwischen auch die beiden Wagen des Zuges eingetroffen waren.
Von den Angreifern – es waren Canamaris – hatten zwei den Überfall mit dem Leben bezahlt, während vier verwundet waren. Von diesen wieder hatte gerade der eine, den Fritz als ersten niedergestreckt hatte, eine Kugel durch den rechten Oberschenkel erhalten, wobei der Knochen mit durchschlagen war. – Der Österreicher, ein älterer Mann namens Rüdiger, der hier mit Frau, zwei Söhnen und zwei Töchtern seit acht Jahren hauste, erklärte dann, nachdem er den Deutschen herzlich für die rechtzeitige Hilfeleistung gedankt hatte, er würde die Verwundeten leidlich gesund pflegen und nachher wieder fortschicken. Er wolle nicht unnötig die Rache der Canamaris heraufbeschwören, die vielleicht von einem abermaligen Überfall absehen würden, wenn er ihre Stammesgenossen gut behandele.
Meister Bölke lobte diesen Entschluß, war im übrigen aber sehr ungehalten über seines Jüngsten vorschnelles Eingreifen in den Kampf. Um nun auch seinerseits etwas für die gefangenen Rothäute zu tun, entschloß er sich, den am schwersten verwundeten Indianer, einen noch ganz jungen Burschen, selbst in Pflege zu nehmen. Es wurde also für diesen im zweiten Wagen ein Lager hergerichtet, und Frau Bölke, die einiges von Wundbehandlung verstand, sorgte dann für den Canamaris in geradezu mütterlicher Weise.
Fünf Tage drauf hatten die Auswanderer das Ufer des Purus erreicht. Es kam nun darauf an, eine geeignete Stelle für die Niederlassung zu wählen. Auch hierbei bewies Fritz abermals eine weit über sein Alter hinausgehende Umsicht. Inzwischen hatte er sich mit dem Vater wieder vollkommen ausgesöhnt. – Nördlich des Lagerplatzes, den man zunächst in einem Tale bezogen hatte, fand er nämlich ein anderes, noch flacheres und weit fruchtbareres[4] Tal, das alle Vorteile bot, die man nur wünschen konnte. Ganz besonders machte Fritz den Vater aber auf die Wasserfälle aufmerksam, die der etwa fünfzig Meter breite Fluß hier bildete. Inmitten der gut acht Meter mit starkem Getöse herabstürzenden Wassermassen erhob sich ein viereckiger, turmähnlicher Felsen, dessen glatte Plattform ein Quadrat von elf Meter Seitenlänge darstellte. Vom Südufer her, wo auch das weite Tal nach Süden zu sich erstreckte, konnte man an diesen Felsen leidlich bequem mit Hilfe einzelner, auf dem Oberrande der Fälle lagernder Felsblöcke herankommen. Da ferner eine einzelne, hohe Felspartie am Südufer einen vorzüglichen Baugrund für das Wohngebäude ergab, das dann gleichfalls erhöht und gegen jede Überschwemmung geschützt liegen würde, war Meister Bölke sofort bereit, seines Jüngsten Vorschläge anzunehmen und auch dessen besondere Idee, den Plattformfelsen in den Wasserfällen zu einer kleinen Festung auszubauen, zur Ausführung zu bringen.
Nachdem die Wagen in das neue Tal dicht an das Ufer gefahren worden waren und nachdem man einen Palisadenzaun um das vorläufige Lager errichtet hatte, wurden sofort mit allem Eifer die Vorarbeiten für den Bau der Blockhäuser vorgenommen. Wald gab es in nächster Nähe übergenug. Das Tal war rings von weitem Urwald eingesäumt, und kleinere Bauminseln ragten auch aus dem üppigen Grase der weiten, über zwei Kilometer langen Bodensenkung hervor. Bereits nach acht Tagen standen zwei geräumige Blockhäuser fertig da, und wieder acht Tage später hatte die von Achilles eingerichtete Tonziegelbrennerei so viel Bausteine geliefert, daß man auch den Plattformfelsen mit einer starken Mauer umgeben und mitten darin einige überdachte Unterkunftsräume schaffen konnte. Die Mauer des Fort Purus, wie Fritz es stolz getauft hatte, besaß an den Ecken sogar vier niedrige Türme, von denen aus man weithin beide Flußufer mit Kugeln bestreichen konnte. Als dann auch noch die Gebäude am Ufer durch einen sehr hohen Palisadenzaun geschützt und Achilles vom Dache des Wohnhauses eine feste, wenn auch im Winde leicht hin und her schwankende Hängebrücke aus zähen, dicken Lianenranken hergestellt hatte, war die neue Niederlassung so gut wie fertig.
Inzwischen hatte sich der junge Indianer dank der sorgsamen, sachgemäßen Pflege wieder so weit erholt, daß er mit seinem geschienten Bein an Stock und Krücken umherhumpeln konnte. Sein Verhältnis zu den Ansiedlern war jedoch trotz aller Güte und Liebe, mit der ihm jeder begegnete, ein recht eigenartiges. Volle vier Wochen war er nun schon unfreiwilliger Gast der Familie Bölke, und doch hatte er bisher den Mund auch nicht zu einem einzigen Wort aufgetan. Stumm, mit scheinbar versteinertem Gesicht, lebte er dahin. Nur seine dunklen, leicht geschlitzten Augen verrieten Leben, beobachteten alles und ruhten bisweilen mit offenbarem Staunen auf den verschiedenartigen Werkzeugen, mit denen die deutschen Ansiedler sozusagen aus dem Nichts sich ein behagliches Heim mit einfachen, praktischen Möbeln hergestellt hatten.
