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Die hölzerne Insel

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.

 

Die hölzerne Insel.

 

W. Belka.

 

Einen Monat lang war Karl Meinke über den plötzlich während einer Typhusepidemie erfolgten Tod seiner Eltern ganz untröstlich gewesen. Sein Vater hatte in der Nähe der Stadt Wilmington in Nord-Karolina seit drei Jahren als deutscher Auswanderer eine kleine Farm besessen, hatte es aber trotz unermüdlichen Fleißes nicht vorwärtsbringen können und starb insofern gerade zur rechten Zeit, als eine Woche später sein Hauptgläubiger, der Schiffsrheder[1] Branting in Wilmington, seine Besitzung hatte versteigern lassen wollen.

Karl als das einzige Kind hatte zunächst bei einem benachbarten Farmer Unterkunft gefunden, einem Amerikaner von jener profithungrigen Sorte, die aus all und jedem Kapital zu schlagen suchen. Der kräftig entwickelte deutsche Junge, der eben erst das 13. Lebensjahr vollendet hatte und der mit seinem blonden Haarschopf und den blauen Augen seine germanische Abstammung schon von weitem verriet, mußte dort von früh bis spät so hart arbeiten, daß er eines Tages, als der Amerikaner ihn sogar ganz grundlos zu züchtigen versuchte, einfach davonlief.

Karl hatte in den drei Jahren in Amerika, dem Dollarlande, doch schon so viel von amerikanischem Wesen angenommen, daß er um seine Zukunft keineswegs in Sorge war und mit größtem Selbstvertrauen, kaum in Wilmington angelangt, sich als kleiner Straßenhändler etablierte.

Morgens war er in der Hafenstadt, die im tiefsten Winkel einer Bucht liegt, als blinder Passagier eines Güterzuges eingetroffen, und mittags stand er schon an einer belebten Straßenecke und bot Zündhölzer, billige Zigaretten und Süßigkeiten feil, die er auf einem großen Servierbrett ausgebreitet hatte, das er an einem um die Schulter gelegten Riemen vor sich her trug.

Das Geschäft ging mäßig. – 21 Dollar waren Karls ganzer Geldvorrat gewesen, als er in Wilmington aus dem Güterzuge schlüpfte. Die Einkäufe für seinen Handelsbetrieb hatten 18 Dollar verschlungen, so daß er also noch ganze 3 Dollar in der Tasche hatte.

Bis vier Uhr nachmittags pries er unermüdlich seine Waren an. Aber – die Konkurrenz war zu groß und ihm außerdem als einem Neuling feindlich gesonnen. Neben ihm standen vier andere Knaben seines Alters, die die gleichen Dinge feilboten. Sie schikanierten Karl nach Kräften, warfen mit Steinen nach ihm, spritzten ihm Wasser über seine Herrlichkeiten und lachten schadenfroh, als er endlich das Feld räumte und sich entfernte.

Karl tat dies nur, weil ihn der Hunger peinigte. Er ging zum Hafen hinab und betrat eine kleine Kneipe, wo er billig zu Mittag essen wollte. Bescheiden drückte er sich in eine Ecke, setzte sich an ein rundes Tischchen und bestellte bei dem Wirt, einem rotnasigen Irländer, eine Suppe mit Fleisch und Gemüse.

Neben ihm nahmen dann bald an einem größeren Tische drei Leute Platz, die offenbar Matrosen waren. Sie sprachen englisch, begannen dann aber ganz vorsichtig zu flüstern und schauten sich immer wieder in einer Weise um, die nicht für ihr gutes Gewissen zeugte.

Karl, ein heller Bursche, merkte, daß diese drei nicht gerade harmlose Dinge beredeten. Um ihn kümmerten sie sich nicht, zumal er eifrig während des Essens ein Witzblatt zu studieren schien. In Wahrheit horchte er jetzt mit gespanntester Aufmerksamkeit und versuchte, einiges von ihrer Unterhaltung aufzuschnappen.

Sie wurden dann auch weniger vorsichtig, und nun konnte Karl aus ihrem Gespräch in kurzem entnehmen, daß sie irgend etwas mit einem jener Riesenflöße vorhatten, die zum Transport von Holz nach England, dem waldarmen Lande, benutzt werden.

Das britische Inselreich bedarf ja andauernd sehr großer Holzmengen zu allerhand Zwecken, hauptsächlich aber für die Steinkohlenbergwerke das sogenannte Grubenholz.

Welche Teufelei die drei Männer planten, vermochte der Junge nicht herauszufinden, obwohl er sein Hirn mächtig anstrengte und sich in der Rolle eines kleinen Detektivs versuchte, der durch logische Schlußfolgerungen das ihm noch Unklare zu ergänzen trachtet.

Als die drei nach einer Stunde aufbrachen, ließ Karl seine Vorräte bei dem Wirt, einem harmlosen, wenn auch trinkfreudigen Manne, zurück und schlich ihnen nach.

Sie gingen am Hafen entlang und betraten ein Heuerbureau, wo Seeleute sich für Fahrten „anmustern“ (anwerben) lassen. Das Bureau war recht überfüllt. Karl brauchte daher nicht zu fürchten, von denen, die seinen Argwohn erregt hatten, bemerkt zu werden. Er hörte dann, daß sie sich als Matrosen für eine Fahrt von Wilmington nach Liverpool in England auf dem Dampfer Fairfax verpflichteten.

Der Name Fairfax war nun vorhin bei der Unterhaltung der drei in jener Kneipe recht oft gefallen, so daß es dem Knaben nicht gerade schwer wurde, zu vermuten, dieser Dampfer Fairfax müsse bei dem unsauberen Plane mit dem Floß irgend eine Rolle spielen.

Karl empfand nun schon eine derartige Befriedigung durch seine Tätigkeit als kleiner Detektiv, daß er sein eigentliches Geschäft als Straßenhändler ganz vergaß und nur von dem Bestreben beseelt war, alles aufzuklären, was jene drei Leute in Schilde führten. Er war von Jugend an etwas abenteuerlustig veranlagt gewesen, und das Leben auf der kleinen, einsamen Farm, zu der auch Wald gehörte, hatte ihm genug Gelegenheit gegeben, bereits als Zehnjähriger mit einer kleinen Flinte Felder und Wälder zu durchstreifen, wobei er zur Freude seines Vaters sowohl allerlei Raubwild erlegt als auch einmal zwei Spitzbuben angehalten hatte, die von einer anderen Farm eine Kuh entführen wollten. Kurz: unser Karl besaß einen ebenso hellen Kopf wie auch ein mutiges Herz, dazu noch jene Geriebenheit, die ihn bereits zum waschechten Amerikaner gemacht hatte.

Als die drei Matrosen ihre Sache im Bureau erledigt hatten, wollte der Inhaber es für heute schließen und wandte sich nun an den allein noch anwesenden blondhaarigen Jungen mit der Frage, ob er sich etwa auch anmustern lassen würde; eine Stelle wüßte er schon für ihn.

Karl schüttelte den Kopf. „Nein – ich möchte von Ihnen nur erfahren, wann der Dampfer Fairfax in See geht, was er geladen hat und wem er gehört.“

Der Agent, ein älterer Holländer, war zunächst etwas erstaunt, meinte dann aber ganz freundlich:

„Der Fairfax ist ein alter Rattenkasten von Schraubendampfer, soll ein von dem Rheder Branting zusammengestelltes Riesenfloß über den Atlantik nach Liverpool schleppen und wird Grubenholz als Ladung nehmen. – So, Junge, nun ist Deine Neugier wohl befriedigt.“

„Dank’ schön, Master. – Guten Abend.“ Damit trollte Karl sich von dannen, bummelte an den Hafenkais hin und her und fand schließlich auch die großen Lagerspeicher der Firma Branting, in deren Nähe sowohl der Dampfer Fairfax als auch das Riesenfloß vertäut lagen. –

Die ersten Versuche, größere Mengen unbearbeitetes Holz in Floßform über weitere Strecken der Weltmeere hinüberzuschaffen und so die Dampferfrachtkosten zu sparen, unternahm ein Amerikaner Robertson, der in der Stadt Stella am Kolumbia-Fluß (nordwestlichstes Nordamerika) mächtige Flöße aus unbehauenen Stämmen bis zu 120 Meter Länge in Schiffsform baute und sie den 1100 Kilometer langen Weg bis San Franzisko über den Stillen Ozean schleppen ließ. Robertsons Verfahren fand bald Nachahmer, und diese Art der Beförderung großer Massen Hölzer wollte nun auch der unternehmungslustige Rheder Branting im Jahre 1905, in dem unsere Geschichte spielt, zum ersten Male versuchen.

