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Der Mann mit der Narbe

 

 

Walther Kabel

 

Der Mann mit der Narbe

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

„Hier steht’s: übermorgen wird Jack Router hingerichtet,“ sagte der Senator Thomas Oglay im Lesezimmer des Standard-Klubs zu den drei anderen Herren, indem er auf eine Stelle der Innenseite der Zeitung mit dem Finger tippte. „Schade um Jack. Er war ein vorzüglicher Golfspieler,“ fügte er sinnend hinzu.

„Die Prozedur auf dem elektrischen Stuhl ist schmerzlos und geht schnell,“ warf der Redakteur Griffitt hin. „Ich werde mir eine Karte dazu besorgen. Ich möchte Jack nochmals sehen.“

Doktor Percy Book strich die Zigarettenasche ab und blickte John Griffitt seltsam an. Aber er schwieg.

Dafür meldete sich der jüngste der vier, Emmery Garld, Sohn seines Vaters, des Multimilliardärs Owen Garld.

„Du wirst also der Hinrichtung beiwohnen und dem armen Jack das Sterben schwer machen,“ meinte er und schaute dann Percy Book an, dessen eigenartigen Blick er bemerkt hatte.

Der hagere Doktor Book nickte dem rosigen, frischen jungen Manne kurz zu und rauchte, tief im weichen Saffiansessel liegend und die Füße auf die Lehne eines anderen stützend, gelassen seine Zigarette weiter.

Griffitt, klein, mit verkniffenem Gesicht, schob nervös die Hornbrille zurecht.

„Jack bleibt ein Mörder,“ sagte er bissig, „Die Geschworenen haben ihn verurteilt. Die öffentliche Meinung ist gegen ihn. An seine Unschuldsbeteuerungen glaubt kaum einer.“

„Bitte – ich!“ rief Emmery Garld und errötete vor Eifer. Dabei sah er Book wie bittend an.

Book nahm eine neue Zigarette und blieb stumm.

„Sie sind noch sehr jung, Emmery,“ meinte der Senator und strich mit der Linken über seinen kurz geschorenen silbern schimmernden Schädel. „Jugend ist stets leicht begeistert. Jack Router hatte Eindruck auf Sie gemacht. Übrigens brauchen Sie Book nicht so flehend anzuschaun. Book zweifelt nicht an Jacks Schuld.“

„Ich glaube doch, Mr. Oglay!“ Das klang zögernd.

Eigentlich hätte Doktor Percy Book sich hierzu nun äußern müssen. Aber die anderen drei, die mit Book zusammen hier im Klub die „Ecke der Absonderlichen“ genannt wurden, wußten, daß er gerade dann nicht zum Reden zu bewegen war, wenn jeder wohl normaler Weise seine Meinung kundgetan hätte.

„Percy hat niemals über den Fall Router gesprochen,“ sagte nun John Griffitt mit einem vieldeutigen Lächeln, das seine prächtigen Oberzähne noch mehr entblößte. „Er blamiert sich nicht gern. Und jeder blamiert sich, der für unseren früheren Klubgenossen eine Lanze bricht.“

„Danke!“ sagte der junge Garld ironisch. „Mitgefühl zu zeigen, ist keine Blamage, lieber John.“

„Weiß Gott nicht!“ ertönte es da aus Books Sessel.

Die drei andern blickten Book überrascht an.

Bevor Emmery Garld aber noch die ihm auf der Zunge liegende Bemerkung vorbringen konnte, hatte Book sich erhoben, eine steife Verbeugung gemacht und das Lesezimmer verlassen.

Die Zurückbleibenden wunderten sich nicht weiter über Books plötzlichen Aufbruch. Senator Oglay meinte nur so nebenbei, als erwähnte er längst Bekanntes:

„Es ist Punkt zehn Uhr. Um halb elf führt er seinen Trimm spazieren.“ Dann nahm er die Zeitung zur Hand und studierte die Spalte über das Wettrüsten zwischen England und Frankreich.

Auch Garld und Griffitt begannen zu lesen.

– – – – – – – –

Neuyork hatte wieder einmal seine neblige Nacht. Es war Herbst, und der Unterschied zwischen Tageshitze und Nachtkühle lockte die Nebelgespenster heraus.

Percy Book bestieg die Untergrundbahn und fuhr südwärts nach der kurzen Howard-Street, wo er im 12. Stock eines neuen Wolkenkratzers eine Dreizimmerwohnung innehatte.

Der Fahrstuhl brachte ihn rasch nach oben. Als er dann die beiden Sicherheitsschlösser seiner Flurtür aufschloß – seit dem Kriege war die Unsicherheit in Neuyork um fünfzig Prozent gestiegen –, schlug drinnen die Dogge Trimm freudig an.

„’n Abend, Trimm,“ sagte Percy Book zu seinem Hunde. „Etwas Neues? Du bist ja so merkwürdig manierlich.“

Dann gewahrte er im Hintergrunde des Flures einen schwachen Lichtschein, der nur durch die Glastür seines Studierzimmers hier in den Flur fallen konnte.

„Hm!“ machte er und schaltete das Licht ein, drückte die Tür ins Schloß und ging auf die Glastür zu.

Als er sie geöffnet hatte, sah er linker Hand neben dem großen Tisch in einem der Ledersessel eine Dame sitzen. Auf dem Tische brannte die elektrische Stehlampe mit dem großen flachen Seidenschirm.

Book nahm den Hut ab, trat ein und wandte sich an die Dogge, die neben ihm geblieben war.

„So bewachst Du meine Wohnung, Trimm?!“

Die junge Dame meldete sich nun.

„Mr. Book, ich wollte Ihnen nur beweisen, daß ich mehr kann als andere.“

Book verbeugte sich.

„Daran zweifele ich nicht mehr, Miß Roppendahl. – Sie gestatten, daß ich erst ablege.“

Er trug Hut und Ulster in den Flur und setzte sich dann nach erneuter Verbeugung Jane Roppendahl gegenüber in den anderen Sessel, stellte die Lampe mehr zur Seite und blickte das schlanke junge Mädchen nachdenklich an.

„Ich bin Ihnen einige Erklärungen schuldig, Mr. Book,“ begann Jane nach einer Weile ganz gelassen.

„Es scheint so. – Gestatten Sie, daß ich jedoch zuerst noch mit Trimm den gewohnten Abendspaziergang mache, Miß Roppendahl. Ich unterbreche meine geregelte Tageseinteilung ungern.“

„Bitte sehr, Mr. Book. – Ich bewundere Sie –“

„Weshalb?“ Er hatte sich langsam erhoben. Sein mageres Gesicht mit der kräftigen Nase und dem etwas breiten Munde, bartlos und wie gegerbt von Sonne und Wind, war nun oberhalb der Lampe wieder im Schatten.

„Weil ich eine erregte Szene zwischen uns erwartet hatte. Ich bin doch hier in Ihre Wohnung eingedrungen –“

„– vom Dachgarten aus, nehme ich an, durch das offene Schlafstubenfenster an einem Strick – ein Wagnis!“

„Ja, so ist’s. Ich bin also eingedrungen, nachdem ich im Central-Park mit Trimm in den letzten acht Tagen innige Freundschaft geschlossen hatte, damit er mir nicht hinderlich wäre.“

„Dann waren Sie die Verschleierte auf der Bank neben mir, Miß Roppendahl. Sie haben das sehr schlau angefangen. – Auf Wiedersehen.“

Percy Book verließ mit der Dogge das Haus und schritt durch stille neblige Straßen dem Hafen zu.

Daß er sich in Gedanken mit Jane beschäftigte, war kein Wunder. Diese Gedanken umspielten hauptsächlich die Frage, was Jane wohl von ihm wünschte. Ihr Anliegen mußte besonderer Art sein.

Am Hafen fand Trimm einen Spielgefährten, eine Schäferhündin, der er etwas aufdringlich die Cour machte. Der Besitzer der Hündin, ein bärtiger Mann in Matrosentracht, blieb abseits, streichelte auch der Dogge nun den Kopf und ging davon.

Trimm stieß unter einer Laterne wieder auf seinen Herrn, der ihn energisch zurückgerufen hatte.

Book sah sofort unter dem Halsband im Nacken etwas Weißes schimmern. Es war ein zusammengefalteter länglicher Zettel.

Darauf stand mit Bleistift in ungeübter Schrift:

„Nehmen Sie sich in acht! Es hat sich jemand bei Ihnen eingeschlichen und all Ihre Schränke durchsucht.“

Book steckte den Zettel in die Tasche, sah nach der Uhr und kehrte mit Trimm nach Hause zurück.

„So, Miß Roppendahl,“ begrüßte er den blonden Eindringling freundlich-vertraulich, „so, nun können Sie Ihre Erklärungen beginnen. Darf ich Ihnen irgend eine Erfrischung anbieten?“

„Eine Zigarette –“

„Bitte – bedienen Sie sich.“ Er stellte einen kostbaren silbernen flachen Kasten vor sie hin, ein Andenken an Indien, legte ein Feuerzeug daneben und schob die Aschenschale, die Schädeldecke eines selbsterlegten Panthers, näher zu ihr hin, rückte seinen Sessel vor die breite Seite des Tisches und nahm Platz.

Jane setzte zierlich die Zigarette in Brand und sog den Rauch prüfend ein.

„Wählen Sie besser eine andere,“ sagte Doktor Book da. „Eine ohne Mundstück aus dem Mittelfach, Miß Roppendahl.“

Sie blickte ihn etwas erstaunt an, fuhr sich mit der Linken leicht über die Stirn und erwiderte ein wenig matt:

„Ja, diese hier scheint sehr stark zu sein. Mir ist etwas schwindelig geworden.“

Sie bediente sich aufs neue.

„Geh’ ins Schlafzimmer, Trimm,“ befahl Book seiner Dogge.

Trimm öffnete sich die Tür zum Eßzimmer, stieß sie mit der Nase wieder zu und tat dasselbe bei der Schlafstubentür.

„Den Weg, den Sie gewählt haben, Miß Roppendahl, könnte noch jemand anders wählen,“ meinte Book, nachdem Trimm verschwunden war. „Die Fenster stehen wohl noch offen. Wir brauchen keinen Lauscher bei unserer Unterredung.“

„Sie sind sehr vorsichtig, Mr. Book.“

„Nur wo es nötig ist, Miß Roppendahl.“

„Diese Zigarette ist vorzüglich –“ Sie wußte nun doch nicht recht, wo sie beginnen sollte. Books ganze Art war zwar nicht geeignet, jemand scheu zu machen, wirkte aber doch etwas lähmend, selbst auf Jane.

Er schwieg und rauchte.

„Wir sprechen heute zum ersten Male miteinander,“ sagte Jane nach einer Pause lebhafter und energischer.

„Sie redeten mich vorhin mit meinem Namen an, Mr. Book. Kennen Sie mich von Ansehen?“

„Von dem Prozeß her, Miß. Sie saßen auf der Zeugenbank, ich im Zuhörerraum.“

Sie nickte. „Also daher! – Ich will Ihnen nun mitteilen, weshalb ich hier wie ein Dieb eingestiegen bin. Ich wollte mir etwas aneignen.“

„Und haben es nicht gefunden?“

„Nein.“

Sie wartete darauf, daß er nun fragen würde, was sie hatte stehlen wollen. Book rauchte weiter.

„Sie sind doch Chemiker, Mr. Book –“

„Nein, Arzt, Miß Roppendahl. Arzt, der auf Patienten keinen Wert legt. Chemiker, Astronom und Forschungsreisender bin ich nur nebenbei.“

„Ich habe Ihr vor drei Jahren erschienenes Buch „Dunkle Gebiete asiatischer Kultur“ gelesen, da es mir zufällig in die Hände kam. Ich fand es unter Daniel Gospards Bücherschätzen. Ich las es vor zehn Tagen, und als ich es gelesen, wußte ich, daß ich bei Ihnen das Mittel finden würde, wieder in Besitz des Geheimnisses meines Vaters zu gelangen, der vor zwei Jahren gestorben ist.“

Book machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Geheimnis?!“ meinte er. „Ein scheußliches Wort, das an Sensationsromane erinnert. Man sollte es nie in den Mund nehmen.“

Jane wurde verwirrt. Jeder andere hätte wohl auf ihre Andeutungen etwas ganz anderes erwidert. Dieser Doktor Book fiel ihr auf die Nerven, die bei ihr freilich in bester Verfassung waren.

Book betrachtete sinnend das junge Mädchen, deren auffallend große dunkle Augen eine starke, reine Seele widerspiegelten. Er besann sich, daß sie vor den Geschworenen als Braut des von Jack Router ermordeten Daniel Gospard ihre Aussagen mit einer klaren Überlegung und mit einer Ruhe abgegeben hatte, die nur ganz wenig von Schmerz um den Verlust des Verlobten durchweht waren. Schon damals hatte sie ihm gefallen. Es ging etwas ungemein Sympathisches von ihrer Persönlichkeit aus, etwas Gesundes, Natürliches, Kraftvolles. –

Jane überwand die Verlegenheit und meinte sehr bestimmt:

„Und doch handelt es sich um ein Geheimnis, Mr. Book. – Urteilen Sie selbst. Mein Vater war Schiffskapitän. Da meine Mutter früh verstarb, habe ich ihn auf vielen Reisen begleitet. Wir waren wie gute Kameraden. Als er dann hier in unserer Wohnung schwer an Grippe erkrankte und den Tod nahen fühlte, ließ er mich aus einer alten Truhe ein flaches Messingfläschchen holen, das ich bisher nie beachtet hatte. Es hatte einen Schraubenverschluß, einen Messingstöpsel. Mein Vater sagte zu mir, indem er das Fläschchen finster anstarrte: „Wenn es Dir einmal schlecht gehen sollte, Jane, wenn Du Hilfe brauchst und in Not bist, dann erst öffne das Fläschchen. Verwahre es gut und sieh es Dir innen genau an, wenn die Zeit gekommen ist.“ – Das war alles, Mr. Book. Mein Vater war bereits zu schwach, als daß ich ihn hätte mit Fragen bestürmen dürfen.“

Sie blickte jetzt wie antwortheischend zu Book hinüber.

Der hatte den Kopf gesenkt und schaute auf das schöne Muster des Seidenpersers.

„Dieses Fläschchen,“ fuhr Jane etwas unwillig über sein Schweigen fort, „kam zusammen mit der Truhe am 13. September in Daniels Wohnung, da wir ja am 14. heiraten und seine Wohnung fernerhin benutzen wollten. Am 14., wie Ihnen bekannt sein dürfte, wurde Daniel morgens tot in seinem Herrenzimmer aufgefunden. Ich dachte infolge der Aufregung erst vor vierzehn Tagen an das Fläschchen, suchte es und fand es nicht.“

„Sie nehmen also an, daß Daniel Gospard, dem Sie die Geschichte des Messingfläschchens wohl anvertraut haben werden, diese Geschichte Jack Router weitererzählt hat, und daß Router das Fläschchen raubte.“

„Ja, das nehme ich an. Man hat dann doch für diesen Mord ein einleuchtenderes Motiv gefunden als dasjenige es ist, mit dem der öffentliche Ankläger gegen Jack Router operierte.“

„Allerdings.“

„Da nun unter Jack Routers Sachen das Fläschchen von der Polizei nicht entdeckt wurde …“

„… Verzeihung – hatten Sie denn die Polizei von dem Verschwinden des Fläschchens benachrichtigt?“

„Nein. Ich hatte mich soeben falsch ausgedrückt, Mr. Book. Ich mußte doch anwesend sein, als Routers Wohnung durchsucht wurde. Ich sah also jeden Gegenstand. Ich sollte eben feststellen, ob sich etwas von Daniels Sachen darunter befände. Jedenfalls: das Fläschchen war nicht dabei!“

Book legte den Zigarettenrest in die Pantherschale.

Jane, die sich nun schon an seine Art gewöhnt hatte, sprach nach kurzer Pause weiter:

„Ich habe auch nicht die Absicht, die Polizei oder das Gericht zu verständigen, daß Jack den Mord begangen haben kann, um das Geheimnis sich anzueignen …“

Book verzog den Mund.

„Ich wollte sagen – das Fläschchen,“ verbesserte Jane sich schnell. „Es hätte keinen Zweck mehr. Man würde Jack Routers Hinrichtung doch nicht verschieben.“

Book nickte.

„Und doch,“ fuhr Jane fort, „weiß nur Jack, wo das Fläschchen sich befindet, denn er hat es verborgen. Er soll es mir wiedergeben.“

Book nahm eine neue Zigarette, klopfte den Tabak fest und meinte:

„Das heißt, Sie wollen ihn befreien.“

Ein erstaunter Blick, dann ein leises „Ja!“

„Wie denken Sie sich das, Miß Roppendahl?“

„Mit Ihrer Hilfe ist es möglich, Mr. Book.“ Sie wurde erregt. Ihre Wangen glühten auf. „Nur mit Ihrer Hilfe ließe es sich bewerkstelligen …!“

Book schüttelte langsam den Kopf – so, als sei das ganz ausgeschlossen.

