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Die silberne Scheibe

 

 

Walther Kabel

 

Die silberne Scheibe

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

Wera Worlo hatte kaum die Straßenbahn an der Ecke der Bendelstraße verlassen, als sie sich auch bereits mitten in dem eigenartigen Getriebe befand, das sich hier um die Schönhauser Allee im Norden Berlins seit dem Kriege entwickelt hatte und in gewissen Straßen fast das Bild orientalischer Basargassen darbot.

Händler aller Art, aller Rassen drängten sich an die Vorübergehenden heran und priesen ihnen entweder mit kreischender, überlauter Stimme (dann waren die Gegenstände einwandfreier Herkunft) oder mit scheuem Flüstern die unglaublichsten Dinge an: goldene Uhren, Salvarsan[1], Armbänder, Kokain zum Schnupfen, Stiefel, Seidenstoffe, Krawatten, Florstrümpfe, Zuckerkarten, Brotkarten[2], alte Silbertaler, Hosenträger, prima Landwurst, Speck, seidene Unterröcke – und anderes.

All diese Händler, von denen kaum ein Viertel eine Händlerbescheinigung besaß, hatten etwas Fahriges, Nervöses in ihren Bewegungen und noch mehr in den Augen, waren jeden Moment bereit, auf ein Signal hin samt ihrem Kram spurlos in den Häusern zu verschwinden, in diesen übelduftenden Mietskasernen, deren Hintergebäude tausend Schlupfwinkel bargen, die selbst der gerissenste Beamte nie entdeckt hätte.

Es war jetzt sechs Uhr nachmittags, und an diesem trüben, aber warmen Maiabend hatten sich die Händler, nachdem die Polizei an den zwei vorausgegangenen Tagen hier große Razzien abgehalten, zahlreicher als sonst eingefunden.

Wera Worlo trug ihre aschblonde verschleierte Schönheit hastig und scheu durch die fragwürdigen Menschenwogen. Ihr war dies verbotene und doch unausrottbare Treiben nichts Neues. Sie wohnte ja ganz in der Nähe – seit Jahren, hatte das allmähliche Umsichgreifen dieser Pest mit beobachtet und kannte einige der Hauptmacher dieses seltsamen Basars längst von Ansehen.

In der Linken hielt sie die Reisetasche, in der ein Teil ihrer Requisiten lag. Sie kam vom Riesenatelier der Ava-Filmgesellschaft, wo sie seit zwei Wochen in einer Nebenrolle für einen neuen Film beschäftigt war.

Plötzlich vertrat ihr ein junger, leichenblasser Mensch mit schweißglänzender Nase, schwarzen mandelförmigen Augen und dünnen, brennend roten Lippen den Weg.

„Frailain, koofen Se mer ab e schainen Schlaier,“ spuckte der Blasse ihr die Worte überhastet und in keifenden Fisteltönen förmlich ins Gesicht.

Wera stand einen Augenblick wie betäubt.

„Scholem, – endlich – endlich!!“ hauchte sie dann.

„Silberne Scheibe!“ flüsterte der junge Jude, ohne die Lippen zu bewegen. Und ganz laut: „Koofen se doch e armen Jüd was ab, Frailain … Hier – nur zehntausend Mark disser faine Schlaier … Koofen Se!“ –

Wera hatte schon mit bebenden Fingern ihr Handtäschchen geöffnet.

„Nehmen Se sich zusammen, Gräfin,“ flüsterte Scholem Grün abermals zwischen den reglosen Lippen hervor. „Se zittern. Es kennt’ einer von die mieße Gesellschaft sehn, Gräfin …“

Wera reichte ihm einen Zehntausendmarkschein, und der Leichenhafte wickelte ihr unter einem Schwall von Dankesworten den Schleier ein.

Als er ihr das kleine Päckchen reichte, vernahm sie wieder das kaum verständliche rasche Murmeln:

„Iach kann nix kümmen heit ßu Ihnen, Gräfin. Se sein aach hinter mir her … Gehn Se … gehn Se!“

Und Wera Worlo verschwand in den Menschenmassen, jetzt nur von dem einem Gedanken vorwärtsgetrieben, möglichst rasch den Brief zu lesen, der in den Schleier mit eingehüllt war.

Sie bog links in eine Seitenstraße ab, wo Unmengen von Kindern lärmend spielten und kleine Rennwolffahrer auf rasselnden und schnurrenden Rädern an ihr vorbeijagten.

Betrat hier in der Renzgasse eins der düstersten Häuser, kam durch zwei enge, schachtähnliche Höfe und mußte über Berge stinkender Lumpen und Schanzen von gebündelten Zeitungen hinwegklettern, die soeben auf einen Lastwagen geladen wurden.

Da saß am anderen Ende dieser Barrikaden auf einem Handwagen ein Mann mit schwarzem Bart, ein echt russisches Gesicht, und las, im Mundwinkel eine qualmende Zigarette, irgendeine Abendzeitung.

Wera hatte sich längst daran gewöhnt, Leute mit diesen typisch slawischen Gesichtern scharf ins Auge zu fassen.

Sie schrak zusammen …

Ja – es war einer der drei – einer der mießen Gesellschaft, wie Scholem Grün sie stets nannte.

Der Mann in seiner schäbigen Kluft dort auf dem Handwagen nahm scheinbar keinerlei Notiz von Wera. Aber Wera wußte es besser: es war einer der Spione!

In besinnungsloser Hast stürmte sie jetzt die vier Treppen im zweiten Gartenhause, rechter Seitenaufgang, empor und schloß die Flurtür auf, an der ein Stück Pappe mit der Aufschrift:

A. Worlo,
Uhrenreparaturen,

hing. –

Die kleine Zweizimmerwohnung, bisher eine sichere Zufluchtstätte für zwei Heimatlose, dünkte Wera jetzt wie eine Falle.

Am Fenster des Vorderzimmers saß über seinen Arbeitstisch gebeugt ein hagerer, bartloser Mann, der nun bei Weras hastigem Eintritt den Kopf nach der Tür drehte und blitzschnell nach dem bereitliegenden entsicherten Revolver griff.

„Wie Du mich nur so erschrecken kannst, Weruschka,“ sagte er vorwurfsvoll und legte die Waffe wieder zurück zwischen seine Uhrmachergerätschaften.

Wera hatte den Schleier hochgeschlagen. Ihr verstörtes Gesicht trieb den Mann vom Stuhle hoch.

„Was gibt’s, Kind?“ fragte er beklommen.

„Wir sind entdeckt, Papascha …!“ Sie ließ sich in den löcherigen Plüschsessel fallen, dessen Schäden durch eine darüber gebreitete Decke mildtätig verhüllt wurden.

„Einer der drei sitzt draußen im Hofe … Es ist der, der jeden Tag anders aussieht. Aber die breite Nase verrät ihn …“

Alexander Worlos faltiges mageres Antlitz nahm einen müden, in alles ergebenen Ausdruck an.

Er setzte sich wieder. „Ich wußte, daß sie uns finden würden. Sie finden jeden,“ sagte er langsam. „All Deine Vorsicht hat also nichts genützt, Weruschka, all Deine List war zwecklos. Sie … sie haben uns!“

Er starrte zu Boden, murmelte wie im Selbstgespräch weiter: „Vier Jahre ständiger Angst – – vier Jahre! Und nun doch alles vorbei …!“

Wera atmete ruhiger. Ihre dunkel umschatteten Augen, von einem klaren Braun und voller Leben, blickten den Vater mitleidig an.

„Vorbei, Papascha? Niemals! Niemals! Ich gebe den Kampf nicht auf! So leicht beseitigt man hier in Berlin zwei Menschen nicht! Wir werden dieses Haus verlassen! – werden fliehen!“

Ihre Energie war wieder erwacht. Unter dem Druck ihrer sich zusammenballenden Hand knisterte das Papier wie mahnend, in das der Schleier eingewickelt war.

Da erst fiel ihr Scholem Grüns Rückkehr ein.

Sie beugte sich vor, fügte rasch hinzu:

„Scholem ist da, Papascha …“

Die Nachricht machte auf Alexander Worlo keinerlei Eindruck mehr. Er zuckte die Achseln.

„Scholem …? – Ach so …! – Was nützt uns das, Weruschka?!“

Sie hatte das Päckchen schnell entfaltet, brachte einen in Briefform gefalteten und mit Lichttalg mehrfach gesiegelten Bogen groben Papiers zum Vorschein, der keinerlei Adresse trug, sondern auf der Anschriftseite nur den Abdruck eines breiten Männerdaumens in fettigem Ruß zeigte.

Das Papier war zerknittert, beschmutzt und stellenweise wie von Schweiß verfärbt. Scholem Grün hatte den Brief tagelang in das Wollhemd eingenäht auf dem Rücken getragen.

„Soll ich vorlesen, Papascha?“ fragte das junge Mädchen, indem es die Siegel erbrach.

„Meinetwegen …“ Worlos Blicke irrten dabei durch das ärmliche Zimmer, als nähme er Abschied von dieser Zufluchtsstätte. Er dachte nur mehr an die Flucht. Weras Worte hatten in sein zermürbtes Gemüt winzige Hoffnung hineingeweht.

Und Wera las den russisch geschriebenen kurzen Brief des alten treuen Wassili mit gedämpfter Stimme vor …

Kaum hatte sie das Schreiben, das weder Anrede noch Unterschrift trug, beim Lesen ihrem Gedächtnis eingeprägt, als draußen die Flurglocke anschlug.

Worlos Hand tastete wieder nach der Waffe.

„Ich werde nachsehen, Papascha,“ flüsterte Wera leise. „Ich öffne nicht. Ich habe beide Ketten vorgelegt.“

Sie ließ die Zimmertür nach dem Flur halb offen, schlich hinaus an die Tür und hob das Stückchen Stoff über dem Guckloch hoch.

Im Treppenflur war’s bereits zu dunkel, etwas zu erkennen. Die Gestalt war jedenfalls ein Mann, das sah Wera doch noch.

„Sie wünschen?“ fragte sie laut in ihrem harten Deutsch.

„Hier soll ein Zimmer zu vermieten sein,“ kam die Antwort. „Man sagte es mir unten im Hofe.“

Wera hörte genau: das war kein Russe! Der Mann sprach fließend und dialektfrei.

„Wir vermieten nicht,“ erklärte sie. „Man hat[3] Sie falsch unterrichtet. Drüben bei Schimeklaw ist ein Zimmer frei.“

„Nein, es ist leider schon vergeben. Die Portierfrau meinte, an einen soliden älteren Herrn würden auch Sie vermieten.“

„Nein!“ rief Wera. „Nochmals – wir vermieten nicht.“

Ihr Vater war auf seinen ausgetretenen Pantoffeln neben ihr erschienen.

„Ich werde ihn überraschen,“ flüsterte er.

„Ich zahle jeden Preis, Fräulein Worlo,“ meldete sich der Mann draußen abermals. „Jeden Preis! Mein Name ist Miller, Agent August Miller. Ich habe hier in der Nähe zu tun und will mir die Straßenbahnfahrten von Moabit hierher sparen. Sie sollen es nicht bereuen, Fräulein Worlo, wirklich nicht. Ich kann Ihnen die besten Empfehlungen vorlegen …“

„Die natürlich gefälscht sind, Halunke!“ murmelte Alexander Worlo und riß plötzlich die Tür auf, da Wera inzwischen den Schlüssel im Schloß herumgedreht hatte.

Die Sicherheitsketten klirrten und spannten sich straff. Durch den kaum zweihandbreiten Spalt ließ Worlo auf den dicht an der Tür Stehenden den grellen Lichtschein einer Taschenlampe fallen – nur drei, vier Sekunden, schlug dann die Tür wieder zu.

Ein buckliger kleiner Mensch mit roter Nase und Nickelkneifer, blondem Spitzbart und rundem Pausbackengesicht war der Zimmersuchende.

Worlo rief dann: „Belästigen Sie uns nicht weiter!“ und schloß recht geräuschvoll wieder ab, ging in die Vorderstube zurück und winkte Wera, die noch hörte, wie der Mann die Treppe langsam hinabstieg.

Worlo hatte sich an seinen Arbeitstisch gelehnt.

„Es war ein Deutscher, Wera,“ sagte er grübelnd. „Trotzdem ein Spion! Sie bezahlen ja gut. Sie haben Geld. Und der andere, Wera, war dann auch einer ihrer Spitzel.“ Sein Ton wurde gereizt. „Ich habe damals gleich vermutet, daß die Sache mit dem andern nicht ganz geheuer sein könnte. Aber Du warst ja klüger als ich. Wenn man Euch Weibern als scheinbarer Gentleman sich naht, seid Ihr gleich blind und taub. Nun haben wir die Bescherung! Dein liebenswürdiger Ritter hat uns verraten, hat Deine Wohnung ausgekundschaftet – unsere Wohnung …!“

Wera hatte wieder in dem Plüschsessel Platz genommen. Ein Schimmer trüber Enttäuschung glitt über ihr Gesicht.

„Ich verteidige mich nicht, Papascha,“ meinte sie kleinlaut. „Obwohl ich nicht glauben kann, daß …“

Sie schwieg, machte eine Handbewegung, als schöbe sie etwas Häßliches beiseite, und fuhr fort:

„Wir werden nachts das Haus verlassen, Papascha. Wir nehmen nur das Allernötigste mit. Schimeklaws sind zuverlässig. Wir wissen zu viel von ihnen. Wir werden ihren Ausgang benutzen.“

„Und – – wohin?! Und Deine Stellung, Weruschka?“ Er war schon wieder versöhnt. Er war wieder ohne eigenen Willen, ohne eigene Entschlüsse wie stets. Das Schicksal hatte ihm alles genommen, auch die Energie. Er stand zusammengesunken da in dem fadenscheinigen Lodenmantel, den er als Schlafrock benutzte, um den dürren Hals einen rissigen Gummikragen und einen von Wera genähten Schlips, unter dem das gestopfte helle Wollhemd hervorgrinste.

„Scholem wird raten,“ erwiderte Wera leise. „Meine Stellung kann ich nicht aufgeben. Ich bin noch für eine Woche verpflichtet. Rex braucht mich dringend. Er wäre empört, wenn ich auch nur einen Tag wegbliebe. Scholem hat viele Beziehungen …“ Sie sprach immer langsamer. Ihr war eingefallen, daß Scholem Grün selbst beobachtet würde, wie er ihr zugeraunt hatte, und daß er heute nicht kommen könnte, was er noch besonders betont hatte.

Alexander Worlo, durch ihr Schweigen stutzig gemacht[4], blickte sie unsicher an.

„Du hast Bedenken, Weruschka?“

Sie berichtete, was Scholem Grün ihr in der Maske des Schleierhändlers mitgeteilt hatte.

Worlo lächelte bitter und hoffnungslos. „Dann … dann sind wir verloren, Kind!“

Wera empfand diese Mutlosigkeit des Vaters wie Fesseln, die ihre eigene Kraft lähmten.

„Verloren ist nur der, der sich selbst aufgibt,“ erklärte sie etwas schroff mit einer ruckartigen Bewegung des Kopfes. „Ich muß eben allein handeln, Papascha. Rex würde uns für eine Nacht gern aufnehmen. Ich werde …“

Die Flurglocke hatte geschrillt – lang, kurz, kurz, lang, lang …

Wera achtete genau auf das Signal.

„Das kann Jakob Schimeklaw sein, Papascha …“

Und sie huschte in den Flur, kratzte mit dem Fingernagel dreimal die Türfüllung entlang.

Dieses Zeichen wurde von draußen viermal in derselben Weise beantwortet.

Wera öffnete daher die Flurtür, ließ aber die Sicherheitsketten vorgelegt.

Ein Weib mit Kopftuch stand draußen, nur als Schatten zu erkennen …

„Scholem …!“ flüsterte die Frau.

Wera entfernte rasch die Sicherheitsketten. Scholem Grün schlüpfte an ihr vorbei in den Flur, in die Vorderstube.

„Wie – Sie sind’s, Scholem?“ rief Worlo atemlos. „Sie?! – Was gibt’s?!“

Wera trat neben Scholem Grün, faßte seine Hand.

„Wir danken Ihnen – wir danken Ihnen!“ stammelte sie gerührt und gleichzeitig wie befreit von der Last eigener Verantwortung für das, was nun geschehen müßte.

Auch Alexander Worlo streckte dem verkleideten jungen Juden die Hand hin.

„Oh – nix ßu danken, Herr Grof,“ lehnte Scholem hastig ab. „Iach bün gekümmen, weil’s hat sein missen, Herr Grof. Do wor eben e fauler Gochem hier von Ihre Tür. Iach wor drieben bai Schimeklaw, wor gelangt ßu die Gewißhait, daß die mieße Bande hat verloren meine Spur. Heint morgen traf ich wieder ein aus die alte Heimat hier in Berlin. In Wassilis Brief wird haben gestanden alles, Herr Grof …“

Wera unterbrach ihn. „Scholem, einer der drei war unten im Hof, als ich heimkehrte. Man hat uns also entdeckt.“

Scholem nickte. „Iach hob ihm gesehn, Gräfin.“

Seine schwarzen listigen Augen ruhten voller Mitgefühl auf Weras erregtem Gesicht.

„Iach waiß, Gräfin, daß Sie missen beide fort von hier. Iach hob alle Tag damit gerechnet, sait die mieße Gesellschaft fing an, Ihnen nachzuschlaichen. Packen Se ein – rasch. Fragen Se nich viel. Der mit ’n Buckel, wo hat vorhin nach das leere Zimmer gefragt, war verklaidet. Schimeklaws kleine Rebekkche is em geloofen nach. Der Mann hat gehabt e Ieberzieher, der nich wor aufgepaßt auf ’n Buckel. So was sieht man doch. Die Rebekkche is schlau.“

Wera traten fast die Tränen in die Augen vor Rührung.

„Sie … Sie sind ein guter Mensch, Scholem,“ sagte sie herzlich.

„Packen Se ein. Se werden kümmen in e anderes Quartier, ßu mainen Fraind Norkert, was is e anständjer Charakter, Gräfin, und saine Frau aach. Wir werden doch wohl noch sain e bißchen schläuer als wie die Schufte. Packen Se ein.“ –

Er half dann. – Zehn Minuten später schlich er in den Treppenflur hinaus. Es war jetzt völlig dunkel geworden. Das Haus, von dem Eigentümer seit Monaten seinem Schicksal überlassen, wurde von einem Mieterrat verwaltet. Flurbeleuchtung gab es nicht mehr.