Er hatte ein Floß von fast 150 Meter Länge und 40 Meter größter Breite herstellen lassen, das nun in den nächsten Tagen, geschleppt vom Fairfax, die Ausreise antreten sollte. –

Unser Freund Karl war jetzt, nachdem er gehört, daß Branting der Eigentümer des Floßes sei, durchaus nicht mehr so sehr erpicht auf seine Detektivrolle.

Branting hatte ja, wie er sehr wohl wußte, seinen Vater erbarmungslos um Hab und Gut bringen wollen und stand überhaupt im Rufe eines Mannes, der mit seinem Gelde Wucher trieb und schon viele kleine Farmer ruiniert hatte. Kein Wunder, daß der Junge sich nun geradezu ärgerte, seine Zeit für Branting geopfert zu haben.

Er machte also kehrt, wollte aus der Kneipe des Irländers seine Waren abholen und dann in den Kaffeehäusern und Musikbars sein Glück versuchen.

Plötzlich wurde er jedoch angerufen. Es dämmerte bereits, und über den Hafen strich von der See her eine recht kühle Abendbrise hin. Trotz der schlechten Beleuchtung hier auf den Kais erkannte Karl sofort den ältesten der drei Matrosen, einen wahren Riesen mit fuchsigem Vollbart und Pockennarben auf den Wangen.

„He, Junge, Du kannst Dir was verdienen,“ hatte der Mann gerufen, den seine Gefährten stets Hobby genannt hatten.

Karl blieb stehen.

„Hier – bring’ diesen Zettel nach Mutter Knockings Bar in der Chikago-Street einem gewissen Tapperlan, der jetzt dort sicher anzutreffen ist. Da – dies für den Gang. Und warte auch auf Bescheid. Ich setz’ mich dort hinter den Stapel leerer Kisten.“

„Well, Master. Bin gleich wieder da!“ Karl rannte leichtfüßig davon.

Kaum war er jedoch in die nächste Gasse eingebogen, als er unter einer Laterne halt machte und den Zettel neugierig sich anschaute.

Es war dies nur ein Ausschnitt aus dem Anzeigenteil einer Zeitung, etwa 15 Zentimeter im Quadrat groß. Kein einziges geschriebenes Wort war darauf zu finden. Nur Gedrucktes gab’s da zu lesen auf beiden Seiten. Reklamen aller Art und auch einige Stellungsgesuche arbeitsloser Handwerker und anderer Leute.

Karl schüttelte den Kopf, murmelte ein „Hm – dahinter muß was Besonderes stecken!“ und prüfte dann jede Anzeige aufs allersorgfältigste.

So entdeckte er denn eine ganz kleine, unauffällige in der linken Ecke, die folgenden Wortlaut hatte:

„Mitte rechts Schlafraum 2 drei liegende Kreuze noch hinter mir her Vorsicht grüßt

Ellinor.“

Da dies die einzige Anzeige war, die etwas Geheimnisvolles an sich hatte, aus deren Inhalt aber leider nicht klug zu werden war, nahm Karl sich vor, den Empfänger des Zettels scharf dabei zu beobachten, wenn dieser ihn sich besah.

So hatte des blonden Jungen Detektivtätigkeit halb gegen seinen Willen aufs neue begonnen.

– – – – – – – –

In der Bar der Mutter Knocking waren alle Marmortischchen besetzt.

In einer Ecke halb hinter einem Garderobenständer saß ein graubärtiger, alter Herr, der eifrig eine Neuyorker[2] Zeitung studierte und dabei aus einer kurzen Holzpfeife dicke Wolken in die Luft qualmte.

Er hielt die Zeitung stets ganz hoch. Daß er in das Papier ein kleines Loch gerissen hatte und ständig einen Mann beobachtete, der sofort den Seemann verriet, aber recht sauber angezogen war, ahnte niemand.

Dieser alte Herr, der noch eine graue Brille trug und eine richtige Trinkernase hatte, die in allen Farben leuchtete, bemerkte jetzt unseren Freund Karl, der von Tisch zu Tisch ging und jeden einzelnen Gast stets fragte, oh er vielleicht Master Tapperlan vor sich hätte.

Karl fand endlich den richtigen Tapperlan. Und das war grade der Seemann mit dem schwarzen Spitzbart und olivengelben Gesicht, dem der alte Herr eine so merkwürdige Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

Tapperlan nahm den Zettel und suchte offenbar sofort eine ganz bestimmte Anzeige. Nun hatte er sie gefunden. Und Karl freute sich: war es doch gerade die, die so geheimnisvoll klang.

Des Seemannes dunkle Augen ruhten sehr lange auf dieser Annonce. Dann knüllte er den Zettel in der Faust zusammen, strich ein Streichholz an, verbrannte ihn in der Aschenschale und wandte sich nun erst an den Boten.

„Boy, bestell’ dem Manne, der Dich herschickte, es sei nun alles in Ordnung und die Sache könnte so wie verabredet weitergehen. – Was sollst Du ausrichten? – Wiederhol’s mir mal.“

Karl tat’s. Und Tapperlan war zufrieden.

Inzwischen hatte der alte Herr schnell die Bar verlassen.

Als der kleine Deutsche auf die Straße hinaustrat, wurde er plötzlich derb am Ärmel gepackt. Vor ihm stand der Herr mit der grauen Brille, sagte leise:

„Komm’ mit, Junge. Ich habe mit Dir zu reden. Du erhältst 20 Dollar, wenn Du ehrlich bist.“

Zwanzig Dollar! Das war für unsern Karl fast ein Vermögen.

„Well, Master, – abgemacht. 20 Dollar Sie – und ich Ehrlichkeit dafür!“ meinte er keck.

„Du gefällst mir,“ lächelte der alte Herr, winkte einen Taxameterwagen heran und ließ Karl zuerst einsteigen. – „Fahren Sie uns spazieren,“ hatte er dem Kutscher befohlen.

Nun begann er Karl auszufragen, nachdem er ihm das Geld in die Hand gedrückt hatte.

Der blonde Junge berichtete auch alles, was er heute als kleiner Detektiv erlebt hatte, erwähnte natürlich auch die Anzeige.

„Kannst Du mir deren Wortlaut wiederholen?“ meinte der Fremde gespannt.

„Ungefähr ja. Es hieß da: Mitte rechts Schlafraum 3 zwei liegende Kreuze. Das andere hab’ ich vergessen. Aber es kam noch das Wort Vorsicht darin vor, und zum Schluß stand „Ellinor“.“

Es war nicht böse Absicht von Karl, daß ihm bei diesen Angaben ein Fehler unterlief, sondern es war nur ein Irrtum in den Zahlen. –

Der alte Herr war sehr zufrieden, schenkte Karl noch fünf Dollar und sagte, er solle um neun Uhr zu ihm ins Hotel Washington, Zimmer 9, kommen, was der kleine Detektiv auch versprach.

Dann hielt der Wagen, der Junge stieg aus und lief spornstreichs[3] nach den Kais und dem Kistenstapel zurück.

Hier saß der rotbärtige Hobby und schnitzelte aus Langerweile an einem Stückchen Brett herum. Karl richtete die Bestellung aus, und Hobby gab ihm noch einen halben Dollar.

„Ein feines Geschäft, Detektiv spielen,“ dachte der Junge vergnügt.

Hobby begann sich nun mit ihm zu unterhalten. Als Karl erzählte, weshalb er nach Wilmington gekommen und Straßenhändler geworden sei, meinte der rote Hobby:

„Boy – werde Seemann! Nur als solcher kannst Du Dein Glück machen –“ Und er schilderte ihm das Leben eines Schiffsjungen in den verlockendsten Farben. Er tat’s freilich nur deshalb, weil er wußte, daß Kapitän Gart vom Fairfax dem 10 Dollar spendieren würde, der ihm einen Kajütjungen besorgte.

Karl, der bisher für die See nicht viel übrig gehabt hatte, hörte andächtig den faustdicken Lügen des roten Hobby zu und meinte schließlich:

„Hm – ob ich hier Straßenhändler oder ob ich Schiffsjunge werde, bleibt sich schließlich gleich, wenn ich nur satt werde und ein Dach überm Kopf habe.“

Hobby wollte das Eisen schmieden, so lange es noch heiß war, erhob sich und brachte Karl zu Kapitän Gart auf den Fairfax.

Gart saß in seiner Kajüte beim Nachttrunk und mischte gerade das neunte Glas Grog. Karl gefiel ihm sofort. Er machte alles mit ihm ab und sagte, seinetwegen könnte Karl gleich auf dem Dampfer bleiben.

