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Das Insel-Erbe

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.

 

Das Insel-Erbe.

 

W. Belka.

 

Im Bureau einer Londoner Anwaltsfirma übergab der Advokat Tompsen dem Schreiber Böhme einige Papiere mit dem Auftrag, sie nach Hamburg an den Kaufmann Karl Hammer, Altonaer Straße 15, mit dem Hinzufügen zu senden, daß die englische Regierung nichts gegen den Antritt der Erbschaft des verstorbenen Plantagenbesitzers Hermann Hammer durch dessen Bruder und Erben einzuwenden hätte.

John Böhme – eigentlich war er Johannes getauft und hätte jetzt nicht in der Fremde sein Brot zu verdienen brauchen, wenn er eben nicht wegen allerlei Unterschlagungen aus Hamburg nach England geflüchtet wäre – dieser John Böhme, ein dreißigjähriger Mensch von überaus würdigem und, wo nötig, kriecherisch-freundlichem Benehmen, sah die Papiere zunächst ohne besonderes Interesse durch, stieß dann aber in dem Testament des verstorbenen Hermann Hammer auf eine Stelle, die er immer wieder und wieder las.

Sie lautete: „Ich rate Dir dringend, lieber Bruder, die Insel nicht etwa zu verkaufen. Mag sie auch abgelegen sein, sie besitzt doch Naturschätze, an deren Hebung ich als genügsamer Mann nicht gedacht habe. Ich fühlte mich in meiner Einsamkeit auf Manawata diese ganzen dreißig Jahre hindurch sehr glücklich. Deiner Beachtung empfehle ich die Grotte, die sich am Nordwestrande tief in die Felsenhügel hineinzieht, und besonders den darin befindlichen kleinen See. Denke dabei aber an Schillers Gedicht: Der Taucher! Ich hoffe, Du wirst mich verstehen –“

John Böhme starrte sinnend zum Fenster hinaus. Dann schaute er sich vorsichtig um. Niemand von seinen Kollegen achtete auf ihn. Da nahm er eine Schere und schnitt von dem Blatte (das Testament Hammers bestand aus vier einzelnen Blättern) die soeben hier wörtlich wiedergegebenen Sätze ab, die gerade ganz unten auf einer Seite des vierten Bogens standen, von dem die andere Seite nur noch oben eine Handbreit beschrieben war, so daß das Fehlen dieses Papierstreifens gar nicht auffallen konnte.

Am folgenden Tage erklärte Böhme seinem Chef, er habe eine Depesche erhalten; seine Mutter sei schwer krank; er wolle sie nochmals sehen. – So erhielt er eine Woche Urlaub. Er verließ London jedoch mit der festen Absicht, vorläufig dorthin nicht zurückzukehren. –

Der Getreidehändler Karl Hammer hatte vor kurzem Konkurs angemeldet, und ein Gerichtsvollzieher versteigerte gerade die wertvollsten Stücke der Wohnungseinrichtung, als der völlig gebrochene Kaufmann den Besuch eines ihm unbekannten Herrn namens Böhme erhielt, der ihm die Nachricht von dem Tode seines Bruders Hermann überbrachte und ihm gleichzeitig Mitteilung davon machte, daß der Verstorbene ihm die nordöstlich von Neuseeland liegende kleine Insel Manawata hinterlassen habe, dazu noch eine Barsumme von 500 Pfund (10 000 Mark).

Am Nachmittag desselben Tages traf auch das Schreiben der Londoner Anwälte ein. – Herr Karl Hammer rief daraufhin seine aus vier Köpfen bestehende Familie zusammen, las ihnen das Testament und die anderen Papiere vor und erklärte, er habe sich entschlossen, diesem Wink des Schicksals Folge zu leisten und nach jener Insel, seinem jetzigen Besitz, auszuwandern.

In einer amtlichen Mitteilung der neuseeländischen Regierung war gesagt, daß die Insel für den Erben durch den langjährigen Diener des Verstorbenen, einen Eingeborenen namens Pikariti, verwaltet würde. – Nachdem Frau Hammer und die beiden Söhne und auch die bereits achtzehnjährige älteste Tochter, diese freilich sehr zögernd, dem Vater zugstimmt hatten, sandte der durch falsche Spekulationen um sein gesamtes Vermögen gekommene Kaufmann am nächsten Morgen eine Kabeldepesche nach der Stadt Wellington auf Neuseeland, dem Sitz der Regierung, und bat, den Verwalter Pikariti davon zu benachrichtigen, daß er die Erbschaft antrete und mit seiner Familie sich auf der Insel niederlassen würde.

Mittags erschien dann abermals jener John Böhme bei dem Kaufmann und fragte ihn im Laufe der Unterhaltung, ob er ihm nicht gestatten würde, sich der Familie anzuschließen. Er habe schon längst die Absicht gehabt, in den Tropen sein Glück zu versuchen. scheue sich vor keiner Arbeit und besitze so allerlei praktische Kenntnisse.

Hammer, der in dem liebenswürdigen Landsmann denjenigen sah, der ihm zuerst die Botschaft von der unerwarteten Erbschaft überbracht hatte, und dem Böhme auch recht gut gefiel, zögerte keinen Augenblick, zu erklären, daß dessen Begleitung ihm und den Seinen nur angenehm sein würde.

Damit hatte der schlaue Böhme also zunächst sein Ziel erreicht. –

Die Sonne war vor einer Stunde aufgegangen und hatte nun auch die drei Bewohner des einsamen Eilandes Manawata munter gemacht.

Manawata, von oben aus einem Flugzeug gesehen, mußte durchaus einem Insekt mit zahlreichen Beinen an dem runden Leibe und einem länglichen Kopf mit fünf Fühlhörnern gleichen. Tiefe schmale Buchten zerschnitten nämlich den Hauptteil der Insel, der einen Durchmesser von einer Meile etwa hatte und von dem aus eine schmale Landzunge zu dem nördlich gelegenen „Insektenkopf“ führte, an dem fünf strahlenförmig ausgehende Klippenreihen eben die Fühlhörner darstellten.

Die Küsten der Insel waren durchweg steil und stets von einer starken Brandung umtobt, sobald nur ein wenig Wind herrschte. Die felsigen Hügelketten der Ufer des Hauptteiles senkten sich nach der Mitte zu und gingen in ein weites, sehr fruchtbares Tal über, in dem es eine ganze Menge warmer Quellen gab, die ihre zumeist leicht dampfenden Wasser in Gestalt kleiner Bäche in die vier Buchten ergossen, die fast bis zum Mittelpunkt der Insel reichten. An den Abhängen der Hügel standen üppige tropische Wälder, während in dem Tale weite Strecken als Getreidefelder urbar gemacht waren, die jetzt im Juni bereits der Ernte entgegenreiften. Weizen und Hafer bilden ja einen der Hauptausfuhrartikel der Neuseeland-Gruppe.

Auf den Wiesenflächen neben den warmen Bächen tummelten sich in geräumigen Hürden Rinder, Pferde und Schafe. Dazwischen trieben sich ganze Völker von Hühnern und Enten herum, und in der Luft schwirrte es förmlich von Tauben, die eifrig zwischen ihren Schlägen auf den Dächern der Wirtschaftsgebäude und den Feldern ab und zu flogen.

Die Baulichkeiten, sämtlich luftige Holzgebäude mit Wellblechdächern, erhoben sich am Nordufer des breitesten der östlichen Meereseinschnitte. Das Wohngebäude mit einer rings um das Haus herumlaufenden breiten, überdachten Veranda war hellgelb gestrichen mit dunkelroten Verzierungen und dicht mit echtem Wein umrankt, der seine Schößlinge bereits bis auf das Dach geschickt hatte.

Vor dem Wohnhause zog sich ein mit weißen, kleinen Muscheln bestreuter Platz, auf dem nur vier Parallelreihen von Kentia-Palmen standen, bis zur Bucht und einem in diese hinausgebauten Landungsstege hin, an dem außer einem Motorschoner noch ein kleiner Motorkutter und zwei Boote vertäut waren.

Die ganze Plantage machte einen überaus sauberen und gefälligen Eindruck. Sie galt denn auch überall in der Nähe als eine Musterwirtschaft, ebenso wie ihr Besitzer und Begründer Hermann Hammer sich auf Neuseeland hohen Ansehens erfreut hatte. Als er vor etwa dreißig Jahren die Insel zuerst von einem Engländer gepachtet und dann käuflich erworben hatte, bildete Manawata nichts als eine Wildnis, die er erst allmählich hatte in Kulturland umwandeln können. Sein getreuer Gehilfe dabei war der Maori Pikariti gewesen, der dann noch zwei weitere Stammesgenossen zur Übersiedelung nach dem von Neuseeland etwa 18 deutsche Meilen entfernten Inselchen veranlaßte.