Scholem Grün in seinem Weiberkostüm, das ihm Frau Sarah Schimeklaw geliehen, stieg bis zur Vorbodentür empor, versuchte, ob sie auch verschlossen sei, stieg zwei Treppen tiefer, fand nichts Verdächtiges und brachte die beiden Worlos rasch zu Schimeklaws hinüber. Hier hausten in Küche, Flur und einer einfenstrigen Hinterstube elf Personen. Das Vorderzimmer vermieteten Schimeklaws.

Wera und ihr Vater fanden in der Hinterstube nur Jakob Schimeklaw vor.

Er katzbuckelte unterwürfig vor den beiden Nachbarn, strich sich dann mit den schmutzigen Spinnenfingern der rechten Hand nach alter Gewohnheit den langen, glänzend schwarzen Vollbart und sagte kriecherisch:

„Iach werd’ helfen ßu trogen die Kufferts, Herr Grof. Iach helf’ gern. Mer sain alle aus Moskau.“

In der Stube, die außer vier Betten nur noch einen Tisch und zwei Stühle sowie einen großen rotgebeizten Schrank enthielt, herrschte ein widerlicher Gestank nach Menschen, Bratendunst und Patschuli. Schimeklaw handelte mit Drogen – hintenrum natürlich, fabrizierte Parfüms, füllte sie in alte Parfümfläschchen, klebte neue Schildchen auf die Flaschen und hausierte damit in den Kellerlokalen. –

Scholem wehrte ab …

„Nix ßu helfen, Schimeklaw. Die baiden Kufferts trog iach allain, und der Herr Grof nimmt den großen Pappkarton.“

Wera wurde fast übel in dieser verpesteten Luft.

Wie eine Vision sah sie plötzlich den Speisesaal des väterlichen Palastes in Moskau wieder vor sich … Silberne Armleuchter, silberne Geräte, Blumen auf der Tafel … –

Blitzschnell schwand das Einst. Sie jagte diese Erinnerungen von sich. Sie hatte sich mit der Gegenwart abgefunden. Zurückblicken war Schwäche. Und diese Gegenwart verlangte Kraft.

Schimeklaw näselte nochmals sein Anerbieten vor.

„Nix kosten tut’s, Herr Grof. Herr Grof wer’n sich nicht schleppen mit dene Karton …“

„Schieben Sie den Schrank bai Saite,“ sagte Scholem kurz. „Wir hoben kaine Zait, Schimeklaw …“

„Nu nu … Sie wollten doch erst kümmen um eilf Uhr, Scholem.“

Des blassen jungen Menschen starrer Blick brachte den Älteren in Verlegenheit.

„Nu nu – iach schieb’ schon,“ meinte er widerwillig.

Hinter dem Schrank befand sich eine Tapetentür, die kaum zu bemerken war.

Scholem Grün führte die beiden Worlos durch diese Tür in das Nachbargebäude, in die Wohnung des Altwarenhändlers Chaim Dasser, dann die Treppen hinab in den dunklen Hof.

Es regnete jetzt in spärlichen Tropfen. Scholem war an der Haustür stehen geblieben und horchte.

Ein paar Stufen knarrten.

„Schimeklaw, wir finden aach allain den Weg!“ rief er plötzlich. „Aber e Schachtel Zindhölzer holen Se mer noch, e völle Schachtel. Machen Se fix. Ich bezohl’s.“

Wieder knarrten Stufen. Und von oben des Parfümhändlers Stimme: „E Oogenblickche, Scholem …!“

„E Lump is er,“ sagte Scholem verächtlich zu den Worlos. „E Lump, wo mecht’ verdienen ’n Sindenlohn. Kümmen Se!“

Und er eilte mit den Koffern weiter, bog in den Eingang des linken Flügels des Hinterhauses ein, machte erst vor der Bodentür halt, schloß auf und ließ die beiden eintreten, schloß wieder ab, nahm den Weg bis unter die Dachluke, hakte die Leiter los und meinte:

„Wir missen iber finf Dächer. Dann kümmen mer in die Seitenstroße. Schimeklaw is schlau. Scholem Grün is schlauer.“ –

In der Seitenstraße trennte man sich. Scholem ging ein Stück voraus. Dann folgte Alexander Worlo, dann zehn Meter zurück Wera. Erst als Scholem ein freies Auto gefunden, vereinigte man sich wieder in dem geschlossenen Kraftwagen, der nun nach dem Lehrter Bahnhof fuhr.

Scholem schaute wiederholt zum Fenster hinaus. Er war bald beruhigt. Kein anderes Auto war zu sehen.

Am Lehrter Bahnhof wechselten die drei den Wagen. Gegen acht Uhr waren sie in dem westlichen Vorort Wilmersdorf. Das Auto hielt in dem unbebauten Teile der Kaiserstraße in der Nähe des Schöneberger Stadtparks.

Scholem bezahlte den Chauffeur. Dann wanderten die drei, wieder in Abständen, bis zur Wexstraße, wo sie das Haus Nr. 57 betraten.

Im Hausflur stellte Scholem einen Augenblick die Koffer ab.

„Nu soll de mieße Bande Sie finden, Herr Grof!“ triumphierte er. „So – und nu kümmen Sie nach oben ßu main Fraind Norkert, wo doch is e Mann von Herz.“

Fritz Norkert, Filialleiter der Juwelierfirma Gliese u. Comp., war bereits daheim. Der erst siebenundzwanzigjährige, jungverheiratete Goldschmied war zunächst doch etwas erstaunt, als Scholem, den er geschäftlich vor einem Jahr kennen gelernt hatte, in dieser überraschenden Verkleidung mit zwei Gästen bei ihm erschien, die Scholem ihm als Herr Worlo nebst Tochter vorstellte. Norkerts junges Frauchen begriff schneller als ihr Mann, um was es sich handelte, und machte der für die beiden Worlos peinlichen Szene durch ein paar liebenswürdige Worte rasch ein Ende.

* * *

Neun Tage später, am Donnerstag vor Pfingsten, näherte sich der Personenzug, der nachmittags drei Uhr die Stadt und Festung Kowno verlassen hatte, gegen zehn abends der Grenzstation Wirballen.

In einem Abteil der untersten Wagenklasse saß neben Marktfrauen, Händlern und Auswanderern, fast ganz eingepfercht durch die zahllosen Gepäckstücke, ein altes, unscheinbares Männchen, neben sich einen schäbigen kleinen Koffer und auf dem Schoß einen viereckigen Korb, in dem sich ein kleines Hündchen befand.

Der greisenhafte Alte konnte jetzt durch die offene Tür des Nebenabteils drei Zollbeamte beobachten, die nun zum zweiten Male den Zug revidierten.

Seine kleinen Äuglein mit den entzündeten Lidern wurden immer unruhiger. Er bemerkte, daß die Beamten diesmal weit sorgfältiger vorgingen. Ihre groben Stimmen brachten bald die gesamten Reisenden in Angst und Sorge. Jeder hatte ja irgend etwas in seinem Gepäck verborgen, was er über die Grenze schmuggeln wollte, sei es jetzt, sei es später.

Die Nachbarin des Alten, eine Händlerin aus der deutschen Grenzstation Eydtkuhnen, sagte jetzt flüsternd zu dem immer ängstlicher auf seinem Platz hin und her Rückenden:

„Pan Gregorow, Euch wird man doch in Ruhe lassen. Ihr wollt doch nur bis Wirballen. Aber ich – ich …!!“

Sie starrte ins Nebenabteil, wo jetzt noch zwei Gendarmen aufgetaucht waren.

Wassili Gregorow, der sich mit der Frau schon vorhin unterhalten hatte, hörte plötzlich seinen Namen rufen. Einer der Gendarmen stand breitbeinig im Nebenabteil und brüllte nochmals:

„He – ist hier ein Wassili Gregorow aus Moskau unter Euch? Ich habe eine Depesche für ihn.“

„Pan Gregorow, da seid Ihr gemeint,“ flüsterte die dicke Händlerin. Und sie schaute ihn mißtrauisch von der Seite an.

„Still – still, ich bitt’ Euch um aller Heiligen willen!“ stöhnte der Alte. „Verratet mich nicht! Ich muß weg – muß den Zug verlassen … Die Depesche ist nichts wie eine Falle! Ich kenne das!“

Er wollte aufstehen. Die Insassen dieses Abteils hatten sich jetzt an der Tür zusammengedrängt. Drüben hörte man die jammernde Stimme eines Weibes und das Hohnlachen der Beamten.

Die Händlerin brachte plötzlich aus ihrem Haar unter dem Hut ein kleines Schächtelchen zum Vorschein.

Sie zitterte vor Aufregung. „Pan Gregorow, ich habe zu Euch Vertrauen,“ keuchte sie. „Schenkt mir den Hund … Ich bezahle ihn Euch gut. Rasch – rasch, schenkt ihn mir!“ Sie entnahm ihrer Reisetasche ein Stück Wurst.

Gregorow schaute sie unsicher an. Er liebte das Tierchen. Doch bei dem, was er jetzt vorhatte, würde es ihm nur hinderlich sein, überlegte er blitzschnell.

„Ich … ich will es Euch leihen,“ sagte er hastig. „Ihr wollt Edelsteine schmuggeln. Wir haben’s früher ebenso gemacht, als mein Herr noch ein reicher Mann war. Die Steine soll der Hund zusammen mit Stückchen Wurst verschlucken. – Gut, ich leihe ihn Euch, den kleinen Sascha. Nennt mir Euren Namen.“

„Frau Amalie Ratkowski, Eydtkuhnen, Am Markt Nr. 12 …“

Sie stopfte schon den ersten Stein in ein Stückchen Wurst.

Gierig schlang der Hund den leckeren Happen hinab.

Wassili Gregorow nahm das Tierchen aus dem Korbe heraus. „Da habt Ihr ihn …“

Er erhob sich, behielt den leeren Korb in der Hand.

„Laßt mir doch auch den Korb,“ bat die Frau.

„Nein, nein, unmöglich!“

Der Alte war an die andere Wand getreten, faßte den Griff der Notbremse, riß den Hebel herum.

Dann war er schon mit seinem Hundekorbe draußen auf der Plattform, duckte sich auf dem Trittbrett zusammen, hörte das Kreischen der Bremsen und merkte, wie die Geschwindigkeit nachließ.

Plötzlich flog die Wagentür hinter ihm auf.

Ein bärtiger Mann erschien, grinste den zu Tode Erschrockenen an und versetzte ihm unversehens einen solchen Stoß, daß Gregorow vom Trittbrett hinaus ins Leere flog, auf den Bahndamm fiel und den Abhang hinabkollerte.

Er hatte Glück gehabt, hatte kein Glied gebrochen, hatte den Korb noch in der Hand, begann zu laufen – querfeldein, einen Weg entlang, hinein in die Dunkelheit …

Der Bärtige war ihm nachgesprungen, rollte gleichfalls den Bahndamm abwärts, schlug mit dem Knie gegen einen Stein, schrie auf vor Schmerz, raffte sich empor, folgte hinkend und fluchend dem Alten.

Der Lichtschein aus den Wagenfenstern hatte den mißtrauisch gewordenen Beamten noch im letzten Augenblick die beiden enteilenden Gestalten gezeigt. Der Zug hielt eine Strecke weiter. Vier – fünf Gendarmen setzten den Flüchtlingen nach.

Wassili sah links vor sich die Lichter der Stadt Wirballen. Er bog noch mehr nach rechts ab, lief nicht allzu schnell, um den Atem zu sparen, kam in ein Wäldchen, durchquerte es, hastete an einem buschreichen Feldrain dahin, schaute sich um, trabte noch langsamer …

Seine Beine zitterten. Für seine siebzig Jahre war dies Abenteuer eine unerhörte Anstrengung.

In jagenden Atemzügen arbeitete seine Brust. Das Blut brauste ihm in den Ohren …

Und doch – weiter, nur weiter!!

Abermals nahm ihn ein schützendes Waldstück auf. Er kletterte über eine verfallene Steinmauer. Grabkreuze leuchteten. Es war ein Kirchhof.

Der alte Mann stammelte ein Gebet, rief alle Heiligen um Hilfe an.

Und fand doch Zeit, in seinem regen Hirn sich klarzumachen, daß nur der Bärtige ihn verraten haben könnte. Der Bärtige mußte einer von den Leuten sein, vor denen Scholem Grün ihn gewarnt hatte – ein Spion! –

Wassili Gregorow näherte sich der Grenze …

Hinter ihm fielen Schüsse, die nicht ihm gelten konnten.

Er ahnte: die Gendarmen feuerten auf den Bärtigen.

Oh – wenn sie ihn nur töten würden, den Hund!

Abermals Schüsse …

Abermals blickte Wassili zurück. Der Mond war hinter den ziehenden Wolkenfetzen aufgetaucht. Da hinten auf der Chaussee rannte ein Mann … Vier andere hinterdrein …

Der Alte lachte ingrimmig …

„Meine Spur haben sie verloren! Das ist gut. Die Heiligen haben mich beschützt!“

Jetzt ging er im Schritt, mit aller Vorsicht.

Er wußte, daß die Grenze dort vorn besetzt war, daß dort beiderseits Posten standen.

Er schlich weiter, ruhte aus, kam über ein mageres Kornfeld, durch das ein Steig führte, duckte sich ganz tief, erreichte das Ende des Kornfeldes …

Nun lag Wirballen scharf links von ihm. Nun konnten es kaum noch hundert Meter bis zur Grenze sein.

Da war eine Wiese, einzelne Haufen Torf …

Wassili begann auf allen vieren zu kriechen. Den Korb schob er vor sich her, denn das Ding war schwer, recht schwer.

Dann ein Anruf …:

„Halt – steh’!!“

Wassili Gregorow gerann das Blut in den Adern.

Dort – dort, keine dreißig Meter entfernt, stand die Pyramide aus Feldsteinen, der Mittelpunkt eines Soldatenfriedhofs. Die Pyramide – die hatte der Treffpunkt sein sollen …!

Und halb rechts stand ein Grenzsoldat mit angelegtem Karabiner …

Der Mondschein ließ den Oberrand des Laufes matt blinken.

Wassili hatte sich aufgerichtet. Sein Unterkiefer flatterte. Seine Gedanken spielten wirr wie ein Bienenschwarm.

Dann ein Satz geradeaus …

Er stürmte der Pyramide zu …

Ein Schuß – noch einer …

Die Kugeln pfiffen singend dicht neben ihm vorüber.

Nun hatte er schon die Pyramide hinter sich …

Noch klarer wurde das Mondlicht …

Und drüben jenseits des Grenzpfahles trat aus einem Busch ein buckliger Mann hervor …

„Wassili – – hierher!!“

Der Alte gab sein Letztes an Kraft her …

Noch zwanzig Schritt …

Er jubelte – es würde gelingen!

Da – – ein Schlag gegen sein linkes Bein – der Knall eines Schusses …

Das Bein war plötzlich wie gelähmt. Der Alte stolperte, stürzte …

Sprang wieder auf, riß unter der Wolldecke, die den Boden des Korbes bedeckte, und unter einem genau eingepaßten Bodenbrett eine silbern schimmernde Scheibe heraus, schleuderte sie mit verzweifelter Wut wie einen Diskus dem Grenzpfahl zu – hoch durch die Luft …

Fühlte einen neuen Schlag gegen den Hinterkopf, schnellte hoch wie ein angeschossenes Wild, stürzte nach vorn auf das Gesicht, krallte die zuckenden Finger in die Grasnarbe und lag still.

Die Scheibe fiel auf deutschem Boden nieder. Der graubärtige, etwas bucklige Mann, der drüben gewartet hatte, hob sie auf, flüchtete vor den deutschen Grenzwachen, die nun ebenfalls auf ihn feuerten. –

Wassili Gregorow war tot.

Um die Leiche herum standen Gendarmen, Soldaten.

„Er warf eine Scheibe,“ wiederholte der Posten, der ihn durch Kopfschuß niedergestreckt hatte, immer wieder. „Ich sah es ganz genau. Es war eine Scheibe, vielleicht aus Silber …“

Der Offizier der Wache zuckte die Achseln.

„Silber?! Unsinn!!“ meinte er. „Silber schmuggelt niemand. Es müßten denn gerade ganze Barren sein!“ –

Wassilis Leiche wurde verscharrt. Damit war die Sache erledigt.

* * *

Am folgenden Abend befand sich der Bankkassierer Leo Horbeck gegen halb sieben abends allein in dem mäßig großen saalartigen Geschäftsraum der Bank von Rickel und Werder, die am Steindamm in Königsberg in Ostpreußen im Erdgeschoß eines neueren Hauses lag.

Horbeck hatte noch einige Arbeiten zu erledigen gehabt. Morgen, Sonnabend, war die Bank geschlossen. Da gab es noch allerlei zu tun.

Der junge Kassierer unterbrach seine Eintragungen in die Bücher immer wieder. Der Ausdruck seines heute so fahlen Gesichts verriet, daß seine Gedanken durch irgendwelche Sorgen abgelenkt wurden. Er seufzte zuweilen. Seine Augen blickten trübe und matt wie nach durchwachten Nächten.

Er legte den Federhalter hin und starrte zur Seite durch den halbdunklen Raum. Nur die eine Glühbirne unter dem grünen Schirm brannte. Er starrte und sah Gespenster, murmelte geistesabwesend:

„Ein Verhängnis – – ein Verhängnis!! Wär’s nie dazu gekommen, nie! Wie ruhig lebte ich bis dahin!“

Das Telephon schlug an. Horbeck hatte vorhin ein Ferngespräch nach Berlin angemeldet, sprang jetzt auf, eilte zum Apparat und rief in die Muschel des Hörers mit bebender Ungeduld hinein:

„Hier Leo Horbeck …“

Dann lauschte er mit angehaltenem Atem, erbleichte plötzlich …

Seine Knie zitterten, trugen den Körper nicht mehr, knickten ein, und Horbeck sank schwer auf einen Büroschemel.