Unser kleiner Freund jedoch erklärte, er hätte noch seine Sachen abzuholen; er würde morgen früh seinem Dienst antreten.

Zehn Minuten später war er im Washington-Hotel und klopfte an die Tür von Nummer 9 an. Zu seinem Erstaunen öffnete ihm ein jüngerer, bartloser Herr und sagte ihm, er solle nur eintreten. Der alte Herr sei ebenfalls hier.

„Wo denn?“ fragte Karl ungläubig. „Ich sehe nur Sie –“

„Na – ich bin eben der alte Herr,“ lachte jener.

Da ging Karl ein Licht auf. Und mit einer gewissen Achtung flüsterte er: „Ah – Sie sind ein Detektiv. Ich habe mir das gleich gedacht.“

Der Herr hieß ihn Platz nehmen. Auf dem Tische stand ein gutes Abendessen. Karl mußte tüchtig zulangen.

Währenddessen erzählte ihm der Detektiv, daß er Percy Bloom heiße und Angestellter des weltberühmten Pinkerton-Detektiv-Instituts sei.

„Ich bin hinter einer Bande von Dieben her,“ fuhr er leise fort, „die einem Milliardär in Neuyork etwas gestohlen haben, was vielleicht das allerkostbarste ist, das die Erde kennt. Ich darf Dir nicht mehr verraten, mein Junge. Aber – es wird Dein Schade nicht sein, wenn Du in unsere Dienste trittst.“

Karl meinte, das ginge leider nicht. Er hätte sich soeben als Kajütjunge auf den Dampfer Fairfax werben lassen und auch fünf Dollar Handgeld bekommen.

Da sprang der Detektiv erfreut auf.

„Junge – das ist ja prächtig!“

Dann setzte er sich wieder und fügte gleichgültiger hinzu: „Ich halte nämlich von der Seemannslaufbahn sehr viel – sogar sehr viel. Du hast gut gewählt. Werde ein braver Jan Maat und mache Dein Glück. Das wünscht Dir Percy Bloom von Herzen.“

Er behielt Karl dann auch bei sich, ließ Betten für den Diwan bringen, plauderte noch mit ihm und sagte, er solle nur zur Ruhe gehen. Er selbst hätte noch ein kleines Geschäft in der Stadt vor.

Und Karl durfte nun mitansehen, wie der Detektiv sich wieder in den alten Herrn verwandelte.

Am Morgen nach einem guten Frühstück verabschiedete er sich von Percy Bloom mit herzlichem Dank und dem feierlichen Versprechen, niemandem etwas von ihrer Bekanntschaft zu verraten. Mit der Straßenbahn fuhr er nach dem Hafen, das Bündel in der Hand, das der Detektiv ihm vorhin mit den Worten überreicht hatte: „Es enthält alles, was Du als Schiffsjunge bauchen wirst. Nimm es ruhig als Geschenk von mir an, denn Du hast mir einen sehr wertvollen Dienst erwiesen.“

In der Straßenbahn lag eine Zeitung. Karl schaute hinein, stutzte plötzlich, las:

„Percy Bloom, wohl der tüchtigste der Beamten des Pinkerton-Instituts, ist mit einer neuen Aufgabe betraut worden und vor einigen Tagen nach England abgereist, wo Lord W. seiner dringend bedarf. Amerika kann stolz darauf sein, einen so genialen Mann wie Bloom hervorgebracht zu haben.“

– – – – – – – –

Eine Woche später.

Karl Meinke saß einmal wieder in seinem winzigen Verschlag im Vorschiff und weinte sich aus.

Er war gewiß kein verzärtelter Junge, dem die Tränen recht locker sitzen. Im Gegenteil: bei ihm mußte es schon sehr arg kommen, wenn die Zähren flossen.

Aber – es war eben arg gekommen – zu arg! Unglaubliches hatte er in diesen letzten vier Tagen durchmachen müssen, seit der Dampfer den Hafen von Wilmington mit dem Riesenfloß im Schlepptau verlassen hatte.

Kapitän Gart und die Matrosen hatten da erst ihre wahren Naturen verraten. Eine geradezu vertierte Gesellschaft von Rohlingen hatte sich für diese Fahrt auf dem Fairfax als Besatzung zusammengefunden. Da war nur ein einziger unter den elf Leuten, der den armen Jungen nicht knuffte, schalt, beim geringsten Versehen ohrfeigte und rohe Späße mit ihm trieb.

Außer dem zumeist betrunkenen Kapitän Gart tat sich in dieser Beziehung am meisten der rote Hobby hervor, dessen gute Freunde Wilkins und Parcher sich schier totlachen wollten, wenn Hobby Karl zwang, ein Schnapsglas Kielwasser aus dem untersten Schiffsraum zu trinken, was stets zur Folge hatte, daß der bedauernswerte Junge sich heftig nach dem stinkenden, ekelhaften Zeug übergab.

Nur ein einziger meinte es gut mit Karl. Aber das war ein armseliger Chinese, der Schiffskoch namens Li-Fung, der selbst unter dem Schabernack der rohen Burschen zu leiden hatte. –

Karl hatte das Gesicht in beide Hände vergraben und schluchzte erbärmlich.

Er verwünschte sich, den Fairfax, den Kapitän, den roten Hobby. Er wollte sterben, wollte sich in die seit dem Morgen sehr stürmische See werfen, sich ertränken.

Da pochte es leise gegen die Tür seines Verschlages, und dann steckte Li-Fung seinen stets von einer schwarzen Seidenkappe bedeckten Kopf hinein, flüsterte in seinem miserablen Englisch:

„Kleines Freund – nicht weinen tun. Sofort kommen auf die Deck. Sturm geworden sein zu Orkan. Steuer von Fairfax kaputt. Fairfax werden gleich gegen Floß anrennen. Dann untergehn. Schnell mitkommen, sonst ersaufen hier wie Ratte im Loch –“

Karl sprang auf. All die trüben Gedanken waren wie weggewischt. – Nein – wenn es so stand, dann – dann durfte er ja hoffen, daß sein Los sich vielleicht bessern würde. Der Untergang des Dampfers würde die herzlosen Männer vielleicht daran gemahnen, daß der Tod hier in der Wasserwüste des Atlantik ihnen allzeit nahe und daß ihr freventlicher Übermut, den sie an einem wehrlosen Knaben ausgelassen hatten, nicht unbestraft bleiben würde.

Er eilte also hastig hinter Li-Fung an Deck, nachdem er sein kleines Bündel unter den Arm genommen. –

Der Dampfer, der nicht mehr dem Steuer gehorchte, rollte schwer inmitten der haushohen Wogen, die bereits zwei Boote und einen Teil der Kommandobrücke weggerissen hatten.

Ein unsicheres Halbdunkel lagerte über dem orkangepeitschten Meere. Karl erkannte kaum das Riesenfloß, das etwa fünfzig Meter vom Fairfax ablag. Die vier dicken Schlepptaue, die es bisher mit dem Dampfer verbunden hatten, waren gekappt worden. Trotzdem führte ein besonderes Verhängnis den Fairfax der treibenden Holzmasse, deren Stämme durch viele Ketten zusammengehalten wurden, immer näher.

Kapitän Gart rannte auf dem Deck wie ein Verzweifelter hin und her. Daß ihn jeden Moment eine Woge über Bord spülen konnte, daran schien er nicht zu denken. Er hatte völlig den Kopf verloren.

Nicht anders benahmen sich der Steuermann und die Matrosen. Sie hatten sich in das Vorschiff geflüchtet, hatten die Vorratskammer aufgebrochen und machten sich über ein Kognakfäßchen her. Zu allem Unheil kamen nun auch der Maschinist und die beiden Heizer an Deck, um nicht unten im Maschinenraum ertrinken zu müssen, falls der alte, halbwracke Dampfer kentern sollte, der ja allerdings bisweilen beängstigend schief auf dem Kamm einer Riesenwoge schwebte.

Alle Bande von Disziplin hatten sich gelockert. Jeder dachte nur noch an sich, folgte der eigenen Eingebung, benahm sich so, wie’s seiner Charakterveranlagung entsprach.

Langsam nur trugen die ungeheuren Wellenberge, die ja gleichzeitig auch das Floß in der Windrichtung vorwärtstrieben, den Fairfax auf das hölzerne, schwimmende Hindernis zu.