Achilles, der alte Neger, behauptete allen Ernstes, daß es mit diesem Indianer eine ganz besondere Bewandtnis haben müßte. Er meinte, der junge, schlanke Rote verstände sicherlich ein wenig Spanisch, wolle nur nicht sprechen. Er hielte ihn dem Kopfputz aus Papageien- und Adlerfedern nach für einen Häuptlingssohn, eine Ansicht, die auch bereits der Farmer Rüdiger geäußert hatte.
Fritz warb beständig durch allerlei kleine Aufmerksamkeiten um die Freundschaft des Roten, fand jedoch ebenso wenig Gegenliebe wie alle anderen. Als nun auch der letzte Verband von dem Oberschenkel entfernt wurde und das Bein als geheilt gelten konnte, bestätigte sich das, was Frau Bölke sofort gefürchtet hatte: der rechte Fuß war etwas kürzer geworden. Der Indianer hinkte, wenn auch wenig. – Der junge Canamaris wurde jetzt noch zurückhaltender, und in seinen dunklen Augen glühte oft ein Feuer, das zu den ernsthaftesten Besorgnissen Anlaß gab. Hierauf wies auch Achilles hin und schlug vor, den schweigsamen Roten als Geisel zurückzuhalten, um gegen die Rache seiner Stammesgenossen sich im Notfalle schützen zu können. Meister Bölke wollte hiervon jedoch nichts wissen. – „Er ist frei. Mag er hingehen, wohin er will,“ sagte er zu dem Schwarzen, der hierzu nur bedenklich den grauen Kopf schüttelte.
Zwei Tage nach dieser Entscheidung des deutschen Farmers, daß der Canamaris nicht als Gefangener behandelt werden sollte, brachen Fritz und Achilles zu einem längeren Jagdausflug auf, um in den im Nordosten des Tales liegenden Bergen junge, wilde Vikunas und Alpakas einzufangen. Meister Bölke hatte sich nämlich entschlossen, seinen Haupterwerb in der Viehzucht zu suchen nach dem Vorbilde jenes reichen, spanischen Haziendabesitzers, der etwa acht Tagereisen weiter südlich wohnte. Die beiden Mestizen hatten bereits von einem ähnlichen Jagdausflug insgesamt vierzehn Jung- und vier Alttiere lebend mitgebracht, so daß wenigstens schon der Stamm einer Herde vorhanden war.
Achilles, dieser Allerweltskerl, verstand sich auf die Jagd dieser Abarten des Lamas vorzüglich. Während die Mestizen die Tiere mit Bolas, den Schleuderkugeln, eingefangen hatten, wobei stets einige der kostbaren Wolleträger durch die erhaltenen Verletzungen eingegangen waren, suchte er das sehr scheue Wild in enge, schroffe Täler zu treiben, die nur einen einzigen Zugang hatten.
Am vierten Tage nach dem Aufbruch von der Farm hatte Fritz sich von dem Neger getrennt, um ein Rudel von einigen zwanzig Vikunas vorsichtig einer vorher ausgewählten Schlucht zuzujagen. Während er, seinen Braunen am Zügel führend, gerade ein Flüßchen durchwatete, damit er von Westen her an das auf einer kleinen Hochebene weidende Rudel herankäme, hörte er weiter rechts am Bachufer einen lauten, angstvollen Schrei. Nur ein Mensch in höchster Todesnot konnte ihn ausgestoßen haben.
Er ließ sein Pferd stehen, wo es stand, und hastete in langen Sätzen einem jener weißblühenden Weidendickichte zu, die im Sommer wie eine einzige, schneeweiße Wolke aussehen.
Da – abermals der schrille Schrei. Und Fritz drang nur desto eiliger in das Weidengebüsch ein, schob die dichten, schlanken Ruten kraftvoll auseinander und gelangte bald auf eine freie, etwas morastige Stelle, über die eine riesige, vom Sturm entwurzelte Palme hinweggestürzt war, so daß ihre Krone bis zur Hälfte in den Bach hineinreichte.
Und auf dem rauhen Stamm dieses Baumes lag lang ausgestreckt, fest an diesen angepreßt durch die Leibeswindungen einer riesigen Anakonda, einer der größten, aber ungiftigen Schlangen Südamerikas ein Indianer, ein noch sehr junger Indianer – der bisherige Gast und Pflegling der Familie Bölke.
Fritz traute seinen Augen nicht, als er das Gesicht des Roten erkannte. Doch – gerade weil’s der junge Canamaris war, den er ja selbst halb zum Krüppel geschossen hatte, zögerte er auch nicht eine Sekunde, dem in furchtbarster Lebensgefahr Befindlichen zu Hilfe zu eilen.
Schießen konnte er nicht, denn der Kopf der Anakonda pendelte andauernd über des Indianers zur Seite gekehrtem Gesicht hin und her. So riß er denn seine Machete, sein hauschwertähnliches langes Buschmesser aus der Scheide, kletterte auf den Stamm und näherte sich der Riesenschlange und ihrem Opfer, das sie durch ein einziges Zusammenziehen ihrer Muskeln unfehlbar erdrückt hätte.