„Wie … wieviel?“ fragte er dann tonlos, während auf seiner Stirn die Schweißperlen sich mehrten.

Er rechnete in Gedanken …

„Gut – Schluß … Ich komme!“ – das war das Letzte, was Horbeck in den Apparat sprach. – –

Der Privatlehrer Gustav Steputat bemühte sich in seinem Arbeitszimmer um dieselbe Zeit mit recht geringem Erfolg, einem Schüler den Pythagoräischen Lehrsatz klarzumachen.

Hager, mittelgroß, häßlich und einen verbitterten Zug um den Mund, saß er auf dem alten Glanzledersofa dem Knaben gegenüber, vom gelblichen Licht der Gaslampe hell beschienen.

Bis es draußen klingelte – so stürmisch, daß Steputat sofort wußte, daß der Besucher nur Leo Horbeck sein könnte.

Er schickte den Knaben nach Hause, führte Horbeck in das bescheidene Studierzimmer und sagte:

„Nett von Dir, daß Du Dich mal wieder sehen läßt, Leo. Drei Wochen ist eine lange Zeit.“

Sie standen noch Hand in Hand. Horbeck erwiderte den warmen Händedruck nur matt und warf sich in den Plüschsessel.

Doktor Steputat schüttelte den Kopf.

„Du siehst schlecht aus, Leo, überarbeitet. Oder geht Dir der Tod Deiner Mutter so nahe? Es war doch eine Erlösung für sie …“

„Das war’s,“ murmelte Horbeck. Und er dachte an den Tag der Einäscherung – an den strömenden Regen damals …

Steputat beobachtete ihn weiter.

Horbeck blickte zu Boden.

„Du … Du mußt mir Geld leihen, Gustav,“ sagte er dann plötzlich. „Ich muß nach Berlin zu meinem Onkel. Ich bin abgebrannt. – Wieviel könntest Du mir geben?“

„Sofort?“

„Ja – sofort. Ich will mit dem D-Zug acht Uhr zwanzig fahren.“

„Dann könnte ich Dir mit … ja, mit viermalhunderttausend aushelfen. Das habe ich gerade im Hause.“

„Dann gib es mir, bitte …“

Steputat zögerte, ging jedoch mit kurzer Wendung ins Nebenzimmer und brachte dem Freunde ein Päckchen Banknoten.

Horbeck hatte inzwischen mit dem Füllfederhalter eine Quittung geschrieben.

Steputat zerriß sie. „Das ist zwischen uns beiden nicht nötig, Leo.“

Horbeck erhob sich. Wieder wich er den forschenden Augen des Privatlehrers aus.

„Ich danke Dir. Ich habe es sehr eilig. Leb’ wohl. Dienstag nach Pfingsten gebe ich Dir das Geld zurück.“

Hastig verließ er das alte, dicht am Pregel auf dem Sackheim gelegene Haus, das Steputat von seinen Eltern geerbt hatte.

Doktor Steputat setzte sich in den verschossenen Plüschsessel und grübelte.

Sein hageres, unregelmäßiges Gesicht war dauernd in Bewegung. Die Wangenmuskeln spielten, die Augen hinter den blinkenden Brillengläsern öffneten und schlossen sich.

„Er hat Dummheiten gemacht – kein Zweifel!“ dachte Steputat in wachsender Sorge um den Freund, den einzigen, den er, der Gescheiterte, hatte. „Er sprach soviel über Spekulieren das letztemal … Seine Grundsätze schienen erschüttert. Er ist nicht mehr der weiße Rabe von einst. Er … hat spekuliert – mit Verlust …!“

Steputat zog die billige Taschenuhr, überlegte …

Sein Vogelgesicht, bartlos, von Falten durchfurcht, hellte sich auf.

Er sprang empor. Ein Lächeln lag um den schmalen Mund. Der ganze Mann war plötzlich ein anderer.

* * *

Horbeck hatte auf dem Roßgärter Markt ein Auto genommen und war nach seiner Wohnung am Steindamm gefahren. Als er ausstieg und den Chauffeur bezahlte, stutzte er plötzlich.

Drüben ging derselbe etwas bucklige Mann langsam vorüber, den er schon mittags bemerkt hatte, als er für eine halbe Stunde die Bank verlassen hatte. Da war der Mann ihm gefolgt, der ihm doch offenbar vor dem Bankeingang aufgelauert hatte. Nie wäre dieser bescheiden gekleidete Fremde mit dem Nickelkneifer und dem grauen kurzen Vollbart Horbeck aufgefallen, wenn jener ihn nicht so seltsam durchdringend fixiert hätte. Nachher war der Mensch im Gewühl der Poststraße verschwunden.

Nun schlenderte er abermals auf der anderen Straßenseite entlang. Horbeck täuschte sich nicht. Es war derselbe Mann. Der Buckel und der dunkelgraue Ulster, dazu der altmodische breitkrempige Filzhut besagten genug.

Hätte der Kassierer mehr Zeit gehabt, würde er dem Fremden gefolgt sein. So aber mußte er darauf verzichten, den Mann anzusprechen und sich zu überzeugen, was der wohl von ihm wünschte.

Horbeck öffnete die Haustür, drehte sich nochmals um …

Und jetzt stutzte er zum zweiten Male …

Auch der Blasse war ja wieder da!! Ging hinter dem Buckligen drein – derselbe blasse, ein wenig geckenhaft angezogene Herr, der mittags schon dem Buckligen ohne Frage auf den Fersen geblieben. – Was bedeutete das alles?! Was nur?!

Horbeck eilte die Treppen empor. Er fühlte sich beunruhigt, war auch verärgert. Ihn reute es, daß er Gustav Steputats Hilfe in Anspruch genommen hatte. Steputat hatte ihn so argwöhnisch gemustert. Was mochte der nun wohl von ihm denken?! Ein Leo Horbeck borgt sich lumpige viermalhunderttausend Mark!!

In fünf Minuten hatte er dann seinen kleinen Koffer gepackt, hatte seine Wirtin verständigt und verließ kurz nach halb acht das Haus. Ein Auto brachte ihn zum Bahnhof. Von den beiden Geheimnisvollen war nichts zu sehen gewesen.

Horbeck, bei seinen dreißig Jahren und bei seiner gut bezahlten Stellung recht anspruchsvoll, hatte Glück. Er bekam am Schalter durch einen Zufall noch eine Schlafwagenkarte, Wagen Nr. 3, Abteil 4, Bett 8.

„Hoffentlich nicht das untere Bett!“ dachte er. Er liebte es nicht, daß in dem Schlafwagenabteil der Kabinengenosse über seinem Haupte schlief.

Der D-Zug lief überfüllt ein. Der Pfingstverkehr machte sich bemerkbar.

Horbeck ließ sich Zeit. Als er seine Kabine Nr. 4 gefunden hatte, stand darin schon sein Reisegefährte.

Beide starrten sich geradezu wie versteinert an.

„Der Bucklige – er ist’s!“ schoß es dem blonden Kassierer durch den Kopf.

Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn, während er dem Fremden ins Gesicht starrte.

Nun hatte er den Menschen dicht vor sich – einen ihm völlig Unbekannten. Noch nie hatte er ihn gesehen, noch nie vor heute mittag.

Der Fremde faßte an den Hut und sprach etwas mit heiserer Stimme in einer Sprache, die Horbeck nicht verstand.

Daher erwiderte er auf englisch:

„Ich bedauere. Ich verstehe Sie nicht.“

Der Mann hob die Schultern.

„Nix englisch,“ sagte er in ganz gebrochenem Deutsch.

Horbeck zuckte die Achseln, wandte sich um, suchte den Schaffner auf und übergab ihm sein Geld nebst fünftausend Mark Trinkgeld, ebenso Uhr, Kette, Ringe und die Perle aus seiner Krawatte.

Nun war er beruhigt. Nun konnte er von dem Ausländer nicht bestohlen werden.

Er wollte in das Abteil zurückkehren. Im Gange drückte er sich an einem Herrn vorüber, in dem er beim ersten flüchtigen Hinsehen den blassen Eleganten wiederzuerkennen glaubte. Dann merkte er, daß er sich geirrt hatte. Der Blasse hatte ja einen dunklen starken Schnurrbart gehabt. Die Kleidung stimmte ebenfalls nicht.

Er warf jedoch nur einen Blick in die Kabine hinein. Der Bucklige saß auf dem unteren Bett und schälte eine Apfelsine.

Horbeck ging weiter in den Speisewagen. Dieser Reisegenosse war ihm höchst unsympathisch.

Da er noch nicht zu Abend gegessen, bestellte er ein warmes Gericht. Das Raucherabteil des Speisewagens war dicht besetzt, natürlich zumeist Ausländer.

Horbeck legte seinen kleinen Koffer unter den Tisch an die Wand und begann zu grübeln, stützte den Kopf in die Linke und überdachte seine Lage. Sein Gesichtsausdruck ward immer verzweifelter.

Der Kellner brachte die flache Schüssel mit dem Schnitzel und den Sauerbrunnen. Horbeck hatte sich zurückgelehnt, um den Kellner nicht zu behindern. Sein Blick fiel geradeaus auf den Tisch vor ihm, der soeben frei geworden und gleich wieder von zwei kurz hintereinander erschienenen Herren besetzt worden war, – fiel auf den Buckligen …

Wieder ruhten die Augen der beiden Männer ein paar Sekunden mit einer gewissen Spannung aufeinander.

Horbeck schoß das Blut vor Ärger zu Kopfe. – Was wollte der Kerl von ihm?!

Neben ihm sagte der Kellner zum zweiten Male – etwas dringlicher:

„Dürfte ich um Kasse bitten?“

Leo Horbeck fiel erst jetzt ein, daß er all sein Geld dem Schaffner zur Aufbewahrung übergeben hatte.

„Reservieren Sie mir bitte den Platz,“ meinte er aufstehend. „Ich habe meine Brieftasche bereits dem Schlafwagenschaffner ausgehändigt. Ich bin sofort zurück.“

Er ging sehr schnell durch die Gänge der Wagen.

Der Schaffner war nicht zu finden. Ein Kollege des Schaffners erklärte, vielleicht richte dieser jetzt die Betten her. Schließlich stand Horbeck so vor der Tür der Kabine Nr. 4, die zugeschoben war.

Es war ihm, als hörte er drinnen ein Geräusch …

Vielleicht der Gesuchte, dachte Horbeck, der bereits recht ungeduldig war.

Er packte den Messingdrücker der Tür. Aber – sie schien von innen versperrt zu sein.

Horbeck klopfte – klopfte stärker. In demselben Augenblick tauchte der Schaffner auf, eilte herbei. Hinter ihm kam langsamer derselbe rotbärtige Herr her, den Horbeck soeben beim Verlassen des Speisewagens flüchtig mit einem Blick als Tischgenossen des Buckligen gestreift hatte.

„Die Tür ist ja verriegelt,“ meinte Horbeck. „Dabei sitzt mein Kabinengenosse im Speisewagen.“ – Dann fügte er ebenso nervös hinzu: „Geben Sie mir bitte fünfzigtausend Mark aus meiner Brieftasche.“

Der Schaffner hatte schon den Schnepper eingeführt. Nun ließ sich die Tür aufschieben.

Die Gardine des Kabinenfensters flatterte in der Zugluft so stark, daß die Ringe an der Stange oben laut klapperten. Das Fenster war herabgelassen. Auf dem unteren Bett stand ein mittelgroßer Koffer, offenbar der des Buckligen. Der Inhalt war durcheinandergeworfen.

„Aha!“ sagte der Schaffner laut. „Dacht ich’s mir doch! Ein Dieb hat hier gearbeitet!“

Horbeck machte dann dem anderen, rotbärtigen Herrn Platz, der sich mit einem gemurmelten „Sie gestatten“ an ihm vorbei in die Kabine drängte, die der Schaffner schon betreten hatte.

Horbeck sah, daß die beiden miteinander flüsterten und der Rotbärtige, der wie ein bescheidener Kleinstädter ausschaute, dem Beamten irgend etwas zeigte und das Etwas wieder in die Tasche steckte, worauf der Schaffner ein wenig lächelte und zu Horbeck in den Wagengang zurückkehrte.

„Bitte – hier ist Ihr Geld,“ meinte er höflich. „Vielleicht bestellen Sie Ihrem Kabinengenossen, daß er sich hierher bemüht. Er soll nachsehen, ob er bestohlen worden ist.“

„Das wird nicht ganz leicht sein,“ erwiderte Horbeck verstimmt. Ihm war es sehr unangenehm, daß er hier nun vielleicht in eine polizeiliche Untersuchung mit hineingezogen würde. „Der Herr spricht kein Wort Deutsch. Mir scheint, es ist ein Russe.“

„Dann werde ich mitkommen,“ nickte der Beamte.

Horbeck ging voran. Er war gespannt, als was der Bucklige sich nun entpuppen würde.

Der Schaffner ließ den Herrn durch einen Kellner in den Vorraum des Speisewagens bitten, um alles Aufsehen zu vermeiden. Er hatte dem Kellner zugeflüstert, der Herr sei wahrscheinlich Russe. Da die Bedienung dieser D-Züge zumeist sprachenkundig ist, erledigte der Kellner den Auftrag ganz nach Wunsch.

Horbeck und der Schaffner beobachteten durch die Glaspendeltür, daß der Bucklige, nachdem der Kellner sich zu ihm herabgebeugt hatte, sehr unruhig wurde und nur zögernd aufstand. Dann kam er – immer noch zaudernd – hinaus.

Der Schaffner, der ein paar Brocken Russisch konnte, teilte ihm kurz das Nötige mit.

Die Wirkung auf den Mann war recht merkwürdig.

Er zuckte die Achseln, entgegnete etwas in russischer Sprache mit heiserer, häßlicher Stimme und wollte dann in den Speisewagen zurück.

Der Schaffner bestand jedoch darauf, daß er ihn in die Kabine begleitete.

Ärgerlich und mit einer unwilligen Handbewegung schritt der Fremde dann voraus.

„Er sagte, er hätte nichts von Wert in seinem Koffer,“ erklärte der Schaffner nun dem Bankkassierer, als sie dem Buckligen folgten. „Es ist ein Russe. Die ganze Sache kann nicht sauber sein. Unsereiner hat so seine Erfahrungen.“

Horbecks Neugier war stärker als der Hunger. Mochte das Schnitzel kalt werden …

Vor der Kabine Nr. 4 stand der Rotbärtige. Horbeck ahnte bereits, daß es ein Kriminalbeamter sei. Scharfsinnige Schlußfolgerungen lagen ihm zwar nicht, waren für ihn fremdes Gebiet. Aber soviel sagte er sich doch, daß der Schaffner nur einen Beamten in der Kabine bei diesem Sachverhalt allein gelassen hätte.

Der Schaffner nahm den hageren Rotbart beiseite, flüsterte mit ihm und wandte sich dann an Horbeck.

„Ich möchte Sie nicht weiter bemühen, Herr. Nehmen Sie nur Ihre Mahlzeit im Speisewagen ein.“

Das war ein Wink, von hier zu verschwinden.

Horbeck machte etwas enttäuscht kehrt.

Der Kellner hatte das Schnitzel warmstellen lassen. Es schmeckte Horbeck nicht. Seine Gedanken waren in Kabine Nr. 4.

Nach einer geraumen Weile kam der Russe und nahm an seinem Tische wieder Platz. Auch er hatte vorhin seine Mahlzeit nicht beendet und aß nun mit tief gesenktem Kopf das kalt gewordene Omelette auf.

Horbeck sah den Schaffner hinter der Pendeltür erscheinen und winken. Er bezahlte, hob seinen kleinen Koffer auf und ging hinaus.

„Gestohlen ist nichts, behauptete der Russe,“ flüsterte der Schaffner. „Aber – – die Papiere des Mannes sind falsch.“ Er hob ein paar zusammengefaltete Blätter, die er in der Hand hielt, hoch. „Ich soll dem Russen jedoch sagen, daß alles in Ordnung sei. Wir raten Ihnen, sich nichts merken zu lassen, Herr Horbeck …“

„Sie wissen meinen Namen?“

Der Schaffner wurde verlegen. „Sie … Sie nannten ihn mir ja vorhin, Herr Horbeck.“

Der blonde Kassierer war viel zu harmlos, um herauszufühlen, daß der Beamte Ausflüchte gebrauchte.

„So? Mag sein. – Wer war der rotbärtige Herr? Ein Kriminalbeamter?“

„Hm … nein, – ein Zugrevisor, Herr Horbeck. – Sie werden sich also nicht verraten, nicht wahr? Sie sind ganz sicher, daß Ihnen nichts zustößt. Ich werde dem Russen jetzt die Papiere zurückgeben. Gehen Sie nur getrost zu Bett.“

„Ich bin nicht ängstlich,“ meinte Horbeck kühl und ballte unwillkürlich die linke Faust, daß seine ausgearbeiteten Muskeln sich strafften. Er war Mitglied des Königsberger Ruderklubs und hatte bereits einige dreißig Fahrten in diesem Jahre hinter sich. „Übrigens – haben Sie den Mann ermittelt, der zum Fenster hinausgeflüchtet ist, als ich klopfte? Ich nehme wenigstens an, daß ich ihn verscheucht habe.“

„Das haben Sie, Herr Horbeck, ohne Frage. Den Dieb herauszufinden ist schwer. Natürlich ist er noch im Zuge. Aber wo?“

„Wie nennt sich der bucklige Russe denn?“

„Grün – Nathan Grün, aus Moskau – – angeblich.“

„So so. – Hier haben Sie mein Geld. Auf Wiedersehen.“

* * *

Horbeck lag in seinem schwarzseidenen Schlafanzug im oberen Bett. Er hatte die Stoffhalbkugel der Deckenlampe nach den Betten hin herabgeklappt.

Gleich darauf trat der Russe ein.

Horbeck, der einen kleinen Damenrevolver unter dem Zudeck bereit gelegt hatte, tat, als ob er schliefe. Aber durch die Wimpern der geschlossenen Augen paßte er doch genau auf, was dieser verdächtige Nathan Grün nun tun würde.

Der Russe setzte sich auf seinen Bettrand und schnürte die Stiefel auf, zog sie aus und legte sich dann auf das Bett – angekleidet, im Mantel. Die Lampe ließ er zur Hälfte unverhüllt, wie er sie gefunden hatte.