Kam es zu einem Zusammenstoß, so konnte es kaum zweifelhaft sein, wer diesen besser überstand. Das Floß war ja ein geschlossenes Ganzes, bestand aus 20 bis 30 Meter langen Rundhölzern, die außen durch mächtige Spanten zusammengehalten wurden, während die sechs Teile des Floßes wieder durch Ineinanderschieben der Stämme und durch mächtige Ketten eng verbunden waren.

Karl und der Chinese hatten sich hinter dem Kombüsenaufbau zusammengeduckt, wo die Wogen ihnen nicht viel anhaben konnten.

Li-Fung richtete sich zuweilen auf und spähte nach dem Floß hinüber.

„Noch zehn Meter!“ flüsterte er jetzt. Und seine Stimme klang plötzlich ganz anders. „Halte Dich bereit, Karl. Wir müssen im Moment des Zusammenstoßes auf das Floß hinüberspringen und uns zunächst an einer der Ketten festklammern, dann gleich weiter hochklettern, ehe die folgende Woge kommt. Die Bordhöhe des Floßes ist ja um gut vier Meter größer als die des Fairfax. Also aufgepaßt!“

Karl stierte den Koch ganz entgeistert an.

„Wer – wer sind Sie?!“ stotterte er. „Sie sind kein Chinese, Sie sprechen mit einem Male so –“

„Ich bin Percy Bloom, mein Junge,“ unterbrach jener ihn. „Doch jetzt kein Wort mehr. Wir werden all unsere Geistesgegenwart nötig haben, wenn wir uns retten wollen –“

Gleich darauf zog er Karl nach der Backbordreling hinüber, schrie ihm ins Ohr:

„Der Fairfax wird mit der Breitseite gegenrennen. Achtung! Jetzt gilt’s! Rauf auf die Reling. Und dann – los!“

Eine riesige Woge rollte heran, hob den Dampfer wie ein Korkstückchen hoch empor und – schmetterte ihn gegen das Floß.

In demselben Augenblick schnellten zwei Menschen in verzweifeltem Sprung sich in die Höhe.

Ein furchtbarer Krach. Dann ein Knall. Der Kessel des Fairfax war explodiert.

Der Dampfer, dem die Backbordwand völlig eingedrückt war, sank sehr schnell.

Und oben an den Ketten des Floßes arbeiteten sich zwei Menschen hoch, während auf dem Deck der schwimmenden Holzmasse die drei dort als Floßbesatzung befindlichen Leute ihnen die Rettung durch zugeworfene Taue zu erleichtern suchten.

Li-Fung wurde als erster emporgezogen, dann auch Karl.

Und nun schleuderten die drei Floßleute ihre langen Taue schnell abermals in die Wogen. Zwei Mann des bereits in die Tiefe hinabgeschossenen Dampfers hatten sie in dem Wogengraus noch auftauchen sehen. Und – einen davon brachten sie auch glücklich an Deck des Floßes.

Es war der rote Hobby.

– – – – – – – –

Wieder war eine Woche verstrichen.

Der von Süden her tagelang mit ungebrochener Kraft wütende Orkan hatte das Floß indessen weit nach Norden getrieben. Und keiner der sechs auf dem schwimmenden Holzberg anwesenden Leute vermochte zu sagen, wohin man eigentlich als Spielzeug der noch immer heftig tobenden See geraten würde – vielleicht gar bis hinauf in die Region des Grönlandmeeres, hinein in erstarrende Kälte und weiße Eismassen. –

Am neunten Tage nach dem Untergang des Fairfax war’s gegen Abend, als der rote Hobby mit einem der drei Floßleute ganz vorn auf einem der querbefestigten Stämme saß und leise auf diesen Mann einredete.

Zu derselben Zeit standen Karl und der angebliche Chinese vor der mittleren der auf dem Floß errichteten Blockhütten, die sowohl zu Wohnräumen als auch zu Laderäumen bestimmt waren.

Die Hütten waren sehr geräumig und so angelegt, daß sie sich noch etwa drei Meter tief nach unten zu fortsetzten. Diese kellerartigen Vertiefungen, deren Decke gleichzeitig den Fußboden der Hütten bildete, hatte der Rheder Branting mit Baumwollballen füllen lassen, um die Tragfähigkeit des Floßes[4] gehörig auszunutzen. Auch über dreiviertel jeder Hütte war mit denselben Ballen angefüllt, so daß nur kleine Verschläge von drei Meter Breite und vier Meter Länge frei geblieben waren.

Die drei Floßleute hausten zusammen mit Hobby in dem Verschlage der vordersten Hütte; der Detektiv und Karl in dem der zweiten: und in dem dritten befanden sich die Proviant- und Wasservorräte.

Percy Bloom beobachtete verstohlen Hobby und den Floßmann da vorn, während er scheinbar harmlos mit Karl plauderte.

Plötzlich wurde seine Stimme leiser. – „Junge, die beiden planen irgend eine Schurkerei! Wir müssen auf unserer Hut sein! Dieser Hobby ist ein ganz gefährlicher Bursche. Er hat bereits zwei Morde auf dem Gewissen, und der andere, jener Tapperlan aus Mutter Knockings Bar, ist ein geschickter Dieb. Ich fürchte fast, die Kerle haben meine Maskerade durchschaut. Tapperlan übertrifft den Hobby an Schlauheit ganz bedeutend. Er ist der mehr mit dem Geist arbeitende Verbrecher, Hobby wieder nur rüder Kraftmensch. – Wie gesagt: ich traue ihnen nicht recht.“

Karl, der an der Wand der Blockhütte lehnte, meinte jetzt ebenso leise: „Wenn Sie mir doch nur mitteilen wollten, Master Bloom, weshalb Sie sich für den Fairfax als Koch hatten anmustern lassen. Verdiene ich denn gar kein Vertrauen? Sind wir jetzt nicht Verbündete?“

„Gewiß, das sind wir, mein Junge! Gedulde Dich noch etwas. Du sollst schon noch alles erfahren. – Komm’ jetzt! Wir wollen nach vorn zum Abendessen gehen.“

Bloom und Karl betraten die vorderste Hütte, wo die beiden Floßleute Timmig und Skarple bereits den Tisch gedeckt hatten. Sie waren stille, ruhige ältere Leute, die der Rheder Branting aus San Franzisko sich verschrieben hatte, um mit der Floßschleppfahrt erfahrene Männer seinem schwimmenden Holzberge mitgeben zu können. Sie hatten sozusagen ihr ganzes Leben nur auf den Riesenflößen zugebracht, die vom Kolumbia-Fluß nach Frisko herunterkamen, und dieses eintönige Dasein hatte ihrem Wesen etwas Ernstes, fast Schwermütiges verliehen. Mit Bloom und Karl waren sie gut Freund. Um Tapperlan und Hobby kümmerten sie sich wenig, obwohl Tapperlan doch mit zur Besatzung des Floßes gehörte.

Floßkapitän war Timmig, ein geborener Däne. Als Bloom und Karl erschienen, winkte er ihnen sofort zu und sagte dann leise in seiner schwerfälligen Art: „Nehmt Euch in acht! Der Tapperlan hat uns schon längst gegen Euch aufzuhetzen versucht, indem er behauptete, Ihr bestehlt den Vorratsraum. Dabei habe ich festgestellt, daß er selbst es tut. Es sind schlimme Burschen, die beiden. Sie gefallen uns nicht.“

Dann setzte man sich an den Tisch. Gleich darauf traten auch Hobby und Tapperlan ein.

Hobby begann sofort auf den „verfluchten gelben Lumpen“ zu schimpfen.

„Wir essen nicht mehr mit ihm zusammen!“ brüllte er. „Er ist ein Spitzbube, der bezopfte Halunke, und der Bengel ist nichts Besseres. – Raus mit Euch! Schert Euch in Eure Bude! Freßt dort allein –“

Da erklärte Timmig sehr gelassen: „Hier habe ich zu befehlen, Hobby. Ich bin Floßkapitän. Die beiden bleiben hier – verstanden?!“

Timmig war ein Riese und selbst Hobby wohl an Kraft überlegen. Daher schwieg der rohe Bursche auch. –

Eine Stunde später verschloß Percy Bloom die Tür der Blockhütte 2 sehr sorgfältig von innen und legte sich dann in Kleidern auf sein Lager aus Decken.

Karl hatte trotz der Dunkelheit, die in dem Verschlage herrschte, gemerkt, daß der Detektiv nicht wie sonst wenigstens die Oberkleider ablegte, fragte nun leise:

„Fürchten Sie, daß in der Nacht irgend etwas sich ereignet?“

„Ja, mein Junge. Ich leide an Ahnungen. Und meine Ahnungen trügen selten. – Doch – schlafe – nur ruhig ein. Ich bin im Besitz eines Revolvers, der noch nie sein Ziel verfehlt hat.“

Karl wollte wach bleiben. Aber ihm fielen doch die Augen zu. Wie lange er fest geschlummert hatte, wußte er nicht. Plötzlich erwachte er über einem lauten Ruf. Schlaftrunken richtete er sich empor. Rings um tiefste Dunkelheit.