Diese drei Maori, die längst das Deutsche vollständig beherrschten, begannen jetzt ihr Tagewerk mit besonderer Eile, da sie nachher noch die Zurüstungen zum Empfang des neuen Herrn der Insel und seiner Familie treffen wollten, die heute gegen Mittag von Wellington aus aller Wahrscheinlichkeit nach anlangen mußten.

Pikariti, ein Mann von fünfzig Jahren, hatte wie alle Maori eine hellbraune Hautfarbe, einen kräftigen, mittelgroßen Körper und ein Gesicht, das deutlich eine hochentwickelte Intelligenz verriet. Er trug einen gelben, sauberen Leinenanzug, dazu ein buntes Hemd mit einem weichen Kragen und eine grellbunte Krawatte. Er liebte es, schon äußerlich den gebildeten Menschen erkennen zu lassen, und er verstand es vortrefflich, sich überall Achtung zu verschaffen.[1] Hatte er doch auch als Vertrauter Hermann Hammers in den letzten Jahren den Verkauf der Plantagenerzeugnisse in der nächsten neuseeländischen Hafenstadt Auckland ganz allein erledigt. Daß er jetzt der Ankunft des neuen Herrn mit recht gemischten Gefühlen entgegensah, war nicht weiter wunderbar.

Nachdem die üblichen Morgenarbeiten erledigt waren, ließ Pikariti von seinen beiden Landsleuten den Bootssteg und den Hauseingang mit frischem Grün schmücken. Dann gab er Maura, dem Koch, noch allerlei Anweisungen für das Mittagessen und setzte sich dann in seines verstorbenen Herrn Arbeitszimmer, um die Bücher nochmals durchzusehen, damit er dem Erben auf Heller und Pfennig über Einnahmen und Ausgaben Rechnung legen könnte.

Er war so in diese seine Arbeit vertieft, daß er gar nicht auf die lauten Stimmen aufmerksam wurde, die vom Wirtschaftshofe plötzlich herüberschallten. Dann wurde jedoch die Tür des nach der Bucht hinausgehenden Zimmers sehr rücksichtslos aufgestoßen. Pikariti wandte sich um, bemerkte einen bärtigen sonnenverbrannten Mann in einem eigenartigen, grauen Leinenanzug und mit einem breitrandigen Strohhut auf dem Kopf, bemerkte auch sofort die in die graue Leinenjacke auf der linken Brustseite in Schwarz aufgedruckte Zahl 112 mit einem E darüber und wußte daher sogleich, daß er hier fraglos einen aus der französischen Strafkolonie Neukaledonien entwichenen Sträfling vor sich hätte. –

Die Insel Neukaledonien liegt nordwestlich von Neuseeland. Sie beherbergt durchschnittlich 10 000 Sträflinge, die zumeist auf Lebenszeit zur Verschickung verurteilt, bei guter Führung auf Ackerbaustationen beschäftigt werden und dort dann eher Gelegenheit zur Flucht finden. Fluchtversuche sind überaus häufig, enden jedoch zumeist mit der Wiederergreifung der Verbrecher, da diesen gewöhnlich nur kleinere, wenig seetüchtige Fahrzeuge zur Verfügung stehen, mit denen sie in der Nähe der Küsten bleiben müssen. –

Pikariti ahnte Schlimmes, zumal der Sträfling in der Rechten schußbereit einen Revolver trug.

Der Mann sah allerdings keineswegs nach einem rohen Verbrecher aus. Sein blonder, wohlgepflegter Spitzbart, die leicht gebogene, schmale Nase, ein schöngezeichneter Mund und große, klare, graue Augen mit langen dunklen Wimpern und leicht gewelltes blondes Kopfhaar machten sein Antlitz recht anziehend.

Der Maori erhob sich, verbeugte sich ein wenig und sagte in englischer Sprache, die er gleichfalls fließend beherrschte:

„Womit kann ich Ihnen dienen? – Ich sehe es Ihrer Kleidung an, daß Sie von Norden her gekommen sind. Sie haben hier von uns keinen Verrat zu fürchten. Wir wollen mit jedermann in Frieden leben.“

Der Sträfling trat ein und musterte Pikariti scharf. Zu dessen Erstaunen erwiderte er dann auf deutsch:

„Du bist offen. Du deutest an, daß Du sehr wohl weißt, daß ich ein Verfolgter hin. Deine Offenheit gefällt mir. Einer Deiner Landsleute draußen hat mir bereits gesagt, Du seiest jetzt hier Verwalter und erwartest noch heute den neuen Besitzer der Insel. – Würdest Du ein Versprechen, das Du mir gibst, unbedingt halten? Und – wie steht es in dieser Beziehung mit Deinen beiden Landsleuten?“

„Wir haben von unserem früheren Herrn unter anderem auch das gelernt, was man Treue und Zuverlässigkeit nennt. Wenn wir ein Versprechen geben, halten wir es unbedingt. Darauf können Sie sich verlassen.“

„Gut. So höre denn. – Wir sind unser acht von Neukaledonien entwichen, haben uns eines Kutters bemächtigt und befinden uns seit einem Monat auf der Flucht. Wir haben furchtbare Entbehrungen hinter uns. Vier meiner Leute – denn sie haben mich zum Anführer gewählt – sind schwer krank. Die Verfolger aber haben wir jetzt so dicht hinter uns, daß uns nur noch eine List und Eure Verschwiegenheit retten kann. Ich sage Dir gleich: wir sind keine Verbrecher! Eine Verkettung unseliger Umstände hat unsere Verurteilung herbeigeführt –“ Er sprach weiter. Und nach kurzer Verhandlung mit dem Maori reichten die beiden Männer sich die Hände.

Dann erklärte Pikariti:

„Mein Landsmann Poraropo wird Sie nach jener Höhle führen, deren Zugang mein verstorbener Herr nur durch einen Zufall entdeckt hat. Sie sollen alles dorthin mitnehmen, was Sie zunächst zum Lebensunterhalt und zur Pflege der Kranken brauchen. Später werde ich Ihnen das Entkommen ebenfalls erleichtern, genauso wie ich jetzt das französische Stationsschiff täuschen werde – ganz wie Sie es geplant haben.“

Der Sträfling Nr. 112 drückte Pikariti abermals dankbar die Hand. „Man merkt, daß Du längere Zeit mit einem Deutschen zusammengelebt hast,“ meinte er. „Du sollst jetzt auch meinen Namen wissen. Ich bin selbst geborener Deutscher und heiße Harald Kersten. – So, nun noch eine beiläufige Frage. Auch der neue Besitzer dieser Insel soll ja ein Deutscher und ein Bruder jenes Hermann Hammer sein. Kennst Du vielleicht seinen Vornamen und seinen bisherigen Wohnsitz?“

Pikariti nickte. „Ja – der Vorname lautet Karl, und die Familie lebte bisher in Hamburg. Karl Hammer war dort Getreidekaufmann. Doch er und sein verstorbener Bruder haben geschäftlich nie miteinander zu tun gehabt, obwohl wir doch viel Getreide ausführen, und sie wechselten auch nur sehr selten Briefe. Hermann Hammer wollte von seiner Familie nichts mehr wissen. Ich kenne auch den Grund dieser Entfremdung zwischen den Brüdern. Karl Hammer hat gerade die Frau als der begünstigtere Bewerber als Gattin heimgeführt, die auch der ältere Bruder liebte.“

– – – – – – – –

Eine knappe Stunde später lief ein kleiner französischer Dampfer in die Ostbucht ein. Es war eins der Wachtschiffe aus Neukaledonien. Der Kapitän ließ den Maori an Bord kommen und fragte ihn nach dem Kutter mit den Sträflingen aus. Pikariti antwortete, der Kutter habe hier zu landen versucht, sei dann aber, als man die Insassen mit Gewehren bedroht habe, nach Nordwest wieder davongesegelt und auch von den Uferhöhen aus noch zu bemerken. – Der Kapitän überzeugte sich hiervon und wurde jetzt sogar Zeuge davon, daß der Kutter weit draußen in See plötzlich kenterte und versank. – Der Franzose, der dies durch sein Fernglas beobachtet hatte, ahnte nicht, daß der Kutter mit festgebundenem Steuer und Großsegel und mit einigen ausgestopften Puppen aufs Geratewohl ins Weite geschickt worden war und daß er außerdem am Boden eine schwache Sprengladung mit einer brennenden Zündschnur mitgenommen hatte, die dann sein Kentern und Versinken verursacht hatten.