Die Anakonda hatte den menschlichen Feind längst bemerkt, lockerte jetzt die letzten Windungen etwas und – schnellte urplötzlich ihren Vorderleib wie einen Rammbock gegen des deutschen Knaben Brust. Fritz hatte jedoch nicht umsonst den alten Achilles als Lehrer und Berater gehabt. Der treue Schwarze war ein grimmer Vernichter alles kriechenden Gewürms, hatte auch seinen eifrigen Schüler auf all die Besonderheiten der gefährlichen Tiere der Wildnis aufmerksam gemacht. So war Fritz denn auf diese Art Angriff von seiten der Anakonda sehr wohl vorbereitet gewesen. Während der Vorderleib der Schlange wie ein Blitz auf ihn zuschoß, hatte er schon von untenher mit der haarscharfen Machete einen ebenso blitzschnellen Hieb ausgeführt und – hatte durch diesen dem ungeheuren Reptil, das gut neun Meter maß, den Kopf und noch ein Stück des Rumpfes glatt abgetrennt, die nun zuckend in das Gras herabfielen.
Doch der junge Indianer war noch nicht gerettet. In dem Schlangenleibe steckte noch so viel Kraft, daß die Gefahr immer noch bestand, dem Canamaris könnten die Rippen eingedrückt werden. Fritz beugte sich daher auch sofort hastig über den durch den Tierkörper an die Palme Gefesselten, schob die Machete unter eine der Leibeswindungen, durchschnitt diese, wiederholte dasselbe auch bei den anderen.
Nun erst war der schlanke Sohn der weiten Savannen frei; nun erhob er sich, schaute Fritz lange in die hellen Germanenaugen, streckte ihm dann wortlos die Hand hin, umspannte mit kräftigem Druck die Finger dessen, dem er den verkürzten Fuß verdankte, sprang von der Palme herab, nahm den Kopf der Anakonda auf und verschwand, ohne sich nochmals nach seinem Lebensretter umzusehen, in den Weiden.
Zwei Stunden später hatte Fritz das Rudel Vikunas glücklich in die Schlucht getrieben, zündete nun vor deren Eingang ein mächtiges Feuer an und machte sich auf die Suche nach Achilles, fand den Schwarzen auch bald in einem anderen Tale, wo dieser gerade einer Anzahl Alpaka-Lämmer durch Riemen die Vorderbeine so eng fesselte, daß die Tierchen nur ganz kurze Schritte tun konnten.
Als er ihm nun sein Abenteuer mit der Anakonda berichtete, meinte Achilles nachher mit leiser Stimme: „Auch das wird uns vor der Rache der Canamaris nicht schützen, Sennor Friederiko, – denn wir haben einen Verräter unter uns. Ich habe hierüber bisher geschwiegen, weil ich meiner Sache nicht sicher war. Kurz vor unserem Aufbruch habe ich jedoch den blassen Sennor Franzisko, der so falsche Augen hat und die Sennorita Anna immer mit so wilden Blicken heimlich verfolgt, mit der jungen Rothaut abermals leise sprechen gehört. Mit niemandem sonst redete der Canamaris ein Wort. Man konnte ihn für stumm halten. Und nur der Sennor Franzisko durfte sich rühmen, sein Vertrauter geworden zu sein. Doch – der sagte niemandem was davon! Und das beweist ganz sicher: die beiden führen Böses im Schilde!“
Fritz, der in letzter Zeit ebenfalls so manches beobachtet hatte, was ihn stark daran zweifeln ließ, daß Franz Kriegel lediglich noch rein freundschaftliche Gefühle für Anna hegte, weihte nun auch seinerseits den braven Achilles in alles ein, was er bisher still in seinem Herzen verschlossen hatte. Er hatte ja Franz Kriegel schon immer als Brandstifter beargwöhnt, zumal jener damals abends im Garten vor der verheerenden Feuersbrunst Worte gemurmelt hatte, die etwa gelautet hatten: „Oh – Ihr sollt an Franz Kriegel denken! Vielleicht kräht bei Euch bald der rote Hahn!“
Achilles nickte ernst. „Ja, ja, – ich traue ihm alles Schlechte zu. Er tut auch nur stets so, als ob er fleißig arbeitet. Wenn er sich unbeobachtet glaubt, dann faulenzt er oder sucht im Flußsande des Purus nach Goldkörnern. – Jedenfalls müssen wir beide nun gut die Augen offen halten, Sennor Friederiko, sehr gut! Ein Glück, daß wir das Fort haben. Dort sind wir geborgen, falls es mal den Canamaris einfallen sollte, die Farm niederbrennen und uns abschlachten zu wollen. Der junge Rote dürfte seinen Stamm in wenigen Tagen erreicht haben. Nach etwa anderthalb Wochen also wird es sich herausstellen, oh er die Seinen zu einem Kriegszuge gegen uns aufgehetzt hat.“
– – – – – – – –
Achilles und Fritz befanden sich drei Tage später mit ihrer lebenden Jagdbeute, insgesamt 42 Vikunas und Alpakas, auf dem Rückwege nach der Purus-Farm.