Da – abermals Blooms drohende Stimme:

„Macht’, daß Ihr verschwindet, verstanden! Wenn Ihr mich für einen verkleideten Detektiv haltet, – desto besser für Euch! Dann werdet Ihr auch wissen, daß mit mir nicht zu spaßen ist.“

Der Wohnverschlag hatte zwei kleine Fenster, beide nach dem Bug zu.

Nun ein Klirren, nun Hobbys heiseres Lachen:

„Warte, Spion. Dir werd’ ich sofort den Hals umdrehn – sofort!“

„Zurück,“ warnte Bloom. „Zurück – oder ich schieße!“

„Womit denn?! Wohl mit Deinem falschen Zopf, he?!“

Nun sah Karl, wie sich durch das hellere Viereck des einen Fensters eine Gestalt hindurchzwängte.

Gleich darauf ein dumpfer Schlag – ein schnell verklingendes Stöhnen – Blooms ruhige Stimme:

„Mein Jagdhieb hat gesessen. Er ist bewußtlos.“

Karl beobachtete dann, wie Hobbys über dem Fenster hängender Körper nach innen hineingezogen wurde. Und wieder einige Minuten später sagte der Detektiv mit derselben unerschütterlichen Gelassenheit: „Ich habe den Kerl gefesselt. Der andere, Tapperlan, scheint Angst bekommen zu haben.“ Er lachte leise auf. „Ja, ja, – mit Percy Bloom ist schlecht anzubinden! Das hat schon mancher gemerkt.“

Er machte Licht. An der Decke hing eine Petroleumlampe, die durch Drähte so befestigt war, daß sie die Schaukelbewegungen des Floßes nur bis zu einem bestimmten Winkel mitmachen konnte.

Dann suchte Bloom aus einer Ecke ein paar Kistendeckel hervor und vernagelte, stets vorsichtig sich dabei an die Wand drückend, die Fenster. – „Der Tapperlan könnte zurückkehren und uns eine blaue Bohne zusenden,“ meinte er. „Schlaf’ jetzt nur wieder weiter, mein Junge. Ich bleibe wach. Sobald es hell wird, werden wir uns überlegen, was nun werden soll.“

Karl konnte natürlich kein Auge zutun, besonders da auch der rote Hobby sehr bald wieder zu sich kam und den Detektiv mit den unflätigsten Beleidigungen und lächerlich wirkenden Drohungen überhäufte.

Bloom hörte sich das alles eine Weile schweigend an. Dann nahm er einen Lappen, ballte ihn zu einem Knebel zusammen und schob ihn Hobby in den Mund, nachdem er ihn durch rücksichtsloses Zupressen der Kehle zum Öffnen der Zähne gezwungen hatte.

Als der Morgen heraufdämmerte, gab der Detektiv seinem kleinen Gefährten sehr genaue Verhaltungsmaßregeln, riß dann plötzlich die Tür auf und sprang mit schußfertigem Revolver ins Freie, jeden Moment eines heimtückischen Überfalles gewärtig. Es geschah jedoch nichts.

Karl hatte die Tür sofort wieder verschlossen. Nach zehn Minuten kehrte Bloom zurück – mit sehr ernstem Gesicht.

„Hier ist ein furchtbares Verbrechen verübt worden,“ sagte er mit einem vernichtenden Blick auf den am Boden liegenden Hobby. „Timmig und Skarple sind verschwunden. In ihrer Hütte fand ich Blutspuren, die beweisen, daß sie ermordet worden sind. Von wem, brauche ich nicht näher zu erläutern! Erst wurden sie hinterrücks beseitigt, und dann sollte es uns an den Kragen gehen, – und all das nur – der goldenen Japur-Truhe des Milliardärs Watson wegen!“

Hobby war bleich geworden.

Bloom aber fuhr fort: „Tapperlan hat sich in der Proviantkammer verschanzt. Nun – wir werden ihn herauskriegen von dort, so wahr ich Percy Bloom von der Pinkerton-Kompagnie bin! – Noch etwas Neues, mein Junge. Daß die See sich infolge aufgekommenen Gegenwindes völlig beruhigt hat, hast Du selbst schon bemerkt. Das merkwürdige ist nun, daß unser Riesenfloß nicht mehr treibt, sondern vollständig fest liegt, als sei es verankert worden. Ich begreife dies nicht. Gewiß – auf dem Floße befinden sich drei mächtige Anker, aber sie sind nicht ausgeworfen worden und samt ihren Ketten neben den Ankerwinden an Ort und Stelle.“

Für Karl hatte zweierlei das größte Interesse: die Beseitigung der beiden Floßleute und die rätselhafte Verankerung der ungeheuren Holzmasse. – Timmig und Skarple hatte er sehr gern gemocht. Sie waren stets freundlich zu ihm gewesen, und ihren Tod bedauerte er daher aufrichtig und sprach dies auch Bloom gegenüber in kurzen, herzlichen Worten aus. Dann fügte er hinzu:

„Wenn unser Floß nun mitten auf dem Atlantik still liegt, so ist es doch eigentlich eine Insel geworden, Master Bloom, – eine hölzerne Insel –“

Der Detektiv nickte. „Ja – ein Eiland aus Holz, auf dem leider bereits menschliche Habgier das Blut harmloser Männer vergossen hat! Aber – diese Untaten sollen gerächt werden! Hobby ist bereits unschädlich gemacht. Und nun kommt sein Genosse heran, jener Tapperlan, dem er damals den Zeitungsausschnitt nach der Bar sandte!“

Hobby stieß eine Verwünschung aus. Es war ihm gelungen, mit der Zunge den Knebel aus dem Munde zu entfernen.

„Verfluchter Schnüffler – also auch das hast Du herausgebracht!“ brüllte er in sinnloser Wut. „Du mußt mit dem Teufel im Bunde stehen, Du –“

Da sprang Bloom zu, zwängte ihm den Knebel wieder zwischen die Zähne und befestigte ihn durch einen über den Mund gebundenen Strick so, daß Hobby ihn jetzt nicht mehr loswurde.

– – – – – – – –

Billy Tapperlan war einst ein ehrlicher Seemann und zuletzt Obermatrose auf der Privatjacht des Neuyorker Milliardärs Watson gewesen. Dann hatte er eines Tages – und das war vor vier Monaten, also im Februar gewesen – den roten Hobby kennengelernt, und von dem Augenblick an war er ein verlorener Mensch.

Er ahnte nicht, daß Hobby sich nur deshalb an ihn herangemacht hatte, um zu erfahren, wo der Milliardär in seinem Neuyorker Palast seine kostbarsten indischen Altertümer aufbewahrte. Zu diesen viele Millionen an Wert darstellenden Antiquitäten gehörte auch die sogenannte Japur-Truhe, ein goldener, reichverzierter und über und über mit Edelsteinen besetzter Kasten von 70 Zentimeter Länge und 25 Zentimeter Breite und Höhe.

Tapperlan, der recht gute Umgangsformen hatte und überhaupt sehr anstellig war, wurde von dem Milliardär nun immer dann, wenn seine Jacht „Kolumbus“ im Hafen von Neuyork untätig stillag, als Diener beschäftigt und nahm sogar bei seinem Herrn eine gewisse Vertrauensstellung ein.

Dies alles hatte Hobby schon vorher ausgekundschaftet. Nach kurzer Bekanntschaft gelang es ihm, in Tapperlans Herzen das Feuer unersättlicher Habgier zu entzünden und ihn für einen Plan zu gewinnen, wie man mit Hilfe zweier überaus geschickter Einbrecher die Truhe und auch die anderen Kostbarkeiten stehlen könnte. –

Nun saß derselbe Tapperlan mit recht gemischten Gefühlen in der Proviantkammer und verwünschte seinen Verführer Hobby, verwünschte sich selbst, seine Charakterschwäche und besonders auch den verdammten Percy Bloom, der es also doch trotz aller von Hobby ausgeklügelten Vorsichtsmaßregeln fertig gebracht hatte, die Spuren der Diebesbande nicht nur bis zu dem entlegenen Hafen Wilmington, sondern sogar bis auf dieses Floß zu verfolgen.

