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Die Tigerinsel

 

 

Walther Kabel

 

Die Tigerinsel

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die Kobra.

Wenn ein Windstoß die schwüle Tropennacht belebte und über die Baumwipfel des endlosen, hügeligen Parkes hinstrich, wenn die Riesenstämme der indischen Zedern sich unter diesem sanften Druck stolz verneigten, das Blättermeer und die Wedel der stattlichen Palmen aufrauschten und der Lufthauch mit leisem Säuseln an den Resten der Türme der alten Radschputenburg sich verfing und hinabglitt auf die breite Terrasse mit ihrem schadhaften, wuchtigen Marmorgeländer, dann flackerte regelmäßig die große Petroleumlampe hoch auf und sandte schwarze Qualmfäden zu dem strahlenden Sternenhimmel empor.

Im Lichtschein dieser Lampe, die auf der einen Seite des Tisches stand, saßen Marga Wendmoor und Major Craw in bequemen Rohrsesseln und bemühten sich, eine Unterhaltung stets aufs neue anzufachen, die schon vorhin bei Tisch kurz nach dem Erscheinen Craws etwas Gequältes und Lähmendes an sich gehabt hatte.

Allan Craw begriff Frau Wendmoors heute so völlig verändertes Wesen ebensowenig, wie er überhaupt für die Seltsamkeiten dieses blonden Weibes auch nur das geringste Verständnis aufbringen konnte.

Er rauchte hastig eine Zigarette nach der anderen und horchte immer wieder während der peinvollen Gesprächspausen auf das aus der Ferne vom Dadri-See herüberklingende katzenhafte Jaulen der Tiger, die wohl ihre verlorene Freiheit auf diese Weise beklagten.

Sein braunes Gesicht glühte wie im Fieber. Dabei waren seine Hände eiskalt. Seine Gedanken irrten wie blinde Bettler tastend stets denselben Weg: wollte Marga Wendmoor ihm heute zeigen, daß seine Besuche ihr unangenehm seien?!

Nein – er begriff die Herrin dieser elenden Ruine, dieses meilenweiten Parkes und des Dadri-Sees durchaus nicht! War er nicht noch vorgestern hier gewesen und hatte Marga ihn nicht vorgestern noch mit demselben stillen Lächeln begrüßt wie stets?! – War es nicht eine Art Feigheit von ihm, daß er jetzt nicht endlich aufsprang, um den Tisch herumging, ihre Hand in die seine nahm und einfach fragte, worauf diese jähe Wandlung in ihrem Benehmen ihm gegenüber zurückzuführen sei?! –

Ärgerlich stieß er jetzt den Rest der Zigarette in die Aschenschale und blickte Marga finster an.

Sie hatte sich noch weiter in den Sessel zurückgelehnt. Ihr Gesicht lag im Schatten.

Schon wollte er sich erheben, um diesem unerträglichen Zustand ein Ende zu machen, als lautlos aus der breiten Flügeltür im Hintergrunde der Terrasse die indische Dienerin Frau Wendmoors herbeihuschte und unweit des Tisches stehen blieb.

„Die Mem-Sahib möchte zu den Kindern kommen,“ sagte sie leise in schwerfälligem Englisch. „Die Kinder fürchten sich. Die Tiger schreien auf der Insel; und …“

Frau Wendmoor war rasch aufgestanden.

„Schon gut, Gahrwa. Ich komme. – Entschuldigen Sie mich ein paar Minuten, Major.“

Und sie eilte der Dienerin voraus – schlank, kräftig, jede Bewegung abgerundet.

Allan Craw hatte die bartlosen, schmalen Lippen fester zusammengepreßt, als Gahrwa die Kinder erwähnte. Er wurde nicht Herr über diese lächerliche Eifersucht auf einen Toten, der das Glück gehabt, sich Vater dieser Zwillinge zu nennen, die dann so sehr bald Waisen geworden.

Er war nun allein auf der Terrasse. Er brauchte nicht länger Komödie zu spielen. Aufstöhnend bedeckte er die Augen mit der linken Hand. Noch drei Monate – noch drei endlose Monate … Dann erst war das Trauerjahr vorüber, dann erst durfte er vor Marga hintreten und …

Ein Klirren auf dem Tische ließ ihn hochfahren.

Zwischen den Teetassen lag eine ausgewachsene Kobra – eine Brillenschlange, hob nun zischend den Kopf, blähte die Haube und wollte auf den menschlichen Feind, der wie gelähmt dastand, losschnellen.

Der Major sprang zur Seite.

Dicht an seinen Beinen glitt ein kleiner Tierkörper vorüber, ein Ichneumon, ein Schlangenbeißer, der bisher zusammengerollt auf der Brüstung gelegen hatte, – Spielgefährte der beiden Kinder, Schutzgeist der Bewohner der verfallenen Burg, ärgster Feind alles giftigen Gewürms, das in dem Park von Dadri hauste.

Das rote Zünglein des Ichneumons, das tänzelnd die über die Steinfliesen gleitende Kobra umkreiste, umspielte im Lustgefühl des Kampfes die spitze Schnauze.

Dann ein Satz – fast kerzengerade in die Luft.