Es war ein überaus mühseliges und unendliche Geduld erforderndes Geschäft, dieses Vorwärtstreiben einer Herde von Tieren, die bisher in völliger Freiheit gelebt hatten und nun mit gefesselten Vorderbeinen langsam vorwärts in bestimmter Richtung dahinhumpeln sollten. Ständig mußten Fritz und der Neger ihre langen Lederpeitschen gebrauchen, mußten ununterbrochen hin und her jagen, um die Ausreißer und besonders die störrischen, älteren Tiere zur Raison zu bringen, von denen sie dann stets noch angespuckt wurden. Es ist ja bekannt, daß das Lama und seine drei Abarten Vikuna, Alpaka und Guanako[5], die sämtlich vielbegehrte, prächtige Wolle liefern, zwei böse Fehler haben. Erstens das Spucken. Die Tiere sondern sehr reichlich Speichel im Maule ab, den sie, wenn man sie reizt, mit unfehlbarer Sicherheit dem Feinde entgegenspritzen. Dann ihr störrisches Wesen, das mit den Jahren immer mehr zunimmt. Sie sind deshalb auch zu Lasttieren nicht zu gebrauchen. Ein Vikuna und Alpaka zum Beispiel ist durch keinerlei Mittel vom Fleck zu bringen, wenn es eben nicht will.
Man kann sich also unschwer vorstellen, welche Geduld dazu gehörte, etwa 15 dieser ausgewachsenen, bockbeinigen Geschöpfe vorwärts zu treiben. Am ersten Tage legten die beiden Gefährten daher auch kaum zwei Meilen zurück. Sie lagerten dann in einer Schlucht, wo sie auf die Tiere nicht weiter achtzugeben brauchten. – Achilles briet gerade zwei fette Wildtauben über dem offenen Feuer, als Fritz bemerkte, daß die mehr im Hintergrunde des engen Felsenkessels grasende Herde plötzlich sehr unruhig wurde. Die älteren Vikunas und Alpakas blökten erreget, und Achilles hielt es daher für richtig, daß Fritz einmal dort nach dem Rechten sah.
Fritz schlenderte gemächlich durch das hohe, teilweise aber schon niedergetretene Gras. Er war recht müde nach diesem überaus anstrengenden Tage und daher auch weniger vorsichtig als sonst.
Nun erblickte er die dunkle Masse der eng aneinander sich drängenden Tiere, nun stolperte er über eine hochragende Strauchwurzel, schlug der Länge nach hin, wollte sich wieder aufrichten, als er von hinten eine schwere Last auf seinen Rücken mit jähem Anprall fallen und gleichzeitig in der linken Schulter einen ihm fast die Besinnung raubenden Schmerz fühlte.
Der stinkende Atem eines Raubtieres wehte ihm in die Nase. Ein namenloses Entsetzen packte ihn. Es konnte ja nur ein Jaguar, dieses größte und gefährlichste Raubtier Bolivias, sein. Denn der gleich große Puma oder Silberlöwe ist ein feiger Geselle, greift nie den Menschen an.
Fritz lag platt auf dem Bauch und verhielt sich zunächst ganz still. Dann langte er vorsichtig nach der linken Gürtelseite, wo die Machete hing. Aber – ein dumpfes Knurren der auf ihm hockenden Bestie warnte ihn. Er gedachte nun um Hilfe zu rufen, holte tief Atem, hatte schon den Mund geöffnet, als – dicht vor ihm aus dem Grase ein Blitz aufzuckte – das Mündungsfeuer einer Büchse. Dröhnend drang der Knall in des Knaben Ohren. Und über ihm heulte der Jaguar kurz auf, kollerte dann zur Seite, schlug mit den Pranken wild um sich und – lag regungslos da.
Fritz sprang auf die Füße. In demselben Augenblick erhob sich aus dem Grase auch die hohe Gestalt eines blondbärtigen, ganz in Leder gekleideten Mannes, der nun zu des Jungen Erstaunen in deutscher Sprache sagte:
„Du hast noch viel zu lernen, ehe Du gegen alle Gefahren der Wildnis gefeit bist. So spricht einer zu Dir, der nun über ein Jahrzehnt diese Wälder und Savannen durchstreift, einer, den die Farmer Nordbolivias El Taziento[6], den Schweigsamen, nennen. – Ich rate Dir auch, eiligst nach Eurer Farm zurückzukehren. Gestern fand ich im Osten von hier die Fährte einer fünfzig Mann starken Abteilung von Indianern. Es waren Canamaris. Und – Du warst es, der Sikuna, dem Sohne des Oberhäuptlings Zaparo, das Bein verkürzte. Nehmt Euch in Acht! Das rät Euch El Taziento, der Trapper, Euer Landsmann –“
Dann wandte er sich um, schritt eiligst davon und erkletterte schnell die steile Schluchtwand, verlor sich im Dunkel der Nacht. –
Fritz’ Schulter zeigte die tiefen Löcher der Krallen des Jaguars, schwoll in kurzem hoch an und schmerzte erst weniger, als Achilles die Blätter des sogenannten Fieberbaumes zerstampft und als Brei auf die Wunden aufgelegt hatte.
Der Name El Taziento war dem deutschen Knaben nicht mehr fremd gewesen. Schon der Onkel August hatte von diesem Trapper im Städtchen Karmen als von seinem besten Freunde gesprochen, und auch Achilles war dieser ernste, blondbärtige Jäger wohlbekannt, der bald hier, bald dort auftauchte und dem man nachsagte, daß er infolge seines jahrelangen Aufenthaltes in den Ausläufern der Kordilleren Goldfundstellen entdeckt hätte, die andere längst zum Aufgeben dieses einsamen Lebens verführt hätten. Aber El Taziento schien eben die Wildnis mehr als das gleißende Gold zu lieben.
Der Neger war recht betroffen gewesen, als Fritz ihm auch die Warnung vor den Canamaris mitgeteilt hatte. Nach kurzem Überlegen hatte er dann erklärt, unter diesen Umständen müsse man die Herde hier in dieser Schlucht zurücklassen und schleunigst nach der Farm zurückreiten. Es unterläge ja keinem Zweifel, daß auch El Taziento fürchte, die Rothäute hätten es auf die neue Niederlassung am Purus abgesehen.