Billy Tapperlan war im Grunde seines Herzens kein schlechter Mensch, nur eben überaus leichtsinnig und genußhungrig. Und diese Sucht, von den sogenannten Freuden der Welt recht viel kosten zu können, ohne sich mit ehrlicher Arbeit abplacken zu müssen, hatte ihn jetzt in diese fatale Lage gebracht, die für ihn recht aussichtslos war.

Billy war ja kein Held. Im Gegenteil – er war stets sehr besorgt um seinen eigenen werten Körper gewesen. Und hier – hier hatte er nun gar einen Mann zum Gegner, den alle zweifelhaften Existenzen der Vereinigten Staaten wie des Teufels Großmutter fürchteten. Percy Bloom war ja eine Berühmtheit trotz seiner erst 28 Jahre. Und was Tapperlan an Feigheit zu viel besaß, fehlte dem Detektiv gänzlich.

Tapperlan hatte die Balkentür der Proviantkammer und die beiden Fenster aufs beste verrammelt. Während er nun mit sehr mäßigem Appetit frühstückte und dabei seine Gedanken spazieren führte, wie man zu sagen pflegt, keimte plötzlich in seinem Hasenherzen eine schwache Hoffnung auf: Bloom und der Junge hatten ja weder etwas Eßbares noch Trinkbares zur Verfügung, und wenn sie nicht verhungern wollten, mußten sie notwendig mit ihm Frieden schließen.

Billy spann diese Gedanken bis ins einzelne aus und wurde wieder recht vergnügt. Aber – diese Zuversicht sollte nicht lange dauern.

Plötzlich vernahm er draußen eine Stimme. Er sprang nach der Tür hin, in die er vier Schießscharten gebohrt hatte, spannte seinen Revolver und lugte hinaus.

Da – abermals des Detektivs Stimme.

„Tapperlan – hört Ihr mich? – Antwortet!“

Billy bekam einen furchtbaren Schreck.

Bloom hatte aus Balkenstückchen sich eine Schutzwand gezimmert, diese dicht vor die Tür des Proviantraumes getragen und war dahinter nun völlig sicher.

Tapperlans feige Seele erbebte. Er wagte nicht zu sprechen. Was sollte er auch sagen?!

Wieder Percy Blooms helles klares Organ:

„Weshalb antwortet Ihr nicht? – Ihr wißt, daß Ihr verloren seid! Ihr handelt am klügsten, wenn Ihr Euch ergebt. Tut Ihr es nicht, habt Ihr keine Schonung von mir zu erwarten. Ihr kennt mich! Ich drohe nie umsonst: Nach drei Tagen habe ich Euch doch in meiner Gewalt, und dann behandle ich Euch so, wie es einem Menschen zukommt, der mit Hobby gemeinsame Sache gemacht hat.“

Tapperlan packte plötzlich jene wahnsinnige Wut, die gerade für feige Naturen so bezeichnend ist, und die bei Unkundigen leicht den Eindruck persönlicher Tapferkeit hervorruft.

Nacheinander feuerte er die sechs Schüsse seiner Waffe gegen die Balkenwand ab, brüllte dann mit überschnappender Stimme:

„Du Hund willst mich überwältigen! Das möchte ich doch sehen! Verhungern werdet Ihr beide! Und eines Tages werdet Ihr als abgezehrte Gerippe vor meiner Tür um Brot und Wasser winseln!“

Eine Antwort blieb aus. Die Schutzwand bewegte sich rückwärts und verschwand hinter der vorderen Blockhütte. –

Drei Tage später. – Tapperlan hatte von Bloom und Karl nicht einen Rockzipfel in dieser Zeit bemerken können. Sie blieben unsichtbar.

Da – am vierten Tage, genau um dieselbe Vormittagsstunde – hörte er Blooms Stimme endlich wieder:

„He – Tapperlan! Ich komme jetzt, um meine Drohung in die Tat umzusetzen! Verteidigt Euch – es gilt nun, es gilt Euer Leben, Eure Freiheit!“

Billy trat der kalte Schweiß auf die Stirn. – Was hatte Bloom vor? – Er sprang zur Tür.

Da stand wieder die Balkenwand. Jetzt aber ganz dicht vor dem verrammelten Eingang.

Tapperlan bemerkte sofort vier Löcher in den Balken, die ziemlich groß und die hinten offenbar durch starke Klappdeckel verschlossen waren. Sie lagen im Viereck etwa dreißig Zentimeter auseinander.

Seine Angst vor dem Detektiv steigerte sich. Und nun rief er mit voller Lungenkraft:

„Ich ergebe mich, Bloom – Master Bloom! Ich komme zu Euch hinaus ohne Waffen.“

„Zu spät, Tapperlan. Ich drohe nie umsonst. Ihr habt geholfen, Timmig und Skarple zu ermorden. Auge um Auge, Zahn um Zahn!“

Tapperlan klapperten die Zähne im Munde. Er lugte hinaus. Und nun schob sich blitzschnell aus einem der Löcher der Schutzwand ein eisernes Rohr hervor, preßte sich in eine der Schießscharten der Tür hinein.

Im gleichen Augenblick entquoll der Rohröffnung ein Strahl gelblichen Qualms.

Tapperlan taumelte zurück, so beißend roch dieser Qualm.

Und wieder schrie er mit angstzitternder Stimme: „Ich ergebe mich ja! Nehmt das Strahlrohr der Ausräuchervorrichtung weg! Ich muß ja elend ersticken! Ich habe nichts davon gewußt, daß Hobby die beiden ermorden wollte – ich schwör’s Euch. Es ist gegen meinen Willen geschehen. Hobby hat sie im Schlaf mit dem Beil erschlagen. Ich wachte erst auf, als er mit der blutigen Waffe vor meinem Lager stand. Vielleicht hat er es auch auf mich abgesehen gehabt. Ich will alles gestehen – auch wo die Japur-Truhe verborgen ist –“ –

Hinter der Schutzwand befanden sich Bloom und Karl. Während der Detektiv mit dem Revolver in der Hand bereitstand, bediente sein kleiner Gefährte den Ratten-Ausräucher-Apparat, den der Rheder Branting dem Floße mitgegeben hatte, um die schädlichen Nager aus den Laderäumen zu vertreiben.

Bloom hörte, daß Tapperlan jetzt so weit mürbe geworden, wie er es beabsichtigt hatte. Trotzdem erwiderte er zunächst noch in ablehnendem Ton:

„Eure Einsicht kommt zu spät. – Das Versteck der Japur-Truhe kenne ich: Schlafraum 3, 2 liegende Kreuze, – das heißt: dritte Blockhütte in einem ausgehöhlten Baumstamm mit 2 liegenden Kreuzen!“

„Nein – nein, – das stimmt nicht. Hier in meiner Blockhütte, also in der zweiten, liegt die Truhe, und der betreffende Stamm hat drei Kreuze, nicht zwei,“ erklärte Tapperlan hustend und bereits gegen eine Ohnmacht ankämpfend infolge der beizenden Dämpfe.

Bloom nickte Karl lächelnd zu. Dann befahl er Tapperlan, mit erhobenen Armen seine Festung zu verlassen.

Karl Meinke zog das Strahlrohr zurück und stellte die Schraube des Räucherkessels ab.

Gleich darauf erschien Billy Tapperlan mit emporgereckten Armen vor der Tür, wurde gefesselt und konnte nun dem roten Hobby in Blockhütte 1 Gesellschaft leisten, wo dieser von Bloom an vier in den Fußboden getriebene Nägel so festgebunden war, daß jeder Flucht- oder Befreiungsversuch völlig aussichtslos erschien.

Auch Tapperlan mußte es sich gefallen lassen, in derselben Weise unschädlich gemacht zu werden. Als Bloom und Karl den Raum dann wieder verlassen hatten, begann Billy seinen Genossen mit erregten Vorwürfen zu überschütten, hielt ihm ganz besonders den Mord an den beiden Floßleuten vor und meinte jammernd, nun würde er für ein Verbrechen hingerichtet werden, das er niemals begangen hatte.

Hobby, der jetzt keinen Knebel trug, lachte schadenfroh auf. – „Einer Memme wie Dir müßte man die Haut in Streifen am lebendigen Leibe abziehen. Nur durch Deine Schuld sind wir in diese Patsche geraten. Weshalb weigertest Du dich, den Bloom und den Jungen am Morgen hinterrücks niederzuschießen, weshalb sollten wir sie durchaus am Leben lassen! Nun siehst Du, was daraus geworden ist, Du feiger Lump!“

– – – – – – – –

Der Detektiv hatte nur zum Schein sich aus der Nähe der Blockhütte entfernt. In Wahrheit stand er außen dicht neben der Tür, als die beiden Verbrecher in dieser Weise ihr Wiedersehen mit recht bedeutungsvollen Sätzen feierten.