„Oh – denken Sie an Ihr Experiment mit den harzigen Ausscheidungen der Kurussa-Wurzel!“ rief Jane, aus ihrer kühlen Reserve hervortretend. „Denken Sie daran, daß Sie das Experiment mit Ihrem Trimm gemacht haben, der Ihnen so lieb und teuer ist! Weshalb sollen nicht auch bei einem Menschen nach dem Genuß des Kurussa-Giftes alle Lebensfunktionen scheinbar erlöschen, sogar Totenstarre eintreten?!“

Doktor Percy Book hatte eine Bewegung der Überraschung nicht unterdrücken können.

Sich etwas vorbeugend fragte er: „Es ist nicht allein des Fläschchens wegen, Miß Roppendahl? Sie halten Jack Router für unschuldig?“

Ihre Augen ruhten fest auf Books Gesicht. „Ja, Mr. Book,“ erklärte sie feierlich. „Jack hat Daniel niemals ermordet. Ich war verblendet, als ich diese Möglichkeit auch vor Gericht zugab. Ich war damals nicht ich selbst. Die Zeitungsstimmen, meine Bekannten hatten mich beeinflußt. Aber das Fläschchen hat er sich trotzdem angeeignet – nur er!“

Book lehnte sich wieder zurück, rauchte bedächtig …

„Ich habe hier bei Ihnen das Kurussa-Harz gesucht,“ fügte Jane hastig hinzu. „Nun wissen Sie, warum ich mein Leben wagte und an dem Strick vom Dachgarten herabkletterte. – Verzeihen Sie mir.“

Percy Book schaute auf die glimmende Spitze seiner Zigarette.

„Wie denken Sie sich das Weitere, falls ich Ihnen das Kurussa geben würde, was natürlich nicht geschehen wird,“ meinte er in einem Ton, als handele es sich um phantastische Pläne, die man nur in der Theorie flüchtig bespricht.

„Das wäre meine Sache, Mr. Book.“ Ihre Stimme klang völlig verändert. In ihrem Gesicht zuckte es. Langsam schob sie die Hand in die weite Tasche ihres sandfarbenen Ulsters.

Book zog den silbernen Zigarettenkasten an sich heran und klappte ein schmales Seitenfach auf.

„Nun rauchen Sie mal bitte diese Zigarette – das Beste in seiner Art, das Nervenberuhigendste,“ sagte er liebenswürdig. „So – hier ist Feuer …“

Widerstrebend hatte Jane die Hand aus der Ulstertasche wieder zum Vorschein gebracht.

„Ah – ein wundervolles Aroma,“ lobte sie ehrlich. „Noch nie rauchte ich Derartiges … wirklich nicht.“

„Das glaube ich gern, Miß Roppendahl …“

Nochmals sog sie den Rauch mit Behagen in die Lunge ein.

Plötzlich sank jedoch ihre rechte Hand herab. Die Zigarette rollte über ihren Schoß auf den Teppich. Der Kopf fiel ihr matt auf die Brust. Ihr Körper verlor jeden Halt. Eine Bewußtlose lag in dem weichen, tiefen Klubsessel.

Book hob die Zigarette auf, legte sie in den Pantherschädel, faßte Jane in die Tasche und nahm ihr den zierlichen Damenrevolver weg, schob die Sicherung wieder vor und schüttelte die sieben Patronen aus der Nickeltrommel in die Hand. Dann drückte er ihr die Waffe wieder in die Tasche und ging in sein Schlafzimmer.

– – – – – – – –

Jane erwachte. Sie hatte das Empfinden, als wäre sie soeben ganz ohne äußere Ursache für kurze Zeit ohnmächtig geworden. Sie fühlte sich sofort auch wieder völlig frisch.

Sie blickte sich nur etwas verwirrt um, wunderte sich, daß sie allein in Books Studierzimmer war und daß die Tür nach dem Flur weit offenstand.

Dann bemerkte sie vor sich auf dem Tisch ein winziges, mit zwei Gummistöpseln verschlossenes Röhrchen hob es hastig empor, hielt es gegen das Licht.

Bräunliche, etwas durchsichtige Krümpchen waren darin.

Kurussa – – Kurussa!!

Die Freude trieb sie aus dem Sessel hoch. Sie wollte Book danken, klopfte an die Tür des Schlafzimmers, schritt bis zur nächsten Tür, pochte wieder.

Books Stimme von drinnen:

„Ich bin bereits schlafen gegangen, Miß Roppendahl. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Mr. Book.“ Sie wollte noch hinzufügen: „Ich danke Ihnen herzlichst!“ besann sich aber eines besseren und verließ die Wohnung, zog die Flurtür ins Schloß und fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoß hinab.

Die Haustür war noch offen. Im Erdgeschoß rechts befanden sich die Büros der Northern-Telegraphen-Kompagnie, die bis ein Uhr morgens geöffnet waren.

– – – – – – – –

Als der würdige Pfarrer Philipp Howard Loomarc, Geistlicher am Ostgefängnis, gegen ein Uhr morgens seine beiden Freunde, mit denen er heute länger als sonst beim Whist gesessen, durch den kleinen Vorgarten des roten Backsteinhauses bis auf die Straße geleitet und den im Nebel Verschwindenden noch eine Weile nachgeschaut hatte, um frische Luft zu schöpfen, schlüpfte hinter seinem Rücken eine weibliche Gestalt in den matt erleuchteten Flur.

Mr. Loomarc rieb sich fröstelnd die Hände und schritt dem Hause wieder zu. Er befand sich heute in gehobener Stimmung. So gute Karten wie an diesem Whistabend hatte er seit langem nicht gehabt.

Er verschloß die Haustür, hing die Mütze an den Garderobenständer und stieß die nur angelehnte Tür zu seinem Arbeitszimmer weiter auf, prallte etwas zurück, blickte schärfer hin …

„Miß Roppendahl – – Sie?“

„Ja, ich, Mr. Loomarc. – Ich muß Sie sprechen. Entschuldigen Sie, daß ich hier heimlich eingetreten bin. Ich wußte, daß Sie heute Ihren Whistabend hatten und habe im Vorgarten gewartet.“

Der alte Herr schüttelte den Kopf. Aber Jane Roppendahl hatte ihn in letzter Zeit dreimal besucht und ihm stets Bücher für die Gefängnisbibliothek gebracht. Jane war ihm auch sonst sehr sympathisch. So sah er denn über das Unschickliche ihres heutigen Verhaltens hinweg, deutete auf einen alten, steiflehnigen Ledersessel und sagte mild: „Setzen Sie sich!“

Er selbst zog seinen Schreibsessel näher und meinte dabei, auf den Spieltisch in der anderen Ecke deutend:

„Wir haben etwas viel geraucht. Soll ich die Fenster öffnen?“

„Mich stört der Rauch nicht, Mr. Loomarc. Ich rauche selbst.“

„Leider – leider!“ murmelte der Pfarrer. „Als ob die heutige weibliche Jugend nicht schon nervös genug wäre! Nikotin ist Gift!“

Er setzte sich nun gleichfalls und schaute Jane prüfend an.

„Mr. Loomarc,“ begann das junge Mädchen, „wir haben noch vor drei Tagen über Jack Router gesprochen.“

Des Greises faltiges Gesicht trübte sich. „Ja, das haben wir, Miß Roppendahl.“

„Und Sie ließen dabei durchblicken, daß Sie an Jack Routers Schuld nicht glauben.“

Loomarc seufzte. „Ich kann niemandem ins Herz sehen. Es gibt sehr geschickte Heuchler, es gibt andere, die nicht mehr ganz zurechnungsfähig sind angesichts des Todes, die sich dann selbst einbilden unschuldig zu sein und sich danach benehmen.“

„Jack ist kein Heuchler, noch weniger ein Mensch, der vor dem Tode zittert, Mr. Loomarc.“

„Ja – ja, ich weiß, Sie sind Jugendbekannte, Sie drei: das Opfer, der Täter und die Braut des Opfers! Sie, Miß Roppendahl, möchten Router wahrscheinlich noch einmal sprechen. Und diese Unterredung soll ich Ihnen vermitteln.“

„Nein, Mr. Loomarc. Damit wäre mir auch nicht gedient. Diese Unterredung würde, falls sie überhaupt genehmigt wird, in Gegenwart von drei bis vier Gefängniswärtern stattfinden.“

„Gewiß – wie üblich, Miß Roppendahl.“

„Nun eben. Das nützt mir nichts. Nur Sie sprechen Jack allein ohne Zeugen in der Zelle.“

Der alte Herr wurde etwas unruhig.

„Wo soll das alles eigentlich hinaus, Miß?“

„Gestatten Sie eine Gegenfrage, Mr. Loomarc: sagt Ihnen nicht eine innere Stimme, daß hier im Falle Router ein Justizmord droht! – Bitte – ehrliche Antwort!“

In Janes Augen und Stimme lag etwas so Zwingendes, daß der greise Pfarrer den Blick verlegen zu Boden schlug und zögernd erwiderte:

„Ein Mann von siebzig Jahren wie ich bedauert jeden Delinquenten. Wer selbst schon neben dem Grabe steht, ist weich und leicht zu täuschen – auch durch die eigene innere Stimme.“

Jane machte eine ungeduldige Bewegung.

„So kommen wir nicht weiter, Mr. Loomarc …“ Auf ihrer glatten Stirn erschienen über der Nasenwurzel drei Fältchen. „Jack darf nicht hingerichtet werden. Sie müssen mir helfen, ihn zu retten.“

„Liebes Kind, Sie sind von Sinnen …! Sie können das nicht im Ernst meinen. Wie sollte ich wohl …“

Jane unterbrach ihn.

„Sie können es, ohne daß auch nur der Schatten eines Verdachts auf Sie fällt! Und Sie tun damit nichts Unrechtes. Im Gegenteil. Ihr Gewissen würde sich vielleicht später melden, wenn ein Zufall die Wahrheit an den Tag brächte – eben Jacks Unschuld! Bedenken Sie, welche Vorwürfe Sie sich dann …“

Der alte Herr hatte sich erhoben. „Ich sehe diese Unterredung als beendet an, Miß Roppendahl,“ sagte er streng. „Mein Gewissen würde sich auch dann melden, wenn ich mich durch Sie zu einem Schritt verleiten ließe, der gegen meinen Amtseid geht. – Es ist ein Uhr morgens, Miß. Meine siebzig Jahre verlangen nach dem Bett …“

Jane hatte plötzlich ihren Revolver hervorgeholt.

Der Pfarrer stierte auf eine blinkende Waffe, schnappte nach Luft, sank in den Stuhl zurück, murmelte heiser:

„Was … was soll das?! Sie werden …“

„Ich werde mich hier vor Ihren Augen erschießen, Mr. Loomarc. Sie kennen mich. Ich bin kein Weib, das Redensarten macht. Mein Tod, dessen Begleitumstände Sie mit angeben müssen, wird in den Zeitungen erörtert werden, wird die öffentliche Meinung zu Gunsten Jacks umschlagen lassen, denn – die Braut des Ermordeten, die sich im Interesse des Mörders das Leben nimmt, wirkt auf die Gemüter besser als die beste Verteidigungsrede.“

„Allerdings – allerdings …“ stammelte der Geistliche angstvoll. Dicke Schweißperlen waren ihm auf die Stirn getreten, seine zitternden Hände strichen nervös den schwarzen Gehrock über den Schenkeln glatt.

„Ich will Ihnen weiter sagen, Mr. Loomarc, daß ich noch einen zweiten Grund habe, Jack Router dem elektrischen Stuhl zu entziehen. Dieser Grund tritt hier jedoch völlig zurück. Mr. Percy Book kennt ihn – Wissen Sie, wer Doktor Book ist?“

Der alte Herr atmete mit einem Male erleichtert auf. Sein Gesicht verlor den Ausdruck hilfloser Verstörtheit.

„Gewiß weiß ich es, Miß,“ erklärte er eifrig. „Falls Sie eben Doktor Percy Book aus der Howard-Street Nr. 1 meinen. Sie haben sich ihm also anscheinend anvertraut?“

„Ich erhielt von ihm das Mittel zu Jacks Befreiung.“

„Wie – – was?! Von Book – von Book?! Miß Roppendahl, wenn ich alles glaube – das glaube ich nimmermehr!“

Jane spielte mit dem Revolver. Loomarc wurde[1] wieder ängstlich.

„Haben Sie Books Werk über dunkle Gebiete asiatischer Kultur gelesen?“ fragte Jane unvermittelt.

„Aber natürlich …“

„Dann wissen Sie auch, Mr. Loomarc, wie wir Jack töten und wieder lebendig machen können.“

Der alte Herr begann an Janes Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln. Doch – gerade solche Leute durfte man nicht reizen. So ging er denn zum Schein auf dieses Thema voller Interesse ein und meinte:

„Es steht also in dem Buche?“

„Ja, auf Seite 188 bis 198: Das Experiment mit der Dogge Trimm, die von vier Tierärzten für tot erklärt wurde und doch wieder auflebte, da sie nur eine Dosis Kurussa einbekommen hatte.“

Der Pfarrer saß mit offenem Munde da. Diese Jane war doch nicht verrückt! Im Gegenteil: der Gedanke mit dem indischen Giftstoff war eigentlich genial!

Loomarc erholte sich von dieser neuen Überraschung und sagte sehr langsam:

„Percy Book hat Ihnen also eine Dosis Kurussa überlassen, Miß? Freiwillig? Oder haben Sie ihn dazu gezwungen? – Doch nein! Zwingen – was rede ich da. Book zwingt niemand zu etwas, niemand. Er hat es Ihnen also freiwillig gegeben und will somit ebenfalls, daß Jack Router gerettet wird. – Hm – ist das alles aber auch wahr, Miß Roppendahl?“

Jane nickte. „Ich bin bei Book eingestiegen als Dieb, Mr. Loomarc …“ Sie erzählte ganz genau, was sich in Books Wohnung zugetragen hatte und hielt zum Schluß dem alten Herrn das winzige Glasröhrchen hin.

„Bitte – dies ist die Dosis Kurussa, Mr. Loomarc. Wenn Sie Jack vormittags in der Zelle besuchen, brauchen Sie ihn nur einzuweihen und ihn die Harzstückchen schlucken lassen. Die Wirkung tritt erst nach Stunden ein und gleicht vollkommen einer plötzlichen Herzschwäche.“

Der Gefängnisgeistliche hatte sich in den Sessel zurückgelehnt und dachte nach. Dann blickte er Jane an.

„Die Sache liegt nun ganz anders, Miß Roppendahl. Geben Sie mir das Röhrchen.“

„Books Name hat solchen Eindruck auf Sie gemacht, Mr. Loomarc?“ meinte Jane mißtrauisch.

„Freilich! Und mit Recht, Miß. Sie können nun überzeugt sein: Ich helfe Ihnen! Ich werde dafür sorgen daß an Jacks … Leiche jeder Eingriff des Gefängnisarztes unterbleibt und daß Jacks Schwester Lizzie sofort von dem Tode benachrichtigt wird, so daß sie die Herausgabe des Toten zur Beerdigung verlangen kann. Sie dürfen also auf mich in jeder Beziehung rechnen. Hier meine Hand, Miß.“

Jane schob den Revolver schnell in die Tasche und eilte zu dem alten Herrn hin.

Der wehrte ihre Dankesworte ernst, aber freundlich ab.

„Danken Sie Book, nicht mir, Kind. Hätte Book nicht durch die Hingabe dieses Röhrchens zum Ausdruck gebracht, daß er Jack Router ebenfalls für schuldlos hält, würde ich es nie auf mein Gewissen genommen haben, gegen meinen Eid zu verstoßen – nie!“

Jane wurde nachdenklich.

„Besitzt Mr. Book denn solchen Einfluß, Mr. Loomarc?“ fragte sie unsicher.

„Größeren, als Sie ahnen, liebes Kind. – Nun gehen Sie aber. Überlassen Sie mir alles weitere. Ich werde Sie noch bis an die nächste Autohaltestelle geleiten. Fahren Sie heim.“ –

Als der alte Herr bald darauf seinem Hause sich wieder näherte, lehnte am Vorgartengitter Percy Book.

„Guten Abend, Mr. Loomarc …“ Er streckte dem Pfarrer die Hand hin.

„Ah – welche Freude, Mr. Book …! Sie wissen natürlich, daß Jane Roppendahl bei mir war … Selbstredend wissen Sie es.“ Er lächelte. „Sie sind ja der Mann, der alles weiß.“

„Sie irren, lieber Mr. Loomarc. Wenn ich alles wüßte, säße der arme Jack nicht mehr in der Zelle. Übrigens: die Hinrichtung wäre verschoben worden. So jedoch ist es besser. Mag man Jack für tot halten. Das sichert mir große Vorteile gegenüber der Gegenpartei.“

Sie betraten das Haus.

– – – – – – – –

Jack Router saß in der Delinquentenzelle, mit Lederfesseln an den Händen, bewacht von zwei Aufsehern.

Jacks blasses Leidensgesicht, umrahmt von einem stoppeligen Bart, glich kaum mehr dem des frohen, frischen Jack von einst. Die tiefen Falten um den Mund sprachen von Seelenqualen und bitterem Hadern mit einem grausamen Schicksal.

An der Zellentür jetzt Geräusche, dann trat der alte Geistliche ein, winkte den Aufsehern, sich zu entfernen, und näherte sich Jack.