In aller Eile wurde daher von Achilles vor dem Schluchteingang aus Zweigen und Ästen ein dichter Zaun errichtet, damit die Tiere nicht herauskönnten. Nachdem man diesen dann noch die Fesseln abgenommen hatte, brach man kurz nach acht Uhr morgens auf. Des Knaben Wunden belästigten ihn nicht mehr zu arg, so daß die beiden Jäger ihre Pferde voll ausgreifen lassen konnten. Trotzdem näherten sie sich erst bei anbrechender Dunkelheit den Wasserfällen, deren Rauschen weithin zu hören war. Nun hatten sie den Nordostrand des weiten Tales erreicht, nun lag die Farm vor ihnen.
Achilles hielt seinen Rappen an, spähte angestrengt hinüber. Auch Fritz tat’s, konnte jedoch nichts Auffallendes oder Verdächtiges bemerken.
„Weshalb stehen wir hier?“ meinte er daher. „Fürchtest Du etwa, Achilles, daß –“
Da unterbrach der treue Schwarze ihn. „Sennor Friederiko, Ihr müßt sehen lernen! Schaut nur genau hinüber! Die Hängebrücke ist ja dort, wo sie an der Ostmauer des Forts verankert ist, abgeschnitten worden, schwimmt in den Fällen. Das sagt genug! Die Canamaris sind da, und Euer Vater und die anderen haben sich in das Fort zurückgezogen –“
Fritz zuckte erschrocken zusammen. Tatsächlich – die Hängebrücke war zerstört! Und dort – dort vor dem Stallgebäude gewahrte er nun auch ein paar Gestalten, die wie die Schatten hin und her huschten. Jetzt auch vom Ostturm des Forts her ein paar Schüsse, die fraglos diesen Gestalten gegolten hatten.
Dann Achilles tiefe Stimme: „Kommt, Sennor Friederiko, wir wollen erst unsere Pferde irgendwo verbergen und dann versuchen, schwimmend von Westen her mit der Strömung an das Fort heranzugelangen.“ –
Zwei Stunden später hatten die beiden Jäger nicht nur die Pferde in einem Seitentale versteckt, sondern auch ausgekundschaftet, daß die Rothäute beide Flußufer besetzt hielten und zur Beobachtung des Forts mehrere der ihrigen auf einigen besonders hohen Urukuri-Palmen dicht am Wasser postiert hatten.
Achilles wandte sich nun nach Westen, wo ein sogenannter Windbruch, das heißt eine Menge vom Sturme geknickter Bäume, unweit des Purus lag. Es dauerte eine weitere Stunde, bevor die Gefährten hier ein Floß hergestellt hatten, das dann von dem klugen Graubart mit einer besonderen Steuer- und Bremsvorrichtung versehen wurde, um bei der nach den Fällen zu sehr reißenden Strömung, möglichst langsam dahinzugleiten, da das Floß sonst mit solcher Kraft an den Plattformfelsen angerannt wäre, daß die Insassen ins Wasser gestürzt und in den Strudeln der Fälle umkommen wären.
Die Bremsvorrichtung bestand aus schweren Steinen, die, an Lederlassos befestigt und auf breiten Rindenstücken ruhend, hinter dem Flosse herschleifen sollten. – Nun konnte die Fahrt beginnen. Achilles stieß vom Ufer ab, brachte das Floß in die Mitte der Strömung und wollte gerade nach dem Steuerbaum greifen, als vom rechten Ufer her ein paar Schüsse aufblitzten.
Der Neger stieß eine Verwünschung aus. Sein linker Unterarm war getroffen worden. „Hinlegen!“ warnte er. „Hinlegen, Sennor Friederiko! Die roten Schufte haben uns aufgespürt und mich flügellahm gemacht –“
Da – abermals fegten mehrere Kugeln über das Floß hin. Dieses glitt nun jedoch sehr bald so schnell weiter, daß die Canamaris nicht gleichen Schritt am Ufer halten konnten.
Achilles verband seinen Arm mit einem Streifen seines Wollhemdes.
„Ein schlechter Anfang!“ meinte er. „Wer weiß, ob wir nicht in kurzem mit den Fällen in allerengste Berührung kommen und stromabwärts als Leichen treiben!“
Er gab dann Fritz ganz genaue Verhaltungsmaßregeln, half auch selbst mit dem rechten Arm das Floß lenken, so gut es ging.
Doch da ereignete sich etwas, womit selbst Achilles nicht gerechnet hatte. Die Fortbesatzung war nur zu wachsam. Das Floß war bemerkt worden. Und da niemand mit einer so baldigen Rückkehr der beiden Lamajäger rechnete, hielt man das plumpe Baumfahrzeug für eine List der Rothäute, vom Wasser her an die kleine Festung heranzukommen.
Schüsse blitzten von den Türmen, aus den Schießscharten der Mauer auf, eine wahre Kugelsaat umpfiff die armen Floßfahrer, die sich schnell wieder lang hingeworfen hatten.
Ihr Leben war jetzt doppelt bedroht. Nicht nur die Fälle reckten gierig ihre nassen Arme nach ihnen aus, nein, auch von den eigenen Freunden wurden ihnen bleierne Grüße zugesandt, die nur deshalb ihr Ziel verfehlten, weil der Mond sich bereits wieder hinter Wolken versteckt hatte.