Bloom wußte nun genug. Er hatte gleich vermutet, daß der Hauptschuldige allein der rote Hobby wäre.

Leise schlich er davon, zurück nach der Proviantkammer, wo Karl Meinke inzwischen auch die Fenster geöffnet hatte, um dem Qualm Abzug zu verschaffen.

Der Detektiv klopfte seinem kleinen Freunde auf die Schulter.

„Siehst Du, Junge, nun haben wir endlich herausgebracht, wo die Truhe verborgen ist. Du hast Dich damals eben geirrt, als Du mir den Inhalt jener Annonce wiederholtest, und daher ist unser Suchen in Blockhütte Nr. 3 auch umsonst gewesen. – Nun wollen wir hier nach der Diebesbeute Umschau halten. Ich wette: wir finden sie. – Hier vorn im Vorratsraum dürfte die von einem Komplicen der Diebe hergestellte Aushöhlung des Baumstammes nicht liegen, vielmehr im hinteren Teile der Hütte, wo die Baumwollballen lagern. – Komm’, ich werde Dir sogleich jenen goldenen Kasten zeigen können, dessen Wert auf 10 Millionen Dollar geschätzt worden ist.“

Sie betraten den Lagerraum. Bloom kroch, eine brennende Laterne in der Hand, zwischen den Ballen umher, wälzte diesen und jenen beiseite und rief nun nach einer guten Viertelstunde Karl neben sich.

„Hier hast Du die drei liegenden Kreuze. Sie sind unschwer zu erkennen,“ sagte er und deutete auf einen Stamm, der sowohl den Fußboden des Lagerraumes als auch draußen noch einen Teil des Decks bildete, denn dieses bestand hier ja nicht etwa aus glatten Planken, sondern eben nur aus der obersten Schicht der riesigen Rundhölzer. „Und hier siehst Du auch eine feine Kerbe in dem Holz,“ fuhr er fort. „Sie bildet ein langgestrecktes Viereck, und sie ist nichts als ein Sägeschnitt, das heißt, man hat hier einen Teil des Holzes als Deckel für eine darunter anzubringende Höhlung herausgesägt.“

Er klemmte einen Meißel in die feine Fuge, und sehr bald flog denn auch der Deckel hoch und enthüllte einen in ein dunkles Tuch eingeschlagenen Gegenstand.

Es war die berühmte Japur-Truhe, die einst den Rajahs (Fürsten) von Japur gehört und dann auf Umwegen in den Besitz des Milliardärs gelangt war.

Karl schloß ganz geblendet die Augen, als der Detektiv das Tuch entfernt hatte. Der ganze Kasten schien in farbigen Strahlenbündeln aufzuflammen, als der Lichtschein der Laterne ihn traf.

„Dieses unseligen Dinges wegen haben vier Menschen ihr Leben lassen müssen!“ erklärte Bloom dumpf. „Die Diebe erschlugen zwei Privatwächter, die den Palast Watsons während der Nacht beaufsichtigten, und jetzt hat der rote Hobby hier auf unserer hölzernen Insel abermals zwei Menschen hingemordet.“

Er verhüllte den Kasten wieder, deckte das Stammstück über die Öffnung und verwahrte die kostbare Truhe nachher in einer Kiste unter Konservenbüchsen vorn im Proviantraum.

Dann nahm er Karl, seinen jungen Gefährten, mit nach der vordersten Spitze des Riesenfloßes, deutete in das heute völlig ruhige Wasser hinab und fragte:

„Was siehst Du dort, mein Junge?“

Karl beugte sich weit vor, wobei er sich an der eisernen, hier angebrachten Ankerwinde festhielt.

Das Meerwasser war an dieser Stelle zart hellgrün und so klar, daß man stellenweise den mit Tiefseepflanzen bedeckten Meeresboden erkennen konnte.

Und Karl sah nun, als er ganz scharf hinschaute, die dunklen Umrisse eines Schiffsrumpfes, eines Seglers mit drei Masten, von denen der mittelste gerade auf den Unterteil des Floßes hinzeigte und sich darin festgebohrt zu haben schien.

Bloom setzte sich auf einen der Stämme, die das Deck bildeten, und begann:

„Ich habe schon gestern herausgefunden, weshalb unser Floß plötzlich zur Insel geworden. Ich will Dir erklären, wie es möglich ist, daß wir gegen unsern Willen hier an diesem Punkte des Ozeans festgehalten werden.“

Er zog eine Seekarte des nördlichen Teiles des Atlantik aus der Tasche, breitete sie auf seinen Knien aus und fuhr fort:

„Diese Karte fand ich in dem Schranke des Floßkapitäns. Du siehst hier überall kleine Zahlen eingetragen. Es sind Angaben der Wassertiefe. Wenn Du nun daran denkst, daß der etwa zehn Tage lang wütende Orkan uns immer nach Norden zu getrieben hat, so wirst Du mir recht geben, daß wir uns jetzt vielleicht östlich der Neufundland-Inseln befinden, jener Inselgruppe, die im Südosten der Halbinsel Labrador vorgelagert ist und deren südöstliche Gewässer unter dem Namen Neufundland-Bank als die besten Fischfanggründe weit und breit bekannt sind. – Ich sagte eben: vielleicht befinden wir uns! – Nein, ich kann und muß sagen: ganz bestimmt liegt unser Floß östlich der Neufundland-Bank irgendwo fest. – Irgendwo? – Jetzt schau’ Dir mal diese Tiefenangabe hier an, genau rechts von der Südspitze der Neufundland-Insel. – 30 steht da. Dahinter ein Fragezeichen – Das heißt: vielleicht flacher, vielleicht tiefer. – Kurz: es gibt weit östlich der genannten Inselgruppe fast schon an der Grenze eines ungemütlich kalten Meeresstrichs eine sogenannte Untiefe. Auf dieser Untiefe, und zwar gerade ihrer flachsten Stelle, ist einst ein Segler untergegangen, und dessen einer Mast hat sich nun mit seiner Spitze in den Boden unseres Floßes eingerammt, hält es fest. – Das ist des Rätsels Lösung. – Jedenfalls befinden wir uns zur Zeit tatsächlich auf einer hölzernen Insel! Aber – der nächste Sturm, der den Atlantik wieder zu hohen Wogen aufpeitscht, kann unser Floß auch wieder losreißen. – Da ich nun einmal diese Karte bei der Hand habe, will ich Dir auch gleich eine Stelle des atlantischen Ozeans zeigen, in der der höchste Berg der deutschen Alpen bequem – ersaufen würde. – Hier dicht nördlich der Großen Antillen und der Insel Puerto Rico erblickst Du die Tiefenzahl 8344 Meter. Das ist die tiefste Stelle des Atlantik, mein Junge, ein ungeheurer Schlund im Meereshoden von verhältnismäßig geringer Ausdehnung. –“

Sie gingen über die runden Riesenstämme der Blockhütte 2 zu, und bald quollen aus deren Fenstern allerlei liebliche Düfte heraus. – Bloom, der alles konnte, selbst kochen, hatte einen zarten Teig eingerührt und briet für seinen kleinen Freund schöne, zartbraune Kuchen auf der Pfanne.

– – – – – – – –

In Blockhütte 1 hatten die beiden Genossen sich noch eine geraume Weile gegenseitig gründlich die Wahrheit gesagt und dabei mit Kraftausdrücken nicht gespart.

Dann war Billy Tapperlan schließlich verstummt.

Billy hörte nach einer Weile ein gleichmäßiges, leises Geräusch, das wie ein Kratzen oder Scharren klang. Er lauschte. Dann hob er den Kopf und schaute nach Hobby hinüber.

Da – ganz still war’s jetzt wieder.

Nicht lange. – Abermals das Scharren und Kratzen, nur etwas leiser als vorhin.

Tapperlan ahnte, daß Hobby – seine Fesseln an den in den Fußboden getriebenen Nägeln durchzuscheuern versuchte.

Wie schlau dieser Hobby doch war – verteufelt schlau! Und vielleicht arbeitete er schon sehr lange in dieser Weise an seinen Fesseln herum, – vielleicht kam er wirklich frei und –

Als Billys Gedanken bei diesem Punkt angelangt waren, durchzuckte ihn ein eisiger Schreck.

Wenn der rote Hobby Arme und Beine wieder bewegen konnte, dann – würde er vielleicht zunächst ihn für alle Zeit stumm machen und dann erst gegen Bloom und den Knaben etwas unternehmen.