Das Stationsschiff dampfte wieder davon und ließ sich auf der Insel auch nicht mehr blicken.

Kaum war es, ständig von dem mit einem Glase bewaffneten Pikariti im Auge behalten, unter dem nördlichen Horizont untergetaucht, als von Südosten her eine neue, starke Rauchsäule das Nahen eines anderen Dampfers ankündete.

Pikariti und Poraropo – letzterer war als Maschinist ausgebildet – fuhren nun sofort mit dem l8-Meter-Schoner, der den Namen „Insulinde“ führte, dem zwischen Sydney (Australien), Auckland auf Neuseeland und Honolulu (Haupthafen der Hawaii-Inseln) verkehrenden Tourendampfer entgegen, um, falls die Familie Hammer sich dort an Bord befand, diese samt ihrem Gepäck nach der neuen Insel-Heimat zu bringen. –

An der Reling des Dampfers Prince of Wales standen die fünf Hammers und schauten voller Erwartung nach der fernen Insel hinüber und dem Motorschoner entgegen, der sich in flotter Fahrt näherte. Die See war nur wenig bewegt. Prachtvoller Sonnenschein überstrahlte die weite Wasserwüste des Stillen Ozeans. Albatrosse, Möwen aller Art und Sturmvögel gaben dem Dampfer das Geleit.

„Wir halten bei gutem Wetter unseren Einzug,“ meinte das Familienoberhaupt frohgestimmt zu den Seinen.

Die Augen der beiden Söhne leuchteten unternehmungslustig. Walter, der Jüngere, vierzehnjährige, meinte, er freue sich schon mächtig auf die Insel; dort könne man doch ganz tun und lassen, was man wolle. Herbert, der sechzehnjährige, der Ingenieur hatte werden wollen, erklärte wieder, er würde auf Manawata ganz bestimmt eine elektrische Kraftanlage schaffen, da es dort ja Schlammgeiser von erheblicher Höhe geben solle, deren Kraft man leicht ausnützen könne. – Frau Hammer und Klara, das älteste der drei Kinder, schwiegen. Ihnen beiden war der Abschied von Hamburg am schwersten geworden. – Dafür meldete sich jetzt der soeben hinzugetretene John Böhme, indem er meinte:

„Ganz recht, lieber Herbert, – wir werden aus der Insel ein modernes Paradies machen, und wenn wir dann Millionäre geworden sind, sieht Hamburg uns wieder –“

Als er das Wort Millionäre aussprach, zuckte es in ironischen Triumph um seine Lippen. Er wußte ja, wo vielleicht wirklich Millionen ruhten! Nur er! Und – diese Millionen würden sein werden – ganz allein sein! Mit niemandem würde er teilen! –

Der Dampfer stoppte. Das Fallreep wurde herabgelassen, und der Schoner macht daran fest.

Als nun Pikariti die Familie Hammer begrüßte, waren deren sämtliche Mitglieder im ersten Augenblick völlig sprachlos über die Erscheinung und das Auftreten dieses Abkömmlings der einst als Menschenfresser so sehr gefürchteten Maori. Dieses Staunen verwandelte sich aber schnell in helle Freude, denn es konnte allen ja nur angenehm sein, in diesem Eingeborenen einen gebildeten Mann vorgefunden zu haben, auf dessen erprobte Ehrlichkeit und Treue man sich nach dem Inhalt des Testaments des Vorbesitzers der Insel unbedingt verlassen konnte.

Eine Stunde später fuhr die Insulinde in die Ostbucht ein.

Neues Staunen, neue Freude! Und jetzt leuchteten auch Frau Hammers und Klaras Augen auf. So nett und freundlich hatten sie sich das Gesamtbild der Plantage doch nicht vorgestellt!

Ganz stolz führte Pikariti die Familie dann in das helle, kühle Speisezimmer, wo die Mittagstafel bereits gedeckt dastand und wo der Koch Maura in blendend weißem Anzug die neuen Bewohner sogar mit einem kurzen deutschen Gedicht begrüßte.

Kaum war die Mahlzeit dann beendet, an der auch Pikariti und die beiden Diener hatten teilnehmen müssen, als Herr Hammer sofort einen Rundgang durch die Insel vorschlug.

Pikariti machte den Führer. Und er verstand es vortrefflich, die Vorzüge der Insel und ihre durch die vulkanische Beschaffenheit des Bodens hervorgerufenen Eigentümlichkeiten – die heißen Quellen, die Schlammgeiser auf dem Nordteil der Insel und den dort ebenfalls vorhandenen kleinen, fast kochend heißen See – in das rechte Licht zu rücken.

John Böhme zeigte ein ganz besonderes Interesse für die sonst ganz unfruchtbare Nordhälfte der Insel, konnte sich gar nicht von dem dampfenden See trennen und ließ die anderen allein weiterwandern.

Absichtlich blieb er zurück. In seiner Seele lebte nur ein Gedanke: der an die in Hermann Hammers Testament erwähnt gewesene Grotte, deren Kenntnis er dem Erben durch Verstümmelung der letztwilligen Verfügung vorenthalten hatte.

Als er nun heimlich feststellte, daß Pikariti und die fünf Hammers bereits wieder den Rückweg nach dem Hauptteile der Insel eingeschlagen hatten, begann er nach jener Grotte zu suchen, die ja nach den Angaben des Testaments an der Nordwestküste der Nordhälfte liegen sollte. Volle zwei Stunden kletterte er zwischen den Felsen der Steilküste umher. Er fand nichts von einem Höhleneingang – nichts!

Nun – er tröstete sich damit, daß er ja die Nachforschungen in aller Ruhe später fortsetzen könnte.

Daher machte er sich nun auf den Rückweg, indem er dem Westufer bis zu der schmalen Landzunge folgte. Gerade als er auf einer besonders hohen Felskuppe stehen geblieben war, um nochmals einen Blick über diesen Inselteil mit seinen fünf Fühlhörnern zu werfen, gewahrte er in der Ferne die Gestalt eines Mannes, der jedoch plötzlich blitzschnell hinter einem Felsen verschwand.

Böhme hatte gute Augen. Er hatte deutlich gesehen, daß der Mann einen blonden Spitzbart trug und fraglos ein Europäer war. – Wer war dieser Mensch? Was tat er hier?!

Sofort wurde John Böhmes Mißtrauen in stärkstem Maße wach. Er dachte an die Grotte, an Hermann Hammers Andeutungen.

Ob jener Fremde etwa hier heimlich ebenfalls das zu finden suchte, wonach Böhmes ganzes Sinnen und Trachten stand? –

John Böhme wußte zunächst nicht recht, ob er Hammers davon Mitteilung machen solle, daß er einen Europäer bemerkt hätte, der sich hier offenbar verborgen hielte.

Er entschied sich schließlich dafür, vorerst zu schweigen. –

In den folgenden fünf Tagen bot sich ihm keine Gelegenheit, seine besonderen Pläne in aller Stille irgendwie fördern zu können. Herr Hammer schickte ihn nämlich mit Pikariti in dem Schoner nach Auckland, damit sie dort allerlei einkaufen sollten, was noch zur Anlage der von dem jetzigen Planlagenbesitzer beabsichtigten Neuerungen fehlte.

Jedenfalls hatte der frühere Getreidekaufmann sich in kurzem in diesen Beruf eines Pflanzers so schnell hineingefunden, daß Pikariti zu seiner Freude erkannte, es hier mit einem doch weit umsichtigeren und unternehmungslustigeren Herrn zu tun zu haben, als es sein verstorbener Gebieter gewesen.

Am zweiten Tage nach der Abfahrt der Insulinde hatten Herbert und Walter morgens die dem Nordteile vorgelagerten Klippenreihen nach Schildkröten abgesucht, die es hier in großer Menge und in jeder Größe gab. Die Schildkröten brachten sie lebend in eine nahe Bucht, deren Ausgang nach dem Meere hin sich leicht durch Felsstücke hatte versperren lassen, so daß man die Tiere wie in einem Riesenbassin halten konnte. Herr Hammer beabsichtigte nämlich, auf diese mühelose Weise Schildkrötenzucht im großen zu betreiben und sowohl das von den Rückenpanzern gewonnene Schildpatt als auch das Fleisch in Konservenform auszuführen.