Die Wärter verließen die Zelle.

„Morgen, Router,“ sagte der Pfarrer gütig und legte Jack leicht die Hand auf die Schulter.

Jack behielt den Kopf gesenkt.

„Verschonen Sie mich, bitte,“ meinte er unfreundlich. „Ich habe nichts zu gestehen.“

Loomarc strich ihm sanft über den etwas dünnen blonden Scheitel.

„Das weiß ich, lieber Router. Jetzt weiß ich es bestimmt.“

Jacks Kopf hob sich jäh. Seine trüben Augen glommen auf.

Loomarc lächelte voller Menschenliebe.

„Sie werden nicht sterben, lieber Router,“ flüsterte er. „Aber – bleiben Sie äußerlich der, der Sie bisher hier waren.“

Er hatte einen Schemel herbeigezogen, setzte sich mit dem Rücken nach der Tür hin, so daß seine Gestalt die Routers deckte.

Dann begann er zu sprechen.

Jack liefen die Tränen über die abgezehrten Wangen.

„Jane … Jane!!“ schluchzte er. „Endlich – endlich hat sie eingesehen, daß ich einer solchen Tat gar nicht fähig bin …“

„Beugen Sie den Kopf tiefer … Nehmen Sie die Körnchen mit der Zunge auf,“ flüsterte der alte Herr, jetzt ebenfalls erregt und etwas ängstlich, da das Guckloch der Zellentür besetzt sein konnte.

Router würgte die gallenbitteren Harzteilchen mit Speichel hinab.

Loomarc atmete erleichtert auf …

„So – nun ist das Schwerste erledigt, lieber Router. Ich will noch eine Weile hier bleiben. Percy Book hat mich gebeten, Sie verschiedenes zu fragen. Er möchte, noch bevor Sie frei sind, die Nachforschungen beginnen lassen.“

Jack fiel es schwer, seinen neu erwachten Lebensmut und die jubelnde Freude, die ihm das Herz zu sprengen drohten, zu verheimlichen.

„Wer – wer ist dieser Book denn eigentlich?“ meinte er heiser, als wäre ihm die Kehle zugeschnürt. „Ich kenne ihn ja vom Standard-Klub her, aber doch nur flüchtig.“

Der alte Herr schaute zum Fenster empor. „Ich bin nicht befugt, lieber Router, über Book mich näher zu äußern. Es muß Ihnen genügen, daß ich behaupte, es gibt keinen edleren, selbstloseren Menschen als ihn.“

„Daran zweifele ich nicht! Wie dürfte ich! – Fragen Sie also, Mr. Loomarc.“

„Sie waren mit Daniel Gospard befreundet. Hat Gospard Ihnen gegenüber jemals ein Metallfläschchen erwähnt, das Jane von ihrem Vater geerbt hat?“

Jacks Kopf sank tiefer.

„Ja – ein Messingfläschchen, altindische Arbeit.“

„Haben Sie es gesehen?“

„Ich habe es in der Hand gehabt.“

„Als Gospard es Ihnen zeigte?“

„Ja – als er es öffnete und mir ironisch lachend erklärte, das ganze Geheimnis sei ein Unsinn. Das Fläschchen sei ja leer!“

„Ob denn Jane es vorher schon geöffnet hatte?“

„Bestimmt nicht. Sie wagte es nicht. Sie sollte es ja erst aufschrauben, wenn sie mal in Not wäre.“

„Wann sahen Sie es?“

„Am 13. September abends in Daniels Wohnung.“ All das kam so widerwillig und zögernd heraus, daß der Geistliche plötzlich das peinvolle Empfinden hatte, Jack müsse in Bezug auf dieses Fläschchen wirklich ein schlechtes Gewissen haben.

„Und am 13. nachmittags war die Truhe, in der das Fläschchen lag, erst in Gospards Wohnung geschafft worden,“ murmelte der alte Herr, jetzt ein wenig zerstreut. „Wissen Sie, wann Jane ihrem Verlobten Mitteilung von dem sogenannten Geheimnis gemacht hat?“

„Auch erst am 13ten. Sie sollte darüber ja überhaupt nicht sprechen, hatte ihr Vater verlangt.“

„Das ist mir neu. Davon hat sie Book nichts gesagt.“

„Dann hat sie es vergessen, Mr. Loomarc.“

„Oder sie wollte es nicht sagen, weil sie trotz des Verbotes ihres Vaters Gospard eingeweiht hat.“

Jack schwieg.

„Was geschah mit dem Fläschchen, nachdem Sie und Gospard es sich angesehen hatten?“ fragte der Pfarrer weiter.

Router ließ Sekunden verstreichen, ehe er antwortete.

„Gospard legte es in die Truhe zurück.“

Der alte Herr hatte das bestimmte Gefühl, daß Jack jetzt gelogen hatte.

„Und dann?“ meinte er tastend.

„Dann sprachen wir von anderen Dingen.“ – Jack war offensichtlich froh, daß dieses Thema nun beendet war.

Aber der Geistliche hatte noch mehr zu fragen. Seine Sympathie für Router hatte soeben einen harten Stoß erhalten. Er wollte Gewißheit haben.

„Jane – ich will da ganz ehrlich sein – glaubt, daß Sie sich das Messingfläschchen angeeignet haben,“ sagte er bedächtig. „Weshalb sie dies annimmt, hat sie Book nicht erklärt. Sie hofft nun, daß Sie es ihr zurückgeben werden, lieber Router?“

Jack blickte starr auf den Zementboden der Zelle. Sein Atem ging hastig. Dann ergriff er plötzlich des alten Mannes Hand und flüsterte gequält:

„Erlassen Sie mir die Antwort. Ich mag Sie nicht belügen. Ich werde Jane alles mitteilen – ihr allein!“

Loomarc war unangenehm berührt durch diese Antwort. Neue Zweifel stiegen in ihm auf. Er hatte in seinem Leben so viele moralische Verworfenheit, so viel abgefeimte Heuchelei kennengelernt, daß nur wenig Widerspruchsvolles im Verhalten eines Verurteilten bei ihm dazu gehörte, nur noch an das Schlechte im Menschen zu glauben.

Sein Gesicht wurde streng, etwas abweisend. Und Jack, der jetzt den Kopf gehoben hatte, bemerkte das auch, sagte feierlich:

„Ich schwöre Ihnen bei der Liebe zu meinen Eltern und zu meiner einzigen Schwester, daß ich Daniel nicht getötet habe! Ich lese Ihnen die Zweifel vom Gesicht ab. Aber Sie tun mir unrecht – Gott ist mein Zeuge!“

Der Pfarrer schaute ihn lange an. Dann nickte er …

„Ich glaube an Sie, Jack. – Nun leben Sie wohl. Morgen früh, so hoffe ich, sehen Sie Ihre Schwester Lizzie wieder.“ – –

Nachmittags gegen zwei Uhr wurde der Gefängnisarzt durch einen Aufseher in Jacks Zelle geholt. Um fünf Uhr gab Jack kein Lebenszeichen mehr von sich. Gleich darauf erschien der alte Pfarrer in der Zelle.

– – – – – – – –

Am anderen Morgen früh um sieben Uhr brachte ein Leichenwagen Jack Routers Sarg nach der Kapelle des Friedhofs.

Der Überführung der Leiche wohnten die Schwester Routers, ferner Jane Roppendahl und einige Klubgenossen des an Herzschwäche verschiedenen angeblichen Mörders bei. Sie folgten in zwei geschlossenen Trauerkutschen. In der ersten saßen Lizzie Router, Jane und Emmery Garld, in der zweiten Book, Griffitt, Senator Oglay und Pfarrer Loomarc.

Jane und Lizzie, ebenfalls Jugendbekannte, hatten sich jetzt wieder versöhnt, nachdem der Prozeß gegen Jack sie völlig entzweit hatte.

Der junge Milliardär Garld suchte Lizzies Angst, Jack könnte doch nicht wieder erwachen, nach Kräften zu zerstreuen. Es gelang ihm auch besser als jedem anderen, da Book inzwischen seine drei Freunde aus der „Ecke der Absonderlichen“, auf deren Verschwiegenheit er unbedingt rechnen konnte, nicht nur in alles eingeweiht, sondern ihnen auch erklärt hatte, daß er das Kurussa auch an sich selbst einmal ausprobiert und so festgestellt hätte, daß der Starrkrampf nach etwa achtzehn Stunden ganz von selbst wiche. –

In dem zweiten Wagen herrschte Schweigen.

Die vier Insassen wußten genau, was sich weiter ereignen würde. Jeder hatte eine bestimmte Rolle zugewiesen erhalten, damit man den bewußtlosen Jack auch unbemerkt wegschaffen könnte.

Nachdem der Sarg in die Kapelle getragen worden war, schickte Emmery Garld den Leichenwagen und die Trauerkutschen weg, deren Begleitung reichliche Trinkgelder erhalten hatten.

Auch der Kirchhofinspektor wurde nun durch Senator Oglay gebeten, ihn nach dem Erbbegräbnis der Oglays zu führen.

Dann fuhr Garlds geschlossenes, mit zwei Rappen bespanntes Kupee vor. Auf dem Bock saß als Kutscher ein Mann, den Percy Book dazu bestimmt hatte. Die anderen Herren kannten diesen Mann nicht.

Book brachte nun unter seinem weiten Mantel einen anderen zum Vorschein, dazu einen Hut, einen falschen Bart und eine Perücke.

Während Garld draußen Wache hielt, wurde der bewußtlose Jack rasch aus dem Sarge herausgehoben und maskiert.

Als man ihm gerade den Mantel übergezogen hatte, erschien der junge Milliardär sehr hastig und meldete, daß er in den Anlagen drei verdächtige Gestalten gesehen hätte.

Book blieb ruhig.

„Dann ist alles in Ordnung,“ meinte er. „Es sind Posten, die ich aufgestellt habe.“

Jack wurde in den Wagen gebracht, indem Book und Emmery ihn unter die Arme faßten und trugen. Das ging sehr schnell. Emmery und John Griffitt stiegen mit ein, und der Kutscher fuhr davon.

Die beiden jungen Mädchen hatten im Hintergrunde der Kapelle gesessen und mit bang klopfendem Herzen dem allem zugeschaut. Sie saßen Hand in Hand, dicht aneinander geschmiegt. Neben ihnen stand der greise Pfarrer, blaß und ernst, genau so erregt wie Jane und Lizzie.

Kaum war der Wagen verschwunden, als Book seinen drei Wachen ein Zeichen gab.

Einer der Männer, die unscheinbar und spießbürgerlich aussahen, erschien sehr bald mit einem Koffer auf dem Rücken, der recht schwer zu sein schien.

Der Koffer wurde in den Sarg gelegt, der Sargdeckel geschlossen und so zugeschraubt, daß man ihn nicht mehr lüften konnte, ohne das Holz zu zerstören.

Ein paar Kränze schmückten den Sarg, der nichts als einen Koffer voller Steine enthielt.

Dann entfernten sich die Teilnehmer an dieser durch die Umstände gebotenen Komödie und schritten dem Ausgang des Friedhofs zu, begegneten nochmals vier Leuten, die genau so unscheinbar wie die anderen wirkten.

Book trat auf einen der Leute zu.

„Nichts!“ flüsterte der.

Book nickte und schloß sich seinen Freunden wieder an.

– – – – – – – –

Emmery Garlds Wagen hielt nach halbstündiger Fahrt an einer einsamen Uferstelle des Hudson-Flusses dicht bei einem Bootssteg, an dem ein kleines Motorboot lag. Es gehörte dem Milliardär, wurde jetzt aber von einem Manne gesteuert, den Percy Book dazu bestimmt hatte. Dieser Mann und der Kutscher wechselten rasch ein paar Zeichen. Dann stieg der Kutscher ab, öffnete die Wagentür und sagte:

„Bitte, wir sind angelangt.“

Jack wurde schnell in das Boot getragen, das vorn ein Leinenklappdeck hatte.

Das Boot blieb am Stege liegen, der Wagen kehrte mit Garld und Griffitt zur Stadt zurück.

Eine Viertelstunde drauf nahte dem Stege ein Radler. Es war Book. Er reichte das Rad dem Manne zu, der in dem kleinen Fahrzeug stand, sprang dann selbst hinein und befahl:

„Losmachen!“

Der Mann löste die Taue, zog sie ein. Am Heck schäumte das von der Schraube gepeitschte Wasser auf, und knatternd schoß das flinke Benzinboot den Hudson abwärts.

– – – – – – – –

Der sehr ehrenwerte Mr. Shangra Dabsa betrieb im Chinesenviertel Neuyorks in einem alten schmalen Hause der noch schmaleren und noch älteren Pourtan-Gasse eine Speisewirtschaft, verbunden mit Hotel.

Der kugelrunde, ewig schwitzende Dabsa stand am Morgen vor der Aufbahrung Jacks in der Kapelle des Friedhofs hinter dem Schanktisch und spülte Gläser. Dabei warf er immer wieder heimlich prüfende Blicke auf den zur Zeit einzigen Logiergast, einen schwarzbärtigen Mann mit nur einem Auge und einer Narbe im Gesicht, der drüben am Fenster saß und frühstückte.

Vor fünf Tagen war dieser Mr. Charly Setter mit einem kleinen Koffer und einem kräftigen Schäferhunde bei Dabsa erschienen und hatte gleich für eine Woche sein Zimmer vorausbezahlt. Es geschah nicht oft, daß ein Europäer in dem chinesischen Hotel abstieg. Mr. Setter hatte denn auch erklärt, er habe längere Zeit in Indien und China gelebt und fühle sich inmitten einer farbigen Bevölkerung mindestens ebenso wohl wie zwischen Weißen.

Zunächst war dem mit allen Hunden gehetzten und mit allen Salben gesalbten Shangra Dabsa an Mr. Setter nichts weiter aufgefallen. Mr. Setter war viel unterwegs, angeblich, um sich eine Anstellung zu verschaffen. Er sei von Beruf Schlosser, hatte er so nebenbei erwähnt.

Doch Shangra hatte eine feine Nase für besondere Dinge. Bald hatte er die Überzeugung gewonnen, daß mit diesem Setter irgend etwas nicht stimme. Der Mann war niemals ein einfacher Schlosser, wenn er sich auch alle Mühe gab, in Sprache und Benehmen den Gebildeten zu verleugnen.

Der dicke Shangra war daher auch bemüht gewesen, etwas tiefer in das wahre Wesen Mr. Setters einzudringen. Nach altem Rezept hatte er sich nähere Aufschlüsse über den einäugigen Fremden durch eine Revision des mit einem Patentschloß versehenen Koffers seines Gastes zu verschaffen gesucht.

Shangras vielseitigen Fähigkeiten widerstand auch das Patentschloß nicht lange. In dem Koffer fand er jedoch nur Wäsche, zwei Anzüge und anderes, was genau so harmlos und nichtssagend war. Nur eins fiel ihm auf: außer ein paar Seekarten enthielt der Koffer auch nicht ein einziges Stückchen Papier – keine Briefe, keine auf Mr. Setter lautenden Urkunden – – nichts!

Nachdem also auch die Kofferrevision ergebnislos geblieben, mußte Shangra[2] Dabsa sich auf weiteres Beobachten seines Gastes beschränken. Und dies hatte wenigstens den einen Erfolg, daß der Dicke durch das Schlüsselloch eines Abends feststellte, wie gesund auch Mr. Setters linkes, stets durch ein Pechpflaster verklebtes Auge war, über das von der Stirn bis in die halbe Wange hinein eine fingerbreite, rote, offenbar noch frische Narbe hinweglief, die, etwas schief geheilt, die linke Gesichtshälfte derart entstellt hatte, daß es aussah, als grinse Mr. Setter ständig in niederträchtigster Weise.

Jedenfalls: Dabsa wußte nun, daß Charly Setter manches zu verheimlichen hatte.

Dann war gestern nacht etwas geschehen, was dem dicken Chinesen zu denken gab.

Mr. Setter war kurz nach Mitternacht mit seinem Hunde heimgekehrt. Der Schankraum war bis auf drei würfelnde Chinesen leer. Setter hatte ein warmes Gericht bestellt und Dabsa dann gebeten, mit am Tische Platz zu nehmen[3]. Zuerst sprach er über allerlei, kam so auf Umwegen jedoch seinen wahren Absichten näher und fragte den Dicken, ob dieser nicht unter der Hand zehn bis zwölf farbige Seeleute für ein besonderes Unternehmen anwerben könnte.

Über dieses „besondere“ Unternehmen erging er sich in dunklen Andeutungen, die einen Gewinn von ungezählten Millionen als sicher erscheinen ließen, betonte noch, daß die Sache ganz ungefährlich sei und daß er einen Geldgeber hinter sich habe, der die Geschichte finanziere.

Dabsa merkte, daß die Geschichte etwas anrüchig war. Aber da Mr. Setter ihm dreitausend Dollar Vermittlerlohn zusagte, versprach er ein Dutzend Leute zu besorgen, die zu allem bereit wären, wenn sie nur gut bezahlt würden.

Dann ging Setter in sein Schlafzimmer nach[4] oben.