In dieser doppelten Todesnot erinnerte Fritz sich zum Glück an eine Schachtel bengalischer Zündhölzer, die er sowie Achilles mit auf den Jagdausflug genommen hatten, um sie beim nächtlichen Treiben der Vikunas und Alpakas als Signale zu verwenden.
Schnell rieb er eines der mit dicken, schwarzen Köpfen versehenen Hölzchen an. Ein grünes Licht flammte auf – dann ein rotes, – und dann stellte die Fortbesatzung endlich auch das Feuer ein.
Das donnernde Tosen der Fälle übertönte hier jedes andere Geräusch. Rufen wäre also zwecklos gewesen. Nur die bengalischen Flammen hatten helfen können.
Gleich darauf stieß das Floß gegen den mächtigen Felsblock. Sofort wurden von oben auch zwei Taue herabgelassen, die Fritz und Achilles sich um die Brust wanden. Man zog sie empor. Das Floß aber drehte sich, geriet in den linken Strömungsarm, verschwand in dem Gischt der tief herabstürzenden Wassermassen.
Auch die Canamaris an den beiden Ufern hatten jedoch scharf nach der Wasserfeste Ausschau gehalten, begannen nun eine unregelmäßige Schießerei, die freilich ganz wirkungslos blieb. Die beiden Jäger langten glücklich im Fort an, wo sie von den Belagerten mit hellem Jubel begrüßt wurden. Nur einer stand mit finsterem Gesicht abseits. Das war Franz Kriegel, der sich weit mehr gefreut hätte, wenn die beiden draußen umgekommen wären, – besonders der Neger, der als vielerfahrener Einheimischer gerade jetzt den Ansiedlern durch seinen Rat sehr nützlich werden konnte.
– – – – – – – –
Acht Tage später.
Auf einer steinigen Urwaldlichtung, etwa eine halbe Meile nördlich der Purus-Farm, lag an einem kleinen Feuer ein einzelner Mann, ganz in Leder gekleidet, auf dem Kopf einen breitrandigen Filzhut aus glänzender Vikunawolle. Neben ihm stand an einen Baum gelehnt eine achtschüssige, moderne Repetierbüchse, und über der Glut schmorte das Lendenstück eines Alpakalammes.
Der Einsame war kein anderer als El Taziento, der blonde Trapper.
Regungslos lag er da und schien den nächtlichen Stimmen des Urwaldes zu lauschen, den er so sehr liebte. Er lauschte aber auch den Stimmen in seinem Innern, die seit der Begegnung mit Fritz Bölke, seit dessen Errettung aus den Krallen des Jaguars, nicht mehr zum Schweigen gekommen waren.
Mit aller Macht waren da in ihm Erinnerungen lebendig geworden, die er so oft schon absichtlich verscheucht hatte, um nicht weich zu werden, um die Sehnsucht nach den Eltern, den Geschwistern schnell wieder zu ersticken.
El Taziento dachte an Berlin zurück. An die kleine Wohnung im Hofe der riesigen Mietskaserne; an jenen Tag, als der Vater ihn so brutal gezüchtigt hatte, nur weil er hatte Seemann werden wollen; an die Überfahrt als Schiffsjunge nach Südamerika; an die Reise ins Innere Bolivias als Maultiertreiber. So war er damals vor mehr als zehn Jahren zu dem Onkel August nach Karmen gelangt, der es stets gut mit ihm gemeint hatte und volles Verständnis für den jugendlichen Drang nach Abenteuern besaß. Lange hatte er es aber auch bei dem Onkel nicht ausgehalten. Ganz offen war er dem wohlmeinenden Manne gegenüber gewesen. Da hatte dieser ihm eine vortreffliche Büchse und alles andere geschenkt, hatte ihn nochmals umarmt und ihn ziehen lassen – hinein in die Wildnis als Begleiter eines Trupps von Mineningenieuren, die ein Silberbergwerk anlegen wollten. Oft war er dann wieder bei dem Onkel in Karmen aufgetaucht; bald als ein weit und breit berühmter Trapper; als El Taziento, der Schweigsame.
Und als er einmal vor nicht allzu vielen Wochen bei dem braven Ohm gewesen, da hatte ihm dieser einen Brief gezeigt – vom Vater Bölke: die Nachricht, daß er mit den Seinen auswandern würde. – Und die beiden Männer waren übereingekommen, daß der Onkel August der Familie auch jetzt noch nichts davon verraten sollte, wo und wie der älteste Sohn lebte.
Jetzt nun grübelte er darüber nach, wie er den Belagerten helfen könnte, die bereits über eine Woche von den Indianern in ihrer kleinen Feste eng umzingelt waren.
Hilfe herbeiholen?! – Den Gedanken hatte er längst geprüft und wieder verworfen. – Hilfe?! Woher wohl?! Was nützten drei, vier Männer gegen einige hundert Rothäute, denn die Canamaris hatten inzwischen ja noch Verstärkung erhalten!
Er grübelte und grübelte.
Er sagte sich, daß die Lebensmittelvorräte der Eingeschlossenen bald verbraucht sein müßten. Und dann – was dann?! –
Nach einer Weile erhob er sich. Die Sorge um Eltern und Geschwister trieb ihn abermals nach dem Lager der Indianer am Nordufer des Purus hin, das er so und so oft schon umschlichen hatte.
Er klopfte seinem in der Nähe angepflockten Pferde den Hals, sprach ein paar liebevolle Worte zu ihm und tauchte im Dunkel des Waldes unter. –
Das große Lederzelt des Oberhäuptlings Zaparo der Canamaris stand abseits von den übrigen dicht am Rande der nach dem[7] Flusse zu sich öffnenden Waldlichtung.