Horbeck hatte nicht die Absicht, unter diesen Umständen etwa einzuschlafen.

Die starken seelischen Erregungen der letzten Tage hatten seinen Nerven übel mitgespielt. Dann noch der heutige Tag – die niederschmetternde Nachricht aus Berlin, – – kurz, er brauchte sich gar keine Mühe zu geben, munter zu bleiben. Wenn er einmal wirklich für kurze Zeit in eine Art Halbschlummer verfiel, schreckte er sehr bald wieder auf.

Er hörte, wie der Zug in Braunsberg, dann in Elbing hielt, hörte das Ausrufen der Station Marienburg und die Unruhe auf dem Bahnsteig, die mit dem Plombieren der Wagen für die Fahrt durch den polnischen Korridor verbunden war.

Der Russe regte sich nicht.

Der Zug befand sich längst wieder auf deutschem Gebiet, als Horbeck, aus etwas längerem Halbschlaf hochfahrend, den Russen tief gebückt vor seinem Koffer am Boden knien sah.

Horbeck wagte es, den Kopf etwas zu erheben.

Nathan Grün war wohl durch einige Schnarchtöne in Sicherheit gewiegt worden.

Er streckte nun die Hand nach seinem Bett aus, nahm von dort etwas empor, das unter der Matratze verborgen gewesen …

Und Horbeck sah dieses Etwas jetzt im Lichte der Deckenlampe matt blinken: eine Metallplatte, etwa 40 mal 30 Zentimeter groß, aus Silber anscheinend, und etwa einhalb Zentimeter dick.

Diese Metallscheibe legte der Russe schnell in ein Versteck unter das Stoffutter des Kofferdeckels, warf dann den Deckel zu und verschloß ihn.

Horbeck hatte völlig vergessen, daß dieser Nathan Grün doch eine recht fragwürdige Persönlichkeit war. Zu spät zog er den Kopf zurück. Der Russe hatte rasch nach oben geblickt, sprang empor … –

Der Zug rollte weiter …

Ein Regenschauer ging nieder. Es war jetzt drei Uhr morgens.

Plötzlich kreischten die Bremsen …

Die Geschwindigkeit ließ nach, der Zug hielt auf offener Strecke.

* * *

Im Postwagen des Zuges hatte der Rotbärtige sich eine Dienstmütze und einen Schaffnermantel geben lassen, hatte zum Erstaunen der Beamten, die ihm andächtig zuschauten, seiner großen Reisetasche eine Perücke, einen dunklen Bart und Klebstoff entnommen und sich vor einem Stehspiegel in wenigen Minuten völlig verwandelt.

In dieser Maske bewachte er nun die beiden Schlafwagen, schritt lautlos und unermüdlich die Gänge entlang und blieb jedesmal vor der Tür der Kabine Nr. 4 stehen, bückte sich ganz tief und brachte das eine Auge vor das winzige Löchlein in der Ecke der unteren Türfüllung, das er vorhin gebohrt hatte.

Als die Bremsen kreischend anzogen, war er gerade am Ende des anderen Wagens gewesen und hatte hier durch eines der Türfenster in die düstere Regennacht hinausgeschaut.

Sofort lief er jetzt nach der Kabinentür von Nr. 4.

Die Kabine war wie bisher: zur Hälfte erleuchtet, auf den Betten undeutlich zwei dunkle Flecke – die Köpfe der scheinbar schlafenden Insassen.

Im Zuge wurde es lebhaft. Auch draußen auf dem Bahnkörper liefen Beamte hin und her.

Der Zugführer kam und sprach mit dem Rotbärtigen.

„Wir wollen die Kabine für alle Fälle öffnen,“ meinte der Rotbart. „Wenn anderswo nichts geschehen ist, muß eben hier etwas geschehen sein.“

Und er schob den Schnepper in das Loch des Schlosses. Die Tür rollte zur Seite, die Stoffhalbkugel schnellte hoch, und das Lampenlicht fiel auf das obere Bett.

Der Kopf des Schläfers dort war nichts als ein zusammengeballtes Hosenbein eines grauen Beinkleides.

Und ebenso verhielt es sich mit dem anderen Kopf: auch dieser war durch ein Hosenbein vorgetäuscht worden!

Die Gardine flatterte, die Ringe an der Stange klapperten …

Das Fenster war offen!

Und auf dem Zudeck des oberen Bettes leuchteten feucht und rot mehrere Blutstropfen – frische Blutstropfen, redeten ihre besondere Sprache.

Der Rotbart starrte auf die acht Tropfen …

Der Zugführer und zwei Schaffner taten in bedrücktem Schweigen dasselbe.

Dann sagte der Rotbart rauh:

„Suchen wir den Bahndamm ab. Wir werden Horbecks Leiche sehr bald finden. Der Russe hat ihn zum Fenster hinausgeworfen und ist hinterdrein gesprungen. Da – er hat die Notbremse gezogen. Sein Koffer fehlt.“ –

Es wurde allmählich hell. Der Morgen kam.

Der Rotbart, noch immer im Schaffnermantel und mit Dienstmütze, stand am Bahndamm und rauchte gedankenvoll eine Zigarette.

Aus der nächsten, kaum zwei Kilometer entfernten Kreisstadt waren bereits im Auto einer der Richter des dortigen Amtsgerichts und zwei Polizeibeamte eingetroffen.

„Ich werde mit nach Berlin fahren,“ sagte der Rotbärtige unvermittelt und blickte den Schienenstrang entlang nach dem Zuge hin, der noch immer auf der Strecke hielt. „Ich habe meine bestimmten Absichten dabei, Herr Amtsgerichtsrat. Hier kann ich doch nichts mehr feststellen. Was zu tun ist, wissen Sie. Der Russe hat die Leiche mit sich genommen und wird sie irgendwo ins Wasser werfen. Der Polizeihund aus Schneidemühl dürfte die Fährte leicht weiter verfolgen.“

Dann grüßte er und ging nach dem Zuge, wo ein Teil der Fahrgäste neugierig zu den Fenstern hinausschaute.

* * *

Der Zug langte mit großer Verspätung auf dem Bahnhof Friedrichstraße in Berlin an. Bereits in Küstrin waren ein paar Herren eingestiegen, die kurz vorher mit einem anderen Zuge von Berlin her eingetroffen waren. Die vier Herren hatten mit dem Rotbart, der inzwischen abermals die Maske gewechselt hatte, im Postwagen sowohl den Diebstahlsversuch als auch den Mord in Kabine Nr. 4 sehr genau besprochen. Einer von ihnen wurde von den anderen mit viel Respekt behandelt. Es war dies der Kriminalkommissar Tonhard, ein Mann von Ruf, ein Genie.

Man hatte alles getan, was man irgend tun konnte, um den Dieb zu entdecken, der sich fraglos noch im Zuge befand. Der arme Horbeck hatte ja dem Schaffner eine genaue Beschreibung des Fremden gegeben, den er einen Moment mit dem Manne verwechselt hatte, der in Königsberg hinter dem Buckligen hergewesen war. Sowohl Tonhard als auch der Rotbärtige waren überzeugt, daß dieser Fremde auch zu dem Morde in irgendwelchen noch dunklen Beziehungen stehen müßte.

An den Bahnsteigsperren des Bahnhofs Friedrichstraße waren ebenfalls bereits Kriminalbeamte postiert. Des Rotbarts dringende Depesche aus der Kreisstadt hatte zu all diesen Maßnahmen geführt. Die Polizei der Hauptstadt arbeitete wieder einmal wie ein gut geöltes Uhrwerk.

Auch die Fernbahnhöfe Zoologischer Garten und Charlottenburg (hier war das Fahrtziel des Zuges) hatten ihre Wächter, die mit scharfen Blicken die aussteigenden Reisenden musterten.

Der Rotbart verließ in Charlottenburg als letzter den Zug. Er trug jetzt einen schwarzen Spitzbart und wirkte wie ein Ausländer, Rumäne, Ungar oder Galizier. – –

Der Fernbahnsteig Charlottenburg leerte sich rasch.

Scholem Grün mit seinen schiefgetretenen Absätzen, zerknüllten Hosen und dem rissigen Gummikragen lehnte an eine der eisernen Säulen nahe der Bahnsteigtreppe.

Sein bleiches Gesicht war genau wie die starke Nase mit Schweißperlen bedeckt. Seine Augen, schwarz und blinkend wie die einer Maus, fuhren andauernd hin und her. Nichts entging ihnen.

Der Ausdruck dieses abgehetzten, schweißglänzenden Gesichts wurde von Minute zu Minute enttäuschter.

Scholem hatte die Depesche noch in der Tasche, die gestern Freitag abend bei Norkert in der Wexstraße Nr. 57 eingetroffen und von Alexander Worlo mit einem Seufzer der Erleichterung gelesen worden war.

Die letzten Reisenden hasteten jetzt die Treppe hinab. Auf dem Bahnsteig befanden sich nur noch Bahnbeamte und ein einzelner schwarzbärtiger Herr, der einen Mantel über dem Arm und eine Reisetasche in der Rechten hielt.

Langsam näherte er sich der Treppe, blickte sich wiederholt wie suchend um und trat dann zögernd auf Scholem Grün zu.

„Wissen Sie hier vielleicht Bescheid?“ fragte er auf Russisch.

Scholems Gedanken und Empfindungen machten einen Sprung. Sein Mißtrauen erwachte. Er haßte und liebte diese Sprache, die des unermeßlichen russischen Reiches. Es war ja die seiner Heimat. Seine Augen wurden kleiner, krochen förmlich in den Kopf zurück.

War der Herr etwa einer von der mießen Gesellschaft – ein Spion?

Scholem betrachtete den Schwarzbärtigen scheinbar gleichgültig, hinter dessen Brillengläsern ein Paar graue Augen ebenso gleichgültig ihn anschauten.

Scholems Mißtrauen erlosch. Er nickte.

„Was wünscht der Herr?“ fragte er dann unterwürfig. Sein Russisch hatte den leicht singenden Klang des Moskauer Ghetto.

„Sie könnten Geld verdienen,“ erklärte der andere leiser. „Viel Geld. Kommen Sie. Hier ist nicht der Ort zum Sprechen.“

Scholems Lider hoben sich. Das Wort Geld war von magischer Gewalt. Aber er blieb vorsichtig, zuckte die Achseln.

„Ich erwarte jemand,“ sagte er ausweichend.

„Schade! Ich bin fremd in Berlin. – Wie lange wollen Sie denn noch warten? Die Reisenden haben doch den Bahnsteig bereits verlassen.“ Und mit einem ironisch-vieldeutigen Lächeln: „Es ist auch besser, man drückt sich hier nicht herum. Unterwegs ist ein Mord geschehen.“

Scholem richtete sich mit einem Ruck aus der nachlässigen Haltung auf. Seine Augen waren ganz groß geworden. Eine wahnsinnige Angst packte ihn.

„Ein Mord – ein Mord?“ stammelte er. „Etwa eine … eine Dame.“

Hinter den Brillengläsern leuchtete es einen Moment triumphierend auf …

„Haben Sie eine Dame erwartet?“ fragte der Herr rasch.

Scholem Grüns Angst blieb. Aber das Mißtrauen, jäh wieder hochschießend, drängte die Angst für eine Weile zurück.

„Meine Schwester,“ erwiderte er mit gemachter Ruhe und lehnte sich an die Säule.

Der Schwarze fühlte: der kleine Jude log!

„Wie heißen Sie?“ meinte er unvermittelt.

„Scholem Grün.“

„Ihre Schwester ist schwarzhaarig wie Sie?“

„Ob sie’s ist – natürlich.“ Scholem zitterte innerlich vor banger Erwartung. Und doch: äußerlich verrieten nur die Augen seinen qualvollen Seelenzustand.

„Eine schwarzhaarige Dame ist die Tote,“ nickte der andere mit derselben feinen Berechnung und prüfte, welchen Eindruck diese Erklärung auf den Blassen machte.

Gar keinen Eindruck! Scholem sagte nur: „Meine Schwester kann’s nicht sein.“

„Weshalb nicht?“

Der Blasse fand so rasch keine Antwort.

„Weil … weil …“

Da fiel ihm der Herr ins Wort. „Bemühen Sie sich nicht mehr. Wir wollen uns anderswo aussprechen. Kommen Sie mit.“ Das[5] klang schon wie ein Befehl.

Scholems Augen suchten den Boden.

„Ich warte, Herr. Meine Schwester wird mit dem nächsten Zuge eintreffen.“

„So … so. – Nun, ich will Ihnen die Wahrheit sagen: die Ermordete ist aschblond, ist eine Russin. In ihrem Koffer fand ich einen Kamm, der noch in den Zinken acht aschblonde Haare festgehalten hatte.“

Des Blassen Gesichtsfarbe ward grünlich. Sein Unterkiefer flatterte.

„Was – – was war noch in dem Koffer, Herr?“ platzte er heraus, und er spie die Worte dem vor ihm Stehenden förmlich ins Gesicht. Er war sinnlos. Er war nicht mehr Scholem Grün, der kleine verprügelte Hund, der blasse, schlaue, alles abwägende Verdiener. Er war ein innerlich Zerbrochener. – Wera tot – tot!! Wera – Traum seiner Wünsche, Traumfigur phantastischer, wilder, seliger Liebesausschweifungen! – Wera tot!! heulten Chöre von Klageweibern in seiner Seele, daß ihm die Ohren gellten, daß neben dem betäubenden Schmerz nur noch ein Gedanke in seinem irren Kopf geboren wurde: wo war die silberne Scheibe geblieben?

„Sie haben den Koffer doch durchsucht!“ sprudelte er weiter hervor. „Sie sind Polizeibeamter. Ich ahne es. Was fanden Sie noch?“ – Ja, er war sinnlos! Er stürzte sich in Gefahren, beschwor das Verhängnis herauf. Ihm war alles gleichgültig. Sollte Wera denn wirklich dieser verfluchten Scheibe wegen ermordet sein, die vielleicht – vielleicht drei oder fünf Millionen wert war – einen Dreck?!

Der Herr lächelte freundlich. Er lächelte freundlich – vertraulich, so, wie er es im Königsberger Präsidium bei den Kriminalbeamten gesehen hatte, wenn er als vereidigter Dolmetscher den Verhören ausländischer Verbrecher beiwohnte.

„Was ich gefunden habe, wissen Sie ebenso gut wie ich, Herr Grün,“ sagte er bedächtig.

„Die Scheibe? – Sie ist noch da? Oh – dann – dann hat’s die – mieße Bande getan! Die Schurken, die Verruchten, – der Gott meiner Väter schicke ihnen die Beulenpest in die Adern!“ Er geiferte vor Wut, Rachedurst …

Und holte ein paarmal japsend Atem wie einer, der erstickt vor würgender Aufregung.

Dann kam der Absturz von diesem Gipfel wahnwitziger Empfindungen in die Tiefen eines unendlichen Schmerzes um die heimlich Geliebte.

Er sank wie kraftlos in sich zusammen. Seine Schultern senkten sich wie unter ungeheuren Lasten. Mit einer plastisch schönen Bewegung fast rührender Trauer hob er die unsauberen und doch so wohlgeformten Hände vor das Gesicht und weinte … weinte.

Doktor Gustav Steputat, heimlich im Nebenberuf Polizei-Dolmetscher, da er sieben fremde Sprachen beherrschte und da er bei seinen Einkünften als Privatlehrer hätte verhungern müssen, – dieser stille, menschenscheue Doktor der Philosophie Steputat mit den zwei Seelen in der Gelehrtenbrust, der einen, die geduldig den minderbegabten Schülern geldbegabter Eltern die Bildungslücken ausfüllte, der anderen, die nach dem rauschenden ereignisvollen Leben mit all seinen bunten Sensationen dürstete, – – ihm tat der hagere Blasse plötzlich leid. Er wollte ihn nicht länger quälen. Er hatte jetzt genug erreicht. Den Rest würde er ebenfalls erfahren.

Er legte Scholem Grün die Rechte leicht auf die Schulter.

„Beruhigen Sie sich,“ sagte er mit ehrlichem Mitgefühl. „Ich habe Sie überlistet, Herr Grün. Es ist keine aschblonde Dame im Zuge ermordet worden, vielmehr ein Herr. – Kommen Sie! Ich glaube, Sie werden hier ganz umsonst warten. Ich erkläre Ihnen das alles nachher – in einer Kneipe – irgendwo …“

Scholems Hände glitten langsam abwärts.

„Wie abschreckend häßlich ist nur dieser Mensch!“ dachte Steputat.

„Ist … ist das die Wahrheit?“ murmelte Scholem unsicher. „Und – die … die silberne Scheibe? Haben Sie sie gefunden?“

„Ich wußte bisher nichts von einer silbernen Scheibe, Herr Grün. – Folgen Sie mir bitte.“

Scholems Augen wurden plötzlich kalt und tückisch.

„Ich warte. Gehen Sie!“

„Seien Sie vernünftig, Mann! Dort unten an der Treppe stehen zwei Kriminalbeamte, die uns bereits beobachten. Die kennen auch mich nicht. Ich brauche mich jedoch nur zu legitimieren, und … man wird Sie verhaften, Herr Grün.“

„Wenn schon – –!“ Aber Scholem heuchelte. Die Angst zerfraß ihm bereits das Herz. Dreimal war er schon bei großen Razzien im Schönhauser Viertel mit aufgegriffen und nach dem Präsidium am Alexanderplatz gebracht worden. Dreimal hatte er, da er keine Aufenthaltserlaubnis besaß, tagelang die Zellen des Polizeigefängnisses kennen gelernt. Ihm graute davor.

„Wie Sie wollen, Herr Grün,“ meinte Doktor Steputat kühl. Und er wandte sich halb der Treppe zu.

„Anen Oojenblick,“ flüsterte Scholem hastig. Er wußte jetzt, daß dieser Herr ein Deutscher war, der das Russische nur fließend beherrschte. Er wußte es, da kein Russe ihm, Scholem Grün, so teilnahmsvoll die Hand auf die Schulter gelegt hätte. Unwillkürlich war er daher in den jiddischen Jargon hinübergeglitten.