Der Dicke wollte die Gastwirtschaft gerade schließen, als noch zwei leicht angetrunkene Matrosen erschienen, Engländer offenbar.

Dabsa schwor bei all seinen Ahnen, daß er dem allgemeinen Alkoholverbot entsprechend keine Spirituosen den Gentlemans[5] vorsetzen könnte, – nur höchstens eine Flasche medizinischen Wein.

Der ungeheuerliche Preis schreckte die beiden Jan Maate nicht ab. Dabsa verriegelte die Tür, löschte die draußen hängende Laterne aus und brachte den medizinischen Wein, ein Gebräu eigener Fabrikation, das ein wenig an Pepsinwein erinnerte, aber imstande war, den kräftigsten Mann nach drei Flaschen unter den Tisch zu befördern.

Dabsa wurde stutzig, als die Matrosen sehr geschickt, aber doch nicht geschickt genug sich nach dem Einäugigen erkundigten. Sie taten es mit solcher Beharrlichkeit, daß der Dicke ihnen, nachdem sie gegen halb drei morgens hinausgestolpert waren, seinen Hausdiener Tuangfo nachschickte.

Tuangfo kehrte eine halbe Stunde später zurück und meldete, die beiden hätten am Hafen ein Boot gemietet und dem Bootsführer befohlen, nach dem im Hafen ankernden Londoner Frachtdampfer Grimsay zu rudern. Trotzdem blieb Dabsas Mißtrauen rege.

Am Morgen, bevor noch Mr. Setter aufgestanden war, erspähten Dabsas Luchsaugen drüben in der Teestube seines Konkurrenten Litawu zwei recht schäbig gekleidete Europäer, die sich so gesetzt hatten, daß sie Dabsas Haus beobachten konnten.

Da die Leute erst verschwanden, nachdem auch Setter ausgegangen war, wußte der Dicke Bescheid: die Polizei war hinter dem Einäugigen her! Schleunigst versteckte er seine Vorräte Pepsinwein und nahm sich vor, fernerhin gegen Setter Partei zu ergreifen, da er es ja auf keinen Fall mit der Polizei verderben durfte, die ihm ohnehin sehr scharf auf die allzeit schmutzigen Finger sah.

Als Setter erst abends sich wieder einfand und mit finster gekrauster Stirn das Extrablatt studierte, das den Tod des Mörders Jack Router der Bevölkerung meldete, schlängelte sich Dabsa an den Tisch heran und flüsterte Setter zu, daß er in vier bis fünf Tagen die zwölf Matrosen zusammen zu haben hoffe, was natürlich nicht stimmte, da der dicke Chinese auch nicht im entferntesten daran dachte, Setters Pläne zu unterstützen. Er wollte ihn nur weiter aushorchen. Wenn er dann der Polizei mit genauen Angaben über diesen Setter dienen konnte, fiel wahrscheinlich noch eine Belohnung dabei ab. Außerdem stimmte er die Herren Polizisten auch milder gegen sich. Sie würden schon ein Auge zudrücken, wenn er mal mit dem medizinischen Wein Pech hatte. –

Setter hatte kurz erwidert, die Sache eile nicht so sehr. Seine Blicke ruhten dabei immer noch auf dem Extrablatt, das auch den Mord an Daniel Gospard den Lesern mit allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrief.

Dann hatte Setter das Blatt wütend zusammengeknüllt und in die Ecke geworfen.

„Ich muß Dich nachher sprechen, Dabsa,“ flüsterte er. „Auf meinem Zimmer. Wenn Du mir hilfst, erhältst Du sofort zehntausend Dollar.“

Der Dicke wurde wieder schwankend. Ob es nicht doch besser war, mit diesem Setter gemeinsame Sache zu machen? Wenn der Mann tatsächlich über unbeschränkte Mittel verfügte, ließ sich auch die Polizei irre führen.

Dabsa beschloß, erst mal zu hören, was Setter wünschte.

„Gut, ich komme, Mr. Setter,“ erklärte er leise.

Eine Viertelstunde später saßen die beiden in Setters Zimmer.

„Ich werde beobachtet,“ sagte Setter offen. „Weshalb, weiß ich nicht. Es sind seit heute mittag beständig mehrere Leute hinter mir.“

Dabsa machte ein erstauntes Gesicht und tat, als wüßte er noch nichts von dieser Spionage.

„Ich muß diese Kerle loswerden, Dabsa, – verstanden!“ fuhr Setter eindringlich fort. „Hier sind zehntausend Dollar. Ersinne Mittel und Wege, wie ich den Schuften draußen entgehe.“

Der Dicke prüfte die Banknoten. Sie waren echt. Dann überlegte er.

„Warten Sie bis morgen, Mr. Setter,“ meinte er darauf. „Dann können Sie verschwinden.“

„Aber nicht durch die Vordertür, Dabsa. Das ist unmöglich.“

Dabsa lächelte. „Gerade durch die Vordertür.“ – Er sprach weiter.

Setter bewunderte die Geriebenheit des Chinesen. Auf den Gedanken wäre er nie gekommen.

„Abgemacht, Dabsa,“ sagte er mit weit besserer Laune. „Nun etwas anderes. Ich brauche einen kleinen seetüchtigen Motorschoner. Ich weiß, daß morgen nachmittag ein solcher Schoner versteigert wird. Hast Du einen Seemann an der Hand, der ihn für mich kaufen könnte? Der Preis wird etwa dreißigtausend Dollar betragen. Ein höheres Gebot dürfte kaum abgegeben werden.“

Dabsa hatte alles an der Hand, selbst verkommene Seeleute.

„Der Mann muß das Kapitänspatent besitzen, Dabsa,“ fügte Setter noch hinzu.

Der Dicke fieberte bereits vor Geldgier. Dreißigtausend Dollar für einen Schoner!! Ja – das mußte eine Millionensache sein!

„Den Kapitän besorge ich, Mr. Setter,“ versprach er hastig. „Soll er sich mit Ihnen irgendwo treffen?“

„Mit mir nicht. Er soll morgen vormittag elf Uhr im Hotel Limpford nach Mr. Austin Chamon fragen. Dort erhält er weitere Anweisungen. – Weißt Du schon jemand, Dabsa?“

„Gewiß, Mr. Setter. Barrow heißt der Mann, Timoty Barrow.“

„Und er ist zuverlässig?“

„Ja. Es geht ihm schlecht. Er hat ein Bein verloren. Er hat drüben in der Harrison-Street einen kleinen Tabakladen.“

„Ah – sehr gut. – Das wäre dann vorläufig alles, Dabsa.“

Der Dicke entfernte sich.

Als er nun unten im Schankraum das zusammengeknüllte Extrablatt aufhob, überlegte er nochmals, wie man bei dieser Geschichte noch mehr Geld herausschlagen könnte.

Dann las er das Extrablatt hinter dem Schanktisch, während seine nicht minder fette Gattin die Gäste bediente, zumeist Chinesen, die als Stauer am Hafen arbeiteten.

Er las langsam und bedächtig. Setter hatte das Extrablatt mitgebracht, und sein Benehmen hatte verraten, daß der Inhalt ihn etwas angehen müßte.

Schon die Überschrift veränderte Dabsas wie mit Fett eingeriebenes rundes Gesicht. Die Schlitzaugen weiteten sich …

Der Mörder Jack Router an Herzschwäche verstorben.

Soeben erhalten wir aus dem Ostgefängnis die Nachricht, daß Jack Router, der morgen früh acht Uhr den elektrischen Stuhl besteigen sollte, an einer plötzlich aufgetretenen Herzschwäche verstorben ist.

(Es folgte dann eine genaue Schilderung der letzten Stunden Routers. Es wurde hervorgehoben daß er bis zuletzt seine Schuldlosigkeit immer wieder beteuert hätte.)

Wir wollen hier nun nochmals ganz kurz (hieß es dann weiter) den Fall Router, der wochenlang ganz Amerika beschäftigt hat, für die weniger eingeweihten Leser in seinen Hauptmomenten darstellen.

Router, Daniel Gospard und Jane Roppendahl sind die Hauptpersonen des Dramas. Diese drei sowie Routers um zwölf Jahre jüngere Schwester Lizzie waren Jugendbekannte. Die Dampferkatastrophe auf dem Hudson am 12. Juli 1905 hatte den beiden Routers und Daniel Gospard gleichzeitig die Eltern und die Geschwister geraubt. Damals ertranken infolge des Zusammenstoßes im plötzlich aufkommenden Nebel 762 Personen.

Die Waisen schlossen sich jetzt noch enger aneinander an. Jack Router und seine Schwester Lizzie wohnten in der Gaffron-Street Nr. 104 in der zweiten Etage, in der vierten desselben Hauses Daniel Gospard und nebenan in Nr. 105 Kapitän Roppendahl. Router wurde mit siebenundzwanzig Jahren Prokurist bei der Firma Shmit u. Walker, Gospard war Angestellter der Manhattan-Bank, und Jane Roppendahl lebte nachdem Tode ihres Vaters von den Zinsen des bescheidenen Vermögens ihrer Eltern und verdiente durch Maschinenabschriften noch etwas dazu.

Als Daniel Gospard sich dann im Mai dieses Jahres mit Jane verlobte, blieb das innige Verhältnis zwischen den vier Waisen äußerlich ungetrübt, obwohl die näheren Bekannten Jack Routers längst bemerkt hatten, daß er Jane nicht lediglich mit den Augen eines Jugendfreundes betrachtete. Im Standard-Klub, dessen Mitglied Router war, will man dann auch festgestellt haben, daß er seine Gleichgültigkeit gegenüber dieser Verlobung nur heuchele. –

Am 13. September abends gegen neun Uhr ging Router zu Gospard nach oben, um ihm noch beim Umstellen der Möbel (am folgenden Tage sollten Daniel und Jane heiraten und Daniels Wohnung beziehen) behilflich zu sein.

Gospard hielt sich eine ältere Frau namens Anna Grapp als Wirtschafterin. Diese war gegen zehn Uhr zu Bett gegangen. Bald darauf hörte sie aus Gospards Herrenzimmer laute streitende Stimmen. Es wurde jedoch wieder still. Etwa zehn Minuten später hörte sie abermals laute heftige Stimmen. Inzwischen war sie für kurze Zeit eingeschlummert gewesen. Dann vernahm sie im Flur Schritte. Jemand drückte die Flurtür leise ins Schloß und eilte die Treppen hinab. Sie schlief wieder ein. Als sie morgens sechs Uhr das Herrenzimmer betrat, lag Gospard in einer Blutlache vor dem Ofen tot da. Der Kopf war ihm mit einem Brecheisen, das Gospards Eigentum war, eingeschlagen worden.

Die Detektivpolizei verhaftete Jack Router. Er war ja der letzte, der Gospard lebend gesehen, er hatte mit ihm – ohne Frage aus jäh erwachter Eifersucht – einen Streit angefangen, hatte sich aus der Wohnung geschlichen, hatte dazu noch an den Sohlen seiner Stiefel verwischte und ungenügend abgewaschene Blutspuren, die durch eine chemische Untersuchung unschwer als von Menschenblut herrührend festgestellt wurden.

Dazu kam, daß niemand Fremdes sonst im Hause in jener Nacht beobachtet worden war, daß niemand ferner ein Interesse an Daniel Gospards Tod hatte und daß die schwächliche Frau Grapp als Täterin völlig ausschied. Am allerschwersten aber belastete Jack Router sich selbst durch sein merkwürdiges Verhalten, seine Scheu, sich den Toten anzusehen, und die Ausflüchte, die er vorbrachte, um einer Gegenüberstellung mit Jane zu entgehen. Auch über die Herkunft der Blutflecken verwickelte er sich in Widersprüche. Ein Raubmord lag nicht vor. Es war ja nichts entwendet worden, es fehlte nichts in der Wohnung.

So kam Jack Router denn vor die Geschworenen. Vielleicht hätte man ihm mildernde Umstände zugebilligt, wenn er ein offenes Geständnis abgelegt und wenn die Sachverständigen nicht erklärt hätten, daß die tödlichen Hiebe mit der Brechstange von hinten geführt worden seien, das heißt, Router hatte den Nebenbuhler von rückwärts heimtückisch niedergestreckt!

Und doch leugnete er, leugnete vor den Geschworenen mit einer ehernen Ruhe, an der alles – alles abprallte: die Tränen Janes, die Vorhaltungen des Präsidenten, die Bitten seiner Freunde.

„Ich bin unschuldig!“ Wenn er dies in den Saal rief, hochaufgerichtet, fast stolz, wenn er für all die Fallstricke des öffentlichen Anklägers nur ein verächtliches Lächeln hatte, wenn er, als ihm das Todesurteil verkündet wurde, ebenso stolz stehen blieb und nur erklärte: „Die Wahrheit wird an den Tag kommen!“, dann ging stets durch den Zuhörerraum ein Raunen und Flüstern: „Er kann kein Mörder sein!“, dann war es begreiflich, daß Stimmen laut wurden, die Jack als das Opfer eines Justizirrtums hinstellen wollten. Doch der überwiegende Teil der öffentlichen Meinung war gegen ihn. Gegenüber all den erdrückenden Indizienbeweisen verstummten auch bald die wenigen, die für den Verurteilten eingetreten waren, darunter auch, was hier besonders betont sei, unser Phileas Brock, unser Genie, auf den ganz Amerika stolz ist.

Phileas Brock hatte freiwillig mit seinem Stabe von Mitarbeitern versucht, einen anderen Täter zu finden. Er fand ihn nicht. Er ließ die Ermittlungen einschlafen.

Und nun hat eine höhere Fügung Jack Router vor der gerechten Strafe bewahrt. Er ist tot, verschieden an Herzschwäche, die wahrscheinlich die Folge der großen seelischen Erregungen gewesen ist.

Jack Router – – der Mörder?! War er wirklich der Mörder? Oder liegt hier doch irgend ein düsteres Geheimnis vor, das Jack Router absichtlich mit hinüber nahm in die andere Welt, aus der es keine Rückkehr gibt?![6]

Abermals werden sich jetzt Jack Routers Freunde und Verteidiger melden, werden unsere Justiz versteckt beschuldigen, einen Mann zu Tode gefoltert zu haben, dessen Ruf und Charakter bis zu jenem verhängnisvollen 13. September makellos waren.

Es läge eine ungeheure Tragik darin, wenn jetzt vielleicht, wo der Mund dieses untadeligen Ehrenmannes (das war er ja, wenn man diese eine Tat ausscheidet) sich für immer geschlossen hat, die Wahrheit wirklich durch einen Zufall an den Tag käme. –

Routers Leiche wird übermorgen in aller Stille beigesetzt werden. Wir werden darüber berichten.

– – – – – – – –

Der dicke Shangra Dabsa schob das Extrablatt in die Tasche seiner schneeweißen Leinenjacke.

Sein Gesicht verriet nichts mehr von den Gedanken die hinter der flachen Asiatenstirn kreisten.

Einen Augenblick dachte er, ob es nicht doch zweckdienlicher sei, sich mit diesem Charly Setter nicht weiter einzulassen. Doch die Dollarnoten lockten übermächtig. Was ging Shangra Dabsa dieser Mord an?! Nichts – gar nichts! Der war ja nun abgetan. Der Mörder war tot. –

Dann begab der Dicke sich zu Kapitän Timoty Barrow, freilich auf Umwegen. Er betrat den Zigarrenladen erst, nachdem er festgestellt hatte, daß ihm niemand nachschlich.

Am nächsten Morgen, als gerade Jack Routers Sarg nach der Kapelle gebracht wurde, erschien in Setters Zimmer ein Mann, der sich als Filmschauspieler Chester Lindsay vorstellte, äußerlich aber mehr einem Strolch glich. Immerhin war er[7] für Setters und Dabsas Vorhaben brauchbar.

Während er seine zerlumpten Kleider abstreifte und dafür in Setters Anzug schlüpfte, dann weiter seinem Gesicht mit verblüffendem Geschick eine überraschende Ähnlichkeit mit dem Charly Setters gab und diesen sodann als Chester Lindsay herausstaffierte, entpuppte er sich im Gespräch als ein so gewandter, vorurteilsfreier Pseudogentleman, daß Setter ihn kurzer Hand in seine Dienste nahm.

Der falsche einäugige Setter verließ dann mit dem Koffer Dabsas Speisewirtschaft, tat so, als ob er sich auf der Straße scheu umblickte und schlich davon, lockte so die beiden Männer hinter sich drein, die gegenüber in der Teestube jetzt Stammgäste geworden waren.

Nach kurzem Abschied von dem dicken Chinesen konnte der echte Charly Setter, der jetzt bartlos wie Lindsay war, in aller Seelenruhe nach der anderen Seite verschwinden. In einem großen Warenhause kleidete er sich von Kopf bis Fuß neu ein, kaufte auch einen Koffer und eine Reisetasche, fuhr zum Bahnhof, wartete die Ankunft eines Fernzuges ab und begab sich darauf mit seinem Gepäck nach dem Hotel Limpford, das von den reichen Plantagenbesitzern des Südens bevorzugt wurde, belegte als Mr. Austin Chamon aus New Orleans zwei der besten Zimmer und ließ sich einen Imbiß in seinen Salon bringen.