Zaparo, der gefürchtete Oberhäuptling, der Schrecken der Farmer bis weit nach Brasilien und Peru hinein, hockte mit untergeschlagenen Beinen neben dem qualmenden Feuer, das ihm die stechenden, geflügelten Plagegeister verscheuchen sollte. Auch er hing besonderen Gedanken nach.
Die verhaßten Weißen, die sich dort in den Wasserfällen jetzt eingenistet hatten, waren die Mörder seines einzigen Sohnes, der sein Nachfolger hatte werden sollen, das Oberhaupt über mehr als tausend Krieger. Vor kurzem hatte Sikuna noch gelebt. Das hatten die ausgesandten Späher ihm berichtet. Nun aber war sein Sohn verschwunden.
Die Belagerten sollten sterben – alle! Er selbst würde sie einzeln an sein Pferd binden und auf der Savanne zu Tode schleifen. Das sollte seine Rache sein. –
Zaparo hob den Kopf. Ein paar seiner Krieger brachten einen Mann, einen Gefangenen, einen der Weißen aus dem Purus-Fort.
Zaparos Augen leuchteten auf.
Er hörte dann, daß der Weiße sich freiwillig bei einer der Wachen am Flußufer eingefunden und gebeten hätte, vor den Häuptling geführt zu werden.
Franz Kriegel hatte inzwischen doch so viel Spanisch gelernt, um sich mit Zaparo verständigen zu können.
„Ich habe mit Deinem Sohne Sikuna, als er noch auf der Farm weilte, Freundschaft geschlossen,“ begann er nun. „Wir haben verabredet, daß ich ihm später alle Leute der Farm lebend in die Hände spielen sollte. Ich hasse sie. Aus Haß habe ich sie bereits aus der Heimat vertrieben, habe dort ihre Häuser in Brand gesteckt. Nun aber will ich mein Deinem Sohne gegebenes Versprechen wahrmachen. Er hat mir als Belohnung Goldkiesel zugesagt, so viel mein Pferd davon zu schleppen vermag. Ich weiß ein Mittel, wie Ihr an das Fort ohne Menschenverluste herankönnt. Baut Flöße, errichtet darauf Brustwehren, legt an dem Plattformfelsen an und werft brennende Reisigbündel über die Mauer, damit das innerhalb stehende Blockhaus in Flammen aufgeht. Die Belagerten hungern seit zwei Tagen. Sie sind müde und verzweifelt. Wenn Ihr vor Tagesanbruch, sobald die Nebel über dem Flusse lagern, angreift, werdet Ihr schon morgen früh Sieger sein –“
Zaparo nickte, zog sein Messer, zerschnitt Kriegels, des Verräters, Fesseln und winkte ihn neben sich.
„Setz’ Dich,“ sagte er. „Wo ist mein Sohn Sikuna geblieben?“
Kriegel wußte recht gut, daß Fritz ihn aus der Umschlingung der Anakonda befreit hatte. Aber er erwiderte nun, nur um den Haß und die Rachsucht des Häuptlings noch zu steigern:
„Ich fürchte, der Sohn des Farmbesitzers wird ihn auf der Flucht erreicht und getötet haben.“
Dicht hinter den beiden, gedeckt durch einen von Lianen umwucherten, uralten Lorbeerbaum, lag El Taziento. Jedes Wort hatte er mitangehört.
Nun fragte Zaparo: „Wie bist Du über die Fälle hinweggekommen?“
Und Kriegel erklärte, daß die Hängebrücke sich an einem der aus den stürzenden Wassermassen herausragenden Felsen festgeklemmt habe, so daß man bei einiger Geschicklichkeit wohl hinübergelangen könnte.
Kaum hatte er den letzten Satz beendet, als der Trapper neben dem Verräter im Grase den dünnen, rötlich punktierten Leib einer kleinen Schlange bemerkte. Es war eine Schararaka[8], vielleicht das giftigste Reptil der ganzen Erde.
Kriegel stützte sich jetzt mit der Linken ahnungslos auf die Erde, faßte gerade auf die Schararaka. Die schnappte zu – einmal – nochmals, vergrub ihre Giftzähne gerade über den Pulsadern.
Der Verräter schnellte mit einem Schrei hoch, zertrat das kleine Reptil, fragte den Häuptling angstvoll: „Ist’s eine giftige gewesen?“
Um Zaparos Lippen huschte ein grausames Lächeln.
„Nein, – fürchte nichts! – Als Lohn verspreche ich Dir nun ebenfalls noch die Goldlast eines Pferdes, als Lohn für das, was Du mir geraten –“
Kriegel bedankte sich überglücklich.
Fünf Minuten später war sein linker Arm schwarz und dick geschwollen. Er heulte jetzt vor Todesangst, der erbärmliche Wicht, flehte den Häuptling an, ihm zu helfen, ihn zu retten.
Zaparo schüttelte den Kopf. „Ich kann Dir nicht helfen, Und wenn ich’s könnte, würde ich’s nicht tun. Wir verachten Verräter, die nur des Goldes wegen so handeln, wie Du es getan hast.“
Kriegel sank zur Seite, wand sich in schrecklichen Zuckungen. Bald lag er regungslos mit verglasten Augen da.
„Werft ihn in den Fluß, den räudigen Hund!“ befahl Zaparo seinen Kriegern.