Das Reptil schnappte zu, hatte die Abwehr schlecht berechnet. Dicht hinter der prallen Haube gruben sich die nadelscharfen Zähne ein, ließen nicht mehr los.

Craw lachte leise.

Das Ichneumon und die Kobra rollten die Treppe der Terrasse hinab und verschwanden im Gebüsch.

Aber des Majors Freude über den Sieg des flinken Schlangenbeißers verlor sich jäh infolge der sich ihm aufdrängenden Frage, wie die Kobra wohl so plötzlich auf den Tisch geraten sein könnte.

Er trat an den Tisch heran.

Eine der Teetassen war zerbrochen, die Zuckerschale war umgekippt.

Craw schüttelte den Kopf.

Wenn die Kobra vom Parke her auf die Terrasse gekommen wäre und sich an einem Tischbein bis zur Tischplatte hochgearbeitet hätte, würde sie niemals die Tasse und die Zuckerschale umgeworfen haben.

Also …

Und Craw fühlte, wie ihm ein leiser Eiseshauch über den Rücken strich.

Ihm war unbehaglich zumute. Er setzte sich wieder, dachte nach. –

Das Ichneumon glitt die Treppe empor, hockte sich neben Craw auf die Hinterbeine und leckte sich eifrig die Schnauze.

Der Major sagte leise: „Nicht wahr, Mauzi, man hat die Kobra auf den Tisch geworfen!“

Und er schüttete mit dem Löffel etwas Zucker in die linke Hand und bückte sich. Mauzi ließ auch nicht ein einziges Zuckerkörnchen übrig und zog sich dann dankbar auf die Brüstung zurück, rollte sich zusammen und beobachtete still Frau Marga Wendmoor, bei der Craw sich nun höflich seines Ungeschicks wegen entschuldigte.

„Ich stieß aus Versehen an den Tisch, und das kostete der Tasse das Leben,“ log er ohne Scheu.

Der scherzende Ton gelang ihm leidlich.

Frau Wendmoor war vor ihm stehen geblieben.

„Die Kinder sind sehr unruhig,“ sagte sie, den Blick auf die dunklen Baumkulissen richtend. „Ich muß Sie leider verabschieden, Mr. Craw.“ – In ihrer Stimme war eine ihr sonst fremde Unsicherheit. Sie fühlte dies. Und es vergrößerte noch ihre Verlegenheit.

„Weshalb halten Sie sich auch die Bestien!“ platzte Allan Craw gereizt heraus, und der ganze Ärger, die ganze Enttäuschung über diesen verpfuschten Abend klangen in dem tiefen Tone seiner Stimme mit. „Überhaupt,“ fügte er noch heftiger hinzu, „weshalb haben Sie sich in diese Wildnis vergraben, Marga?! Weshalb führen Sie ein Leben, das allgemein nur ein Kopfschütteln hervorruft?! Mit dreiundzwanzig Jahren ist man zu jung für ein solches Einsiedlerdasein, zu jung für einsame wilde Autofahrten, für tagelange einsame Ritte in die Thar-Wüste hinein!“

Jetzt, wo er einmal ganz überraschend den Mut gefunden hatte, ihr all das vorzuhalten, was ihm längst auf der Zunge schwebte, gab es kein Halten mehr.

„Wenn Sie nur wüßten, Marga, wie man Sie in Bhartpur und Agra bespöttelt! Die tolle Witwe nennt man Sie, Marga! Man wirft Ihnen vor, absichtlich dieses extravagante Leben …“

Da unterbrach sie ihn. „Und Sie, Mr. Craw?! Was sagen Sie, wenn Sie Zeuge derartiger Bemerkungen über mich sind?!“

Er ballte unwillkürlich die Fäuste. „In meiner Gegenwart schweigt man. Natürlich! Mit Allan Craws Nilpferdpeitsche macht niemand gern Bekanntschaft. Und wo ich irgend kann, verteidige ich Sie – – mit Worten, Marga, – – obwohl auch das nicht leicht ist.“

„Ich habe kurz hintereinander meinen Gatten und meine Schwester verloren,“ meinte sie schlicht. So schlicht, daß es nicht wie eine Entschuldigung klang.

„Gut – gut, Sie haben Schweres durchgemacht. Das ist noch kein Grund, derartige Absonderlichkeiten zu treiben!“ Seine Stimme nahm wieder den gereizten Ton an. „Auch mir sind Sie ein Rätsel, Marga! Heute zum Beispiel, – – weshalb heute dieses Fremdsein zwischen uns, das nur Sie heraufbeschworen haben!“

Er tastete nach ihrer Hand …

„Marga, noch nie bin ich in diesen zwei Monaten, seitdem ich Ihnen hier zuweilen Gesellschaft leisten darf, so eisig behandelt worden. Ich …“

Sie hatte ihm ihre Hand schnell entzogen, schaute ihn an.