Inzwischen hatte der verkommene Filmmime in der Maske Setters die beiden Männer nach Brooklyn hinübergelockt, hatte hier eine beliebige Mietskaserne betreten, ganz oben vor der Bodentür Perücke, falschen Bart, Pflaster vor dem Auge und die angeschminkte Narbe entfernt, hatte aus dem Koffer einen langen Gummimantel und eine Mütze herausgenommen, ließ den Koffer stehen und begab sich hinkend wieder auf die Straße hinaus, wo die beiden Aufpasser ihn ahnungslos im Strom der Passanten verschwinden sahen. Schließlich dauerte ihnen des Einäugigen Abwesenheit doch zu lange. Einer der beiden betrat das Haus und stieg, getrieben von einem unbestimmten Verdacht bis zur Bodentür empor, fand so den herrenlosen Koffer und in dem Koffer den braunen Filzhut, den der falsche Setter getragen hatte.

Er nahm den Koffer mit und sagte unten mißmutig zu seinem Gefährten:

„Da – der Kerl ist entwischt! Den Koffer hat er einfach zurückgelassen.“

Sie kehrten über die Manhattan-Brücke nach Neuyork zurück und begaben sich nach dem Eckhause der Mercer- und Howard-Street, wo sich im 12. Stock die Büroräume des Detektivinstituts von Phileas Brock befanden. Riesige Reklameschilder neben dem Haupteingang und an der Hauswand priesen hier die erprobte Findigkeit der weltbekannten Detektei in schreiendsten Farben und ebenso auffallenden Stichworten an.

Durch eine Pendeltür gelangten die beiden Angestellten Phileas Brocks in den eleganten Vorraum, wo ein würdiger älterer Herr die Klienten zu empfangen hatte.

„Ist der Chef anwesend, Mr. Long?“ fragte einer der Detektive den Herrn.

„Nein, noch nicht. Er kommt um halb zehn. – Wichtige Meldung?“

„Ja – leider. Wir möchten zuerst vorgelassen werden.“ Dann gingen sie durch eine Tür rechter Hand in die Büros. –

Im Vorraum saßen drei Herren, die auf Phileas Brock warteten. Es waren Direktoren der Maitland-Bank, die in der verflossenen Nacht durch Einbrecher schwer geschädigt worden war.

Plötzlich schlug im Vorraum eine elektrische Glocke an.

Mr. Long rief daraufhin in das Büro hinein:

„Der Chef!!“

Die beiden Detektive durchschritten den Vorraum und öffneten die gepolsterte Tür linker Hand, durchschritten weiter einen kurzen Gang und klopften an die ebenfalls gepolsterte Tür am Ende des Ganges, die in ein großes, dreifenstriges Zimmer führte, dessen schlichte Büroausstattung zu den wertvollen Bildern an den Wänden, den kostbaren persischen Teppichen und den auf Wandbrettern stehenden künstlerischen Bronzen, Statuen aus Marmor und seltenen Altertümern einen eigenartigen Gegensatz bildete.

An einem mächtigen Diplomatenschreibtisch saß, den Rücken nach dem einen Fenster hin, der berühmte Detektiv in einem hochlehnigen, geschnitzten Schreibsessel.

Die beiden Angestellten machten vor dem Schreibtisch halt. Ihre Gesichtszüge verrieten schon, daß sie Pech gehabt haben müßten.

Phileas Brock, mit leicht ergrautem blonden Spitzbart, einem ebensolchen Scheitel und einer Hornbrille auf der wie von Sonnenbrand stark geröteten Nase, musterte sie kurz und sagte dann:

„Bericht! – Welche Sache?“

„Sache Jane Roppendahl, Mr. Brock.“

„Gut. Vorwärts. Wie steht’s mit dem Einäugigen, Grammont?“

Grammont faßte seinen Bericht sehr knapp.

„Hm – und die Schäferhündin dieses Setter?“ fragte Brock dann.

Grammont zuckte die Achseln. „Die wird der echte Setter entweder mitgenommen haben, oder sie befindet sich noch bei dem Chinesen.“

„Und damit wißt Ihr beide nichts anzufangen?! Ihr wollt doch diesen Setter wieder aufstöbern, nachdem er durch Euer Ungeschick auf Euch aufmerksam geworden und mit Hilfe eines anderen entwischt ist.“

Er schwieg und überlegte.

„Ich werde die Sache selbst in Ordnung bringen,“ entschied er dann. „Ihr bewacht das Haus des Chinesen weiter. Aber geschickter!! Stümper wie Euch kann ich nicht brauchen. Geht!“

Der würdige Mr. Long trat ein.

„Morgen, Long. Setzen Sie sich.“ Phileas Brock hatte sich eine[8] Zigarre angezündet. „Die Sache Router-Roppendahl nimmt mich stark in Anspruch. – Die sieben Leute, die heute früh auf dem Friedhof tätig waren, sind frei, nicht wahr?“

„Ja, Mr. Brock.“

„Die sieben sollen dann von sofort Mr. Emmery Garlds Motorjacht, die drüben in Hoboken am Kai liegt, überwachen und feststellen, ob die Jacht noch andere interessiert. Sie verstehen, Mr. Long.“

„Gewiß, Mr. Brock.“

„Jack Router befindet sich bereits an Bord der Jacht. Um ein Uhr etwa wird er wieder zu sich kommen. Ich muß dabei sein. Er will nur Jane Roppendahl gegenüber seine Geheimnisse preisgeben.“

Phileas Brock schwieg und schaute den Zigarrenwölkchen nach.

Der würdige Long, sein Vertrauter, Bürochef und Freund fragte jetzt:

„Was halten Sie von dem Manne mit der Narbe, der Ihnen den Zettel durch Trimm zustellte und den wir dann glücklich bei Shangra Dabsa ermittelten?“

„Und der jetzt entwischt ist!“ rief Phileas Brock ärgerlich. „Ja – entwischt! Auf eine Art, die nur ein solcher Esel wie Grammont nicht durchschauen konnte! Was ich von dem Menschen halte, lieber Long? Er ist die Gegenpartei, behaupte ich.“

„Daniel Gospards Mörder?“

„Vielleicht … – Doch nun weiter. Pascal soll ein Hausiererkostüm bereitlegen, dazu einen Kasten mit doppeltem Boden. In das Versteck kommen ein paar goldene Uhren hinein. Sie verstehen, Long …! Ich will zu dem Chinesen. Der Mann mit der Narbe darf uns nicht entschlüpfen. Er ist Jane Roppendahl vorgestern nacht fraglos nachgeschlichen, als sie bei Mr. Book eindrang. Sein Interesse ist vielsagend genug. – So, nun die drei Herren, bitte …“

– – – – – – – –

Der dicke Dabsa hatte sich mit dem alten Hausierer, der ihn allein zu sprechen wünschte, in ein Zimmer hinter dem Schankraum zurückgezogen.

„Wollen Sie eine goldene Uhr kaufen?“ fragte der zerlumpte Straßenhändler scheu. „Billig, Mr. Dabsa, sehr billig …“

Er brachte aus seinem Hausiererkasten eine Uhr zum Vorschein und hielt sie dem Dicken hin.

„Nur dreißig Dollar …! Echt – auch der Innendeckel!“

Dann zog er die Hand wie erschrocken zurück …

„Da heulte eben ein Hund,“ meinte er aufhorchend. „Recht schaurig klang’s. Essen Sie Hundefleisch, Mr. Dabsa?“

„Ich hörte nichts,“ sagte der Dicke arglos. „Es wird der Hund eines meiner Logiergäste sein. – Zeigen Sie mir mal die Uhr?“

Sie einigten sich auf 25 Dollar. Dabsa grinste. Er hatte ein gutes Geschäft gemacht.

Der Hausierer steckte das Geld ein.

„Ich möchte mir längst einen Hund kaufen. Ob der Herr ihn wohl abgibt? – Da, das Tier heult soeben abermals.“

„Sie haben bessere Ohren als ich,“ murmelte der Dicke nachdenklich. „Ja – vielleicht verkauft er ihn.“

„Könnte ich den Herrn mal sprechen? Ist es auch ein großer Hund? Ein kleiner nützt mir nichts.“

„Eine Schäferhündin. – Der Herr ist verreist. Aber ein Freund von ihm könnte Ihnen Bescheid geben. Wie steht’s mit dem Vermittlerlohn?“

„Drei Dollar … Ich bin ein armer Mann, Mr. Dabsa.“

„Gut. Geben Sie mir das Geld … – So, der Freund des Herrn heißt Austin Chamon und wohnt im Hotel Limpford. Berufen Sie sich nur auf mich. – Ist die Uhr gestohlen?“

„Weiß ich’s?! Ich habe sie am Hafen eingehandelt. Sie müssen das Gold einschmelzen, Mr. Dabsa.“

„Gut, gut – keine Sorge.“

Der Hausierer schlurfte davon.

In dem sonst so argwöhnischen Herzen des Dicken blieb auch nicht eine Spur von Mißtrauen zurück. Wer goldene Uhren dunkler Herkunft verkauft, galt für Shangra Dabsa als Ehrenmann – als Ehrenmann seines Schlages. – –

Der Hausierer wurde von dem Portier des Hotel Limpford grob angeschnauzt …

„Scheren Sie sich raus – hier wird nicht gebettelt!“

Der schäbige Händler katzbuckelte. „Ich habe Mr. Austin Chamon etwas zu bestellen. Er wohnt hier bei Ihnen.“

„Das stimmt. – Boy, fahre den Mann nach oben. Zimmer Nr. 12 – Mr. Chamon aus New Orleans.“

Der Liftboy klopfte bei Mr. Chamon an. Der hatte gerade Besuch, den einbeinigen Kapitän Timoty Barrow, kam nun in den Flur hinaus und fragte den Hausierer:

„Was wollen Sie denn von mir?“

„Ich bin von Mr. Shangra Dabsa hergeschickt worden,“ flüsterte der Alte. „Sie haben doch Ihren Hund dort gelassen. Ich möchte ihn kaufen. Ich bin ein Geschäftsfreund von Dabsa.“

„Kaufen?! Keine Rede davon! Ich habe Dabsa doch befohlen, die Hündin gut zu verpflegen. Wie kommt er auf den Gedanken, daß ich das Tier veräußern will?!“

„Entschuldigen Sie, Mr. Chamon. Ich will Sie nicht weiter belästigen. Dabsa hat mir drei Dollar Vermittlerlohn abgenommen …“

„Da haben Sie die drei Dollar zurück. Scheren Sie sich zum Teufel!“

Der Alte dankte mit einem Wortschwall und verließ das Hotel sehr befriedigt.

Der Mann mit der Narbe war gefunden. Die Narbe freilich war jetzt kaum sichtbar, war äußerst geschickt weggeschminkt worden.

– – – – – – – –

Mr. Austin Chamon, der nun einen starken schwarzen Schnurrbart trug und auch einen schwarzen, vollen Scheitel hatte, kehrte zu Kapitän Timoty Barrow in den Salon zurück und setzte die unterbrochene Besprechung mit dem einbeinigen früheren Seemann fort.

„Sie kaufen also den Motorschoner um jeden Preis,“ meinte er, jetzt in allem ein feingebildeter, recht selbstbewußt auftretender Mann. „Dabsa besorgt die nötigen Matrosen. Der Schoner muß für sechs Wochen verproviantiert werden. Die Kosten schätze ich auf fünfzigtausend Dollar. Besorgen Sie auch heimlich Schußwaffen, Kapitän[9]. Hier sind hunderttausend Dollar fürs erste. Und – ehrlich Spiel, Kapitän! Keine überflüssigen Fragen. Das liebe ich nicht.“

„Sie werden mit mir zufrieden sein, Mr. Chamon. – Nur eins muß ich wissen: geht die Reise südwärts oder nordwärts? Es ist des Proviants wegen.“

„Südwärts.“

„Danke, Mr. Chamon. Ich werde den Schoner dann also als Frachtschiff bei den Hafenbehörden auf meinen Namen anmelden. Ich habe Sie doch auch in dieser Beziehung richtig verstanden?“

„Ja.“

Barrow verabschiedete sich und stelzte davon. Als er das Hotel verließ, standen drüben an einem Schaufenster der alte Hausierer und ein ebenso unscheinbarer Mann. In der Scheibe des Schaufensters konnten sie Barrow wie in einem Spiegel sehen.

„Das ist der Besucher des angeblichen Chamon,“ sagte Phileas Brock zu seinem Angestellten. „Als der Liftboy mich bei Chamon anmeldete, konnte ich einen Blick in den Salon werfen. Es ist derselbe Mann. Folgen Sie ihm.“ –

Brock benutzte dann eine Straßenbahn und verschwand in dem Eckhause der Mercer-[10] und Howard-Street.

Nach einer Viertelstunde verließ Doktor Percy Book das Nebenhaus Howard-Street Nr. 1 und begab sich zum Hafen hinab, wo sein Motorboot bereits auf ihn wartete.

„Nach Hoboken zur Stella Maris, Miller!“ befahl er dem Bootsführer.

„Sehr wohl, Mr. Book …“

Das Motorboot legte an einer schneeweißen, eleganten Motorjacht von etwa 35 Meter Länge an. Zu beiden Seiten[11] des Bugs prangte in vergoldeten erhabenen Buchstaben der Name „Stella Maris“ (Meeresstern). Die Gallionsfigur zeigte eine auf einem Stern sitzende Meerjungfrau mit Fischschwanz.

Emmery Garld, der bisher unter dem Sonnensegel auf dem Achterdeck auf und ab gegangen war, eilte Book nun zum Fallreep entgegen.

„Tag, Emmery. – Wie geht’s ihm?“

Der Sohn des Milliardärs machte eine achtungsvolle Verbeugung und drückte Books Hand.

„Oh, er atmet schon recht kräftig. Ich habe den Sauerstoffapparat nur ganz kurze Zeit anzuwenden brauchen.“

Doktor Book winkte befriedigt und schaute nach dem Bollwerk hin, wo auf einem Bretterstapel vier Seeleute eifrig würfelten.

Der eine hob jetzt die rechte Hand wie zufällig empor und beschrieb damit in der Luft einen Kreis.

Book schritt, von Garld gefolgt, die Treppe zur Achterkajüte hinab, begrüßte hier Jane und die liebliche, zierliche Lizzie und ging dann den Kabinengang entlang, betrat eine der Kabinen und fand hier neben Jack Routers Bett den kleinen Redakteur John Griffitt vor.

„Tag, John. Ich werde Sie ablösen. Kehren Sie nur in Ihre Redaktionsbude zurück. Ihr Fernbleiben könnte auffallen.“

„Das stimmt, Percy. Aber ich bitte mir aus, daß ich auch weiter in alles eingeweiht werde.“

„Selbstverständlich …! – Wiedersehen.“

Kaum war Griffitt hinaus, als es schüchtern klopfte und Jane erschien.

Sie sah blaß und übernächtig aus. Mit unsicherem Blick streifte sie die im Bett liegende, bis zum Halse zugedeckte regungslose Gestalt.

„Setzen Sie sich, Miß Jane,“ meinte Book freundlich, indem er Routers Puls prüfte. „Es ist alles in bester Ordnung. Jack wird sofort erwachen. Die Folgen des Starrkrampfes sind dann bald überwunden.“

Jane seufzte und flüsterte: „Und dann …?!“

„Wird Jack uns beiden die Wahrheit sagen müssen.“

„Die ich fürchte, Mr. Book …“

Er blickte sie fragend an.

„Jack hat etwas auf dem Gewissen, Mr. Book,“ hauchte Jane in zwiespältiger Stimmung. „Auch Pfarrer Loomarc zweifelt wieder an ihm. Es wäre furchtbar, wenn …“ Sie beendete den Satz nicht und starrte vor sich hin. Sie war heute nicht mehr die frische, energische, zielbewußte Jane, die Book bisher so sehr imponiert hatte.

Book blickte ihr weiter prüfend in das zarte, feine Gesicht.

Dann – ganz plötzlich: „Weshalb verlobten Sie sich mit Daniel Gospard, Miß Jane?“

Die Frage schien einen Sturm von Gefühlen in der Brust des jungen Mädchens wachzurufen. Sie erbleichte noch mehr, wurde dann sehr rot und warf einen hilflosen Blick auf den Doktor.

Book nahm ihre Hand. „Jane, wir werden diesen Fall nie aufklären, wenn Sie nicht ganz offen sind,“ meinte er eindringlich. „Ich behaupte, Ihr Herz hat ursprünglich Jack gehört. Ist es so?“

Sie senkte den Kopf und erwiderte gequält:

„Es ist so, Mr. Book.“ Dann raffte sie sich auf, hob den Kopf wieder. „Es ist heute etwas Fremdes in mir, etwas, das mich lähmt. Ich muß es abschütteln. – Sie haben ganz recht, Mr. Book: ohne Offenheit kommen wir nicht weiter. – Ja, ich habe Jack geliebt. Er hat mich aber seit dem Tode meines Vaters mit so frostiger Freundlichkeit behandelt, daß ich sehr darunter litt, so sehr, daß schließlich ein unvernünftiger Trotz in mir aufstieg und dann eine unselige Stunde mich verleitete, Gospards Braut zu werden. In jener Stunde hatte Gospard Andeutungen gemacht, daß Jack zu einer reichen Dame unerlaubte Beziehungen unterhalte.“

Book wartete, daß sie weiterspräche. Er drückte nur herzlich ihre Hand.