Tapperlan überlegte. Die Angst vor Hobby bestimmte ihn dann dazu, abermals den Kopf zu heben und dem Genossen halblaut zuzurufen:

„Du willst Deine Stricke durchreiben! Aber – ich werde den Detektiv noch rechtzeitig warnen! Das tue ich bestimmt, Du – Mörder, Du – roter Satan, der mich zum Verbrecher gemacht hat!“ –

Karl Meinke sollte aus Blockhütte 1 aus dem Tischkasten für Percy Bloom des ermordeten Floßkapitäns eine Zigarrenkiste holen.

Als er sich der Tür näherte, trat er ganz leise auf. Er wollte doch einmal hören, ob die Gefangenen sich unterhielten.

Und wirklich! – Hobbys rauhe Stimme drang an sein Ohr:

„Ah – also verraten willst Du mich, Du elender Schuft! Nun – Du wirst es nicht mehr können – nie mehr!“ Ein höhnisches Lachen folgte. – „Ich bin nämlich schon frei. Da – sieh selbst!“

Karl vernahm Tapperlans angstdurchbebten Ruf:

„Schone mich! Ich –“

Doch Hobby hatte bereits vom Boden einen plumpen, schweren Holzschemel hochgerissen, schwang ihn in der Luft über des Wehrlosen Kopf und rief zischend:

„Stirb, Verräter, – stirb als erster! Die beiden anderen folgen nach, so wahr ich –“

Der rote Hobby sollte auf dieser Welt diesen Satz nicht mehr beenden.

Karl, dem der Detektiv den Revolver Timmigs ausgehändigt hatte, damit er im Notfalle nicht unbewaffnet wäre, – Karl, der auf des[5] Vaters Farm so manchen Marder mit gutgezielter Kugel niedergestreckt hatte, besann sich hier nicht einen Moment, von dem Revolver Gebrauch zu machen.

Er sprang vor – hinein in den Schlafraum, sah den Schemel über Tapperlans Haupt in der Faust des athletischen Hobby schweben, zielte – drückte ab.

Der Schemel entsank dem Mörder, fiel Tapperlan auf die Brust.

Und Hobby selbst brach nach einem Satz kerzengerade in die Luft wie eine haltlose Masse zusammen. Die Revolverkugel war ihm in die rechte Schläfe gedrungen.

Bloom kam auf den Schuß hin eiligst dahergestürmt, brauchte aber nicht mehr einzugreifen.

Hobby war tot. Und bereits zehn Minuten drauf verschwand seine in einen Sack eingenähte und mit einem Eisenstück beschwerte Leiche in den Fluten des Atlantik. –

Der Detektiv, der sehr wohl erkannt hatte, daß Billy Tapperlan bei diesem Millionendiebstahl nur der Verführte gewesen, ließ ihn nur noch bis zum folgenden Morgen in den Fesseln am Boden liegen, nahm ihn nun sehr ernst ins Gebet und machte dann den Versuch, den Entgleisten durch Vertrauen und Freundlichkeit wieder vollständig auf den rechten Pfad zu bringen.

Tapperlan weinte vor Freude, als Bloom ihm mitteilte, er solle sich fortan frei auf dem Floße bewegen dürfen. Die Reue des ehemaligen Jachtmatrosen war tief und ehrlich. – Er wurde dann nur noch für die Nacht in einen der Laderäume eingeschlossen. Im übrigen behandelte der Detektiv ihn ganz als gleichgestellten Gefährten.

Das heitere, windstille Wetter hielt volle vierzehn Tage an. Dreimal kamen während dieser Zeit in weiter Ferne Dampfer an der verankerten hölzernen Insel vorüber, bemerkten jedoch nicht die Rauchsignale der drei Bewohner des seltsamen Eilandes.

Das Leben Blooms und seiner beiden Gefährten wäre nun vielleicht recht eintönig gewesen, wenn der Detektiv es nicht verstanden hätte, sie dauernd zu beschäftigen.

Er, der die Schwächen der Menschenseele besser als der erfahrenste Strafrichter kannte, wollte auf dem Floß keine Langeweile aufkommen lassen. Müßiggang und Langeweile sind so nahe verwandt, und: Müßiggang ist aller Laster Anfang!

Tapperlan und Karl gehorchten willig den Anweisungen Percy Blooms, der stets eine neue Arbeit für sie fand. Nur abends saßen die drei dann irgendwo auf Deck, und diese Stunde benutzte der Detektiv dazu, seinen Mitbewohnern des hölzernen Eilandes Geschichten aus seinem reichbewegten Leben zu erzählen, denen er dann immer lehrreiche Bemerkungen folgen ließ.

Billy Tapperlan wurde so in kurzem ein völlig anderer Mensch. Seine Bedrücktheit, seine Scheu verschwanden. Sein heiteres Wesen brach sich wieder Bahn, und als dann gar Bloom ihn auch nachts nicht mehr einschloß, kannte seine Dankbarkeit gegen den Vertreter der Pinkerton-Kompagnie keine Grenzen.

Zu Beginn der dritten Woche zeigte verschiedenes eine bevorstehende Wetterveränderung an. Die Seevögel, die oft in Scharen das Floß umkreisten, wurden sehr unruhig; die Sonne war in Dunstmassen gehüllt, und am westlichen Horizont wetterleuchtete es zwei Abende hintereinander sehr stark.

Ganz plötzlich begann dann ein Orkan zu toben, wie ihn selbst Tapperlan als Seemann noch nie erlebt hatte. Gerade mittags fuhren die ersten Sturmstöße über das Meer hin. Es wurde finstere Nacht, und die Schaumkämme der schnell immer höher anwachsenden Wogen rannten wie weiße Ungetüme gegen das Floß an.

Nicht lange dauerte es, da rief Bloom auch schon:

„Wir treiben wieder!“

Er stand gerade neben der Blockhütte 2, als er merkte, daß das Floß sich von seinem Anker losgerissen hatte.

Und – in demselben Augenblick kam eine Riesenwelle dahergestürmt, hob es hoch empor, überflutete es zum Teil.

Tapperlan brüllte Karl zu: „Bloom ist über Bord gespült. Er glitt auf den nassen Stämmen aus –“

Da war’s Karl, als hörte er einen schwachen Hilferuf. – Auch Tapperlan hatte diesen vernommen, kroch nun, sich an einer der Ketten festhaltend, bis zum Rande des Floßes und spähte an dessen Wandung hinab.

Und da – mitten im Sprudel der schäumenden Wassermassen hing Percy Bloom an derselben Kette, klammerte sich an den Kettengliedern an, – nur mit der rechten Hand. Die Linke hing ihm wie gebrochen am Körper herab.

Tapperlan holte im Nu eine Leine, band sie oben an der Kette fest, kletterte dann mit Todesverachtung zu dem Verunglückten hinab, schlang ihm die Leine um den Leib, kletterte wieder nach oben und hißte ihn langsam empor.

Der Detektiv war gerettet. –

Fünf Tage drauf – der Orkan hatte längst wieder sonnigem Wetter Platz gemacht – begegnete das Riesenfloß einem großen Frachtdampfer, der nach England unterwegs war, es ins Schlepptau nahm und es auch glücklich nach Liverpool brachte.

Hier nun konnten die drei Floßreisenden endlich wieder an Land, und hier bewies Percy Bloom, daß er das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Er tat so, als sei Billy Tapperlan ein harmloser Seemann, der nicht das Geringste auf dem Gewissen hätte. Er ließ ihn nicht festnehmen, erstattete keine Anzeige gegen ihn.

So dankte er ihm seine Lebensrettung. –

Der Milliardär Watson ist wieder im Besitz der Japur-Truhe, die die Diebe mit Hilfe des Floßes hatten nach England schaffen wollen. Tapperlan blieb ein braver Mensch. Er hatte genug Lehrgeld bezahlt. Karl Meinke aber ist der jüngste Detektiv der Pinkerton-Kompagnie, und sein „dickster“ Freund heißt Percy Bloom.

 

Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. Nach den Regeln für die deutsche Rechtschreibung von 1902 sind sowohl „Reeder“ als auch „Rheder“ richtig. Daher so belassen.
  2. „Newyork(er)“ / „Neuyork(er)“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich und bandübergreifend auf „Neuyork(er)“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „spronstreichs“.
  4. In der Vorlage steht: „Flosse(s)“ – Sowohl der Brockhaus von 1911 als auch die Regeln der Deutschen Rechtschreibung von 1938 geben „das Floß / die Flöße“ als korrekte Schreibweise an. Daher alle Vorkommen geändert auf „Floße(s)“.
  5. In der Vorlage steht: „der“.