Als sie nun gerade gemeinsam ein wahres Prachtexemplar einer Lederschildkröte, die fast anderthalb Meter maß, nach der Bucht trugen, wobei sie sich vor den Bissen des wütenden Tieres sehr in acht nehmen mußten, vernahmen sie von Nordwesten her plötzlich einen überlauten, gellenden Schrei.

„Das – das kann nur Klara gewesen sein,“ stieß Walter Hammer hervor. „Ihr muß irgend etwas –“

Der Ältere unterbrach ihn schon: „Legen wir die Schildkröte auf den Rücken, dann kann sie nicht fort. – So – und nun im Galopp dorthin! Wer weiß, was der Schwester zugestoßen ist.“

Sie befanden sich, wie schon erwähnt, auf dem felsigen, unfruchtbaren Nordteile der Insel, dessen Bodengestaltung es ihnen unmöglich machte, selbst von einem erhöhten Punkte aus eine größere Strecke zu überblicken.

Sie blieben daher wiederholt stehen und riefen sehr laut den Namen der Schwester. Zunächst jedoch ganz umsonst. Erst nachdem sie an der wildzerrissenen Nordküste eine Weile umhergeirrt waren, kam Antwort.

Gleich darauf trafen sie die blonde, schlanke Klara, ein recht hübsches und für ihre Jahre überaus selbständiges Mädchen, am sandigen Ufer einer kleinen Bucht sehr bleich vor, erhielten jedoch auf ihre besorgten Fragen nur die ausweichende Antwort von der Schwester, daß diese vor einem plötzlich zwischen den Felsen aufgetauchten größeren Tiere sich sehr erschreckt hätte.

Walter Hammer war nun, obwohl um über zwei Jahre jünger als Herbert, ihm an „Gerissenheit“ weit überlegen. Überhaupt hatte er einen hellen, anschlägigen Verstand. Auf der Schule hatte es zwar stets etwas gehapert, wie man zu sagen pflegt, dafür besaß der Junge aber andere Fähigkeiten, die ihm hier weit nützlicher waren als eine Vorliebe für die alten griechischen und römischen Klassiker.

Herbert zweifelte nicht weiter daran, daß Klaras Begründung ihres gellenden Aufschreis den Tatsachen entsprach. Nicht so Walter. Er ließ die beiden jetzt vorangehen, blieb dann allein zurück und suchte das flache Ufer der kleinen Bucht nach Spuren ab.

Und – er fand auch welche, fand sogar als im Fährtenlesen leidlich geübter begeisterter Leser aller Indianer- und Abenteurergeschichten ganz sichere Beweise dafür, daß Klara hier an der Bucht mit einem Manne zusammengetroffen sein mußte, der so breite, plumpe Schuhe trug, wie sie nicht einmal die beiden Maori Maura und Poraropo trugen.

Ganz unbegreiflich war ihm, weshalb die Schwester zu einer Lüge ihre Zuflucht genommen und verschwiegen hatte, daß doch wahrscheinlich der Anblick dieses Mannes ihr den Schrei entlockt hatte. Er nahm sich vor, dieser merkwürdigen Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Und er war überzeugt, daß hier ein ganz besonderes Geheimnis mitspielen müßte. Niemand von den Bewohnern der Insel, so glaubte er, wisse ja etwas davon, daß sich hier auf Manawata noch andere Leute befänden.

– – – – – – – –

Am Abend dieses sehr heißen Tages lastete bei völliger Windstille eine furchtbare Schwüle über diesem Teile des Stillen Ozeans.

Die Sonne war in dicken Dunstmassen am westlichen Horizont verschwunden. Jedes Brandungsgeräusch an den Gestaden der einsamen Insel war erstorben. Die Seevögel, die sehr zahlreich besonders auf dem Nordteil auf Vorsprüngen der Steilufer nisteten, flogen in Schwärmen noch immer unruhig hin und her. Dies fiel auch Herrn Hammer auf, der soeben noch zusammen mit Poraropo eine Anzahl Schafe geschoren und die Wolle gleich in Ballen fest verpackt hatte.

Als er nun an den auf der nach der Bucht hinausgehenden Veranda gedeckten Abendbrottisch herantrat, meinte er scherzend zu Klara, die in tiefem Sinnen in ihrem Korbsessel saß:

„Kind, Du machst ein Gesicht, als hättest Du den Schmerz über den Abschied von unserem alten Hamburg noch immer nicht überwunden. Nimm Dir ein Beispiel an Deiner Mutter und Deinen Brüdern, von mir schon ganz zu schweigen! Wir freuen uns alle, daß wir hier eine so reichgesegnete neue Heimat gefunden haben, daß wir sorgenlos und mit der besten Aussicht auf baldigen Wohlstand hier leben können.“

Das junge Mädchen war flammend rot geworden. In ihrem Gesicht drückte sich eine hilflose Verwirrung aus. Ehe sie noch etwas erwidern konnte, betrat jedoch Poraropo sehr eilig die Veranda und wandte sich mit den Worten an Herrn Hammer:

„Wir, Maura und ich, befürchten aus verschiedenen Anzeichen, die wir als Kinder Neuseelands, diesem vulkanischen Inselgebietes, sehr gut kennen, daß es vielleicht ein stets mit außerordentlich hohem Seegang verbundenes Meeresbeben geben könnte, und wir möchten daher in Hinblick auf die Ereignisse, die sich hier vor etwa 32 Jahren abgespielt haben –“

Herr Hammer rief jetzt stark beunruhigt dazwischen:

„Welche Ereignisse, braver Poraropo?“

„Ah, Herr, Sie wissen nichts davon?! – Deshalb hat ja auch jener Engländer namens Webster die Insel nur an Ihren Bruder verpachtet! Er wagte nicht, länger hier zu wohnen, nachdem bei einem Meeresbeben der Hauptteil von Manawata sich unter die Wasseroberfläche für 24 Stunden gesenkt und nur der felsige Nordteil ihm noch eine Zufluchtstätte geboten hatte –“ –

Kein Wunder, daß diese Mitteilungen des Maoris bei der Familie Hammer wie eine Schreckensbotschaft wirkten.

„Schnell,“ rief der Pflanzer jetzt, „wozu raten Sie also, Poraropo?“

„Dazu, daß wir schleunigst das gesamte Vieh nach dem höchsten Punkte des Nordteiles treiben und ebendorthin auch das Wertvollste schaffen, was sich in der Eile noch bergen läßt –“

In demselben Augenblick ließ sich aus den Tiefen der Erde ein dumpfes Rollen vernehmen.

Da stürzte auch schon Maura herbei, brüllte ganz heiser vor Aufregung: „Fort mit dem Vieh. Das Seebeben ist da –“

Kaum hatte er den Satz beendet, als auch schon der Lärm einer kräftigen Brandung vernehmbar ward. Man hörte deutlich, daß von Osten her geradezu ungeheure Wogenberge gegen die Küste tobend anrannten. Und für Sekunden herrschte nun auf der Veranda gerade eine lähmende Stille. Mit angsterfüllten Mienen starrten all diese Menschen sich an, die hier in friedlicher Arbeit gemeinsam hatten schaffen wollen.

Im Umsehen war es jetzt auch stockfinster geworden. Bald konnte man kaum mehr die nächste Umgebung unterscheiden.

Abermals dann Poraropos Stimme: „Herr, es ist zu spät, das Vieh zu bergen. Retten wir uns selbst.“

Gleichzeitig erscholl schon wieder, nur noch lauter, drohender, das unterirdische Rollen. Man hörte nun auch, wie das Gebälk des Hauses sich knarrend aneinanderrieb, wie das Wasser der nahen Bucht in Wellen hochsprang und an das Ufer brandete.

Alles drängte nun der auf den Vorplatz hinabführenden Treppe zu. Da – jetzt war’s der Koch Maura, der überlaut seinem Landsmann zubrüllte:

„Poraropo, Deine Ohren sind besser als die meinen! Mir scheint, das Brandungsgeräusch von der Ostküste her wird schwächer –“

Alle lauschten. Frau Hammer hatte sich an ihren Mann angeklammert, und Klara wieder war dicht an Herbert herangetreten, der sie schützend umfaßt hielt.

Kein Zweifel! Obwohl jetzt sogar Erdstöße zu spüren waren und das Wohnhaus in allen Fugen bebte, ließ der Lärm der Brandung schnell nach.

Immer noch standen die sieben Menschen auf der Treppe regungslos da. Dann eilte Maura mit dem kurzen Ruf: „Ich bin sofort wieder zurück!“ nach dem Bootsstege hinab. Dort an der Ostbucht war jetzt ebenfalls alles still geworden. Die Wasser hatten sich beruhigt.