„Ich fühlte mich von Jack betrogen, Mr. Book. Ich wollte ihm beweisen, daß er mir gleichgültig sei. So verlobte ich mich mit Daniel.“

„Die alte Geschichte,“ murmelte Book.

„Jacks Benehmen mir gegenüber blieb dasselbe. Anstelle der einstigen Liebe empfand ich nur noch Haß gegen ihn. Ich hatte geglaubt, er würde seelisch leiden darunter, daß ich nun einem anderen gehörte. Er ließ sich jedoch nichts merken. Und gerade das verstärkte noch meine häßlichen Empfindungen gegen ihn.“

„Echt weiblich und daher verständlich, Miß Jane.“

„Gehen Sie nicht zu hart mit mir ins Gericht, Mr. Book. Ich bereue ja. Ich wollte Jack retten. Denn, um ganz ehrlich zu sein: das Geheimnis des Messingfläschchens kam bei mir erst in zweiter Linie. Der Hauptgrund meines Versuches, Jack zu retten, war die Überzeugung, daß er schuldlos sei. Leider – leider ist diese Überzeugung nun wieder erschüttert worden.“

„Was brachte Sie denn zu dieser Überzeugung, Miß Jane?“ fragte Book gütig. „Nur eine innere Stimme?“

„Noch etwas anderes, oder besser: jemand anders, nämlich Lizzie, Jacks Schwester. Bevor Jack verhaftet wurde, hatte sie sein Tagebuch versteckt – am eigenen Körper. Sie wußte, daß Jack in dieses verschließbare Buch Gedichte eintrug – Ausdrücke seiner Stimmungen. Sie fürchtete, es könnten sich unter den Gedichten womöglich solche vorfinden, die Jack belasten würden.“

„Ein dichtender Prokurist!! Der arme Jack muß seelisch schwer gelitten haben. Das Leid macht zum Dichter, Miß Jane,“ meinte Book sinnend.

„Lizzie hat erst nach dem Prozeß einmal das Tagebuch zu öffnen gewagt. Vor vierzehn Tagen brachte sie es mir dann, gab es mir an der Flurtür und entfernte sich wortlos. Ich habe darin jedoch nur ein Gedicht entdeckt, das mir zu dem Geheimnis meines Vaters …“

„… zu dem Messingfläschchen,“ verbesserte der Doktor.

„… in Beziehung zu stehen scheint. Ich kann es auswendig.“ Sie errötete leicht. „Es ist am 15. April 1920, am Tage nach dem Tode meines Vaters, niedergeschrieben worden. Ich werde es Ihnen hersagen, Mr. Book:

Was die zwingende Not
Als dringend Gebot
Dir zuraunt als eitles Hoffen,
Erwäg’ es genau, denn schwerer getroffen
Wird deiner Seele zarter Frieden
Durch das Enthüllte hienieden
Als durch das Dunkel, das stumm und tot
Schirmt’ deines Glaubens Rosenrot.
Mein eigenes Herz, von Zwiespalt gelähmt,
Der Wahrheit so nahe sich ihrer schämt …
Mein eigenes Herz, zu viel es jetzt weiß,
Und schweigt – um des Glückes seligsten Preis!“

„Noch einmal, bitte,“ sagte Book hastig und nahm seine Brieftasche zur Hand, schraubte die Füllfeder auf und schrieb das kleine Gedicht nach Janes Diktat auf einen Zettel, den er dann in die Brieftasche steckte. Sein Gesicht hatte den Ausdruck erhöhter Spannung angenommen.

„Hatte Jack Ihren schwerkranken Vater besucht, Miß Jane?“ fragte er nun.

„Ja. Mehr noch, er half mir bei der Pflege.“

„War Jack Ihrem Vater sympathischer als Daniel?“

„Weit sympathischer. Von Daniel hielt der Vater nicht viel. Daniel war sehr ehrgeizig, vielleicht zu ehrgeizig.“

Vom Bett her etwas wie ein tiefer Seufzer.

Die beiden fuhren herum.

Jacks Mund stand halb offen. Er atmete hastig, schlug plötzlich die Augen auf.

Book hatte sich über ihn gebeugt.

„Wie fühlen Sie sich jetzt?“

Jack hatte lediglich das Empfinden einer schweren Schlaftrunkenheit.

„Gut,“ erwiderte er mit recht kräftiger Stimme. „Ich habe Ihnen viel zu danken, sehr viel.“

„Der Dank gebührt Jane, lieber Jack,“ meinte der Doktor.

Jane näherte sich dem Bett. Book machte ihr Platz.

Aufschluchzend sank sie in die Knie und drückte das Gesicht in die Steppdecke, umklammerte Jacks Rechte mit heißen Fingern …

„O Jack – sage endlich alles!“ rief sie leise. „Alles!! Martere mich nicht länger! Du hast das Messingfläschchen an Dich genommen!“

Jack Routers Nerven streikten. Ein paar Tränen rollten ihm über die eingefallenen Wangen.

„Hältst Du mich für einen Dieb, Jane,“ flüsterte er traurig. „Ich habe das schreckliche Ding nicht! Nein – ich habe es nicht!“

Book hob Jane sacht empor. „Sie müssen sich mehr beherrschen,“ hauchte er ihr zu. „Setzen Sie sich. Ich werde mit Jack reden.“

Router hatte die Augen geschlossen. Ein finsterer, verbitterter Zug erschien um seinen Mund. Jane zweifelte also noch immer an ihm …! Noch immer! Nie hätte er dies für möglich gehalten!

Book nahm auf dem Bettrand Platz.

„Lieber Jack, Sie haben Pfarrer Loomarc versprochen, Jane über einiges Aufschluß zu geben,“ begann er sanft. „Nur Jane! Aber – was Jane hören kann, darf auch ich hören, Jack. Ich habe, glaube ich, ein Recht darauf. Es gibt eine Dankespflicht, Jack. Verzeihen Sie, daß ich Sie daran erinnere. Wir müssen endlich Klarheit gewinnen.“

Jack Router öffnete die Lider und starrte zur Kabinendecke empor.

„Ich wäre nie hingerichtet worden, Mr. Book,“ erklärte er unfreundlichen Tones. „Überschätzen Sie nicht das, was Sie für mich getan haben. Ich hätte in letzter Minute gesagt, was ich weiß. Und das hätte genügt, mir die Freiheit zu verschaffen. Doch – so ist es besser. Jetzt brauche ich nicht zu reden. Und – ich werde es auch nicht tun.“

Book schüttelte wie verständnislos den Kopf.

„Sie wollten doch aber Jane etwas anvertrauen, Jack.“

„Das wollte ich. Sie … verdient es nicht.“ Das klang so ungeheuer bitter und hart, daß Jane aufsprang und sich tief zu ihm herabbückte.

„Jack – Jack, wo ist das Messingfläschchen geblieben? Jack – hilf doch uns beiden: sprich!“

Auch sie weinte jetzt. Ihre warmen Tränen fielen auf Jacks Stirn.

Er schaute sie an. Was ihm aus ihren Augen entgegenstrahlte, war angstvolle, versteckte Zärtlichkeit.

„Jack – nimm die harten Worte zurück,“ flehte sie. „Du tust mir unrecht. Du ahnst nicht, was ich gelitten habe.“

„Vielleicht … ahne ich es nicht,“ murmelte er und blickte zur Seite. „Setz’ Dich wieder, Jane. Ich werde reden.“

Und dann begann er: „Dein Vater, Jane, hat mir bereits[12] ein paar Tage früher über sein Geheimnis Andeutungen gemacht, als er mit Dir darüber sprach. Er sagte mir, daß etwas sein Gewissen bedrücke …“

Jane konnte eine Bewegung der Überraschung nur schwer unterdrücken.

„Er verlangte von mir die Zusicherung, daß ich Dir einst beistehen solle, falls der Tag käme …“

„Welcher Tag?“ entfuhr es Jane scheu.

„Das verschwieg er. Ich merkte nur aus seinen infolge des Fiebers etwas wirren Sätzen, daß er in einer fernen Vergangenheit etwas wie eine Schuld auf seine Seele geladen hätte. Du hast Deinen Vater sehr geliebt, Jane. Und er sagte zu mir: „Wenn Sie mich ganz kennen würde, wäre ihre Kindesliebe vielleicht dahin.““

Das junge Mädchen blickte ratlos nach Book hin.

„Begreifen Sie das, Mr. Book? Mir hat mein Vater doch etwas ganz anderes anvertraut!“

Sie drehte den Kopf wieder Jack Router zu.

„Ganz anderes, Jack. Wenn ich einmal in Not wäre, sollte ich das Messingfläschchen öffnen – nur dann! Erwähnte er Dir gegenüber das Fläschchen denn gar nicht, Jack?“

„Doch. Mit wenigen Worten, deren Sinn mir dunkel blieb.“

Ein längeres Schweigen folgte.

Percy Book hatte das Kinn in die Hand gestützt und beobachtete den Tanz der Millionen von Staubteilchen, die in dem breiten runden Sonnenstrahl umherwirbelten, der durch das Kabinenfenster schräg auf den feinen Bastteppich fiel.

Dann fragte er, ohne Jack anzusehen:

„Und dies, glauben Sie, hätte Sie noch in letzter Minute vor dem elektrischen Stuhl bewahrt, Jack?“

„Das habe ich nicht behauptet, Percy.“

„Dann wissen Sie eben noch mehr, Jack!“

„Über das Fläschchen – allerdings! Kapitän Roppendahl, den ich stets Onkel Roppendahl nennen durfte, befahl mir damals, es ihm zu bringen – aus der Truhe. Du warst ein wenig an die Luft gegangen, Jane. Ich fand es nicht gleich. Inzwischen war Dein Vater in einen unruhigen Schlummer gesunken. So hatte ich Zeit, mir das flache Messingfläschchen anzusehen, dessen Rand indische Gravierungen zeigte, während die ovalen Seitenflächen die Bildnisse zweier Götter in recht roher Arbeit enthielten, außerdem eine Unmenge scheinbar willkürlicher Arabesken. Als ich den Deckel losgeschraubt hatte, fand ich auf der Unterfläche dieses Stöpsels ebenfalls Arabesken. Bei näherem Hinschaun jedoch stellte ich fest, daß es verschnörkelte lateinische Buchstaben waren, die sich zu zwei Worten unschwer vereinen ließen:

„Außen lesen.“

Die Arabesken rund um die Götzen waren eben gleichfalls Buchstaben. Ich entzifferte das Ganze.“

„Und – und der Inhalt?“ fragte Jane atemlos.

„Der Inhalt war etwa:

„Jane, ich habe diese Inschrift für Dich hergestellt. Der Krieg wird großes Elend im Gefolge haben. Du sollst nicht darben. Du wirst jemand finden, der Dir hilft, daß Du die Insel Wake westlich der Hawai-Gruppe[13] besuchen kannst. Wake ist unbewohnt. Du wirst dann über Reichtümer gebieten. Mich aber wirst Du vielleicht verachten. – Dein alter Vater.“

Kaum hatte ich dies entziffert, als ich Dich heimkehren hörte, Jane. Ich brachte das Fläschchen schnell in die Truhe zurück. Zwischen mir und Deinem Vater wurde das Geheimnis nicht mehr erwähnt. Dir gegenüber schwieg ich, um Dich nicht zu beunruhigen. Du hättest dann wohl in einem fort über diese Dinge nachgegrübelt.“

Jane blickte den Jugendgespielen fest an.

„Seit dem Tode meines Vaters warst Du anders zu mir, Jack. Weshalb?“

Er ließ die Lider etwas sinken.

„Das hast Du Dir eingebildet, Jane,“ wich er aus.

„Nein. Das ist Tatsache. Hing Dein kühleres Benehmen mit dem Fläschchen zusammen?“

„Ja, – auch mit den Gerüchten also, die über Deinen Vater in Seemannskreisen umgingen, uralte Gerüchte, längst vergessen, die mir nur zufällig zu Ohren gekommen waren.“

„Und diese Gerüchte besagen was?“

„Erspare mir die Angaben, Jane. Es handelt sich ja um leeres Gerede.“

„Jack, ich verlange die Wahrheit zu wissen!“

Jack seufzte. „Nun denn … – Book wird ja schweigen. Dein Vater soll als junger Steuermann den Frachtdampfer Mississippi im Jahre 1890, nachdem der größte Teil der Besatzung am gelben Fieber während der Reise nach Neuyork verstorben war, irgendwo im Stillen Ozean versenkt und sich die Goldbarren, die der Dampfer von Dawson City nach Neuyork bringen sollte, angeeignet haben.“

„Ah – eine infame Erfindung!“ rief Jane empört.

Da mischte Book sich ein.

„Jetzt erinnere auch ich mich dieser Gerüchte, Miß Jane. Ihr Vater landete damals als Schiffbrüchiger an der Küste Chiles. Er erklärte, er habe den Dampfer verlassen müssen, da er der einzige Überlebende der Besatzung gewesen. In seinem Boot hatte er etwa ein Viertel der Goldbarren mit verstaut. Da man nun den Dampfer durch andere Schiffe suchen ließ, ohne ihn zu finden, beschuldigte der Reeder Smarson, dem der Mississippi gehört hatte, den Steuermann Roppendahl, sich den größeren Teil der Goldbarren angeeignet zu haben. Die Untersuchung verlief für Ihren Vater günstig, Miß Jane. Es wurde nicht einmal Anklage gegen ihn erhoben.“

Jane war nachdenklich geworden. Ihre Empörung ebbte zurück, wurde von anderen Empfindungen verdrängt.

Und dann mit einem Schlage blitzte in ihrem Hirn eine unheilvolle Erkenntnis auf: die Reichtümer auf der Insel Wake – – diese Gerüchte: ihr Vater hatte die Goldbarren auf der Insel verborgen!

Unter dem Ansturm dieser Gedanken, die das Andenken an den geliebten Toten beschmutzten und die doch die einzige Erklärung für die Inschrift des Messingfläschchens bildeten, schlug sie die Hände vor das Gesicht und begann fassungslos zu schluchzen, beherrschte sich jedoch sofort wieder, trocknete die Tränen und sagte leise zu Jack:

„Ich verstehe jetzt, weshalb Du mir die Entdeckung der Inschrift verschwiegst, Jack. Du sahst voraus, daß ich sehr unglücklich werden würde …“

„Ja, ich wußte es, Jane. Es ist ja nun auch so gekommen. – Ich hatte all das still mit mir herumgetragen, bis zum 13. September abends. An diesem Abend fand auch Daniel die Inschrift heraus, las sie und … und dann gerieten wir in Streit.“

Er zögerte weiterzusprechen.

Book ermunterte ihn, indem er ihm zunickte.

„Ja – in Streit, denn Daniel machte mir den Vorschlag, wir beide sollten in aller Stille … den Schatz heben. Ich lehnte ab. Daniel wurde heftig. Schließlich beruhigte er sich, und wir gaben uns gegenseitig das Ehrenwort, daß wir die ganze Sache im Interesse des reinen Andenkens Deines Vaters totschweigen wollten, Jane. Damit nun nicht jemand anders das Fläschchen in die Hand bekäme und die Inschrift fände, haben wir das Unglücksfläschchen zerstört. Mit Hammer, Kneifzange und Brechstange rissen wir es in Stücke – in ganz kleine Stücke, die ich dann mit in meine Wohnung nahm und in die Kanalisation warf. Ein zweiter Streit hat zwischen mir und Daniel damals nicht stattgefunden, wie ich schon vor Gericht betont habe. Wenn also die Wirtschafterin Daniels nochmals laute heftige Stimmen gehört haben will, so bin ich dabei nicht beteiligt gewesen.“

Book wandte jetzt rasch wieder den Kopf nach Jack hin.

„Lieber Jack, ich muß leider nochmals die Frage wiederholen: glaubten Sie, durch diese Angaben Ihre Hinrichtung hinausschieben zu können?“

„Nein.“ –

Book, wegen der innigen Blicke Janes eine Liebesszene voraussehend, hintertrieb ein derartiges Zwischenspiel durch die weitere Frage:

„Dann wissen Sie also noch mehr, Jack?“

Da richtete Jack sich mit einem Male halb auf, stützte sich auf den linken Arm und erklärte, die rechte Hand wie zum Schwur erhebend:

„Das – – bleibt mein Geheimnis! Niemals werde ich es preisgeben, Percy, es sei denn, daß Sie mich wieder den Behörden ausliefern! Nur der unmittelbar drohende Tod könnte meine Zunge lösen. Ich habe Jane heute bereits schweres Herzeleid zugefügt. Es ist genug damit – übergenug!“

– – – – – – – –

Mr. Percy Book machte keinerlei Versuch mehr, Jack zum Sprechen zu bringen.