„Anen Oojenblick, Herr,“ wiederholte er. „Iach kümm’ schon. Lassen mer die Pollißei wej. Ich werd’ reden, was ich waiß …“

So schritten sie denn nebeneinander die Treppe hinab, verfolgt von zwei mißtrauischen Augenpaaren.

Schritten durch den muffigen Tunnel, durch die Halle, auf den Vorplatz – weiter nach rechts der Wilmersdorfer Straße zu.

Steputat drehte sich um. Die beiden Kriminalbeamten waren ihnen wirklich gefolgt. Er blieb stehen, winkte sie heran, sagte zu dem blassen Scholem:

„Keine Sorge! Ich will sie nur wegschicken.“

Dann zog er seine Brieftasche hervor, zeigte den Beamten eine gestempelte Karte mit Lichtbild und flüsterte: „Des ermordeten Bankbeamten wegen.“

Die beiden nickten und machten kehrt. –

In einer kleinen Kneipe in der Wilmersdorfer Straße bestellte Steputat Kaffee und belegte Brötchen. Die Kneipe war um diese frühe Stunde völlig leer. Der Wirt kümmerte sich um die beiden Gäste nicht weiter, nachdem Steputat bezahlt hatte.

„Essen Sie, trinken Sie, Herr Grün,“ munterte der Doktor sein stummes Gegenüber auf.

Er langte selbst zu, biß herzhaft in die belegte Schrippe hinein und blinzelte Scholem an …

„Nun erzählen Sie mal, Herr Grün. Aber bitte die Wahrheit.“

Der Blasse zerrührte den Zucker in der Tasse.

„Wer sein Sie?“ meinte er zaghaft.

Steputat legte den Ausweis vor ihn hin.

„Da – Dolmetscher, wie Sie sehen, also kein Kriminalbeamter. Nur … nur zuweilen spiele ich freiwillig den Detektiv. Mehr zu meiner Zerstreuung. Jeder Mensch muß seine überflüssige Kraft nach seinem Geschmack ableiten.“

„Frogen Se,“ sagte Scholem ergeben und doch auch froh, hier eine offenbar mitfühlende Seele gefunden zu haben. Er nahm ein Brötchen und aß mit Heißhunger. Für ihn, der sich kaum das Sattessen gönnte, war dieses Frühstück ein unerhörter Luxus.

„Kennen Sie den Namen Leo Horbeck?“ begann Steputat.

Er sah, daß Scholem zusammenzuckte und blutrot wurde, widerstrebend nickte und hervorpreßte:

„Ich kenn’ ihn.“

„Woher?“

In Scholem Grüns Hirn stolperten die Gedanken vor Eile übereinander. – Leo Horbeck!! Und ein Bankbeamter war der Ermordete! Wenn das Horbeck war! Wenn Horbeck tot wäre – ganz tot …!

Und in Scholems Herzen brannte gleichzeitig diese unsinnige Eifersucht lichterloh, zerstörte alles andere an Gefühlen …

Wenn er tot wäre …! Er, den er haßte – – haßte!!

„Woher?“ fragte Steputat schärfer.

„Nu – von’s Krematorium her, Herr Dokter,“ erklärte Scholem und zerbiß die Worte vor blindem Haß.

Steputat war sofort im Bilde. Vor etwa vier Wochen war Leos gelähmte Mutter hier in Berlin verstorben und hier auch eingeäschert worden. Für die alte Dame war der Tod als Erlöser gekommen. Leo hatte eine Woche Urlaub damals in Berlin verbracht.

„Sie waren also bei der Einäscherung anwesend?“ fragte er weiter.

Scholem schüttelte heftig den Kopf.

„Was sollt e Jüd dort?! Die Gräfin war dort. Ich war draußen.“

„Welche Gräfin?“ Steputat gab sich Mühe, sein Erstaunen zu verbergen. Leo hatte nie eine Gräfin erwähnt.

„Wera Orlow haißt se, Herr Dokter …“ Scholem sprach den Namen ganz andächtig aus. Sein Gesicht überlief dabei ein Schimmer wie Sonnenschein. „Se haißt hier aber nur Wera Worlo. Ihr Vater hat gehabt in Moskau e fainen Palast, hat gehabt acht Kutschen, drei Autos, e schaine Frau und vier Kinderlichs. Mein Vater wor gewesen so e Vertrauter vom Grafen Alexander …“ – Sein Herz ging auf, wenn er über Wera sprechen durfte. – „Dann is jekümmen der Krieg und hernacher de Revolution. Das Blut wor billig, Herr Dokter. Da hoben se die Frau Gräfin und die drei Söhne, auch maine Eltern und Geschwister erschossen. Nur wir drei sein mit Hilf vom alten Wassili acht Tag’ in der Pferdedunggrub gesessen und hernacher entkümmen hier nach Daitschland …“

Seine Augen starrten in die Luft. Ein Ausdruck des Grauens lag darin. Seine Seele schien Bilder zu sehen, die ihm das ungesunde Gelb wieder in die Wangen trieben.

„Da hot der Grof, wo er doch stand auf die Liste der Verurteilten, sich Worlo genannt und is jeworden e bescheidener Ührmacher, Herr Dokter. Und die Gräfin Wera fand e Beschäftigung bei die Filmleite, und ich hob geschachert so mit allens, wo man kennt verdienen was. So hoben mer gelebt bis vor sechs Monat. Da hob’n se den Herrn Grofen gefunden, die von drieben.“ Er machte eine Handbewegung nach Osten zu. „Das haißt, Herr Dokter, se hatten Spione geschickt, schlau wie die Polißeihund’, aber de Wohnung vom Grofen kriegte die mieße Bande doch nich raus. Auch der Gräfin Wera sein se nachjeschlichen auf Schritt und Tritt. Doch – se war klüger, se hat die Gochims getaischt, bis – ja bis vorjen Dienstag. Als ich bin von Moskau gekümmen zorück, haben mer widder flichten missen.“

„Weshalb waren Sie in Moskau?“

Das Grauen aus Scholems Blicken hatte sich wieder verloren. Er sprach lebhafter. Er faßte Vertrauen zu Steputat.

„Iach hob gesollt reden mit ’n alten Wassili, Herr Dokter. Von wejen die silberne Scheib’, wo doch hat Wassili damals versteckt, als die Revolutionäre hatten den Palast beschlagnahmt. Nu – frieher is ’s nich jewesen anders in Rußland, Herr Dokter. Da hob’n die fainen Herrn beschlagnahmt und nach Sibirien geschickt, wenn ainer hat aufgerissen das Maul ßu wait. Nu machen’s die Neien ebenso. Se hatten’s jelernt – fufzig, hundert Johr. Nu kennen se’s noch besser als wie die Fainen – – e Wunder?! – Also – iach sollt bereden mit ’n Wassili allens – Sie verstehn, Herr Dokter. Iach bin jefahrn mit falsche Papier. E Jüd kümmt leichter über die Grenz. Der Wassili hot mer mitgegeben e Brief. Er hat gewollt bringen die Scheib’ nach Wirballen.“

„Es war eine silberne Scheibe?“

„Ganz aus Silber – e Schießpreis vom Herrn Grofen, der war jewesen Oberst bei der Garde, Herr Dokter. Nu – unter uns – die Scheib is nich wert, daß mer hab’n jehabt so ville Scherereien. Was is se wert? Drei, vier, fünf Millionen Papiermark – ’n Dreck, Herr Dokter, heitzutag! Aber weil’s die Gräfin Wera hat gewollt, bin ich jefahrn. Es wor eben e Andenken for sie an frieher, e Preis, wo hat jestiftet mal der Zar – Sie verstehn!“

„Und am Tage Ihrer Rückkehr entdeckten die Spione den Schlupfwinkel des Grafen?“

„Nu – ’s hot ihnen nix genutzt. Ich hob die beiden jebracht zu e Fraind, wo kain Mensch se findt. Dann wollt’ ich fahren nach Eydtkuhnen, ßu holen die Scheib. Aber was die Gräfin Wera is, die hot zu mer gesagt: Scholem, Se hob’n schon eemol Ihre Haut for uns riskiert. Jetzt fahr’ ich! – Und iach künnt nix machen dagegen.“

„Halt. Wir sind vom Thema abgekommen, Herr Grün. Ich reime mir so ungefähr zusammen, daß die Gräfin der Einäscherung beiwohnte, weil sie Lea Horbecks Mutter gekannt hat.“

Scholem blickte finster auf den Teller. „Se hob’n recht, Herr Dokter. Ganz flichtig hot se de alte Dame gekannt, die doch wohnt’ bei ihren Schwiegersohn, wo is Syndikus von de Ava-Filmgesellschaft.“

„Und Sie waren der Gräfin damals heimlich gefolgt?“

Scholem errötete. „Ich hab se beschitzt, wenn ich hatt Zeit, Herr Dokter.“ Er schaute nicht auf. Seine Stirn faltete und glättete sich.

Steputat ahnte jetzt die Herzenstragik: dieser Grün liebte die Gräfin! – Armer Kerl …!

Scholem sprach von selbst weiter. „Da hob’n se sich kennen gelernt, und do is der Herr Leo Horbeck hinter die Gräfin drein gewesen jeden Tag, bis er hat gemüßt fahren zorück nach Königsberg.“ Seine Stimme klang immer rauher. „Und geschrieben hob’n se sich heimlich – so postlagernd. Bis dem Grofen is jegangen auf e Licht am vorjen Dienstag, daß der Horbeck kennt sein e daitscher Spitzel von die mieße Bande.“

„Wie – Horbeck?! Das ist Unsinn!“

Scholem wiegte den Kopf hin und her. „Herr Dokter, es wird mancher bezahlt von die von drieben, von dem kainer ahnt! Grad so wie die Daitschen hob’n ihre Spitzel drieben. Es is immer dasselbe.“

„Blech! Das ist bei Horbeck ganz ausgeschlossen.“

„Kann sein. Wer will’s wissen?! Hob’n Se schon hineingeschaut in Horbecks Herz?! Es wor da am Dienstag noch e zwaiter do, wo is jekümmen als e Mieter von ’n Zimmer. Und das wor e Spion, e Detektiv, e Daitscher. Kroll haißt er. Ich hab’s ermittelt.“

Steputats Gedanken prüften das Gehörte. – Dieser Leo! Keine Silbe hatte er von Wera Orlow erzählt …!! Und nun – nun war der Ärmste tot – ermordet!

„Iach fercht’, Herr Dokter,“ fuhr Scholem fort, „daß der Kroll hot gefunden den neien Schlupfwinkel. Iach fercht’s! Nämlich wie ich hob gebracht die Gräfin Mittwoch zum Bahnhof, letzten Mittwoch, und wie sie wor schon eingestiegen in den Zug nach Eydtkuhnen in ihre Verkleidung als e älterer Mann mit ’n Buckel, do hob iach …“

Steputat hatte die Hände auf den Tisch gestützt, sich halb aufgerichtet und stierte Scholem wie ein Gespenst an.

„Was reden Sie da? In Männerkleidung?“ stieß er hervor. „Herr Gott – das ist ja nicht möglich!“

„Die Gräfin spielt im Film immer alte Damen, faine alte Damen, Herr Dokter. Se wundern sich? Nu – der eine macht aus jung alt, der andre kann’s umjekehrt. Die Gräfin is e große Künstlerin auch in Männerkleidung.“

Steputat war auf den Stuhl zurückgesunken.

„Trug die Gräfin einen Nickelkneifer zu ihrer Verkleidung?“ fragte er, noch ganz verwirrt von dieser Neuigkeit.

„Ja, Herr Dokter.“

„Dann – dann war sie auch der Mann aus Kabine Nr. 4,“ murmelte Steputat grübelnd vor sich hin. „Der Kamm in dem Koffer sagt genug. Sie war’s! Und – sie soll Horbeck ermordet haben?!“

Scholem Grün horchte auf.

„Wo ist die Gräfin, Herr Dokter?“ fragte er hastig. Seine Angst war wieder erwacht.

Steputat blickte den Blassen gedankenverloren an.

„Wenn ich’s wüßte, Herr Grün! – Ich will Ihnen erzählen, was geschehen. Horbeck ist mein Freund. Gestern abend kam er sehr erregt zu mir und lieh sich Geld von mir. Ich fürchtete, er könnte spekuliert und … Dummheiten gemacht haben …“

„Ach so, Herr Dokter, – so e Griff in die Kasse der Bank! Nu – dos kümmt vor.“

„Ich benutzte denselben Zug dann, verkleidet …“

Er ließ alles Nebensächliche weg. Als er den zweiten Mann erwähnte, der dem Buckligen in Königsberg gefolgt war und den Horbeck nachher im Gange des D-Wagens wiederzuerkennen geglaubt hatte, sagte Scholem bestürzt:

„E Eleganter war’s? So ’n Geck, so ’n Überfainer? Herr Dokter – und blaß war er? – Den kenn’ iach! Das is einer von die mieße Gesellschaft! Und dann war’s auch derselbe, der im Zuge wurd’ jesehn von Ihren Freind. Glooben Se mir! Es war derselbe!“ Vor Erregung knetete er seine Hände, rutschte auf dem Stuhle hin und her. „Se hob’n also doch die Gräfin verfolgt, die … die Schurken! Und dann – dann hob’n se die Gräfin stumm gemacht und den Horbeck dazu.“

„Das ist ausgeschlossen! Ich habe dort am Bahndamm festgestellt, daß zwei Leute aus dem Fenster gesprungen sind oder daß der eine den anderen zuerst hinausgeworfen hat und dann hinterdrein gesprungen ist. Der erste war liegen geblieben, wo er gelandet war. Der andere aber war zu ihm hingeeilt und muß ihn auf den Schultern weggetragen haben. Es führte nur eine Spur von der Stelle in die Felder hinein.“

Scholem trank die Tasse leer. Er war wie im Fieber. Es handelte sich um die Gräfin, und da hatte er Eifersucht und Haß vergessen, da sorgte er sich um das Schicksal der beiden Verschwundenen gleichmäßig. Mit nervösen Fingern holte er sein Talmi-Zigarettenetui hervor, in dem auf der einen Seite Zigaretten auf der anderen Papiergeld steckte – Hunderttausendmarkscheine. Die Fingernägel seiner Rechten waren gelbbraun gebeizt von dem Zigarettenrauch. Als die Zigarette brannte, sog er den Rauch in die Lunge ein – vier, fünf Züge. Und wurde ruhiger.

Überlegte nun, grübelte, schloß die Augen, sagte plötzlich:

„Iach waiß – es is anders gewesen, Herr Dokter. Ganz anders. Der Elegante hot gehabt Helfershelfer. Se hob’n die beiden umgebracht, hob’n den einen rausgeworfen durchs Fenster von die Kabin’, den andern durchs Gangfenster nach die andre Sait’. Und zwei von die Mörder sind nachgesprungen, hob’n die Leichen weggetrog’n. – Sie, Herr Dokter, hob’n doch nur auf die eine Sait’ vom Bahndamm nach Spuren gesucht!“

„Allerdings – leider!“

„Nu – also!!“

Steputat schwieg. Scholems Annahme war nicht von der Hand zu weisen.

„Herr Dokter, iach wird’ Ihnen raten, a Depesche zu senden nach Schönfeld, damit man …“

„Nein. Ich werde Kommissar Tonhard aufsuchen. Und Sie kommen mit, Herr Grün. – Vorwärts – es eilt. Wir nehmen ein Auto.“

Scholem blieb sitzen, „Hm – die … die Polißei kennt mer schon, Herr Dokter. Iach bin hier ohne Aufenthaltserlaubnis. Se sperren mer ein und schieben mer ab. Fahren Se allein, Herr Dokter.“

„Unmöglich. Ich kann auf Ihr persönliches Zeugnis nicht verzichten. Ich will Ihnen eins sagen, Herr Grün: an Nachstellungen von seiten der russischen Machthaber glaube ich nicht! Ich glaube weit eher, daß mit dieser silbernen Scheibe noch irgendein Geheimnis zusammenhängt, das nicht nur der Graf und die Gräfin kennen. Zum Beispiel kann auch jener Wassili völlig eingeweiht sein. Von ihm mögen es andere Russen erfahren haben, die dann den Grafen und seine Tochter in der Hoffnung beobachteten, daß sie irgendwie durch diese in den Besitz der Scheibe gelangen könnten, was nun ja auch eingetreten ist.“

Scholem nickte. „Daran hob iach aach schon gedacht, Herr Dokter. Meglich is ’s. Nur, vom Wassili hat keiner was erfahren, niemals, Herr Dokter. Eher, eher schon von Jakob Schimeklaw, der kennt’ hob’n jehorcht. Er is a Schlaicher, der Schimeklaw, einer, der bei unsre Lait’ nix gilt – a Lump!“ Er sprach immer langsamer, dachte angestrengt nach, vergegenwärtigte sich die Ereignisse der letzten Monate.

Steputat hatte sich wieder gesetzt.

Scholem nahm die zweite Zigarette, rauchte hastig. Dann beugte er sich über den Tisch, flüsterte:

„Herr Dokter, es is a Gehaimnis mit bei das silberne Ding! Se haben recht. E wichtges Gehaimnis. Iach hob’s längst gemorkt – längst. Was sein heitzutag a paar Papiermillionen?! Was is heitzutag a Andenken?!“ Er machte eine geringschätzige Handbewegung. „Und, Se werd’n aach darin recht hob’n, Herr Dokter: de mieße Jesellschaft sein Gauner, russische Gauner! Es kenn’n sein Frainde von dem ältesten Sohn vom Grofen. Herr Dokter – viele von die faine Herren von einst sind jeworden Taschendiebe, Schieber, Verbrecher. Iach waiß Bescheid! – Lassen Se den Kommissar in Ruh’, Herr Dokter. Wir baide werd’n handeln – wir baide! Der Kroll, der Detektiv, is mit die Mörder im Bunde. Er wohnt am Schiffbauerdamm Nr. 92 …“

* * *

Mittags kletterte ein rotbärtiger Herr die Treppen in dem alten Hause am Schiffbauerdamm empor und läutete an Magnus Krolls Flurtür.

Das Schrillen der Glocke wurde im Wohnungsflur sofort durch das Gekreisch einiger Rangen übertönt, von denen jetzt die Flurtür aufgerissen wurde.