So endete ein Brandstifter. Ihm war sein Lohn geworden.
– – – – – – – –
Der Trapper schlich davon. Er hatte als letztes noch gehört, wie Zaparo den Seinen die nötigen Befehle zum Bau der Flöße und zum Herstellen der mit Harz zu tränkenden Reisigbündel erteilte. –
Eine halbe Stunde später schob sich eine dunkle Gestalt hinter die indianische Wache, die am südlichen Flußufer unweit des Wohngebäudes stand.
Der Canamaris fühlte plötzlich zwei nervige Hände seinen Hals umspannen. Ohne einen Laut auszustoßen, sank er um, verlor das Bewußtsein.
Nun war der Weg für El Taziento frei. Er versuchte, es dem Verräter Kriegel nachzutun, erkletterte die halb im Wasser liegende Hängebrücke und gelangte auch, freilich bis auf die Haut durchnäßt, bis dicht an den Plattformfelsen. Hier hing noch das Tau von dem Ostturme herab, mit dessen Hilfe Kriegel unbemerkt das Fort verlassen hatte.
Vor kurzem nun war Achilles auf diesem Turm von Fritz abgelöst worden.
Der wackere Knabe lehnte jetzt allein an der Brüstung des Turmes und lugte aufmerksam nach allen Seiten aus.
Da – vor ihm tauchte ein Kopf auf. – Er riß den Revolver aus dem Gürtel, hob die Waffe, ließ sie wieder sinken. – Trotz der Dunkelheit hatte er den Trapper, seinen Lebensretter, erkannt. –
In dem Blockhüttchen des Forts saß Meister Bölke mit Frau und Tochter an dem Holztisch beim Schein einer Petroleumlaterne und sagte eben mit schmerzerfüllter Stimme:
„Ja – seit dem Tage, als ich unsern Ältesten aus dem Hause trieb in meinem blinden Unverstand, – seitdem hat sich das Unglück an meine Fersen geheftet. Alles, was ich plane, was ich anfange, mißlingt! Auch hier nun – auch hier dieses entsetzliche Schicksal, von der blutdürstigen Horde draußen erbarmungslos hingemordet zu werden –“
Dicke Tränen rannen ihm über die Wangen. Dann horchte er auf. Schritte vor der Tür. Es klopfte. Und nun trat ein blondbärtiger Fremder herein, blieb stehen, rief[9] mit halberstickter Stimme: „Vater – Mutter – ich bin’s, Euer Willi, – ich – der Trapper El Taziento!“
Meister Bölke stand schwerfällig auf, taumelte fast auf den kräftigen Mann zu, breitete die Arme aus, schluchzte:
„Mein Junge endlich – endlich gefunden!“
Es dauerte lange, ehe die Glückstränen der Wiedervereinten versiegten. Dann begann Willi Bölke von dem zu sprechen, was die verzweifelte Lage der Eingeschlossenen erheischte: Er berichtete von dem Tode des Verräters, von dem gegen Morgen zu erwartenden Angriff, fügte aber sofort hoffnungsfroh hinzu:
„Des Oberhäuptlings Rachedurst wird sofort schwinden, wenn er erst weiß, daß sein Sohn noch lebt und daß Fritz ihn sogar vor der Anakonda beschützt hat. Ich nehme nun an, daß Sikuna nach den Dörfern[10] seines Stammes geeilt ist und dort erst von dem gegen uns gerichteten Kriegszug erfahren hat. Er wird sofort zurückkehren und dann dafür sorgen, daß sein Vater alle Feindseligkeiten einstellt. Er hat ja damals nach dem Abenteuer mit der Anakonda Fritz die Hand gereicht und auch den Schlangenkopf mitgenommen. Das beweist zur Genüge seine dankbare Gesinnung. Wenn es uns gelingt, uns hier nur noch kurze Zeit der Angriffe der Canamaris zu erwehren, so sind wir –“
Er kam – nicht weiter.
Die Tür wurde aufgerissen. Fritz stürmte herein. Und hinter ihm wurde die schlanke, vor Nässe triefende Gestalt des jungen Häuptlingssohnes sichtbar, der in der erhobenen Rechten einen Palmenzweig trug.
Er brachte den Frieden, wie El Taziento es vorausgesagt hatte. –
Zwei Monate später feierte man auf der Purus-Farm Hochzeit. Anna und ihr Jugendgespiele Peter Streit wurden ein Paar. Als Gäste waren außer Onkel August und dem Farmer Rüdiger noch zehn Indianer erschienen, darunter der Oberhäuptling Zaparo und sein Sohn Sikuna. Sie kamen nicht ohne Geschenke. Und das, was sie schenkten, war eine Pferdelast gediegener Goldkiesel. –
Meister Bölkes große Viehfarm am Purus ist berühmt geworden. Jährlich schickt er auf eigenen Schleppkähnen ungeheure Mengen von Wolle nach der nächsten größeren Stadt. Reichtum, Zufriedenheit und die Rückschau auf ein arbeitsames Leben sind das, was er verdient und erreicht hat.
Noch immer erhebt sich in den Wasserfällen des Flusses das kleine Fort, auf dessen einem Turme stets lustig die deutsche Flagge im Winde flattert und durch ihr Wehen alle die zu grüßen scheint, die hier als Pioniere deutschen Fleißes sich eine neue Heimat schufen.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.
Anmerkungen:
Kamele (Familie)
Lamas (Gattung
Guanako (Art
Lama (Art)
Vikunja (Gattung)
Alpaka (Art).