Mauras Gestalt tauchte auf. Es war jetzt wieder heller. Das schnell hochgekommene Gewölk hatte sich wieder zum Teil verzogen. Sterne blinkten, und ihr Schein war wie eine Friedensbotschaft der unheimlichen Naturkräfte.

„Herr, ich begreife nicht, was geschehen sein kann,“ meldete Maura. „Das Buchtbecken ist so gut wie wasserleer. Nur ein paar Tümpel bedecken noch den Boden. Und die Boote liegen vollständig auf dem Trockenen –“

Poraropo deutete mit einem Male nach oben. Dort tauchte gerade die Silberscheibe des Vollmondes hinter dem davonziehenden Gewölk auf. Daß es mit der Bekehrung der Maori zum Christentum nicht viel auf sich hat und daß in ihrer Seele die Vorstellungen ihrer alten heidnischen Naturgottheiten noch immer stärker als die des Christentums fortleben, bewies Poraropos jetzige Äußerung:

„Niwakiti lächelt zu uns herab. Das Seebeben ist vorüber. Wir brauchen nichts mehr zu fürchten. Wenn Niwakiti erscheint, verkriechen sich die Ungeheuer, die wie die Wühlratten die Erde hochwerfen, wieder in ihre Höhlen –“

Der Maori behielt recht. Nur zwei kaum noch wahrnehmbare Stöße spürte man. Dann war der volle nächtliche Frieden der Natur wieder zurückgekehrt.

Von Osten her verscheuchte jetzt auch ein frischer Nachtwind die drückende Schwüle. Die Bäume rauschten so nervenberuhigend, und das Nachtvölkchen der zahllosen Fledermäuse tummelte sich bereits in graziösen Jagdflügen nach allerlei fliegendem Gewürm in der Luft.

Maura zündete die Petroleumlampe über dem Abendbrottisch an und trug die Speisen auf. Hammers sprachen natürlich nur von dem, was sie soeben zum ersten Mal erlebt hatten, – von den grollenden Gewalten des feuerflüssigen Erdinnern.

Kaum hatten sie sich dann erhoben, als Walter vorschlug, einmal an der Ostbucht entlang bis zur Meeresküste zu wandern.

Es war jetzt so hell, daß auch Frau Hammer sich an diesem Spaziergang beteiligte. Der Pflanzer ging mit seinen Söhnen voran. Jetzt bogen sie um die letzte scharfe Ecke der Bucht, jetzt – hätte das mondbeschienene Meer dicht vor ihnen liegen müssen.

Herbert blieb wie angewurzelt stehen.

„Seht – seht! Neues – neues Land!“ stotterte er ganz fassungslos. „Unsere Insel hat sich nach Osten und Norden vergrößert –“

Es war so. Dort, wo noch vor einer Stunde die Wogen des Stillen Ozeans dahingerollt waren, erhob sich jetzt, schier unübersehbar, eine hügelige, von schmalen Buchten durchschnittene Landschaft, die sich im Nordosten zu einem Berge mit flacher Kuppe hoch auftürmte.

Und wieder eine Viertelstunde später hatte die Familie, ihren Weg nehmend über den noch feuchten Meeresboden und stellenweise mit den Füßen versinkend in gelbbraunen Tiefseepflanzen von den seltsamsten Formen, jenen neuen Berg von der Südseite her bequem erstiegen, konnte nun einen Blick über das Gesamtreich ihrer tropischen Heimat werfen, konnte feststellen, daß die Insel gut um das Zweifache an Umfang zugenommen hatte.

„Wie ein Wunder mutet mich das an,“ meinte der Pflanzer leise. „Eine neue Welt liegt dort unter uns – Meeresboden mit all seinen Geheimnissen –“

Er wollte noch mehr hinzufügen. Aber Herberts Stimme kam ihm zuvor.

„Ein Wrack – ein Wrack!“ rief er. „Dort nach Westen zu hängt’s, zwischen zwei Felsen festgekeilt, – das Wrack eines Dreimasters. Man sieht die Maststümpfe noch ganz deutlich!“

Walter und Herbert wären am liebsten sofort hingeeilt. Aber Herr Hammer erklärte sehr bestimmt: „Morgen ist auch ein Tag! Jetzt – marsch ins Bett, Herrschaften! Nach all den Aufregungen bedürfen wir der Ruhe!“

So pilgerte man denn heim. Als Maura, der Koch, hörte, daß die Insel sich so bedeutend vergrößert hätte, wünschte er dem Pflanzer Glück zu dem neuen Landbesitz, auf dem, wie er meinte, in kurzem an den Stellen, wo die faulenden Tiefseepflanzen den Boden düngen würden, eine frische Grasnarbe hochsprießen mußte.

Poraropo, so teilte der Maori dann weiter auf Befragen mit, sei nach dem Nordteile geeilt, um dort in einer Bucht nach den von ihm ausgelegten Angelschnüren zu sehen. – Dies war jedoch eine Notlüge. Die beiden Maori hatten von einer Anhöhe aus ebenfalls die Bodenveränderungen wahrgenommen, und sofort war ihnen der Gedanke gekommen, das Seebeben könnte vielleicht durch einen widrigen Zufall den Eingang jener Riesengrotte verschlossen haben, in der die flüchtigen Sträflinge sich verborgen hielten. Daher war Poraropo auch sofort nach dem Nordweststrande gelaufen, getrieben von der Angst, den dort in der Höhle Hausenden könnte etwas zugestoßen sein.

Er stellte sich auch erst wieder ein, als die Familie Hammer sich in ihre Schlafstuben bereits zurückgezogen hatte. – Die beiden Brüder hatten ihr gemeinsames Schlafzimmer neben dem Klaras.

Herbert saß noch vollends angekleidet am Tisch und stopfte neue Schrotpatronen, während der Jüngere seine kurze Doppelbüchse putzte, wobei sie sehr lebhaft über die Ereignisse des heutigen Abends sich unterhielten, als Walter mit leisem: „Pst – hörst Du?!“ den Bruder[2] auf ein vorsichtiges Klopfen an die Tür des Nebenraumes aufmerksam machte.

Gleich darauf vernahmen sie im Flur auch flüsternde Stimmen.

„Was bedeutet das?“ meinte Herbert argwöhnisch. „Irgend jemand hat bei Klara Einlaß begehrt –“

Walter löschte schnell die Petroleumlampe aus und huschte zur Tür, öffnete sie und horchte dann an der Schwester Tür. Er verstand jedoch nur wenig. Aber – ohne Zweifel war es Poraropo, der Klara noch zu sprechen gewünscht hatte. Die Stimme des Maori erkannte er sehr gut.

Als sehr bald darauf der Maori im Flur erschien, trat der Knabe ihm in den Weg, fragte, was denn geschehen sei.

Klara, die die Stimmen hörte, riß die Tür wieder auf. Sie war noch völlig angekleidet und sah so verstört aus, daß die Brüder, denn auch Herbert war jetzt hinzugetreten, sehr nachdrücklich Aufschluß über diese seltsame Blässe ihres Antlitzes und ihrer Unfähigkeit, einen Satz zusammenhängend zu beenden, verlangten.

In des jungen Mädchens Zimmer erhielten sie dann jede gewünschte Auskunft, nachdem sie der Schwester feierlich Schweigen gelobt hatten.

– – – – – – – –

Zunächst berichtete Poraropo alles, was mit den aus Neukaledonien glücklich entkommenen Sträflingen zusammenhing.

Als er den Namen des Sträflings Nr. 112 – Harald Kersten nannte, stießen die Brüder einen Ruf der Überraschung aus.

„Kersten – Kersten!“ meinte der Jüngere hastig und schaute die Schwester fragend an. „Ist das etwa unser früherer Buchhalter, der vor zwei Jahren mit 20 000 Mark flüchtete und dann aus Frankreich sehr bald dem Vater das ganze Geld zurückschickte mit einem Brief voller bitterer Selbstanklagen?“

Klara Hammer war sehr rot geworden.