Im selben Moment eine scheltende Männerstimme, und vor Steputat stand, seine vier Sprößlinge zurückdrängend, Herr Magnus Kroll, ein verhungert aussehender Mann von etwa vierzig Jahren mit einem bartlosen Dienergesicht.

Dann saß Steputat in einem armseligen Bureau dem noch armseligeren Detektiv gegenüber.

„Hätten Sie Zeit, eine Sache zu übernehmen, Herr Kroll?“ fragte Steputat den unbedeutenden, offenbar sorgengequälten Mann.

Kroll nickte. „Zufällig ja, Herr Schirmer.“ – Als Rentner Schirmer aus Braunsberg hatte Steputat sich vorgestellt.

Dieses „Zufällig“ war fraglos Schwindel. Kroll hatte wahrscheinlich mehr freie Zeit, als ihm lieb war.

„Ich habe hier in Berlin einen etwas leichtsinnigen Sohn auf der Universität,“ erklärte Herr Schirmer nun. „Der Junge ist mit einem Weibsbild ausgerückt. Sie sollen ihn suchen.“

„Eine Kleinigkeit! Den haben wir sehr bald, Herr Schirmer. Nur – nur, solche Ermittlungen sind nicht billig.“

„Das weiß ich, Herr Kroll. – Können Sie mir Empfehlungen vorlegen? Ich bin auf gut Glück gerade zu Ihnen gekommen. Da möchte ich …“

„Oh – gern, Herr Schirmer.“ Er holte eine Mappe herbei.

„Bitte – hier dieser Brief beweist, daß mir ein Herr aus Königsberg die Beobachtung einer jungen Dame anvertraut hat.“ Er bedeckte mit dem Daumen die Unterschrift des Briefes und hielt ihn so Steputat in.

Ein Blick genügte, und der Doktor hatte Leo Horbecks Handschrift erkannt.

„Dieser Brief, Herr Schirmer“ – er nahm einen zweiten aus der Mappe – „trägt die Unterschrift des reichsten Mannes Berlins. Auch für ihn war ich tätig.“

Steputat winkte ab. „Das genügt mir. – Die Handschrift dort kenne ich übrigens. Das Bankhaus Rickel und Werder in Königsberg verwaltet das Vermögen eines Mündels von mir. Der Herr, der die Dame beobachten läßt, kann nur der …“

„… Bankkassierer Leo Horbeck sein,“ vollendete Herr Kroll sehr stolz. „Das stimmt. Und die Dame – Diskretion Ehrensache, Herr Schirmer! – ist eine russische Gräfin.“

„So … so …“ Steputat lächelte schlau. „Dieser Horbeck!! Sieh einer an! Na, ich will nicht weiter in diese Geheimnisse eindringen, Herr Kroll. – Sie haben wohl gestern Horbeck eine wichtige Nachricht übermittelt?“

„Woher wissen Sie das?“

„Weil Horbeck gestern abend sehr aufgeregt war.“

„Ja, ich telephonierte mit ihm. Die Gräfin ist nämlich, nachdem ich ihre neue Wohnung ermittelt hatte, wiederum verschwunden.“

„Hm – der arme Horbeck!“

Steputat zögerte jetzt nicht mehr, die Maske fallen zu lassen. Er merkte ja, daß Kroll mit den Leuten, die den beiden Orlows nachstellten, nur als Detektiv etwas zu schaffen hatte.

„Horbeck ist ermordet worden,“ fügte er leiser hinzu. „Im D-Zuge. Er war wohl unterwegs zu Ihnen, Herr Kroll.“

Der Detektiv saß wie erstarrt da.

Steputat sprach weiter. „Ich will Ihnen reinen Wein einschenken. Ich bin Horbecks Freund, bin selbst Gelegenheitsdetektiv …“

Er schilderte die Vorfälle vor und während seiner Reise, erwähnte Scholem Grün und dessen Verdacht, Kroll könnte im Solde der Gauner stehen.

Kroll erholte sich von dem Schreck, sagte traurig:

„Um Horbeck tut es mir aufrichtig leid. – Was die Mörder betrifft, so kann ich Ihnen vielleicht helfen, die Leute zu finden, Herr Doktor. Ich kenne die Wohnung eines der Russen, die der Gräfin stets auf den Fersen blieben.“

Steputat beugte sich vor …

„Wirklich, Herr Kroll?“

„Ja. – Ich hatte sehr bald heraus, daß nicht nur ich für die Gräfin mich interessierte. Da waren fünf Leute, die sie gleichfalls abwechselnd beobachteten. – Ich kann Ihnen auch erklären, Herr Doktor, weshalb Ihr Freund sich von Ihnen Geld geliehen hat. Ich bin nicht gerade billig als Detektiv. Horbeck war mir Geld schuldig – Honorar. Gestern abend bat ich ihn telephonisch, mir das Geld mitzubringen, achtmalhunderttausend Mark. Die Ermittlungen haben ihn Millionen gekostet, Honorar und Unkostenerstattung. Ich bin jetzt durch Horbecks Tod in eine recht unangenehme Lage geraten …“

Steputat zog rasch eine Brieftasche hervor.

„Hier – dies ist Horbecks Tasche. Der Schaffner hat sie mir ausgehändigt. Sie sollen Ihr Geld sofort haben.“

„Das hat Zeit, Herr Doktor. Wenn ich es nur bekomme. Ich bin ja darauf angewiesen. – Hören Sie weiter. Gestern abend am Fernsprecher teilte ich Horbeck, dem ich die fünf Russen bisher unterschlagen hatte, notgedrungen mit, daß von diesen fünf vier nun ebenfalls aus Berlin verschwunden seien und daß ich befürchtete, sie könnten der Gräfin Wera gefolgt sein, deren Abreise ich freilich mehr vermutete, da ich sie in der Verkleidung des Buckligen tatsächlich nicht erkannt hatte, Herr Doktor.“

„Sie waren also Scholem Grün bis zum Bahnhof nachgeschlichen?“

„Ja. Weil ich durch ihn die Gräfin wiederzufinden hoffte.“

Steputat blickte nachdenklich vor sich hin.

„Wie heißt der Russe, wo wohnt er, Herr Kroll?“

Der Detektiv zögerte mit der Antwort.

„Machen Sie sich auf eine Überraschung gefaßt,“ meinte er dann. „Der Russe nennt sich hier Feodor Aksalow, ist jedoch in Wahrheit des Grafen Alexander Orlow ältester Sohn Feodor.“

Steputat vermochte einen Ausruf des Staunens nicht zu unterdrücken.

„Dann – dann wäre ja Scholem Grüns Annahme, daß einige Freunde der Söhne des Grafen mit dieser unbegreiflichen Geschichte etwas zu tun haben könnten, halb und halb richtig, Herr Kroll! Was halten Sie von alledem? Sie sind nun ja völlig eingeweiht.“

Magnus Kroll streichelte sein mageres Kinn.

„Ich möchte Ihnen erst noch schildern, wie ich dahintergekommen bin, daß Feodor Orlow der Hauptmacher, der Anführer der fünf ist. Er wohnt sehr elegant in der Regensburger Straße, hat zwei möblierte Zimmer und treibt großen Aufwand, ist Mitglied eines Klubs, in dem jede Nacht gespielt wird, und lebt als Toter sehr vergnügt. Er gilt ja für tot, soll in Moskau hingerichtet worden sein. Ich hatte mich für drei Nächte als Aushilfsdiener bei dem Klub einstellen lassen. In der zweiten Nacht bediente ich im Spielzimmer. Der Graf Feodor hielt die Bank. Ich ahnte noch nichts davon, daß dieser Mann ein Graf Orlow war, bis er dann einen seiner Bekannten beiseite nahm, ebenfalls einen Russen. Sie saßen so, daß ich einiges von ihrem Gespräch auffangen konnte, glaubten natürlich, daß so ein simpler deutscher Lohndiener kein Wort russisch verstünde. Sie irrten sich. Ich war drei Jahre als Kriegsgefangener in der Krim. Mit einem Male fiel der Name Orlow. Der Bekannte des Grafen hatte ihn geflüstert. Unsereiner achtet ja nun auf alles, Herr Doktor. Orlow – Worlo!! Das mußte mir wohl auffallen, wo doch nur der eine Buchstabe versetzt war. Der Graf Feodor erklärte dem anderen dann, daß er nicht wüßte, was aus seinem Vater und seiner Schwester geworden sei. Dabei nannte er den Namen der Schwester: Wera! – Jedenfalls wurde mir sehr bald klar, daß dieser Feodor ein Sohn des Grafen Alexander sein müßte. Ein paar weitere Bemerkungen des anderen machten dies zur unumstößlichen Gewißheit.“

Magnus Kroll schwieg. Er war offenbar sehr stolz auf diese Leistung, blickte Steputat triumphierend an und wartete auf eine Gegenäußerung.

Der Doktor meinte denn auch: „Dies alles ist äußerst wertvoll. Der Feodor Orlow ist e Lump, würde Scholem Grün sagen. – Leo Horbeck erschrak am Telephon wohl sehr, als Sie ihm mitteilten, daß die Gräfin von den vier Leuten wahrscheinlich auch auf der Reise verfolgt würde?“

„Ja, Herr Doktor. Er konnte kaum sprechen. Er muß die Gräfin sehr lieb gewonnen haben.“

Steputat zählte jetzt achthunderttausend Mark auf den Tisch. „Bitte, Herr Kroll. Vielleicht geben Sie mir eine Quittung.“

„Sofort …“

„Dann möchte ich Sie bitten, festzustellen, ob die vier Russen jetzt wieder in Berlin aufgetaucht sind. Ich werde Sie dafür natürlich honorieren.“

„Soll geschehen, Herr Doktor. – Wo wohnen Sie hier?“

„Ich habe noch keine Bleibe, Herr Kroll. Könnten Sie mir ein Hotel empfehlen? Ich bin alles andere als reich. Also ein bescheidenes Zimmer.“

„Hm – wenn Sie hier bei uns logieren wollten, Herr Doktor … Ich könnte Ihnen unseren sogenannten Salon herrichten. Über den Preis werden wir einig werden.“

Steputat nahm das Anerbieten mit Dank an.

Dann kam er nochmals auf die silberne Scheibe zu sprechen. „Ich vermute dahinter irgendein Geheimnis, Herr Kroll. Wie denken Sie darüber?“

Der Detektiv nickte. „Ohne Zweifel ist ein Geheimnis damit verknüpft. Einer Silberplatte wegen hätte Feodor Orlow wohl kaum diese kostspieligen Anstrengungen gemacht, die Scheibe an sich zu bringen. Das Geheimnis muß auch außerordentlich wertvoll sein.“

„Worin mag nur der Wert der Silberplatte liegen?“ meinte Steputat grübelnd. „Ich habe mir über diese Frage schon den Kopf genügend zerbrochen. Ich finde keine Erklärung.“

Die beiden Männer schwiegen, und Steputat verabschiedete sich dann.

Er schritt die Linden entlang, fuhr dann mit einer Straßenbahn zum Alexanderplatz. Er wollte zu Kommissar Tonhard, den er schon von der Kneipe in der Wilmersdorfer Straße aus durch Fernsprecher gebeten hatte, den Bahndamm auch auf der anderen Seite nach Spuren absuchen zu lassen.

Tonhard begrüßte den Doktor mit kräftigem Händedruck.

„Natürlich das übliche Pech!“ meinte er. „Es hat dort wie mit Eimern gegossen. Der Polizeihund versagte. Jede Fährte ist verwischt.“

Steputat wollte jetzt doch nicht länger mit dem zurückhalten, was er von Scholem Grün erfahren hatte.

Tonhard hörte schweigend zu. Dann sagte er, indem er auf einen mit Maschine geschriebenen Bericht auf seinem Schreibtisch deutete:

„Aus Eydtkuhnen, von der Grenzwache, Herr Doktor. Ein Mann, der eine blinkende Scheibe über die Grenze hinweg einem bärtigen Buckligen zuwarf, ist drüben erschossen worden. Der Bucklige, also die Gräfin, ist unseren Posten entkommen. – Sie haben uns viel genützt, Herr Doktor. Am wichtigsten ist, daß wir durch Kroll auf Feodor Orlow aufmerksam geworden sind. Ich werde Kroll bitten, sich um diesen Feodor nicht weiter zu kümmern. Das besorgen wir jetzt – und besser.“

„Armer Kroll! Er ist auf den Verdienst nur zu sehr angewiesen. Der Mann hat sechs Kinder.“ Steputat bedauerte den Detektiv aufrichtig.

„Weshalb tritt Kroll nicht bei uns ein?!“ meinte Tonhard achselzuckend. „Erprobte Kräfte sind uns stets genehm. Aber diese Leute wollen ihre Selbständigkeit nicht aufgeben. Immerhin, ich werde mit Kroll sprechen, falls gegen ihn keine Bedenken vorliegen. Ihnen, Herr Doktor, lasse ich Nachricht zukommen, falls wir durch die Beobachtung des Grafen Feodor irgend etwas erreichen. Sie bleiben ja noch über die Pfingstfeiertage hier. Auf Wiedersehen.“

* * *

Als Doktor Steputat, nachdem er noch schnell in einem Restaurant Mittag gegessen hatte, gegen zwei Uhr in der Wohnung Krolls anlangte, war sein Zimmer bereits in Ordnung gebracht. Kroll war nicht daheim. Todmüde sank Steputat auf den Diwan und schlief sofort ein. Frau Anna Kroll wollte ihn um halb fünf wecken.

Er erwachte jedoch ganz von selbst um vier Uhr, wusch sich gründlich, rasierte sich, legte die Maske des Rotbarts wieder an und ließ sich von Frau Anna Kaffee bringen.

Um fünf Uhr brach er auf. Er hatte sich für halb sechs mit Scholem in derselben Kneipe verabredet.

Vor der Haustür blieb er einen Augenblick stehen und schaute sich um.

Am Eisengeländer des Bollwerks des Schiffbauerdamms lehnte eine armselige Gestalt. Scholem Grün!

Erst jetzt gewahrte Steputat den Blassen, wollte auf ihn zusteuern, sah Scholems warnenden Wink und folgte dem Davonschlendernden in einiger Entfernung. Dann, an einer leeren Stelle des Bollwerks, ließ Scholem plötzlich ein Stück Papier fallen.

Steputat hob es auf. Es war ein kleiner Brief, der durch ein Stückchen Eisen beschwert war.

Auf dem Umschlag stand:

„Mir nich hinter bleiben. Mer werdn beobachtet.“

Steputat steckte den Brief in die Tasche.

Er sollte Scholem also nicht folgen. Es waren Spione da.

Hm – Spione?! Und dann hatte Scholem den Brief fallen lassen, was doch einem Spion kaum entgangen sein konnte, der mithin nun genau wußte, daß zwischen dem Rotbart und Scholem ein geheimes Einverständnis bestand?! – Das war also von Scholem eine ganz ungeheuerliche Dummheit gewesen, diese Art von Briefübermittlung, eine Dummheit, die dem geriebenen jungen Menschen gar nicht ähnlich sah!

Als Steputat sich dies überlegte, stieg auch sofort ein ganz leiser Verdacht in ihm auf, es könnte sich hier vielleicht lediglich um eine etwas plump geratene, gegen ihn selbst gerichtete List Scholems handeln.

Er schaute sich um. Er sah nichts als spielende Kinder und ein paar Frauen, die ihm völlig harmlos erschienen.

Indessen hatte Scholem bereits die Weidendammerbrücke erreicht und tauchte in dem Menschenstrom der Friedrichstraße unter.

Derselbe ungewisse Verdacht trieb Steputat jetzt rascher vorwärts. Es war, als gehorchte er einer inneren Eingebung, als er nun ebenfalls nach links in die Friedrichstraße einbog und sofort auf die andere Seite hinüberschritt. Er hatte Glück, erspähte den Blassen, kam bald auf eine Höhe mit ihm und konnte nun beobachten, wie jener sich mehrmals vorsichtig überzeugte, ob man ihm folgte – man! Und das konnte nur er selbst, Gustav Steputat, sein.

Der Doktor nahm jetzt den Brief hervor, um ihn zu überfliegen. Dabei ließ er Scholem nicht einen Moment aus den Augen.

Auf einem halben Bogen Briefpapier stand da:

Herr Dokter! Auch der Graf Alexander is nu verschwunden. Er hot in sein Zimmer e Schreiben for mir zorückgelassen, daß er mißte flichten und daß er mir for allens nochmals danke. Als ich dann das Haus Wexstraße Nr. 57 hob verlassen, ist da gewesen gegenüber e Mensch, wo mir nachschlich. Hernacher hob ich gemerkt, daß es waren sogar zwai Laite. Herr Dokter, ich fercht’ mir jetzt. Ich will nix mehr hob’n ßu tun mit die ganze Sach’. – Scholem Grün.

Steputat wußte sofort, was er von diesem Schreiben zu halten hätte. Es war von Anfang bis zu Ende Schwindel. Scholem wollte ihn einfach loswerden, wollte nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten – das war’s!

Aber – woher dieser plötzliche Gesinnungswechsel bei dem Blassen, der doch genau dasselbe Interesse an einer Ergreifung der Mörder Wera Orlows hatte wie er, Gustav Steputat! –

Ah – Scholem hatte kehrt gemacht …!

Steputat tat dasselbe. – Warte, dachte er, ich komme Dir schon hinter Deine Schliche!

Scholem bog rechts ab – den Schiffbauerdamm entlang.

Das war unangenehm für Steputat. Hier war es schwer, vor dem hin und wieder immer noch argwöhnisch Zurückblickenden sich zu verbergen.

Aber der Doktor besaß einige Erfahrungen, war ja kein Neuling mehr auf diesem nervenkitzelnden Gebiet kriminalistischer Kunstgriffe.

Rasch trat er in ein Haus ein, entfernte den Bart, nahm die Brille ab, drückte einen Kneifer auf die Nase, zog den Mantel aus, hängte ihn über den Arm und gab dem Filzhutkopf eine andere runde, niedrigere Form.

Stark hinkend trat er wieder auf die Straße hinaus.

Scholem hatte hundert Schritt Vorsprung, drehte sich nach einer Weile um, bemerkte nur zwei Arbeiter und einen bartlosen lahmen Herrn und ging beruhigt und in rascherem Tempo weiter.