„Craw, Sie nennen sich meinen Freund …“ – Sie sprach hastig und abgerissen. „Heute verlange ich von Ihnen den vielleicht schwersten Beweis treuer Ergebenheit.“ Eine kleine Pause … „Craw, stellen Sie Ihre Besuche ein. Ich wiederhole, was ich Ihnen schon so oft angedeutet habe: ich kann nie die Ihre werden!“

Vor dem entsetzten Ausdruck in seinen Augen wandte sie den Blick seitwärts, trat zurück und ergriff rasch die Tischglocke, deren schrilles kurzes Läuten sofort einem der eingeborenen Diener herbeirief.

„Ahmed, begleite Mister Craw mit der Laterne bis an das Parktor,“ befahl sie mit leicht vibrierender Stimme.

Craw hatte seine Fassung wiedergewonnen.

Mit zwei Schritten war er dicht vor Marga. Sein Gesicht war fahl. Die Lippen bebten.

„Gute Nacht,“ sagte er laut und küßte ihr wie stets die Hand. Als sein Kopf sich wieder hob, flüsterte er: „Ich weiß, ich weiß: Doktor Brack …!!“

Dann verbeugte er sich, nahm den Tropenhelm von der Brüstung und schritt dem Diener voran die Treppe hinab und die breite Allee entlang, die hier in der Wildnis des ungeheuren Parkes fast den einzigen gangbaren Weg bildete. –

Marga Wendmoor lehnte an der Marmorbrüstung und streichelte Mauzi das weiche Fell.

Der tanzende Lichtschein dort in der Allee wurde schwächer und schwächer.

Zwei schwere Tränen fielen Mauzi auf das spitze Köpfchen.

Dann läutete Frau Wendmoor abermals.

Ein anderer Diener glitt auf die Terrasse.

„Sattle die hellgraue Kamelstute. Proviant für drei Tage und die Winchesterbüchse. Geh’!“ – Der Diener verneigte sich stumm.

Eine halbe Stunde später ritt Marga Wendmoor nach Westen zu die staubige Straße dahin der Thar-Wüste zu.

 

2. Kapitel.

Die Schlucht von Bhartpur.

Craw reichte dem Diener Ahmed am Parktor ein Trinkgeld. Sein Auto stand draußen auf der Straße. Der Chauffeur schlief mit vornübergesunkenem Kopf. Die beiden Scheinwerfer schickten grelle Lichtfluten auf den Weg und das Dickicht ringsum.

„Ahmed, wann war Sahib Doktor Brack das letztemal hier?“ fragte Craw zögernd. Ihm war es widerwärtig, den Diener auszuhorchen. Und doch – die Eifersucht war stärker.

„Gestern, Sahib …“

Craw schritt dem Auto zu. Ahmed schloß das Gittertor.

„He – Panja, aufwachen!“ rief der Major seinem braunen Fahrer zu und stieg hinten in den großen offenen Wagen. „Panja, etwas schneller als sonst!“ fügte Craw hinzu und warf sich in die eine Polsterecke, nahm den Tropenhelm ab und legte ihn neben sich.

Der Chauffeur, der mit der vorgebundenen Autobrille geschlafen hatte, erwiderte irgend etwas. Craw hörte gar nicht hin, wunderte sich nur ein wenig, daß der vorsichtige Inder jetzt sofort den Wagen geradezu dahinrasen ließ. Aber ihm war das in seiner zwiespältigen Stimmung nur lieb. Die Zugluft strich ihm um die heiße Stirn. Wie Gespenster huschten Ochsengespanne, Kamelzüge, einzelne Wanderer und Reiter an ihm vorüber. Er sah sie kaum. Er dachte nur an Marga Wendmoor und Doktor Felix Brack.

Ah – – dieser Deutsche – – dieser deutsche Gelehrte mit den undurchdringlichen Zügen und den unruhigen Augen!! Der hatte ihm also Marga gestohlen, – – der Bücherwurm, der Unkrautsucher!! Und vielleicht war auch der nicht ganz unbeteiligt an diesem hinterlistigen Attentat mit der Kobra! – „Warte, Bursche, Dich werde ich lehren, mit Allan Craw anzubinden!“ knirschte der Major in jäh aufloderndem Haß …

Wie Geisterstimmen da, rasch hinter ihm verwehend, die wütenden Zurufe einiger Ochsenkarrentreiber.

Und doch brachten die Zurufe Allan Craw gleichsam zur Besinnung.

Erstaunt musterte er die vorbeihastende Landschaft. – Wahrhaftig – das war ja bereits da vor ihm die eiserne Hängebrücke über das tiefe schluchtartige Felsenbett des Bhartpur-Baches! Das war bereits dort am Himmel der helle Widerschein der elektrischen Bogenlampen des Bahnhofs und der Hauptstraßen von Bhartpur! Panja fuhr heute tatsächlich wie der Teufel …!

Die Lampen des Brückeneingangs und das helle Gitterwerk des Geländers flogen näher und näher.

Ob Panja etwa auch in diesem Tempo über die Brücke jagen wollte?! – Craw blickte auf den gekrümmten Rücken und den weißen Turban seines Chauffeurs. Irgend etwas an dessen Haltung fiel ihm auf.

Mit einem Male war es wieder da, dieses selbe Gefühl des Unbehagens, das er heute schon einmal wie einen kühlen Hauch verspürt hatte …

Wieder lief es ihm kalt über den Rücken.