„Ja – er ist’s! Und – wisset nun auch, daß Kersten und ich damals in Hamburg uns heimlich verlobt hatten. Gewiß – ich war erst sechzehn ein halb Jahre, aber ich fühlte doch, daß ich nur Harald für mein ganzes Leben lieben würde. Als er dann den Diebstahl begangen hatte, suchte ich sein Bild aus meinem Herzen zu reißen. Er schrieb auch mir einen Brief, in dem er sich als das Opfer eines Verführers hinstellte, beschwor mich, ihn nicht zu vergessen. Ich hörte nichts mehr von ihm – nichts. Und dann – dann traf ich ihn heute am Nordstrande. Da entrang sich meinen Lippen jener gellende Schrei. Da merkte ich aber auch, daß ich Harald noch immer von ganzem Herzen gut war. Ich versprach ihm, sein und seiner Gefährten Geheimnis zu behüten. Und jetzt –“ – ihre Tränen begannen zu fließen – „jetzt hat Poraropo, den ich in alles eingeweiht hatte, mir soeben die Schreckenskunde mitgeteilt, daß der Eingang zu der Grotte durch das Erdbeben gänzlich verschüttet und durch riesige Felsblöcke versperrt ist und daß es keine Möglichkeit gibt, die Eingeschlossenen zu befreien. Sie müssen dort elend verhungern, falls – sie überhaupt noch leben –“

Sie weinte trostlos in sich ein.

Herbert und Walter berieten flüsternd mit dem treuen Maori. Dann beschloß man sofort nach der Grotte aufzubrechen und die Örtlichkeit genau in Augenschein zu nehmen. Herbert erklärte auch sofort, es würde sich nicht umgehen lassen, daß man auch die Eltern ins Vertrauen zog. „Wir müssen eben nötigenfalls mit vereinten Kräften an die Rettungsarbeiten herangehen,“ fügte er hinzu.

In aller Stille traten die vier dann den Marsch nach der Nordwestküste an. Der Vollmond leuchtete ihnen. Sie eilten in aller Hast an den Viehhürden vorüber, und Poraropo geleitete die Geschwister auf oft recht gefährlichen Pfaden nach der Schlucht einer Steilwand, an deren Fuß sich noch wenige Stunden vorher die Wogen des Ozeans donnernd gebrochen hatten. Jetzt lag auch hier der frühere Seeboden weithin trocken. Auch die fünf Klippenreihen bildeten nun fünf strahlenförmige Hügelketten, so daß es Poraropo vorhin recht schwer gefallen war, sich hier zurechtzufinden.

Die Schlucht stieg im Hintergrunde terrassenförmig an. Auf der mittelsten der vier Terrassen hatte sich nun der durch eine Reihe von Felsblöcken gut verdeckte Grotteneingang befunden. Aber – dort, wo einst ein zwei Meter breites und hohes Loch sich in die Gesteinmassen des Nordteiles der Insel hineingezogen hatte, gab es jetzt nur einen wüsten Berg von Steintrümmern und herabgestürzten Felsen.

Herbert erkannte sofort, daß die Befürchtungen des Maori durchaus begründet waren. Menschenkräfte genügten nie und nimmermehr, den Eingang wieder freizulegen.

Klara hatte sich auf einen Felsblock gesetzt und schluchzte herzzerbrechend. Walter, der die Schwester sehr liebte, suchte sie zu trösten, meinte, daß der Vater schon Mittel und Wege ersinnen würde, die Eingeschlossenen zu befreien.

Des jungen Mädchens Tränen versiegten. Neues Hoffen war in ihr Herz eingezogen.

Da – als gerade niemand der vier sprach und einen Augenblick lautlose Stille herrschte, – da kam’s scheinbar aus dem verschütteten Eingang heraus wie eine Geisterstimme:

„Klara, mein Lieb, – wär’s möglich?! Höre ich Dich wirklich weinen und schluchzen –“

Herbert hatte sich blitzschnell tief gebückt. Zwischen den Felstrümmern gab’s viele Spalten. Und aus einem dieser Löcher, das sich durch das zusammengestürzte Gestein hindurchwinden mußte, drang Harald Kerstens Stimme hervor.

Herbert rief nun in diesem natürlichen Schalltrichter hinein:

„He, Herr Kersten, sind Sie’s? – Wie steht’s da unten? Wir möchten Ihnen gern zu Hilfe kommen –“

Er konnte nicht weiter sprechen. Poraropos Hand hatte sich rücksichtslos auf seinen Mund gelegt. Und der Maori flüsterte:

„Still – dort kommt jemand die Schlucht herauf. Noch kann er uns nicht bemerkt haben. Verbergen wir uns –“

Im Nu waren die vier verschwunden.

Der einsame nächtliche Wanderer hatte es sehr eilig. Jetzt stand er vor dem Trümmerhaufen still, schaute sich prüfend um.

Dann – ein Fluch kam über seine Lippen, eine wilde Verwünschung.

„Ah – hier muß es sein – hier! Habe ich nun deshalb Pikariti so schlau das Geheimnis des Höhleneingangs entlockt, habe ich deswegen ihn so rücksichtslos niedergeschlagen, nachdem wir den Schoner dort im Norden in die neue Bucht hineingesteuert hatten, habe ich etwa umsonst den feinen Plan entworfen, gemeinsame Sache mit den Sträflingen zu machen und nach Hebung der Goldschätze mit dem Schoner auf und davon zu fahren, soll etwa –“

Er führte dieses laute Selbstgespräch nicht zu Ende.

Harald Kersten meldete sich durch das Sprachohr.

„Holla – sind Sie noch da?“

John Böhme prallte zurück. Dann lachte er leise auf.

„Aha – das Seebeben hat hier den Eingang versperrt, und nun wird einer der Leute da unten soeben meine Stimme durch diesen Naturtrichter vernommen haben,“ dachte er. Dann rief er zurück:

„He – sind Sie’s, der Anführer der Sträflinge?“

Eine Weile nichts. Unten in der Grotte war Harald Kersten beim Klange dieser Stimme zusammengezuckt. Es war ja die Stimme des Mannes, den er nie vergessen würde! – Er überlegte sich seine Antwort sehr genau. Er ahnte, daß da oben inzwischen etwas besonderes vorgefallen sein müsse. Soeben hatte ja noch Herbert Hammer sich gemeldet.

„Ja, ich bin’s,“ entgegnete er.

„Gibt es für Sie keinen zweiten Ausgang aus der Grotte?“ fragte Böhme gespannt.

„Ja, – einen soeben erst von einem meiner Gefährten entdeckten. Durch die Verschiebung der Gesteinmassen ist eine Felsspalte entstanden, in der man hochklettern kann. –“

„Ah – sehr gut. Kommen Sie dann sofort zu mir. Ich habe Ihnen allerlei gewinnbringende Vorschläge zu unterbreiten. Ich allein kenne das wertvollste Geheimnis dieser Höhle. Das Testament Hermann Hammers enthielt noch etwas, das ich – entfernt habe, um so als einziger die Stelle finden zu können, wo sehr wahrscheinlich Gold liegt – Gold in Nuggetform (Körner). Beeilen Sie sich –“

„Ich werde sofort bei Ihnen sein,“ erklärte Kersten.

John Böhme setzte sich zufällig auf denselben Block, der vorhin das weinende junge Mädchen getragen hatte. Er ahnte nicht, daß gerade Harald Kersten der Anführer der Sträflinge war. Pikariti hatte den Namen vergessen und daher ihm gegenüber nur von dem „Deutschen Nr. 112“ gesprochen.

Desto besser wußte aber Kersten Bescheid. Den Namen John Böhme hatte Poraropo mehrfach genannt, wenn er – der Maori – heimlich den sieben Leuten Lebensmittel brachte. Und dann jetzt noch die Stimme – diese Stimme! Da waren Kerstens letzte Zweifel geschwunden! –

Böhme brauchte nicht lange zu warten.

Aber – inzwischen hatte Harald Kersten sich die Sache anders überlegt und einen seiner Gefährten, einen des Deutschen mächtigen Holländer, hinauf zu dem gewissenlosen, heimtückischen Schurken geschickt, damit Böhme erst seine verruchten Pläne in ihrem ganzen Umfange verrate, ehe Kersten als Rächer dazwischentrat.

John Böhme freute sich, daß der Sträfling so leicht auf alles einging. Er erzählte ihm, wie er seit zwei Jahren in London als Anwaltsschreiber sein Brot verdient habe und wie es ihm dann geglückt sei, von jenem Blatte des Testaments ein Stück abzuschneiden.

„Am besten ist, wir gehen der Sache sofort auf den Grund und untersuchen den kleinen See der Grotte, indem wir durch Tauchen feststellen, was sich darin befindet,“ meinte er nun. „Führen Sie mich in die Höhle hinab. Die Andeutung in dem Testament über Schillers Taucher läßt ja nur die eine Deutung zu –“

Der Holländer nickte und schritt voraus.

Den beiden folgten nun aber in vorsichtiger Entfernung sowohl Harald Kersten, der dem Gefährten nachgeschlichen war, als auch die Geschwister Hammer und der Maori, mit denen der frühere Buchhalter sich schnell verständigt hatte.