Steputat verzog das Gesicht zu einem zufriedenen Lächeln. Er merkte: Scholem war arglos geblieben!

Als dieser dann eine kleine Konditorei in der Invalidenstraße betrat, schlenderte Steputat auf der anderen Seite unschlüssig auf und ab, bis eine einfache Frau mit einem Marktkorb am Arm ihn plötzlich ansprach.

„Ich werde hineingehen, Herr Doktor. – Erkennen Sie mich nicht?“

„Kroll?“

„Ja – Magnus Kroll. – Warten Sie …“

Und der Detektiv überquerte die Straße, verschwand in der Tür der Konditorei.

Steputat war noch etwas verwirrt über dieses unerwartete Eingreifen des Mannes, den der Kommissar Tonhard doch eigentlich hatte ausschalten wollen. Er mußte seine Gedanken erst sammeln. Krolls Maske war glänzend. Das war eine waschechte, biedere, einfache Frau aus dem Volke. – Kein Zweifel: Kroll war tatsächlich hinter Scholem her gewesen! Wie aber war er auf Scholem aufmerksam geworden? Wo hatte er ihn getroffen? –

Kroll kaufte Kuchen, schaute sich dabei nach Scholem Grün um. Der saß im Nebenraum mit einem blonden eleganten Herrn zusammen an einem der Marmortischchen.

Kroll stierte hin – glaubte an eine Sinnestäuschung …

Dann bezahlte er die acht Stückchen Blechkuchen und verließ die Konditorei – verließ sie ganz verstört, ganz ratlos …

Und stand nun vor Steputat, der ihn forschend anblickte und leise fragte:

„Was machen Sie für ein Gesicht? Was gibt’s denn?“

„Tote werden lebendig, Herr Doktor,“ flüsterte der Detektiv kopfschüttelnd. „Dort in der Konditorei sitzt Scholem Grün mit Leo Horbeck an einem Tisch in eifrigster Unterhaltung …!“

Steputat war sprachlos. „Wie – – mit wem? Leo Horbeck?“

„Derselbe! Ihr Freund! Er ist’s! Ein Irrtum ist ausgeschlossen.“

Steputat schob den Hut ins Genick, fuhr sich mit der Hand über die Stirn …

„Bestätigen Sie mir bitte, daß ich nicht mehr auf dem Diwan in Ihrem Salon liege und träume, Herr Kroll,“ meinte er stockend. „Bin ich wirklich wach?“

„Genau so wach wie ich.“

„Dann – dann will ich Horbeck sofort …“

„Halt – nichts übereilen, Herr Doktor! Ich möchte mir die Sachlage erst klarmachen.“

„Was ist da klarzumachen?! Horbeck lebt! Alles andere wird sich aufklären.“

„Hm – glauben Sie?! Wenn Sie jetzt dort in der Konditorei erscheinen, wird Horbeck, fürchte ich, keineswegs angenehm überrascht sein. Überlegen Sie sich mal folgendes, prüfen Sie es nach allen Seiten: ich stelle vor drei Stunden fest, daß Graf Feodor seine Wohnung in der Regensburger Straße gestern abend aufgegeben hat. Angeblich ist er nach Schweden abgereist. Da ich dort nichts weiter ermitteln kann, begebe ich mich nach der Wexstraße, will unter einem Vorwand mich bei Frau Norkert erkundigen, ob nicht ein Zimmer der Wohnung zu vermieten sei. Als ich gerade an der Flurtür läuten will, höre ich drinnen im Wohnungsflur eine helle Frauenstimme rufen: „Herr Grün, nur gut, daß Sie gekommen sind. Der Graf ist weg. Er hat einen Zettel für Sie zurückgelassen.“ – Darauf erwidert Scholem: „Geben Se mir den Zettel.“ Das weitere[6] verstand ich nicht. Ich machte kehrt und hielt unten vor dem Hause Wache. Scholem blieb etwa eine Viertelstunde oben. Dann fuhr er mit der Straßenbahn bis zum Reichstaggebäude, ging von hier zu Fuß …“

„… nach dem Schiffbauerdamm …“

„Ja – und da kamen Sie gerade nach Hause, erschienen nachher in Hemdärmeln oben am Fenster und zogen die Vorhänge zu. Da mag Scholem sich gesagt haben, daß Sie bei mir ein wenig sich ausruhen wollten. Er setzte sich auf das Bollwerkgeländer und wartete geduldig. Ich auch. Bis Sie dann endlich vor die Tür traten und nachher Scholems Brief aufhoben. – Nun geben Sie mir mal diesen Brief.“

„Bitte …“ – Steputat hatte bereits erkannt, daß Magnus Kroll dieses Wiederauftauchen Leo Horbecks in ganz besonderer Weise einschätzte. Er blickte Kroll gespannt an.

„So – danke,“ meinte der Detektiv. „Dieser Brief ist ein Rätsel.“

„Rätsel? Wieso? Die Angaben stimmen doch: der Graf ist verschwunden und hat auch für Scholem ein Schreiben zurückgelassen. Der in dem Briefe erwähnte „Mensch“ sind Sie, Herr Kroll.“

Kroll lächelte. „Gestatten Sie: der Brief wurde von Scholem wahrscheinlich oben in der Norkertschen Wohnung geschrieben, also bevor Scholem mich unten vor dem Hause gesehen hatte. Jedenfalls hatte Scholem den Brief fix und fertig in der Tasche, als er das Haus in der Wexstraße verließ. Ich hätte es ja sehen müssen, wenn er ihn erst nachher geschrieben hätte. Er wußte also gar nicht, ob Spione vor dem Hause lauerten. Er hat sie einfach erfunden, erdichtet, und dies nur zu dem Zweck, um eine Begründung für die letzten Sätze des Briefes zu haben, in denen er „sich ferchtet“ und Ihnen den Laufpaß gibt, was doch grober Schwindel ist, da er sich ja, wie nun feststeht, schon vorher dort drüben in der Konditorei mit Leo Horbeck verabredet gehabt hatte – mit Horbeck, den er als ernsthaften Verehrer der Gräfin Wera haßt – aus Eifersucht! Und nun sitzt er mit dem Nebenbuhler dort drüben in angeregtestem Gespräch in einer Ecke. Nennen Sie das „mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben wollen“?! – Bitte – äußern Sie sich!“

Steputat blieb stumm, zuckte nur die Achseln.

Kroll sprach ebenso leise und eindringlich weiter: „Ich will Ihnen jetzt noch nicht sagen, was ich von alledem halte. Ich möchte Sie nur bitten, auf meine Vorschläge einzugehen …“

* * *

Scholem erschien nach etwa zehn Minuten allein auf der Straße und schritt in Richtung des Lehrter Bahnhofs davon. Kroll folgte ihm.

Nach weiteren fünf Minuten tauchte auch Horbeck auf.

Steputat stand eine Strecke entfernt auf der anderen Seite. Nun sah er: es war Horbeck! – Der fand sehr bald ein leeres Auto und befahl dem Chauffeur: „Präsidium – Alexanderplatz!“

Steputat hatte bereits einen anderen Kraftwagen bestiegen. Er war neugierig, wohin die Fahrt gehen würde. Er hatte dem Chauffeur Anweisung gegeben, das Auto Horbecks im Auge zu behalten.

Horbeck verließ den Kraftwagen vor dem Hauptportal des Polizeipräsidiums, ging hinein und fragte nach Kommissar Tonhard.

Ein Beamter führte ihn über Treppen und Flure in einen Seitenflügel des großen Gebäudekomplexes.

Als Horbeck das Zimmer Tonhards betrat, hielt dieser noch die mit Tinte ausgeschriebene Besuchskarte in der Hand, die der Kassierer ihm hineingeschickt hatte.

Der Kommissar musterte Horbeck mit einem gewissen Argwohn.

„Mein Name ist Leo Horbeck,“ stellte der blonde schlanke Herr sich vor. „Ich sehe, daß Sie etwas erstaunt sind, Herr Tonhard. Ich las in einer der bereits zur Ausgabe gelangten Abendzeitungen, daß man mich für tot hält und daß Sie die Ermittlungen …“

Tonhard hatte auf einen Stuhl gedeutet. „Bitte, nehmen Sie Platz. Ich bin allerdings aufs höchste überrascht, daß Sie …“

Es klopfte sehr kräftig.

„Herein!“ rief der Kommissar ein wenig unwillig.

Die Tür ging auf. Steputat stand auf der Schwelle, spielte nun seine Rolle geradezu in der Vollendung, prallte bei Horbecks Anblick zurück, streckte die Hände wie abwehrend aus …

„Leo – – Leo, Du …?!“

Horbeck eilte auf ihn zu …

„Wie – Du in Berlin, mein alter Gustav?!“ Und er ergriff des Doktors Hände und drückte sie herzlich. „Bist Du meinetwegen hierher gekommen? Hast Du ebenfalls gefürchtet, ich könnte beseitigt worden sein?“

Steputat mußte sich die größte Mühe geben, bei dieser merkwürdigen Begrüßung nicht aus der Rolle zu fallen. Es war ja undenkbar, daß Scholem Grün Horbeck nicht mitgeteilt haben sollte, daß er – Steputat – sich in Berlin befände. Weshalb also tat Horbeck so, als ob er den Freund hier nicht vermutet hätte – weshalb in aller Welt?!

„Ich … ich habe Dir viel zu erzählen, Leo,“ meinte er verwirrt, um nur etwas zu sagen. „Die Hauptsache ist: Du lebst. Du bist frisch und gesund!“

„Setzen die Herren sich doch,“ meldete sich Tonhard, dem daran lag, recht schnell von Horbeck Aufschluß über die Vorgänge in der Kabine Nr. 4 zu erhalten.

Horbeck berichtete dann folgendes:

Er war eingeschlafen, obwohl er sich alle Mühe gegeben hatte, munter zu bleiben. Plötzlich hatte ihn ein starker Druck auf Armen und Beinen geweckt. Er merkte, daß man ihn auf dem Bett festhielt und daß ihm ein Tuch über dem Kopfe lag, spürte den süßlichen Geruch von Chloroform und fiel in tiefe Bewußtlosigkeit, ohne seine Gegner auch nur gesehen zu haben. Dann kam er erst gegen neun Uhr morgens in einem Wäldchen unweit der Stadt Kreuz wieder zu sich und fuhr mit dem nächsten Zuge nach Berlin, traf hier gegen drei Uhr ein und begab sich in ein kleineres Hotel am Bahnhof Friedrichstraße, wo er stets abstieg. Als er in der Zeitung den kurzen Bericht über das Doppelverbrechen im D-Zuge gelesen hatte, war er sofort nach dem Polizeipräsidium geeilt.

„Das wäre alles, Herr Kommissar,“ schloß er seine Angaben, deren teilweise Unglaubwürdigkeit Gustav Steputat mit ein paar Fragen sofort hätte aufdecken können.

Steputat blieb jedoch stumm. Er dachte an Magnus Kroll. Wie richtig dieser doch Horbecks Verhalten vorausgesehen hatte! Kroll hatte ihm gesagt, bevor sie sich trennten: „Passen Sie auf, Herr Doktor, – Horbeck wird diese Zusammenkunft mit Scholem Grün unterschlagen!“

So beschränkte er sich denn darauf, Horbeck zuzunicken und nur teilnehmend zu äußern: „Gott sei Dank, daß Du mit einem blauen Auge davongekommen bist, Leo!“ –

Tonhard hegte keinerlei Zweifel an Horbecks Bericht. Wie sollte er auch?!

Er fragte noch dieses und jenes. Doch Horbeck konnte angeblich weitere Einzelheiten nicht angeben.

Horbeck unterschrieb dann das aufgenommene Protokoll ohne Zögern. Steputat hatte geglaubt, der Freund würde Ausflüchte gebrauchen, um seinen Namen nicht unter ein Schriftstück setzen zu müssen, dessen Inhalt doch, was den letzten Teil über Horbecks Tun und Lassen nach seinem Eintreffen hier in Berlin anging, zweifellos Entstellungen und Unrichtigkeiten enthielt. Aber Horbeck hatte mit einer Ruhe unterschrieben, als wäre sein Gewissen nicht im mindesten belastet.

Nach kurzen Bemerkungen Tonhards über der Gräfin Wera vermutliches Schicksal – der Kommissar nahm hier tatsächlich Mord an – und über die silberne Scheibe fragte er Horbeck:

„Sie sind doch nach der Einäscherung Ihrer Frau Mutter häufiger mit der Gräfin zusammengewesen. Hat sie Ihnen gegenüber jemals ihren Bruder Feodor erwähnt?“

„Ja, und zwar in einer für diesen nicht eben günstigen Weise. Der älteste Orlow muß ein sehr leichtsinniger Mensch gewesen sein. Der alte Graf hatte ihm das Haus verboten und sich von ihm völlig losgesagt. – Wie kommen Sie jetzt auf Feodor Orlow, Herr Kommissar? Der ist tot.“

„So ahnt die Gräfin also nicht, daß dieser Feodor die treibende Kraft dieser ganzen Intrigen ist, Herr Horbeck? Er lebt nämlich. Wir wissen, daß er und vier andere Russen in höchst verwerflicher Weise seinen Vater und seine Schwester dauernd in Angst durch die stete Beobachtung gehalten haben und nun auch einzig und allein als Mörder der Gräfin …“

Horbecks verblüfftes Gesicht ließ ihn den Satz nicht beenden.

Steputat sah: diese Verblüffung war echt!

„Unmöglich!“ rief Horbeck dann. „Die Gräfin sollte davon nie etwas gemerkt haben, daß ihr Bruder mit im Spiele war?!“

„Sie hat nichts gemerkt. Das steht nun wohl fest, Herr Horbeck.“

Gleich darauf verließen die Freunde das Präsidium.

* * *

Die einfache Frau mit dem Marktkorb am Arm saß in der Straßenbahn und aß behaglich ein Stück Blechkuchen nach dem anderen. Drei Bänke vor ihr saß Scholem Grün.

Die Straßenbahn fuhr nach Wilmersdorf, nach der Gegend der Wexstraße. –

Magnus Krolls Hunger war gestillt. Nun hielt er es wieder ein paar Stunden aus. – Er lächelte vor sich hin …

Dieser Doktor Steputat überschaute die Sachlage nicht! Und – sie war doch so einfach, so mit der Hand zu greifen! – Nun, mochte Steputat nur im unklaren bleiben über die wahren Zusammenhänge des Ganzen! Desto mehr würde nachher die Lösung geradezu wie eine Bombe wirken! –

Der Wagen hielt am Kaiserplatz. Scholem Grün stieg aus.

* * *

Steputat und Horbeck bogen in eine Seitenstraße ein, um dem Gewühl des Alexanderplatzes zu entgehen. Sie hatten bisher geschwiegen, beide etwas verlegen, beide aber auch bemüht, diese Verlegenheit zu verbergen.

Steputat hielt es für angebracht, zunächst noch Wera Orlow zu erwähnen, bevor er auf all das andere zu sprechen kam.

„Mein armer Leo, Du darfst noch nicht alle Hoffnung aufgeben, daß die Gräfin noch lebt,“ meinte er etwas unsicher und schob seinen Arm in den des Freundes. „Diese elenden Banditen können die Gräfin vielleicht ebenfalls nur betäubt haben. – Du kannst Dir denken, wie erstaunt ich war, als ich von jenem Scholem Grün erfuhr, daß Dein Herz Dich nach Berlin getrieben hatte. Und ich – ich hatte Dich in so schmählichem Verdacht gehabt, Leo. Ich will ehrlich sein: ich fürchtete, Du hättest mit Verlust spekuliert! Deshalb folgte ich Dir verkleidet.“

Horbeck hielt den Kopf gesenkt.

„Willst Du mir einen Gefallen tun, Gustav?“ meinte er leise.

„Jeden …!“

„Dann – kümmere Dich um diese Dinge nicht mehr.“ Horbecks Stimme klang rauh. Er drückte den Arm des Freundes wie in aufwallender Herzlichkeit an sich. „Nein – kümmere Dich um all das nicht mehr! Laß … laß mich allein meinen Weg gehen. Kehre nach Königsberg zurück.“

Steputat hatte mit dieser Bitte niemals gerechnet. Was sollte er tun?!

„Wenn Du es wünschest – gut!“ erwiderte er langsam. „Aber – wird es Tonhard nicht auffallen, wenn ich plötzlich heimkehre?! Überlege Dir das!“

„Schütze irgend etwas vor,“ sagte Horbeck gequält. „Oder – bleibe auch hier. Aber … spüre mir nicht nach! Versprich mir das.“

All das Unausgesprochene erhob sich allmählich wie eine Scheidewand zwischen den beiden Männern.

„Weshalb bist Du nicht offen mir gegenüber, Leo?!“ meinte Steputat, eine Antwort umgehend. „Du weißt, ich kann schweigen. Und ich werde schweigen.“

„Du dürftest es nicht! Es ist genug, wenn einer sich straffällig macht.“

Steputat dachte an das Protokoll, das Horbeck unterzeichnet hatte – eine falsche Aussage! Nur das konnte Horbeck bei diesem „straffällig“ gemeint haben. – Was – was nur mochte sich in der Schlafwagenkabine abgespielt haben? Ohne Zweifel ganz etwas anderes, als Horbeck zu Protokoll gegeben!

Horbeck war stehen geblieben. Jetzt blickte er Steputat an.

„Versprich mir, daß Du keinen Versuch machst, mir zu folgen,“ sagte er überhastet. „Ich … ich bedarf Deines Schutzes nicht mehr. Wir müssen uns trennen.“

Steputat fühlte plötzlich eine ungewisse Angst in sich aufsteigen. Leo hatte fraglos irgend etwas vor, das geheim bleiben sollte, vielleicht etwas, was Gefahren in sich barg.

Er kam zu einem Entschluß. So schwer es ihm wurde, er mußte heucheln.

„Ich dränge mich niemandem auf,“ sagte er, den Verletzten spielend. „Ich werde abreisen. – Auf Wiedersehen, Leo.“

Und er machte kurz kehrt und schritt davon.

Horbeck schaute ihm nach, schien ihm nacheilen zu wollen, zögerte, wandte sich um und ging in entgegengesetzter Richtung weiter.