Urplötzlich dann infolge einer mehr unwillkürlichen Ideenverbindung ein unsinniger Verdacht …

Kaum entstanden, war das, was unsinnig schien, zur Gewißheit.

Die Brücke, keine dreißig Meter entfernt, blieb rechts liegen. Das Auto raste auf das hölzerne Schluchtgeländer zu, und mit affenartiger Gewandtheit schnellte sich der Chauffeur auf die Straße.

Craws Leben hing von Bruchteilen von Sekunden ab.

So flink der braune Schuft sich auch in Sicherheit gebracht hatte, – nicht minder flink stand der Major auf dem Sitzpolster, sprang nach rückwärts hinaus …

Das Auto schwebte mit den Vorderrädern bereits in der Luft. Craw hatte das Splittern und Krachen des Geländers gehört, landete gerade noch mit dem Oberkörper auf einem schwül duftenden Rama-Strauche, in dessen zähe Zweige er seine Hände einkrallte und sich behutsam vollends emporzog.

Nun stand er keuchend, das Gesicht von den Rama-Blüten gelb gepudert, auf den Füßen …

Horchte hinter sich …

Hörte den Knall des auf die Felsen aufschlagenden Autos, den zweiten des explodierenden Benzinbehälters, wandte den Kopf …

Eine Flamme schoß aus der Finsternis der Schlucht hoch und sank wieder in sich zusammen. –

Der Brückenwärter kam herbeigelaufen. Der alte Hindu kannte den Major längst, freute sich jedesmal über das Trinkgeld, das dem Brückenzoll beigefügt wurde und rief daher mit aufrichtiger Teilnahme:

„Sahib – Sahib, – – welch ein Unfall! Die Steuerung hat wohl versagt.“

Craw schaute sich um. Der Chauffeur war längst verschwunden.

„Ja, ein Unfall,“ nickte er nur. „Hast Du Telephon in Deinem Häuschen?“

Und wenige Minuten drauf bestellte Craw telephonisch in Bhartpur bei dem Vorsteher des Bahnhofs einen Kraftwagen, der ihn bis Agra bringen sollte, wo er in Garnison lag.

Genau um Mitternacht traf das Mietauto ein. Craw war vorsichtig.

„Kennst Du den Fahrer?“ fragte er den alten Brückenwärter.

„Ja, Sahib. Sehr gut. Er steht bei Sahib Loop im Dienst.“

Craw stieg ein. Es war jetzt kurz nach Mitternacht.

Um fünf Uhr morgens langte er in Agra an. Er ließ sich sofort nach dem Europäerviertel zu dem weißen Bungalow Inspektor Rices bringen, der dicht am Ufer der braunen Dschamna lag, bezahlte die Eilfahrt und zog dann ungestüm an der Torglocke der Gartenpforte.

Es begann hell zu werden. Die Gärten des Europäerviertels erwachten. Grünbraune halbzahme Affen turnten in den Bäumen umher. Eine Bul-Bul, die indische Nachtigall, schluchzte ihre letzten nächtlichen Liebeslieder.

Ein Inder in der Uniform der unteren Polizeibeamten kam und öffnete dem barhäuptigen Craw die Pforte.

„Mr. Rice ist soeben aufgestanden,“ erklärte er.

„Melden Sie mich,“ befahl Craw. „In sehr dringender Angelegenheit …!“

„Mr. Rice ist doch für Mr. Craw stets zu sprechen,“ meinte der Beamte ein wenig vertraulich. –

Der Major setzte sich auf die nach dem Flusse hinausgehende Veranda, wo der Frühstückstisch schon gedeckt war. Craw nahm die Flasche mit dem eisgekühlten Whisky, trank drei Gläschen und zündete sich eine seiner Zigaretten an.

Thomas Rice in blendend weißem Leinenanzug, das graue Haar straff gescheitelt, das Gesicht rosig und frisch, trat durch die Pendeltür.

„Hallo, Allan, wie sehen Sie denn aus?!“ rief er lachend. „Gelb wie ein Chinamann und …“

Da verstummte er.

„Was ist Ihnen zugestoßen?“ fragte er, vor dem seltsamen Blick des frühen Gastes stutzend.

Er drückte Craw die Hand und schaute ihn forschend an. „Teufel, Mann, – haben Sie Gespenster gesehen?! In Ihren Augen …“

„Ich sah mein Auto in der Bhartpur-Schlucht zerschellen, Rice, nichts weiter,“ meinte Craw. „Und vorher sah ich eine Kobra, die mir auf den Tisch geworfen wurde.“

Rice setzte sich. Sein rundes Gesicht mit den Hängebacken, das mehr dem eines vergnügten englischen Geistlichen als dem eines Polizeimenschen glich, veränderte sich blitzschnell. Die kleinen Äuglein wurden stechend und hart.

„Erzählen Sie, Allan,“ sagte er kurz. „Vergessen Sie aber das Frühstück nicht, falls Sie noch nüchtern sind.“

Craw fühlte den Alkohol wohlig die Nervenanspannung der letzten Stunden beseitigen. Müdigkeit überkam ihn. Er mußte gähnen. Dann langte er nach einem Röstschnittchen, das der Inspektor ihm aus dem elektrischen Brotröster auf den Teller gelegt hatte, und spießte mit der Gabel eine Sardine auf.