– – – – – – – –

Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,
Was sie gnädig bedecken mit Nacht und mit Grauen.

(Schiller, Der Taucher.)

Der Holländer und John Böhme verschwanden in der Felsspalte, die sich etwa 50 Meter östlich der Terrassenschlucht[3] in der Steindecke der Grotte als schräger Riesenriß einer mächtigen Granitglocke geöffnet hatte. –

Harald Kersten hieß seine Begleiter jetzt warten.

„Der Abstieg dort ist mühsam,“ meinte er. „Geben wir den beiden einen Vorsprung.“ Dann wandte er sich an Herbert Hammer.

„Es ist am ratsamsten, daß wir diesen Schurken an Ort und Stelle festnehmen, gerade da, wo er Ihren Vater um erhoffte Goldschätze zu betrügen sucht. – Ich will Ihnen auch hier gleich mitteilen, daß Böhme es gewesen, der mich damals zu dem Diebstahl im Geschäft Ihres Vaters verführt hat. Ich hatte ihn zufällig kennen gelernt, und er verstand es, in kurzem einen sehr unheilvollen Einfluß auf mich zu gewinnen. Wir flohen gemeinsam nach Paris. Dort packte mich schon am dritten Tage die Reue. Ich sandte Ihrem Vater das Geld zurück, trennte mich heimlich von Böhme und ließ mich für die Fremdenlegion in Algerien anwerben. Doch – das Unglück heftete sich an meine Fersen. In der Garnison Addis Abeba kam es unter den Legionären zu einer Meuterei. Der Schein sprach gegen mich. Ich wurde mit vielen anderen zur Deportation nach Neukaledonien verurteilt. Doch infolge meiner tadellosen Führung als Sträfling durfte ich sehr bald auf einer Farm arbeiten. Von dort entflohen wir dann, alles Leute, die nichts Schlimmes auf dem Kerbholz hatten. – Ich hoffe nun, daß Ihr Vater mir verzeihen wird, Herr Herbert. Ich liebe Ihre Schwester, habe nie aufgehört sie zu lieben. Ich habe ein einziges Mal einen Fehltritt begangen! Es wird nie wieder geschehen – nie!“

Klara Hammer war dicht neben ihn getreten, hatte seine Hand ergriffen und erklärte leise: „Der Vater wird Dir verzeihen. Ich kenne ihn –“

Kerstens Augen schimmerten feucht. „Wie seltsam doch das Schicksal uns arme Menschlein auseinanderwirft und wieder zusammentreibt,“ meinte er. „Daß wir uns gerade hier im fernen Ozean auf einer Insel wiederfinden mußten. – Nun – ich will dabei helfen, daß es eine Insel des Segens und der Glücklichen wird!“

Dann wandte er sich an den Maori.

„Mein brauner Freund,“ fragte er, „hat Dein verstorbener Herr Euch, den drei Gefährten seiner Einsamkeit, gegenüber denn nie eine Andeutung über den See in der Grotte fallen lassen? Weißt Du etwas von edlen Metallen, die vielleicht auf dem Grunde des Sees ruhen?“

Poraropo schüttelte den Kopf. „Nein, nie hat er etwas Ähnliches geäußert. Freilich – er liebte die Höhle, besuchte sie sehr oft. Und ich erinnere mich jetzt auch, daß er einmal allerlei Werkzeuge mit nach der Grotte nahm. Was er dort jedoch getan, kann ich nicht sagen. Er hatte sonst keine Geheimnisse vor uns. Wir lebten hier wie Freunde, und – wir liebten ihn.“

„Es wird Zeit,“ erklärte Harald Kersten da. „Folgen wir den beiden.“ Er holte hinter einem Felsen eine Laterne hervor, zündete sie an und kletterte in den Spalt hinein, indem er Klara gleichzeitig stützte. Es ging recht steil abwärts.

„Wir brauchen nicht gerade jedes Geräusch zu vermeiden,“ sagte Kersten dann. „Der See liegt mehr nach dem Hintergrunde der Höhle zu, und diese ist gut 500 Meter lang.“ –

Inzwischen waren Böhme und der Holländer an dem Lagerplatz der Flüchtlinge angelangt. Diese hatten sich in einem Winkel der Höhle häuslich eingerichtet. Die Kranken, denen es jetzt bereits bedeutend besser ging, ruhten auf weichen Moospolstern und Decken. Zwei große Schiffslaternen beleuchteten das seltsame Bild dieses Schlupfwinkels.

Böhme hatte es sehr eilig, den See in Augenschein zu nehmen. Der Holländer, er hieß van Daamen, und ein anderer der Flüchtlinge, ein riesiger Norweger, führten ihn nun tiefer in diese unterirdische Höhlenwelt hinein. Die beiden hatten jeder eine Laterne mit, und deren Lichtschein genügte, die seltsamen Formen der Felsen und die mächtigen Zacken, die von der Decke herabhingen, erkennen zu lassen. In der Grotte war es angenehm warm. Nur ein leichter Dunst wie von schwelenden Kohlen lag in der Luft. Van Daamen erklärte Böhme, daß diese Schwaden hie und da aus tiefen Rissen im Boden aufstiegen, – wieder ein Beweis für die vulkanischen Kräfte, die unter der Insel schlummerten.

Dann war der kleine See erreicht. Er befand sich in der Mitte einer domartigen Erweiterung der Höhle. Seine Ränder waren hoch wie die eines gemauerten Bassins und bestanden aus kalkigen Niederschlägen. Sein Durchmesser betrug etwa zehn Meter. Das Wasser selbst war milchig und hatte eine Temperatur von gut 20 Grad.

Böhme ging um den See herum, kniete dann nieder und stieß eine Stange in das Wasser. Er fand auch Grund und stellte weiter fest, daß der See nach der Mitte zu immer tiefer wurde.

„Ich werde mich entkleiden und tauchen,“ meinte er. „Der Grund ist steinig. Ich hole dann eine Menge dieser Steine heraus. Vielleicht sind Goldkiesel dazwischen.“

Van Daamen nickte nur. – Böhme warf hastig seine Sachen ab. Völlig nackt stieg er dann in das Becken hinein. Das Wasser reichte ihm sofort bis an die Schultern. Er war ein guter Schwimmer, gelangte mit ein paar Stößen bis zur Mitte des Sees und glitt nun, nachdem er die Lungen voll Luft gepumpt hatte, in die Tiefe hinab. Die milchigen Wasser schäumten leicht auf, warfen Kreise, beruhigten sich wieder.

In diesem Augenblick traten Harald Kersten und die Geschwister Hammer hinter ein paar Felsen hervor und gesellten sich zu van Daamen und dem Norweger.

„Der Halunke wird Augen machen, wenn er wieder auftaucht!“ meinte der Holländer. „Aber – neugierig bin ich doch, ob er Gold findet –“

Jetzt erst bemerkte Herbert Hammer das Fehlen Poraropos. „Wo er nur geblieben sein mag?“ fragte er den Bruder. „Du klettertest doch als vorletzter hinab, und Poraropo war hinter Dir, Walter.“

„Oh – er ist nur nach der Küste gelaufen, um sich nach dem Schoner und nach Pikariti umzusehen, für dessen Leben er fürchtet. Er wird gleich wieder hier sein. Wir anderen hatten ja den Schoner und unseren braven Alten ganz vergessen.“

Harald Kersten starrte andauernd auf das Wasser des Sees. Sein Gesicht war noch ernster als sonst, als er nun leise sagte:

„Böhme müßte längst wieder oben sein. – Täusche ich mich etwa? Färbt sich das Wasser dort in der Mitte nicht blutig?“

Da – die Oberfläche des Weihers warf kleine Wellen. Dann erschien ein nackter Arm, dessen Finger krampfhaft in die Luft griffen, – verschwand wieder.

Klara Hammer schritt jetzt hastig in das Dunkel der Höhle hinein. Kersten hatte ihr zugeflüstert, sich von hier zu entfernen.

Abermals ragte der Arm sekundenlang heraus, und wieder griffen die Finger zu, als suchten sie irgendwo einen Halt.

„Ihm ist etwas zugestoßen,“ meinte Kersten. „Irgend eine unbekannte Gewalt hält ihn in der Tiefe fest.“

Er warf Jacke und Weste ab und streifte die plumpen Sträflingsschuhe von den Füßen. Dann stieg auch er in das Becken hinein, ohne auf die Warnungen der anderen zu achten.

Er tauchte sehr langsam. Nun bekam er unter Wasser einen menschlichen Arm zu packen, zog mit aller Kraft, strebte dem Ufer zu.