Steputat war kaum um die nächste Ecke verschwunden, als er zwei auf der Straße spielende Knaben anrief. Es waren zwei richtige Berliner Rangen, vorlaut, frech, schlau und stets auf Verdienst bedacht.

Ein paar Worte genügten, dazu für jeden als vorläufige Bezahlung ein Fünfhundertmarkschein. –

Horbeck war immer noch mißtrauisch, blickte sich wiederholt um, gewahrte jedoch nichts von Steputat. Die Straße war wenig belebt. Er hätte ihn sehen müssen. Beruhigt setzte er seinen Weg fort.

Und doch hatte er drei Verfolger in Abständen hinter sich, die einander durch Zeichen verständigten.

Als Horbeck eine Straßenbahn bestieg, kletterte hinter ihm ein kleiner ärmlich gekleideter Junge auf die vordere Plattform, während ein Auto mit hochgeklapptem Vorderverdeck demselben Wagen beständig nachfuhr.

* * *

Scholem Grün läutete an der Norkertschen Flurtür. Frau Hanni Norkert ließ die Sicherheitskette vorgelegt, blickte durch das Guckloch, erkannte Scholem und öffnete die Tür eine Handbreit.

„Ich ziehe mich gerade um, Herr Grün,“ flüsterte sie. „Ich soll Ihnen bestellen, daß alles in Ordnung ist.“

„Nu – mehr wollt ich nich wissen! Adjes …“

Frau Hannis allerliebstes Puppengesichtchen erschien in der Türspalte.

„Herr Grün – Herr Grün, Fritz wollte Sie vorher noch sprechen.“

Scholem zuckte die Achseln. „Das hätt’ kanen Zweck – in diesem Falle nich. Das is nix for uns, Frau Norkert. Adjes!“

Er ging die Treppe hinab, trat auf die Straße hinaus, spähte argwöhnisch umher und schlich davon, dem Ringbahnhof Friedenau-Wilmersdorf zu.

Inzwischen hatte Magnus Kroll, der mit seinem Marktkorb vor der Tür eines nahen Gemüseladens ein Pfund Frühkirschen gekauft hatte, zwei Männer bemerkt, die auf einem Balkon dem Hause Nr. 57 gegenüber standen und Zigaretten rauchten.

Er hatte ganz zufällig hinaufgeblickt, weil er eben nach alter Gewohnheit die Augen überall hatte. Er senkte auch sofort wieder den Kopf, schob eine Kirsche in den Mund und begann mit der Gemüsehändlerin um ein Bund Petersilie zu feilschen. Seine Gedanken waren auf dem Balkon geblieben – dort, wo die beiden Herren standen, von denen der eine mit zu den Leuten gehörte, die den beiden Orlows nachgestellt hatten und noch nachstellten.

„Sie haben sich hier also eingenistet!“ dachte Kroll, erstaunt über die Findigkeit dieser Russen, zugleich auch triumphierend, da er sie nun wieder glücklich aufgespürt hatte. „Nun heißt es schlau sein.“

Die beiden Herren waren vom Balkon verschwunden und rasch in das Zimmer eingetreten, wo in einem Korbsessel ein vornehm aussehender älterer Herr mit grauem Spitzbart, einen hellen Filzhut auf dem Kopfe, wartend saß.

„Jetzt ist die Reihe an Dir,“ sagte der eine hastig zu dem Graubärtigen in russischer Sprache. „Der Jude ging nach der Unterführung zu.“

Der Elegante eilte davon. – Inzwischen hatte Kroll, der sich in seiner Verkleidung ganz sicher fühlte, auf der anderen Straßenseite Scholems Verfolgung aufgenommen. Behaglich Kirschen essend und die Kerne auf den Fahrdamm werfend, schlürfte er nach Art älterer Frauen träge dahin.

Vor dem Bahnhof Friedenau-Wilmersdorf wurde er des Eleganten ansichtig.

Er lächelte still. Das war ja Feodor Orlow, unverkennbar an der überschlanken Gestalt.

Scholem löste eine Fahrkarte dritter Klasse nach Bahnhof Friedrichstraße. Sehr bald kam ein Zug nach Westend, und Scholem bestieg eins der überfüllten Raucherabteile. Eingekeilt zwischen Männern und Frauen, denen schon die Pfingststimmung aus den Augen leuchtete, stand er in der Nähe des Fensters. Es gelang ihm, eine Zigarette anzuzünden. Gierig sog er den Rauch ein. Er fühlte sich schlaff und bedrückt, war dazu noch mit sich selbst unzufrieden.

Wera … Wera Orlow! Alles – alles für sie! Und den Lohn würde ein anderer ernten, einer, dem sein eifersüchtiger Haß bis vor wenigen Stunden den Tod heimlich gewünscht hatte. Und nun – nun war der Haß erloschen. Und daß er erstorben, kam Scholem wie etwas Unfaßbares vor, wie etwas Widernatürliches.

Finster stierte er durch eine Lücke der vor ihm schwankenden Köpfe der Mitreisenden auf die vorbeigleitenden Häuser und unbebauten Flächen hinaus.

Der Schmerz ward für Sekunden wieder zu besinnungsloser Eifersucht. Scholem reckte sich höher. Er – er hatte die Fäden in seiner Hand! Er konnte den Dingen einen anderen Lauf geben, konnte Hindernisse auftürmen …

Und sank wieder in sich zusammen, fühlte, daß er die Kraft zum Schlechten nicht besaß, daß seine Liebe zu Wera Orlow durch diese Gedanken entweiht wurde.

Linde Wärme strahlte in seiner Brust auf, das Bewußtsein, daß seine Liebe nichts forderte, selbstlos war. Und Scholem Grün begrub in diesem Augenblick den letzten Rest seiner unsinnigen Herzenswünsche.

Wie ein Sieger betrat er dann den Wartesaal dritter Klasse des Bahnhofs Friedrichstraße. – –

Kurz vorher war auch Doktor Steputat mit Hilfe seiner beiden jugendlichen Spione auf Horbecks Spur bis hierher gelangt, hatte den einen der kleinen gerissenen Burschen nun in den Wartesaal geschickt, damit der Junge eine Tafel Schokolade am Büfett kaufen und feststellen könnte, was Leo Horbeck dort treibe.

Nach einer Weile kehrte der Knabe zurück.

„Er sitzt mit einem älteren Herrn und mit einer verschleierten Dame an’n Tisch und trinkt Bulljong,“ meldete er. „Jetzt kam noch ’n Jud und setzte sich zu ihnen.“

Steputat war wie vor den Kopf geschlagen durch diese Nachricht. – Leo und eine Dame, ein alter Herr und ein Jude – –?! Wer war die Dame? Wer konnte es sein?

Da sagte Magnus Kroll leise neben ihm:

„Herr Doktor, wenn die Dame den Schleier lüften würde, dürfte Wera Orlows Gesicht zum Vorschein kommen.“

Steputat starrte die Frau mit dem Marktkorb an …

„Sie auch wieder hier, Kroll?“

„Es findet sich alles zusammen, was zusammengehört. – Schicken Sie jetzt Ihre Hilfsdetektive weg, Herr Doktor. Wir brauchen sie nicht mehr. Wir werden …“

Steputat hatte sich nach den beiden Jungen umgeschaut. Die waren verschwunden, hatten sich mit dem Reste des Geldes aus dem Staube gemacht.

„… werden nun wohl auch die silberne Scheibe bald zu sehen bekommen,“ führte Kroll den Satz zu Ende. „Bleiben Sie hier stehen. Sie können von hier die Türen beobachten. Ich gehe hinein und …“

„Scholem!“ flüsterte Steputat und drehte sich hastig um, tat so, als studierte er die Fahrplantafel. –

Scholem Grün folgte ein schlanker bartloser älterer Herr, der einen kleinen schäbigen Koffer trug.

Kroll beobachtete die beiden. Der Herr mit dem Koffer war Graf Alexander Orlow.

„Ihnen nach, Herr Doktor …!“ meinte der Detektiv überstürzt. „Es sind noch zwei in der Nähe – zwei von der Gegenpartei!“

Der Graf nahm ein Auto und fuhr mit dem Koffer die Friedrichstraße nach den Linden hinab. Scholem Grün schien nur die Abfahrt des alten Herrn überwacht zu haben und blieb zurück.

Schäbig, armselig stand er, eine Zigarette im Mundwinkel, an der Bordschwelle und schaute dem Kraftwagen nach. Dann zuckte er zusammen und hielt den Atem an vor Erregung …

Also doch!! Die mieße Bande war doch wieder zur Stelle! Und – wahrhaftig – ein Privatauto hatten sie zur Verfügung! –

Scholem rief einen leeren Kraftwagen an.

„Birkenstraße Nummer ains, Schoffehr …!“

„Bitte – Vorausbezahlung,“ sagte der Chauffeur, den blassen, häßlichen Menschen geringschätzig musternd.

Scholem war nicht empfindlich – längst nicht mehr.

„Hier ist Geld! Los – –!! Fohren Se wie der Teifel! Se kriegen e Trinkgeld.“

Es begann zu regnen. Von Nordwest her schob sich eine pechschwarze Wolkenwand über Berlin hinweg. Es wurde dunkel. –

Graf Orlows Auto glitt in das vornehme, stille Tiergartenviertel hinein, hielt vor einem der letzten Häuser der Birkenstraße.

„Warten!“ sagte der Graf kurz, nahm den Koffer und durchschritt die Gitterpforte des Vorgartens.

In der ersten Etage wohnte hier der Juwelier Gliese, einer der bekanntesten Edelmetallhändler Berlins.

Gliese führte den Besucher in den Salon.

„Mein Filialleiter Norkert hat Sie angemeldet, Herr Graf. Ich bin also von allem unterrichtet und halte das Geld bereit. Ich bitte nur noch um ein paar Ausweise, die Sie genügend legitimieren. – Daß die Ehrenscheibe reines Platin ist, wissen Sie bestimmt?“

„Gewiß … In der linken Ecke ist auch eingestanzt, daß es Platin ist.“ – Graf Orlow öffnete den Koffer und holte die in braunes Packpapier gehüllte Scheibe heraus, entfernte das Papier und reichte sie dem Juwelier.

Gliese wog sie in der Hand. Sein Gesichtsausdruck änderte sich …

„Das ist niemals Platin, Herr Graf, – leider! Der Zar ist oft betrogen worden, so auch hiermit. Er mag Platin als Material befohlen haben. Dies ist nicht einmal eine Silberlegierung. Die Scheibe ist viel zu leicht für ein Edelmetall. Wäre sie wirklich Platin, hätte ich den gewünschten Betrag ohne weiteres bezahlt.“

Grenzenlose Enttäuschung malte sich in den faltigen Zügen des alten Herrn.

„Unmöglich!“ murmelte er. „Irren Sie sich nicht?“

„Ausgeschlossen!“

Er nahm ein Fläschchen vom Tisch, träufelte etwas Säure auf die Rückseite der Scheibe, wo die Widmung eingraviert war, über ihr der russische Adler.

Die Säure färbte sich grün, griff das Metall an.

„Bitte, Herr Graf …! Ein Edelmetall hält der Salpetersäure stand. – Es tut mir leid … Die Scheibe ist wertlos …“

Graf Orlow tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn …

* * *

Magnus Kroll und Steputat hatten ebenfalls das Privatauto bemerkt, in dem nun zwei Herren, von denen einer der Graf Feodor Orlow war, dem alten Grafen folgten.

Sie hatten Glück, fanden auch für sich sofort einen freien Kraftwagen und fuhren hinter dem Privatauto drein.

Kroll hatte seinen Marktkorb auf den Schoß genommen, blinzelte den Doktor jetzt an und meinte:

„Sie sind mit Fragen zum Platzen gefüllt. Und dabei gibt’s doch kaum was zu fragen. Die Sache ist doch so klar. Die Gräfin Wera, der Bucklige, hat sich in Kabine Nr. 4 Leo Horbeck zu erkennen gegeben. Wahrscheinlich verlobten sie sich dort auch kurzer Hand, berieten dann, wie sie den im Zuge befindlichen Feinden der Orlows entgehen könnten, die Wera noch immer für politische Geheimagenten hielt. Die Blutflecken auf dem oberen Bett waren unschwer hervorzurufen. Horbeck mag sich einen kleinen Schnitt beigebracht haben. Dann wurde die Notbremse gezogen, und die beiden sprangen mit der silbernen Scheibe zum Fenster hinaus. Horbeck hat die Gräfin dann in die Arme genommen und sie getragen – vielleicht bis zu einer Chaussee, wo die Spuren nicht mehr zu erkennen waren. Sie fuhren nun mit einem anderen Zuge nach Berlin weiter. – Wera mag ihrem Vater darauf Nachricht gegeben haben, daß sie ihn im Wartesaal des Bahnhofs Friedrichstraße erwarte. Scholem Grün wurde eingeweiht, der wahrscheinlich gerade bei Norkerts war. Aus Vorsicht traf Scholem dann zunächst nur mit Horbeck in der Konditorei in der Invalidenstraße zusammen, um alles weitere zu verabreden – zweifellos über die Veräußerung der Scheibe, die vielleicht aus einem dem Silber ähnlichen Metall besteht – aus Platin!“

Steputat nickte. „Ja – dann wäre alles erklärt, dann hätte die Scheibe allerdings bedeutenden Wert.“

„Wenn Sie weiter bedenken, daß der gastfreie Herr Norkert ein Angestellter des Juweliers Gliese ist, dann dürften Sie wohl ebenfalls auf die Vermutung kommen, daß Graf Orlow sich auf dem Wege zu Gliese befindet. Der Juwelier wohnt im Tiergartenviertel, und – wir sind bereits in der Tiergartenstraße.“

„Sie werden schon recht haben. Ich begreife nur nicht, weshalb Horbeck mich durchaus los sein wollte und weshalb er auf der Polizei …“

„Oh – bedenken Sie, daß die Scheibe über die Grenze geschmuggelt oder besser geworfen worden ist – unverzollt! Der Verkauf der Scheibe sollte eben geheim bleiben, was schließlich zu entschuldigen ist.“

„Auch das mag stimmen, lieber Kroll. – Ehrlich gesagt: ich habe Sie zuerst unterschätzt. Sie sind doch ein kleines Genie!“

„Genie?!“ – Er stand auf, rief dem Chauffeur zu:

„Halt! Wir steigen aus!“

Im strömenden Regen gingen sie zu Fuß die letzte Strecke. Kroll wußte, daß Gliese in der Birkenstraße wohnte. Am Eingang der Sackgasse stand das Privatauto. Nur der Chauffeur saß noch darin.

„Sie werden es tageweise gemietet haben, die Halunken,“ flüsterte der Detektiv. „Hinter alledem steckt dieser Feodor Orlow. Der kennt den Wert der Scheibe. Und ich müßte mich sehr irren, wenn er jetzt nicht versuchen wird, die …“

Kroll schwieg, packte Steputats Arm …

„Dort – – sehen Sie, … zwei, die auf den Grafen losspringen …“ –

Der alte Herr hatte kaum den Vorgarten verlassen, als ihn auch schon die beiden Männer überfielen, die bisher vor der Gitterpforte gestanden hatten. Er erhielt einen brutalen Stoß vor die Brust, taumelte nach hinten …

Der Koffer wurde ihm entrissen, und in langen Sätzen stürmten die beiden davon – ihrem Auto zu.

Feodor Orlow mit dem Koffer war ein Stück voraus …

Vor ihm tauchte jetzt hinter einem Baume hervor eine armselige Gestalt auf, flog ihm an die Brust …

„Hilfe – – Hilfe …!!“ gellte Scholem Grüns Stimme durch die Regenschleier …

Plötzlich dann ein kurzer Aufschrei …

Scholem sank schwer auf die regenfeuchten Steinplatten hinab, preßte die Linke auf die Brust, fühlte faden Blutgeschmack im Munde, hörte noch eine drohende Stimme – sah eine einfache Frau schattengleich herbeihuschen …

Magnus Kroll drückte ab, als die beiden auf seinen Zuruf nicht stehen blieben.

Auf den Knall des Schusses der dumpfe Krach eines stürzenden Körpers …

Feodor Orlow lag mit dem Gesicht nach unten regungslos. Die Kugel war ihm von hinten in den Kopf gedrungen. Und fünf Schritt zurück lag der bewußtlose Scholem, eine schwere Stichwunde links neben dem Herzen …

* * *

Auf der Rettungswache kam Scholem Grün nochmals zu sich. Sein umflorter Blick ruhte auf Wera Orlows tränennassem Gesicht. Sie saß neben dem schlichten Feldbett, hielt des Sterbenden Hand, beugte sich über ihn, wollte noch ein Wort des Dankes flüstern … die Stimme versagte ihr.

Scholems Züge verklärten sich. Ein seliges Lächeln umspielte seinen Mund …

So ging er hinüber in eine bessere Welt. – – –

Magnus Kroll schrieb Anfang Juli an das jungvermählte Ehepaar Horbeck, daß er wunschgemäß den Grabstein für Scholem Grün habe aufstellen lassen und daß er die Rechnung beifüge. Im übrigen gehe es ihm gut. Er sei nun doch zur Kriminalpolizei übergetreten, wo er sein sicheres Brot habe. – –

Auf dem jüdischen Friedhof im Osten Berlins steht zu Häupten eines Grabes ein dunkler Granit, in den eine silbern schimmernde Metallscheibe eingelassen ist mit der schlichten Aufschrift:

Scholem Grün,

geb, 18. 3. 1900 zu Moskau,
gest. 19. 5. 1923 zu Berlin.

Ein guter Mensch.

 

 

Anmerkungen:

  1. Medikament zur Behandlung von Syphilis.
  2. Bestimmte Lebensmittel wurden in Deutschland während des Ersten Weltkriegs ab 1915 rationiert und waren nur über entsprechende Karten erhältlich. Die Inflation führte dazu, daß auch nach Beendigung des Krieges dieses System in gewissen Regionen und für bestimmte Lebensmittel fortgeführt wurde.
  3. In der Vorlage sind die beiden folgenden Zeilen vertauscht.
  4. In der Vorlage steht: „gemach“.
  5. In der Vorlage steht: „Da“.
  6. In der Vorlage steht: „weitee“.