Thomas Rice beobachtete ihn still. Bevor der Major noch seinen Bericht begann, meinte der Inspektor leise:

„Ich ahnte schon längst, daß bei der Geschichte so etwas Ähnliches herauskommen würde. Ganz Agra und Bhartpur spricht darüber. Einen Abend Sie, den nächsten Abend der Deutsche – und so fort seit drei Wochen, eben seit dieser Doktor Felix Brack hier aufgetaucht ist und angeblich die Flora der Randgebiete der Thar-Wüste studiert.“

Der Major ließ die Gabel sinken. „Wie – man spricht schon darüber?“ fragte[1] er finster.

„Das tut man, Craw. Und man lacht Sie aus. Ein Major des 2. indischen Kamelreiterkorps, der eine verrückte Witwe anschmachtet und ihretwegen jede zweite Nacht im Auto die Straßen …“

Craw legte auch das Röstschnittchen auf den Teller. Sein schrilles Lachen hatte Rice jedes fernere Wort abgeschnitten.

„Also – – man lacht!“ rief der Major dann, und sein Gesicht verzerrte sich. „Hölle und Teufel – man wird es nie wieder tun! – Rice, gießen Sie mir das Wasserglas da voll Whisky …!“

Der Inspektor deckte die Hand über das Glas …

„Erzählen Sie, Mann! Los doch!“

Craw lehnte sich in dem Bambussessel ganz weit zurück. Er erzählte. Er sprach kein Wort zuviel.

Rice aß scheinbar behaglich, hörte zu, schwieg.

„Ich bin gerade zu Ihnen gekommen, Inspektor,“ erklärte der Major zum Schluß, „weil ich weiß, daß Sie insgeheim Vorstand der Sektion Agra der politischen Polizei sind und nur dem Namen nach simpler Polizeiinspektor.“

Da blickte Rice auf, lächelte fein. „Und ich weiß, daß Sie, Allan, nebenbei geheimer Berichterstatter über militärische Angelegenheiten sind, die mit den einundzwanzig Vasallenstaaten Radschputanas etwas zu tun haben. – Sie sind also zu mir gekommen, weil Sie hoffen, daß meine Spione und Beamten sicherer arbeiten als die der offiziellen Polizei. Das stimmt, Allan. Ich habe da recht schlaue Leute an der Hand, zum Beispiel den Ingenieur Doubra.“

Craw beugte sich vor. „Wie – Doubra?!“

„Ist Detektiv, nichts weiter, Major. Tatsache. Seine Stellung beim hiesigen Elektrizitätswerk ist Schein und Schild. Ich werde Doubra herbeirufen.“

Er ging ins Haus und telephonierte, kehrte zu Craw auf die Veranda zurück und nötigte ihn, endlich etwas zu essen. –

Mr. Horace Doubra erschien nach zehn Minuten, nahm Platz und streckte die endlos langen Beine weit von sich. Sein junges Gesicht hatte stets einen schwer zu enträtselnden Ausdruck. Um seinen breiten Mund lag wie festgefroren ein kaum merkliches ironisches Lächeln, während die grauen Augen fast melancholisch dreinblickten. – Craw mußte nochmals Bericht erstatten. Als er fertig war, meinte Horace Doubra:

„Sie sprechen es zwar nicht aus, Mr. Craw, aber Sie denken an Doktor Brack als den Urheber dieser Attentate?“

Der Major schwieg.

Doubra nahm eine der dicken Zigarren aus des Inspektors Kiste und schnitt umständlich die Spitze ab.

„Ihr Chauffeur Panja dürfte tot sein,“ erklärte er dabei flüsternd. „Wenn Sie Zeit haben, begleiten Sie mich, Mr. Craw. – Wir fahren nach Burg Dadri, während Mr. Rice hier in Agra vielleicht feststellt, wo Doktor Brack in der verflossenen Nacht gewesen ist.“

Craw erhob sich. „Ich bin in einer Stunde bereit, Mr. Doubra. Holen Sie mich ab.“

Dann brachte ihn des Inspektors Auto nach dem Kasernenviertel im Süden des alten Forts von Agra.

 

3. Kapitel.

Doktor Felix Brack.

James Grimser, der sich stolz Burgvogt von Dadri nennen durfte, stand auf der Terrasse und schalt den Diener Chattar aus, weil der die drei großen Doggen Marga Wendmoors drüben in das Dickicht jenseits der Straße hatte entschlüpfen lassen.

Der alte Mann, der seine Herrin aus England hier in die Einsamkeit begleitet hatte, horchte ängstlich auf das Heulen und Bellen der Hunde, das gar nicht verstummen wollte.

„Wenn sie eine Kobra in einem Baumloche belagern und wenn einer gebissen wird und an dem Gift eingeht, bist Du die längste Zeit hier gewesen, Chattar!“ rief er dem Diener zu und eilte schon die Allee entlang, um die Doggen zurückzuholen.

Chattar lief hinterdrein.