Von dort reichte man ihm eine Stange, so daß er sich mit der anderen Hand daran festhalten konnte. Trotzdem wollte es ihm nicht gelingen, Böhme herauszuziehen. Van Daamen und der Norweger warfen ihm nun ein Tau hin, und es glückte Kersten auch, eine Schlinge um den Unterarm des offenbar bereits Bewußtlosen zu schieben.

Jetzt zog man vom Ufer her mit aller Macht.

Da – ein Ruck – und der Körper Böhmes schnellte hoch – verstümmelt – ohne die rechte Hand. Sie war gerade im Gelenk abgerissen oder abgeschnitten. Blutstrahlen entsprangen der furchtbaren Wunde. Er selbst regte sich nicht mehr.

Man band den Armstumpf schnell ab, um die Blutung zu stillen. Dann leitete man Wiederbelebungsversuche ein. Und – sie hatten Erfolg.

Böhme schlug die Augen auf. Sein Blick war der eines Halbirren. Ein Ausdruck wahnsinniger Angst lag darin.

Kersten beugte sich über ihn.

„Böhme, erkennen Sie mich?“ fragte er eindringlich. „Was ist dort in der Tiefe des Wassers vorgefallen?“

Der Sterbende, – man sah, daß es mit ihm zu Ende ging, nickte.

„Ja – Sie sind Harald Kersten,“ flüsterte er. „Sie – sollen mir nicht weiter nachtragen, daß ich –“

Ein Schwächeanfall übermannte ihn. Nach einer Weile hauchte er wieder:

„Auf dem Grunde des Sees – müssen – große Bügelfallen – Raubtiereisen – verankert sein. Ich faßte beim Umhertasten nach den Steinen auf eine solche Falle. Sie schlug zu. Mein rechter Arm saß fest –“

Abermals schloß er vor Schwäche die Augen.

Eine halbe Stunde später war er tot, ohne nochmals die Besinnung wiedererlangt zu haben.

Man deckte seine Kleider über ihn. Und Kersten sagte dann zu Herbert Hammer: „Ich ahnte, daß die Bemerkung in Ihres Onkels Testament über den „Taucher“ eine Warnung bedeutete. Hermann Hammer hat sein Geheimnis vor Fremden schützen wollen.“

Gleich darauf erschienen zur freudigen Überraschung aller Pikariti und Poraropo in der Höhle, ersterer mit verbundenem Kopf und noch etwas unsicher auf den Beinen von dem Beilhiebe, mit dem ihn John Böhme niedergeschlagen hatte.

Poraropo hatte den Schoner und den gefesselten Landsmann sehr bald gefunden. Aber es war ihm nicht leicht geworden, den Betäubten ins Leben zurückzurufen. Hätte Pikariti nicht trotz seiner Jahre einen so außerordentlich widerstandsfähigen Körper besessen, so würde er sich von dem Beilhiebe kaum so schnell erholt haben. –

Am Morgen nach dieser ereignisreichen Nacht finden wir sowohl die Flüchtlinge als auch die Familie Hammer und Pikariti auf der Veranda des Wohnhauses versammelt.

Drei von den früheren Sträflingen wollten noch außer Kersten als Gehilfen des Pflanzers auf der Insel bleiben, darunter auch van Daamen. Die anderen sollten nach einiger Zeit in aller Heimlichkeit nach Sydney gebracht werden, von wo sie leicht eine Gelegenheit zur Rückkehr nach Europa finden konnten.

Herr Hammer hatte mit Kersten eine kurze Aussprache unter vier Augen gehabt. Dann rief er seine Frau und Tochter in sein Zimmer, und glückstrahlend durfte Klara nun ihren heimlich Verlobten in die Arme schließen.

Das Leben auf der Insel nahm bald wieder einen geregelten Gang. Arbeit gab es ja die Hülle und Fülle. Von einer nochmaligen Untersuchung des Sees hatte der Pflanzer nichts wissen wollen, er hatte sogar das Betreten der Grotte ausdrücklich verboten.

Arbeit die Hülle und Fülle – aber auch genug Überraschungen gab’s, und zwar auf dem neuerstandenen Geländezuwachs der Insel.

So fand man zum Beispiel in dem Wrack des Dreimasters Steinkohlen – eine große Ladung, die man gut verwerten konnte. Dann war durch das Auftauchen des Meeresbodens auch eine Perlmuschelbank mit ans Tageslicht gekommen, und wenn die in den Muscheln gefundenen Perlen auch nicht gerade von besonderem Werte waren, so brachte ihr Verkauf doch immerhin einen guten Erlös.

Bereits nach Ablauf von drei Monaten hatte man dann weite Strecken des neuen Inselteiles durch Untergraben von Meerespflanzen und Viehdünger als Weideland urbar gemacht, hatte auch das Wohnhaus und ein neu errichtetes Gebäude nach einer Bucht an der Westküste verlegt, um einen bequemen Wasserzugang zu haben.

Das wunderbare Klima der Insel, das jährlich drei Ernten gestattete, und die schnell heranwachsenden neuen Weideflächen machten eine Vergrößerung des Farmbetriebes notwendig. Die Schafzucht wurde unter Harald Kerstens Leitung, der inzwischen glücklicher Ehemann geworden, bedeutend erweitert. Dann hatte auch der für alle technischen Neuerungen sehr begeisterte Herbert nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen an einer Stelle des Nordteiles der Insel, wo drei Schlammgeiser in ganz kurzen Pausen ihre Schlammassen hochwarfen, deren Kraft für die Anlage einer elektrischen Kraftstation ausgenutzt, die nun die Anschaffung elektrischer Erntemaschinen und Scherapparate für die Schafherden gestattete.

Kurz – der gesamte Plantagenbetrieb erhielt einen Zug ins Große. Noch ein zweiter Motorschoner mußte bald in Sydney bestellt werden, damit man die vielfachen Erzeugnisse der Insel nach Auckland bringen konnte.

So ging ein volles Jahr dahin.

Dann geschah es immer häufiger, daß Harald Kersten am Familientisch das Gespräch auf die Grotte und den kleinen See brachte. Schließlich hatte er auch von seinem Schwiegervater die Erlaubnis erhalten, mit langen Stangen, an deren einem Ende eiserne Körbe befestigt waren, den Grund des Weihers abzusuchen.

Als die Vorbereitungen hierzu beendet waren, wanderten eines Morgens die ganzen Bewohner der Farm nach der Höhle, und unter allgemeiner Spannung wurde dann mit drei Stangen von dem Steingeröll des Seegrundes eine ganze Menge an das Ufer geholt. Hierbei ergab sich, daß Hermann Hammer im ganzen sechs Bügelfallen, an die er durch Ketten schwere Steine befestigt hatte, zum Schutze seines Geheimnisses auf dem Boden des Weihers aufgestellt hatte.

Und das an das Ufer geschaffte Geröll? – Zunächst konnte man nichts von Edelmetall entdecken. Dann war es Walter Hammer, der in einem der Felsbrocken eine dicke Ader gediegenes Silber fand.

Nun war das Geheimnis aufgeklärt! Nicht nur die Steine des Grundes, sondern auch der Felsboden des Seetrichters enthielten reiche Silbergänge. Das milchige Wasser des Weihers hatte sich bequem auspumpen lassen, so daß man an das wertvolle Erz leicht herankonnte.

So erfuhr denn der Plantagenbetrieb abermals eine Erweiterung durch den Abbau dieser Silbermine. Immer mehr Arbeit gab’s für die Bewohner der Insel. Aber – freudig regten sie von früh bis spät die Hände, stets in dem Bewußtsein, daß ihnen die Fremde längst eine liebe, neue Heimat geworden, die ihnen überreichlich ihr Mühen vergalt.

Schon nach drei Jahren hätten die Auswanderer daran denken können, nach Deutschland zurückzukehren. Doch – ihre Insel war ihnen jetzt so ans Herz gewachsen, daß sie sich nicht von ihr trennen mochten, zumal sie durch wochenlange Besuche in der vielfache Zerstreuungen bietenden australischen Hafenstadt Sydney auch das Leben in der großen Welt bequem genießen konnten.

Das Insel-Erbe war für die Familie Hammer und die, die ihnen nahestanden, wirklich eine segensreiche Erbschaft geworden.

 

Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hier ist eine Zeile doppelt sowie die beiden folgenden Zeilen in der Reihenfolge vertauscht.
  2. In der Vorlage steht: „Bruderu“.
  3. In der Vorlage steht: „Terassenschlucht“.