„Sie werden sich’s vielleicht anders überlegen, Jack,“ sagte er wieder in fast herzlichem Ton. „Jetzt müssen Sie ein paar Stunden schlafen. – Miß Jane, unser Schützling bedarf der Ruhe. Verabschieden Sie sich vorläufig von ihm.“

Zögernd reichte sie Jack die Hand. Ihre Augen waren von Tränen verdunkelt …

„Jack, Jack, wenn Du doch …“

„Lassen Sie das, Miß Jane,“ fiel Book ihr ins Wort. „Ein Mann wie Jack ändert vielleicht seine Entschlüsse, aber nicht in drei Minuten. – Auf Wiedersehen.“

Er ließ Jane vorangehen.

Er war mit Jack allein. Er wollte ihn überrumpeln.

„Ich bin überzeugt, daß Sie den Mörder kennen, Jack,“ sagte er gleichmütig. „Beantworten Sie mir nur eine Frage: Hat der Mann über dem linken Auge eine Narbe, die sich bis zur Wange hinabzieht?“

„Eine Narbe? Nein!“

Da erst wurde ihm bewußt, daß er sich verraten hatte. Bevor er jedoch seinen Fehler durch einen Nachsatz abschwächen konnte, sagte Percy Book mit feinem Lächeln:

„Lieber Jack, das ist sehr wertvoll. Sie wollen den Mörder also schützen. Nun weiß ich, in welcher Richtung ich zu suchen habe.“

Jack ballte die Fäuste,

„Ah – das – das ist schlecht von Ihnen, Percy! Das ist hinterlistig …!“

Book drückte Jacks Hände auf die Steppdecke zurück.

„Ruhe – Ruhe! – Nun werde ich viel Zeit sparen. Ich war auf falscher Fährte. – Schlafen Sie jetzt, Jack.“

„Halt – !! Percy, wen hatten Sie denn im Verdacht? Und – seit wann spielen Sie den Liebhaberdetektiv?“

„Ich spiele seit zehn Jahren … den Detektiv, lieber Jack. Der, den ich beargwöhnte, war ein Mann, der als Austin Chamon im Hotel Limpford wohnt. So, nun gute Nacht! Abends sehe ich wieder nach Ihnen.“

– – – – – – – –

Der Pseudogentleman und Filmmime Chester Lindsay hatte von dem Mann mit der Narbe genügend Geld erhalten, um sich völlig neu einkleiden zu können, bevor er bei Mr. Austin Chamon die Stellung als Privatsekretär antrat.

Lindsay hatte seit drei Jahren nicht mehr so viel Geld in der Tasche gehabt wie jetzt. Er fühlte sich Krösus. Er war von allen leichtsinnigen Hühnern das leichtsinnigste. Zunächst ging er mal in ein Cafee, wo nur Künstler seiner Art verkehrten und wo man für drei Dollar sowohl einen Arzt fand, der gegen Magenverstimmung eine Flasche Pepsinwein verschrieb, als auch die Flasche selbst sofort erhielt. Arzt und Cafetier machten dabei glänzende Geschäfte.

Lindsay fand natürlich Freunde, einen ganzen Tisch voll. Darunter war auch ein Knipsreporter, das heißt ein Mensch, der mit der Momentkamera tagsüber durch die Straßen lief, um irgendwo einen „aktuellen“ Vorgang knipsen zu können. Die Bilder bezahlten ihm illustrierte Blätter ganz leidlich, und wenn er nur jeden dritten Tag etwas Aktuelles erwischte, hatte er sein behagliches Auskommen.

Dieser ebenfalls sehr ehrenwerte Mr. Stuart Fox war Lindsays Busenfreund. Sie hatten schon manche Lumperei zusammen ausgeheckt, und ihre Freundschaft war im Feuer gestählt: sie hatten viermal nebeneinander auf der Anklagebank gesessen und waren mangels Beweisen freigesprochen worden!

Fox nahm Lindsay sehr bald bei Seite. „Du, ich habe Dich wie eine Stecknadel gesucht! Große Sache, sage ich Dir! Ich hatte schon gestern ausgekundschaftet, daß der tote Jack Router heute früh nach der Kapelle des Ostfriedhofs gebracht werden sollte, hatte mich nachts in die Kapelle geschlichen und lag hinter dem Altar unter ein paar aufgeschichteten Bänken.“ Er sprach noch leiser weiter.

„Verdammt!“ meinte Lindsay. „Damit läßt sich was anfangen!“

„Ohne Frage, mein Sohn! Ich halte Emmery Garld und Doktor Book für die reichsten der in diese Sache Eingeweihten. Du gehst zu Book, ich zu Garld. Verlange hunderttausend Dollar Schweigegeld. – Da – nimm diese Aufnahme mit. Sie zeigt den Moment, wo sie Jack Router in den Wagen schleppen.“ – –

Als Percy Book um drei Uhr nachmittags aus dem Fahrstuhl stieg und seine Flurtür öffnete, näherte sich ihm ein bartloser Herr und stellte sich als Chester Lindsay vor.

„Ich hätte mit Ihnen etwas zu besprechen, Mr. Book,“ sagte er leise und grinste vieldeutig. „Wegen heute morgen – Ostfriedhof!!“

Book unterdrückte ein Gähnen.

„Ich bin zwar sehr müde. Aber bitte – treten Sie ein.“

Book nötigte Lindsay in einen Sessel. „Nehmen Sie Platz. – Sie gestatten, daß ich rauche. Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?“

Er hielt Lindsay den kostbaren silbernen Kasten mit den zwei offenen Mittelfächern und den zwei gedeckelten Seitenfächern hin, deutete auf ein Mittelfach …

„Leichte Sorte, Mr. Lindsay.“

Der rauchte siegesgewiß. Dann kramte er seine Weisheit aus: Diebstahl einer Leiche – plötzlicher Tod Jack Routers gestern – Verdacht naheliegend, daß der Mörder Router nur betäubt gewesen.

Book spielte den tödlich Erschrockenen.

„Was verlangen Sie?“ fragte er zitternd.

„Hundertfünfzigtausend Dollar, Mr. Book.“

„Bitte – langen Sie nochmals zu, Mr. Lindsay,“ sagte der scheinbar gänzlich verängstigte Book. Er hatte das Seitenfach aufgeklappt. „Diese Sorte ist besser. Die rauche ich selbst. – Sie sollen das Geld haben. Ich werde Ihnen einen Scheck ausstellen.“

Er setzte sich an den Schreibtisch, und Lindsay rauchte die köstlichste Zigarette, die er nur je zwischen den Fingern gehabt hatte.

Plötzlich hörte Book hinter sich einen dumpfen Fall. Mr. Lindsay war bewußtlos auf den Teppich geglitten.

Book ging gelassen in sein Schlafzimmer, holte ein Fläschchen und träufelte Lindsay zwanzig Tropfen auf die Zunge. –

Gleich darauf erschien Mr. Phileas Brock in seinem Sprechzimmer und gab zweien seiner Leute Befehl, aus der Wohnung Doktor Books einen großen Koffer abzuholen und den darin liegenden Mann erst auf der Jacht Stella Maris herauszunehmen und in einer Kabine zu bewachen. – –

Auch Emmery Garld wurde zu derselben Zeit von seinem Diener ein Mr. Stuart Fox gemeldet.

Auf der Karte, die Fox dem Diener mitgegeben, stand mit Bleistift:

„In Sachen Ostfriedhof – heute morgen!!!“

Diese drei Ausrufungszeichen ließen den frischen jungen Emmery erbleichen. Er ahnte Böses. Für alle Fälle steckte er seinen kleinen Browning in die Tasche.

Mr. Stuart Fox flegelte sich in den Klubsessel hinein. Er sah auf den ersten Blick, daß Emmery scheußliche Angst vor dieser Unterredung hatte.

Dann legte er los: Diebstahl einer Leiche – plötzlicher Tod Jack Routers gestern – Verdacht naheliegend, daß der Mörder Router nur betäubt gewesen.

Emmery zog wortlos sein Scheckbuch.

„Wieviel?“

„Zweimalhunderttausend Dollar …“

Selbst Emmery blieb jetzt der Mund ob solcher Frechheit offen stehen.

Er legte das Scheckbuch wieder hin. Auf seinen Diener konnte er sich verlassen. Also – zog er jetzt den Browning.

„Wenn Sie auch nur a sagen, drücke ich ab, Freundchen!“

Und zielend schritt er rückwärts zur Tür – zum Klingelknopf, um den Diener herbeizurufen.

Er hatte Pech. Er kam aus der Richtung, stolperte über den Rand der Teppichkante, und der Browning bedrohte Stuart Fox für Sekunden nicht mehr.

Fox war wie ein Wiesel mit zwei Sätzen zum Fenster hinaus, rannte durch den Park, auf die Straße, zur nächsten Polizeiwache.

Emmery Garld fluchte. Aber das half nichts. Der Kerl war weg.

Das Telephon schlug an – läutete Sturm.

Emmery meldete sich.

„Hier Garld … Ah, Gott sei Dank, Mr. Book, Gott sei Dank … Ja – bei mir war auch einer, ist leider ausgekniffen – Gut, sofort, sofort!“

Er raste in den Flur, riß Hut und Mantel vom Ständer, sprang auf der Straße in ein Auto … – –

Auch John Griffitt, Pfarrer Loomarc und Senator Oglay wurden von Book sofort auf die Jacht bestellt. – Inzwischen hatte Mr. Phileas Brock sich ebenfalls eingemischt und vier von seinen Leuten, die mit dem Seewesen vertraut waren, dorthin beordert.

Um vier Uhr machte die Stella Maris vom Kai los und fuhr langsam südwärts, bog bei Koney Island nach Osten ab und jagte nun mit voller Geschwindigkeit in den Atlantic hinaus.

An Bord waren also versammelt: Jane, Lizzie, Book, Emmery, Griffitt, Oglay, Loomarc, Jack, sechs Detektive, drei Matrosen (die Wache) und der arme Chester Lindsay.

Während der Zurüstungen zur Abfahrt hatte Lizzie Jack nur kurz davon verständigt, daß man fliehen müsse. Jack gähnte, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter.

Schon um halb sechs Uhr fing der Funkenapparat der Stella Maris eine Runddepesche der Neuyorker Polizei auf, daß sämtliche Schiffe auf eine weiße Motorjacht achten und deren Auftauchen sofort durch Funkspruch weitermelden sollten, da bereits eine Flottille von Torpedozerstörern nach der Jacht suche.

Der Detektiv, der im Funkhäuschen Dienst tat, brachte diese Depesche sofort Percy Book auf das Achterdeck.

Book las, überlegte.

Es war inzwischen ziemlich dunkel geworden.

Er befahl dann, den Kurs zu ändern und die Nantucket-Insel anzusteuern. Um neun Uhr lief die Jacht in eine der stillen Buchten der Nordküste der Insel ein.

Als die Anker in die Tiefe rasselten, erschien Jack an Deck, frisch rasiert, stramm und nur etwas sehr ernst. Im Lichte der beiden Bogenlampen stand er nun mitten unter den ihn umdrängenden Freunden. Lizzie hatte sich in seinen Arm eingehängt, und Jane schaute ihn strahlend an. Das war ja jetzt wieder der alte Jack, den sie so über alles geliebt hatte.

Aber dieser alte Jack hörte kaum hin, als Griffitt heiter rief:

„Sind Sie mit Ihrer Leibwache zufrieden, Jack?“

Er machte nur eine Ruhe gebietende Handbewegung und erklärte dann fest:

„Ich verlange, daß die Stella Maris sofort nach Neuyork zurückkehrt. Ich will nicht, daß Sie alle sich meinetwegen noch weitere Ungelegenheiten zuziehen. Ich werde mich der Polizei stellen.“

Man war über diese Worte allgemein viel zu verblüfft, um sofort dagegen zu protestieren.

Nur Percy Book blieb Herr der Situation und meinte gelassen:

„Lieber Jack, wenn Sie auf diesem verrückten Streich beharren, werden wir Sie mit Gewalt zurückhalten.“

Jack wollte aufbrausen, beherrschte sich, lächelte schwach und sagte ergeben:

„Der Gewalt füge ich mich, lehne aber jede Verantwortung ab.“

„Bravo!“ rief Emmery. „Er kommt wieder zur Vernunft!“ –

Jack entfernte sich dann, wollte nur etwas auf Deck promenieren.

Als Jane ihm nach fünf Minuten unauffällig folgte, war er nicht mehr zu finden.

– – – – – – – –

Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr begab sich der einbeinige Kapitän Barrow, nunmehr Eigentümer des Motorschoners Jersey City, zu seinem Freunde Shangra Dabsa, um die bereits von dem Dicken angeworbenen Leute in Augenschein zu nehmen.

Barrow war von weitem ein rothaariger, ein wenig buckliger Mensch in schäbiger Matrosentracht gefolgt. Erst eine Viertelstunde nach dem Kapitän betrat er ebenfalls die Speisewirtschaft, setzte sich ans Fenster und bestellte bei Dabsas kugelrunder Ehehälfte ein warmes Gericht, zahlte sofort und fragte die Chinesin nachher so nebenbei, ob sie ihm nicht Arbeit nachweisen könnte. Er sitze so ziemlich an dem Trockenen.

Dann kam Dabsa selbst an den Tisch des Rothaarigen, fragte, ob er Seemann sei und ob er sich anheuern lassen wolle.

Der Rothaarige nannte sich John Golling, besaß auch Papiere auf diesen Namen und war zuletzt auf einem Kuba-Dampfer als Koch gefahren.

Nach einigem Feilschen erklärte er sich bereit, schon nachmittags den Dienst auf der Jersey City zu beginnen. Dann verließ er die Wirtschaft mit einem Vorschuß in der Tasche und verschwand eine Stunde später in dem mit Reklameschildern bepflasterten Eckhause, wo Mr. Phileas Brock zum Nutzen ehrbarer Bürger und zum Nachteil der Pseudogentlemans so segensreich wirkte.

Der würdige Mr. Long kannte den Rothaarigen schon und führte ihn in das Zimmer des Chefs, der verreist war und durch Long vertreten wurde. Am Fenster lag die Dogge Trimm und sonnte sich. Book hatte sie hier in Pension gegeben, so lange er abwesend war.

Long und Golling unterhielten sich leise.

„Ja – die Polizei ist unheimlich tätig,“ meinte Long.

„Es ist bereits eine Belohnung von zehntausend Dollar auf die Wiederergreifung Jack Routers ausgesetzt worden. Vorhin erschienen wieder Extrablätter. – Ehe ich’s vergesse, Mr. Golling, hier sind auch die beiden Revolver, um die Sie gebeten haben.“

Golling blieb nur kurze Zeit. Beim Abschied drückte Long ihm warm die Hand.

„Was Sie vorhaben, weiß ich nicht, Mr. Golling,“ meinte er. „Immerhin – ich wünsche Ihnen alles Gute.“ –

Auch Mr. Austin Chamon, der Mann mit der Narbe, hatte eines der neuen Extrablätter gekauft und studierte es im Vorraum des Hotels, in einem Klubsessel liegend, eine Havanna im Mundwinkel.

„Pest!“ fluchte er in sich hinein. „Ausgerückt – wahrhaftig!! Und noch auf einer Jacht!!“

Dann tauchte Timoty Barrow mit seinem Stelzbein auf.

„Na – alles im Lot, Kapitän?“ meinte Chamon, das Unbehagen unterdrückend.

„Alles im Lot,“ nickte Barrow schmunzelnd. „Wir haben nun die zwölf Burschen beisammen. War nicht leicht, Mr. Chamon. Sollte plötzlich so verdammt fix gehen.“

„Wann können wir in See gehen?“

„Abends acht Uhr. Habe schon alles auf der Hafenpolizei erledigt. Die Schiffspapiere sind in Ordnung. Der Proviant kommt um zwei Uhr an Bord.“

„Und die Waffen?“

„Hm, eine Frage. Werden wir die Waffen nötig haben?“

„Nicht ausgeschlossen, Kapitän.“

Barrow beschaute seinen Stelzfuß. „Hm – den Hals kann die Geschichte nicht kosten?“

„Nein. Uns nicht. Nur denen, die vielleicht dasselbe Eiland anlaufen sollten, was freilich kaum anzunehmen ist. Nur ein Zufall könnte uns stören.“

Der Kapitän beugte sich vor. „Mr. Chamon, ganz im Vertrauen: handelt es sich um einen Schatz?“

„Ja.“

„So so! Dachte ich mir. – Wissen noch andere davon?“

„Vielleicht. Aber die wären kaum zu fürchten. Die einzige Gefahr könnte uns ein Zufall bringen. – Ich werde in einer Stunde an Bord kommen. Auf Wiedersehen, Kapitän.“

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Der Motorschoner Jersey City war kein übles Schiff. Bei günstigem Wind machte es mit seiner Maschine und den Segeln seine fünfzehn Knoten.

Die Ausreise wickelte sich glatt ab. Nachdem der Lotse von Bord gegangen war, setzte Chamon sich mit Barrow zu Tisch. Der Schiffskoch John Golling hatte bewiesen, daß er sein Handwerk verstand. Chamon war jetzt in glänzender Laune.

Die Jersey City ließ sich durch den Panamakanal schleusen und gelangte so in den Stillen Ozean.