„Sahib Grimser,“ meinte er unterwürfig, „ich habe heute morgen eine tote Kobra im Gebüsch unterhalb der Terrasse gefunden. Mauzi hat sie getötet.“

Der Alte blieb stehen. „Ha – und das sagst Du erst jetzt, Chattar?! Ich hoffte, der Park wäre von dem eklen Gewürm gesäubert.“

Er ging rasch weiter. Der Diener hielt sich halb hinter ihm. Grimsers Ärger war bereits zerflattert. Daß im Parke wirklich noch Brillenschlangen so in der Nähe der Burg sich zeigten, machte ihm Sorgen – neben all den anderen.

Das Parktor war erreicht. Frau Wendmoor hatte es erneuern lassen, als sie Burg und Park dem Fürsten von Bhartpur abgekauft hatte.

Jenseits der Straße heulten die Doggen noch immer irgendwo im Dickicht. James Grimser rief die Tiere bei Namen. Das Heulen erstarb nur für Sekunden.

Chattar drang in die Büsche ein. Der alte Mann aber trat in den Schatten der gemauerten Torpfeiler zurück. Die Sonne stand senkrecht über der breiten Straße, und die Luft über dem grauen Wege flimmerte wie über dem Schlote eines Dampfers.

Grimser blickte nach links die Straße hinab. Mit klingenden Glöckchen nahte eine endlose Reihe Dromedare, eins an den Schwanz des andern gebunden. Auf dem vordersten ritt ein Radschpute mit glänzend schwarzem Vollbart und dem allen Radschputen eigentümlichen hochmütigen Gesicht. Er kam vom Kamelmarkt in Tilwaca und kehrte auf seine Besitzung am Rande der Thar zurück. Ohne den Engländer zu grüßen ritt er vorüber. Grimser bewunderte die prachtvollen Tiere. Er hatte es in diesen sechs Monaten bereits gelernt, Dromedare zu beurteilen.

Hinter der Dromedarkette kam ein Auto in schnellstem Tempo daher. Die hochbeinigen Dromedare drängten ängstlich bis an den Straßenrand.

Plötzlich Chattars helle Stimme:

„Sahib … Sahib Grimser – – ein Toter!! Hier in einem großen Annura-Hügel.“

Die Doggen waren still. – Das Auto glitt herbei, hielt. Grimser erkannte den Major und einen anderen Europäer. –

Gleich darauf hatte Horace Doubra aus dem riesigen Ameisenhaufen des Chauffeurs Panja starre Leiche herausgezogen.

Allan Craw war blaß geworden. Panjas Kehle wimmelte von Ameisen, war von einem Ohr zum andern durchschnitten.

Doubra schickte den Diener Chattar weg.

„Geh’, hole Mr. Grimser,“ befahl er. „Nimm die Hunde mit.“

Der Major wartete, bis der Hindu verschwunden.

„Sie haben leider recht behalten, Mr. Doubra,“ sagte er leise.

Der politische Geheimagent erwiderte nichts, lächelte sein rätselvolles Lächeln und begann den Boden nach Spuren abzusuchen.

Grimser nahte. Der alte Mann blieb am Rande der kleinen Lichtung stehen. Craw schritt auf ihn zu.

„Der Anblick da ist nichts für Sie, James,“ sagte er gepreßt und fügte zögernd hinzu: „Ist Ihre Herrin daheim?“

„Nein, Mr. Craw.“

Dem Major fiel des Alten widerwilliger Ton sofort auf.

„Frau Wendmoor ist mit dem Auto unterwegs?“

„Ausgeritten, Mr. Craw.“

Doubra tauchte neben den beiden auf.

„Sie haben Telephon in der Burg?“ fragte er Grimser.

„Jawohl, Mister.“

Und Craw ergänzte: „Das Telephon ist die einzige moderne Einrichtung in der Ruine, Mr. Doubra.“

„Gehen wir,“ meinte der Geheimagent. „Wir müssen den Leichenfund nach Bhartpur melden.“ –

Die alte Radschputenburg Dadri hatte jetzt, nachdem Handwerker hier zwei Monate tätig gewesen, acht bewohnbare Räume. Hinter der mächtigen Ruine lagen die Stallungen, die neu erbaut worden waren.

Doubra sah den düsteren Steinkasten heute zum ersten Male. Es gab hier herum so viele ähnliche Ruinen daß kein Europäer sie alle kannte.

Grimser führte die Herren in Frau Wendmoors Wohnsalon im ersten Stock.

Doubra war erstaunt über die schlichte Einrichtung. Marga Wendmoors Reichtum und Extravaganz hatte ihn hier unerhörten Luxus erwarten lassen.

Das Tischtelephon stand auf einem Damenschreibtisch mit Aufsatz.

Während Grimser und Craw an der Tür miteinander flüsterten, telephonierte der Agent, ihnen den Rücken zukehrend.

Auf der Schreibtischplatte lag ein Buch, ein Roman des schöngeistigen englischen Dichters Wilde. Doubra mußte auf Anschluß warten. Ohne Absicht blätterte er in dem Buche, ohne es in die Hand zu nehmen. Er kannte den Roman nicht, und als Engländer überflog er gern ein paar Zeilen dieses berühmten Stilisten.

So fand er zwischen den Seiten einen schmalen Zettel, der vielleicht als Lesezeichen diente. Der Zettel war beschrieben – mit Bleistift. Des Agenten geübter Blick erkannte sofort, daß diese Zahlenreihen da ohne Zweifel eine Geheimschrift darstellten. –

Nachdem das Telephongespräch erledigt war, bat Doubra den alten Grimser um eine Erfrischung.

„Ich habe Durst nach der Fahrt. Wir dürfen uns hier wohl ein wenig ausruhen,“ erklärte er.

Grimser beeilte sich, den beiden Herren das Gewünschte zu holen. Als er die Tür ins Schloß gedrückt hatte, wandte der Agent sich an den Major.

„Mr. Craw,“ flüsterte er, „es ist nicht nötig, daß der Alte mit anhört, was ich meinem Chef mitzuteilen habe.“

Er telephonierte abermals, hatte bald Verbindung mit Mr. Rice in Agra und meldete diesem:

„Des Majors Chauffeur ist von einem Europäer ermordet worden. Ich rate, den Doktor Brack sofort zu verhaften. Alles weitere mündlich.“

Und Inspektor Rice erklärte seinem Untergebenen:

„Schon gemacht, Doubra. Brack weigerte sich mir zu sagen, wo er in der verflossenen Nacht gewesen. Kommen Sie recht bald[2] nach Agra zurück. Sie werden Brack hoffentlich in die Enge treiben.“ – –

Abends gegen acht Uhr betrat ein Aufseher eine der Zellen des Polizeigefängnisses in Agra, die für Europäer bestimmt waren.

„Mr. Brack, folgen Sie mir,“ sagte der Beamte unfreundlich.

Doktor Felix Brack hatte an dem kleinen Tische gesessen und gelesen. Als er den Flur nun entlangging, begleitet von zwei Aufsehern, pfiff er ganz leise ein paar Takte vor sich hin:

Ach wie so trügerisch
Sind Frauenherzen …[3]

Im Vordergebäude in einem Bureauzimmer erwarteten Craw, Rice und Doubra den Deutschen. Der Major lehnte an dem einen Fenster und behielt die Tür unverwandt im Auge.

Brack trat ein: schlank, groß, mit überlegener Sicherheit in jeder Bewegung. Ein blonder Spitzbart umrahmte ein schmales, gebräuntes Gesicht von energischen Linien. Die Hornbrille mit den runden Gläsern und das etwas künstlermäßig lange, glatt zurückgestrichene Kopfhaar paßten wenig zu diesem Gesicht.

Brack verbeugte sich leicht und warf dem Major einen eigentümlich forschenden Blick zu.

„Setzen Sie sich,“ sagte Rice dienstlich. „So – nun werden Sie diesem Herrn hier einige Fragen beantworten, Mr. Brack. Der Herr ist Beamter wie ich.“

Horace Doubra blätterte in dem Vernehmungsprotokoll des ersten Verhörs Felix Bracks.

„Sie sind also Doktor der Philosophie, dreiunddreißig Jahre alt und halten sich seit etwa drei Monaten hier in Indien auf,“ begann er. „Vor acht Wochen statteten Sie Frau Wendmoor einen Besuch ab und baten sie, den verwilderten Park von Dadri durchstreifen zu dürfen um dort zu botanisieren. So lernten Sie Frau Wendmoor kennen. Hier in Agra bewohnen Sie im Pensionat Ralling zwei Zimmer im Seitenflügel, und zwar im Erdgeschoß. Sie haben außer Major Craw, mit dem Sie dreimal bei Frau Wendmoor zusammentrafen, hier keinerlei Bekanntschaften gemacht. Wie bereits durch Bediente der Pension Ralling bestätigt ist, sind Sie häufig mehrere Tage von Agra …“

„Oh – das bestreite ich gar nicht,“ fiel Brack dem Agenten ins Wort.

Doubra nickte. „Auch heute sind Sie erst um neun Uhr vormittags heimgekehrt, nachdem Sie das Pensionat gestern früh sieben Uhr verlassen hatten. Und – in der vergangenen Nacht haben Sie nicht nur zwei Attentate auf Major Craw versucht, sondern auch dessen Chauffeur … ermordet!!“ – Doubra rief das letzte Wort in so schrillem Ton, daß Craw leicht zusammenzuckte.

Brack aber öffnete nur die Augen etwas weiter und erwiderte ruhig:

„Beweisen Sie mir das. Ich bin neugierig darauf.“

Doubra wurde rot vor Ärger.