Chamon rief den Kapitän herbei:

„Ich will Ihnen nun mitteilen, wohin die Reise geht, Kapitän. Nach der Insel Wake.“

„Aha – vulkanische Insel, kenne ich. Unbewohnt, ganz einsam gelegen.“

„Steuern Sie also nun den kürzesten Kurs, Barrow.“

„Sehr wohl, Mr. Chamon.“ –

Am folgenden Abend verspürte der Mann mit der Narbe vor der Essenszeit Hunger und ging in die Kombüse hinab.

Neben dem Vorratsraum lag die kleine Kabine des Kochs. Da Chamon diesen in der Kombüse nicht fand, näherte er sich der Kabinentür.

Weil kräftiger Seegang herrschte und andauernd Spritzer über Bord kamen, verschlangen diese Geräusche die Schritte Chamons, der nun, ohne anzuklopfen, die Türe[14] aufstieß.

Chamon erstarrte zur Salzsäule …

Da stand vor einem Spiegel der Koch – ohne den roten struppigen Vollbart, den er in der Hand hielt.

Die beiden Männer schauten sich sekundenlang an – beide unfähig, sich zu rühren.

Dann sprang Chamon vorwärts …

Ein furchtbarer Boxhieb traf John Gollings Herz, und wie vom Blitz gefällt sank er krachend zu Boden.

Chamon fesselte ihm Hände und Füße, steckte ihm einen Knebel in den Mund, trug ihn auf das schmale Bett und band ihn hier fest.

Dann verschloß er die Kabine und ging an Deck.

Am nächsten Morgen jedoch war des Kochs Kabine leer.

Fünf Tage darauf meldete Barrow abends dem Mann mit der Narbe, daß die Insel Wake um Mitternacht in Sicht kommen werde.

Genau um dieselbe Zeit lief die Stella Maris vorsichtig in eine breite Bucht der Südküste derselben Insel ein.

Jack Router war nicht an Bord. Er hatte die Jacht damals heimlich verlassen, als Jane ihn auf Deck gesucht und nicht gefunden hatte. In seiner Kabine aber lag ein Zettel auf dem Bett:

„Fahrt ohne mich nach Wake. Ich werde dort mit Euch zusammentreffen. Der Polizei stelle ich mich nicht. – Stets in Dankbarkeit … Jack.“

Über den Inhalt dieses Zettels hatten Percy Book und Pfarrer Loomarc sich ohne Zeugen ausgesprochen, wobei Book nochmals betont hatte, daß Jack fraglos den Mörder Daniel Gospards kenne und daß jener Chamon zu dem Mörder in engsten Beziehungen stehen müsse.

Der alte Herr, auf den diese Seereise wie ein Jungbrunnen wirkte, hatte gefragt:

„Glauben Sie denn, lieber Phileas, daß Jack etwa mit dem Motorschoner in einer Verkleidung nach Wake kommen will?“

„Bitte, nicht Phileas! Book – Percy Book! Halten Sie die beiden Personen auseinander! Phileas ist nicht hier. – Was Jack betrifft: er will ohne Frage die Jersey City benutzen. Er verließ uns, nachdem ich Ihnen allen mitgeteilt hatte, daß dieser Chamon offenbar ebenfalls nach Wake will. Also: Jack wird auf der Jersey City sich anheuern lassen. Gebe Gott, daß man ihn nicht erkennt. Das Gesindel, das dort die ehrliche Schiffsbesatzung spielt, würde ihn kalt machen, wenn er als Spion entdeckt werden sollte.“ –

Und nun war die Stella Maris angelangt, hatte vorher das Inselchen umkreist, um festzustellen, ob der Motorschoner etwa schon eingetroffen sei.

Nun gab Book sehr umsichtig die nötigen Befehle, damit der Schoner die Stella Maris nicht etwa überrumpelte. Das Motorboot sollte nachts dauernd die Insel umrunden und das andere Boot vor der Buchtmündung kreuzen. Nachdem die Wachen und Bootsbesatzungen bestimmt waren, setzten sich die übrigen zu Tisch.

Die Gesellschaft, die sich hier auf der jetzt hellgrün gestrichenen Jacht zusammengefunden hatte, kannte keine Standesunterschiede. Nur ein einziger an Bord galt nicht als gleichberechtigt: der sehr ehrenwerte Kinomime Chester Lindsay. Er durfte sich frei bewegen, mußte jedoch allein essen und die gröbsten Arbeiten verrichten, was ihm ebenso peinlich wie neu war.

Im übrigen war man an Bord guter Dinge. Niemand zweifelte, daß das Unternehmen nach Wunsch enden würde. Und dieser allgemeine Wunsch ging selbstverständlich dahin, das Geheimnis Kapitän Roppendahls restlos aufzuklären, den Mörder Daniel Gospards zu ermitteln und Jacks Schuldlosigkeit so klar zu beweisen, daß ganz Amerika nachher der Stella Maris und deren Besatzung dankbar sein müßte, der Justiz einen Unschuldigen noch rechtzeitig entzogen zu haben.

Die Jersey City näherte sich gegen halb zwölf der Insel. Als Barrow mit Hilfe des Nachtglases die Gestade erkannte, ließ er die Segel reffen. Ein Boot wurde ausgeschwungen, mit vier Chinesen bemannt und von Barrow gesteuert. Neben diesem saß im Stern des Bootes der Mann mit der Narbe. Vorsichtig schlich es mit leisen Ruderschlägen an die Insel heran.

„Ein Motorboot!“ flüsterte Barrow plötzlich. „Da – es scheint die Insel zu umrunden. Es ist ein Wachtboot. Die Stella Maris ist bereits hier, behaupte ich.“

Eine halbe Stunde später war der Ankerplatz der Jacht ermittelt.

„Zurück zum Schoner!“ befahl Chamon wütend. „Wir werden die Jacht entern! Erst die Jacht, dann die beiden Boote, in denen sich zusammen sieben Mann befinden. Da können auf der Stella Maris nur noch wenige Leute sein.“ –

Chamon rief dann auf dem Achterdeck der Jersey City seine elf Helfershelfer zusammen. Sie wußten, daß ihnen dort drüben Millionen winkten. Er brauchte sie nicht lange zu bitten, nunmehr mit Gewalt vorzugehen. Die Waffen wurden verteilt. An Bord sollten nur Barrow und ein Chinese zurückbleiben. Der Kapitän mit seinem Stelzbein paßte nicht für ein Wagnis wie dieses.

Tom Smarc, einer der beiden weißen Matrosen des Schoners, eilte nach Chamons Ansprache rasch in den Kielraum hinab, wo die Ballastsäcke lagen.

„Mr. Router!“ rief er leise.

Zwischen den Säcken kroch John Golling hervor. –

Als der Mann mit der Narbe ihn damals nachts über die Reling in die See hatte gleiten lassen, waren Jacks Fesseln bereits von Smarc, einem Angestellten der Detektei Phileas Brock, bis auf dünne Fasern durchschnitten gewesen, während achtern am Schoner ein langes Tau nachschleppte, das Jack dann leicht ergreifen konnte. So war er wieder an Bord gelangt.

Smarc flüsterte hastig, drückte Jack einen Revolver in die Hand und kehrte an Deck zurück.

Nachdem das Boot mit den Piraten verschwunden war, schlich Jack aus dem Kielraum nach oben. Der Chinese lehnte an der Reling, Barrow saß in der Kajüte und trank kalten Grog.

Der Schlag mit der Handspeiche auf den Asiatenschädel verringerte die Zahl der Verteidiger der Jersey City um die Hälfte. Jack fesselte den Bewußtlosen und betrat die Kajüte. Er war ohne Bart und Perücke, sagte nun zu Barrow, der entsetzt in die Revolvermündung stierte:

„Mein Name ist Router, Jack Router, Kapitän, – der gesuchte Mörder. Ich weiß, daß Ihr damals verhindern wolltet, daß Austin Chamon mich über Bord würfe. Ich will Euch schonen, wenn Ihr mit mir jetzt gemeinsame Sache macht.“

„Das will ich, Mr. Router. Das Gold hat mich verblendet, verführt.“

Gleich darauf begannen die Motoren des Schoners zu arbeiten, und in schneller Fahrt steuerte die Jersey City auf die Bucht zu. –

Inzwischen war das Piratenboot an der Ostküste unbemerkt gelandet, wurde auf den Strand gezogen und im Gebüsch verborgen. Daß der Motorschoner nach der Bucht bereits unterwegs war, sollte Austin Chamon zu spät bemerken. An der Spitze seiner Banditen (der Detektiv Tom Smarc schien der eifrigste und rüdeste zu sein) schritt er nun durch Buschwerk und Wald der Südküste zu. –

Jane lehnte am offenen Kabinenfenster. Ihre starke Seele verzehrte sich in Sehnsucht nach dem Manne, dem sie so bitter unrecht getan hatte und den sie jetzt mehr denn je liebte. Was ging es diese Liebe an, daß Jack fraglos auch bei der damaligen Aussprache gleich nach seinem Erwachen noch manches verheimlicht hatte und daß Percy Book behauptete, Jack kenne den Mörder! Wenn Jack etwas verschwieg, geschah es sicherlich nur in ihrem Interesse.

Plötzlich horchte Jane auf …

Sie vernahm das Arbeiten größerer Schiffsmotoren. Dann glitt ein Fahrzeug, ein Schoner, an der Stella Maris vorüber, warf Anker.

Der helle Schimmer der Tropennacht zeigt Jane drüben auf dem Schoner einen schlanken Mann:

Jack, Jack, ihr Jack!

Mit bebenden Händen warf sie schnell einen leichten Mantel über, hastete an Deck. Mittlerweile hatte man die beiden Schiffe schon Bord an Bord vertäut.

„Jack – – Jack!!“ jubelte sie dem Geliebten zu, der dann mit einem Satz über die Reling schnellte.

Unbekümmert um die neugierigen Blicke der an Deck befindlichen Leute legte sie Jack mit einer Gebärde unendlicher Zärtlichkeit die Arme um den Hals.

„Verzeih’ mir!“ sagte sie leise, aber ohne Scheu und mit jener kraftvollen Offenheit in Blick und Ton, die ihrem innersten Wesen so ganz entsprach.

„Jane – Jane, – endlich!!“ – und er küßte sie zart, preßte sie an sich und vergaß doch nicht das, was für ihn heilige Pflicht war.

„Jane, wir beide wollen den Hügel dort ersteigen, wir beide ganz allein,“ sagte er und machte sich aus ihrer Umschlingung los. „Hinein ins Boot! Chamon mit seinen Leuten naht von Osten. Wir werden ihm nicht begegnen!“

Jack trieb das kleine Boot mit wenigen Ruderschlägen ans Ufer. Als sie dann in den Büschen verschwanden, hörten sie von der anderen Buschseite das enttäuschte Gebrüll der Piraten, die nun den Schoner neben der Jacht entdeckt hatten, hörten auch Percy Books durchdringende Stimme, die den Feind zur Übergabe aufforderte.

Sie hasteten weiter, gelangten an den Fuß des Hügels, begannen den Aufstieg Hand in Hand. Jack half der Geliebten. In kurzem waren sie oben auf der flachen, mit Steinen und Felstrümmern besäten Spitze.

Jack blickte sich um. Da stand ein Stein aufrecht, der etwa die Form eines Kreuzes hatte. Jack stürzte ihn um. Und als der Stein nun am Boden lag, hob Jack die Felsplatte auf, die ihm als Sockel gedient hatte. Darunter gab es eine Vertiefung, in der es gelblich schimmert: ein Beutel aus gelbem Öltuchs war’s.

Jack nahm ihn und hielt ihn Jane hin.

„Jane, dies ist das Geheimnis Deines Vaters! Dieser Beutel enthält die Papiere, die Dir Deine wahre Herkunft entschleiern werden. Du bist nicht Kapitän Roppendahls Kind. Du bist die Tochter des Reeders und vielfachen Millionärs Edward Smarson, der damals seinen Steuermann Roppendahl beschuldigte, den Golddampfer ausgeplündert zu haben. Roppendahl raubte Dich aus Rache als zweijähriges Kind Deinen Eltern, erzog Dich als sein eigen. Er hat Dich über alles geliebt. Mir hat er sich vor seinem Tode anvertraut. Edward Smarson ist vor fünf Monaten gestorben. Auch seine Gattin lebt nicht mehr, nur noch zwei erwachsene Töchter, Deine Schwestern also.“

Jane ergriff des Geliebten Hand. „Meine Schwestern? Was weiß ich von ihnen?! Aber von meinem Vater Roppendahl weiß ich, daß er mir der gütigste, liebevollste Erzieher und Beschützer war! – Jack – ich bleibe Jane Roppendahl! Schnell, zünde ein Feuer an! Dieser Beutel soll zu Asche werden, und niemand soll erfahren, was hier vorgegangen.“

Bald lohte ein Häuflein Strauchwerk auf dem Hügel auf. In den Flammen verbrannte Kapitän Roppendahls Geheimnis.

Und beim Schein dieser Flammen stieg das Liebespaar wieder den Hügel hinab, wieder Hand in Hand.

Jane fragte zögernd:

„Jack, mein Jack, wer ist nun Daniel Gospards Mörder?“

„Auch das wirst Du erfahren. Der Detektiv Tom Smarc wird Austin Chamon bereits festgenommen haben. Er hat die Revolver der Banditen unbrauchbar gemacht.“

Im Salon der Stella Maris saß gefesselt der Mann mit der Narbe.

Vor ihm standen Book, Garld und die anderen, die Chamons Helfershelfer soeben in sicheren Gewahrsam gebracht hatten.

„Wer sind Sie?“ fragte Percy Book nochmals.

Chamon lachte höhnisch: „Ratet doch, wer ich bin!“

Die Tür ging auf. Jane und Jack traten ein.

Kaum hatte der Verbrecher Jack erblickt, den einzigen Menschen, den er gefürchtet hatte, den[15] er für tot, ertrunken hielt, als er von dem Stuhle hochschnellte und dann mit einem Ächzen wieder zurücksank.

Jack schaute ihn an.

„Das ist der Mörder!“ sagte er laut. „Der Mörder seines Zwillingsbruders Adam Gospard! Das ist Daniel Gospard selbst! Der Ermordete war sein Zwillingsbruder, der seit dem Dampferunglück auf dem Hudson für tot galt. Adam Gospard, ein abenteuerlustiger, wilder Junge, hatte sich gerettet und war auf gut Glück in die Welt gezogen. An einem Abend des 13. September traf ich ihn auf der Treppe, als ich Daniel verlassen hatte. Er erzählte mir, daß er als reicher Mann heimkehre. Dann ging er nach oben, Daniel zu begrüßen. – Als ich dann vor Daniels Leiche stand, sah ich sofort, daß dieser Tote nicht Daniel, sondern Adam war, sein Zwillingsbruder, dem er seine Kleider angezogen hatte. Daniel hat in den oberen Eckzähnen Goldplomben, und die fehlten bei dem Toten. Um es Jane zu ersparen, als Braut eines Brudermörders an den Pranger gestellt zu werden, schwieg ich. – Der Mann mit der Narbe ist aber Daniel Gospard! Die Narbe muß von einer Wunde herrühren, die er im Kampf mit seinem Opfer erhalten haben mag. Mit dem seinem Bruder geraubten Gelde hat er nun hier einen Schatz heben wollen, den es nie gegeben hat! Jane und ich wissen, was wir soeben dort oben auf dem Hügel verbrannt haben. Und – das wird unser Geheimnis bleiben!“

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Vierzehn Tage darauf lief die Stella Maris wieder in den Hafen von Neuyork ein.

Percy Book verabschiedete sich von seinen Freunden, nachdem die Jacht kaum am Bollwerk festgemacht hatte.

„Ich muß ein paar dringende Briefe erledigen,“ meinte er. „Auf Wiedersehen allerseits …“

Dann fuhr er nach seiner Wohnung in der Howard-Street, legte die Maske des berühmten Detektivs Phileas Brock an und betrat durch eine Geheimtür das Sprechzimmer seines zweiten Ichs, wo Trimm ihn mit unendlichem Freudengeheul empfing.

So nahm Doktor Percy Book sein segensreiches Doppelleben wieder auf.

 

Ende.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „wude“.
  2. In der Vorlage steht: „Changra“.
  3. In der Vorlage steht: „nhmen“.
  4. In der Vorlage steht: „noch“.
  5. Korrekt wäre hier eigentlich „Gentlemen“ (Mehrzahl). So belassen.
  6. Die folgenden beiden Seiten (49 und 50) sind in der Vorlage vertauscht.
  7. In der Vorlage steht: „es“.
  8. In der Vorlage steht: „ein“.
  9. In der Vorlage steht: „Kapitäa“.
  10. In der Vorlage steht: „Merceor“.
  11. In der Vorlage steht: „Seiden“.
  12. In der Vorlage steht: „berets“.
  13. „Hawai“ (mit einem „i“) – In Mayers Blitz-Lexikon von 1932 steht dazu: „Hawai(i) …“ – Die zeitgenössische Schreibweise war uneinheitlich. Selbst in Lexika finden sich Hawai (Lueger 1904), Hawaii (Brockhaus 1911) und Hawaï (Mayer 1907). Daher wurde die Schreibweise der Vorlage unverändert übernommen.
  14. In der Vorlage steht: „Tüe“.
  15. In der Vorlage steht: „der“.