„Der Mörder des Chauffeurs war ein als Inder verkleideter Europäer, der stark auswärts die Füße setzte. Das tun Sie ebenfalls. Kein Inder geht auswärts. Und kein Inder hat so kleine Füße wie Sie! Die Sandalen, die Sie in der verflossenen Nacht trugen, waren Ihnen viel zu lang. Das ersah ich aus Ihren Spuren neben dem Ameisenhaufen. Dieselben Spuren fand ich in den Büschen unterhalb der Terrasse der Dadri-Burg. Von dort warfen Sie die Kobra auf den Tisch, um Major Craw durch das Reptil beißen zu lassen. Eine Kobra konnten Sie auf Ihren Ausflügen leicht einfangen. Nachher haben Sie, als das erste Attentat mißglückt war, den Chauffeur beseitigt und selbst den Chauffeur gespielt. Auch das mißlang: Mr. Craw sprang im letzten Moment aus dem Auto, das dann in der Bhartpur-Schlucht zerschellte. Aus Eifersucht haben Sie Mr. Craw beseitigen wollen. – So, nun verteidigen Sie sich.“

Brack hatte den Kopf sinken lassen und die Augen halb geschlossen. Er saß jetzt ganz in der Haltung eines Menschen da, der angestrengt nachdenkt.

Doubra triumphierte schon. Der Deutsche würde vielleicht unter der Wucht dieser Beweise ein Geständnis ablegen.

In dem Zimmer war’s lautlos still.

Minutenlang …

Craw musterte haßerfüllt die Gestalt Bracks und hoffte dasselbe wie der Agent. Thomas Rice war weniger siegesgewiß. Brack machte auf ihn durchaus nicht den Eindruck eines Verbrechers, der sein Spiel so schnell verloren gibt.

Der Deutsche hob jetzt endlich den Kopf.

Drei Augenpaare suchten in seinen Zügen zu lesen.

„Ich habe Mr. Craw etwas mitzuteilen – ihm allein,“ sagte Brack nun und schaute den Major an. „Nur Ihnen,“ fügte er hinzu. „Da Mr. Rice mir sogar mein Taschenmesser abgenommen hat, bin ich ungefährlich.“

Doubra zuckte die Achseln. „Wozu das?! – Wie stellen Sie sich zu Bracks Ansinnen, Mr. Craw?“

Der Major hatte aus Doktor Bracks Blicken jetzt deutlich Teilnahme und freundliche Nachsicht herausgelesen. Das verwirrte ihn.

„Ich möchte mit Brack allein sein,“ erklärte er hastig.

Rice und Doubra verließen zögernd das Zimmer und schritten im Flur auf und ab.

Felix Brack aber hatte schweigend seine blonde Perücke abgenommen, ebenso die Hornbrille, und aus dem Haarwust der Perücke ein Röllchen Papier hervorgeholt.

„Bitte, Mr. Craw, lesen Sie,“ meinte er nun.

Craw trat näher, nahm das jetzt geglättete Papier und fand darauf ein Lichtbild mit einem Stempel des Polizeipräsidiums Berlin. Neben dem Lichtbild stand ein gedruckter Text und wieder ein Stempel und zwei Unterschriften.

Es war ein Ausweis für den Berliner Kriminalkommissar Dr. jur. Felix Brack …

 

4. Kapitel.

Verbündete.

Der Major beherrschte das Deutsche genügend, um den Text der kleinen Urkunde übersetzen zu können. Das Lichtbild glich Zug um Zug dem Manne, der da ohne Brille und Perücke mit ganz kurz geschorenem Kopf vor Craw saß und wartete, was dieser nun äußern würde.

Allan Craws Gedanken waren urplötzlich ins Jagen gekommen. Eine ungewisse Angst legte sich beklemmend auf sein immer hastiger arbeitendes Herz. Er begriff, daß seine Eifersucht auf Doktor Brack ebenso grundlos sei wie der ungeheuerliche Verdacht, der zu der Festnahme dieses selben deutschen Beamten geführt hatte. Er begriff weiter, daß Doktor Brack dienstlich hier in Indien weilte und dienstlich sich Zutritt zu Burg Dadri verschafft hatte.

Noch immer starrte er auf das Lichtbild, das mit einem Male die Züge zu wechseln schien. Der Major sah statt des energischen Männerkopfes jetzt Margas liebliches und doch so charaktervolles Antlitz mit den großen melancholischen Augen vor sich.

Ob Doktor Brack etwa Marga Wendmoor nachstellte?! – Craw hatte hier in Agra allerlei Gerüchte gehört, die Margas Person nicht ganz zweifelsfrei hinstellten. Er hatte all das nie beachtet und für müßigen Klatsch gehalten. Und doch: als er sich jetzt vergegenwärtigte, wie ängstlich Marga jedem Gespräch über ihre Vergangenheit, insbesondere über die Ermordung ihrer Schwester Edith und über den Tod ihres Gatten ausgewichen war, wuchs die ungewisse Angst ins Ungemessene. Vor seinen stieren Blicken wallten Nebel und Flocken, und er selbst wußte am besten, daß seine Stimme ganz fremd klang, als er nun den Mann dort vor sich fragte:

„Sie sind in dienstlicher Angelegenheit hier, Mr. Brack?“

„Nein, als Privatmann, – immerhin zu dem Zweck, zwei Verbrechen aufzuklären.“

Craw blickte tastend in das leidenschaftslose Gesicht des Deutschen.

„Und – – diese Aufklärung hoffen Sie in der Burg Dadri zu finden?“ meinte er scheu.

„Ja, Mr. Craw. – Ich denke aber, all dies besprechen wir lieber anderswo. Unsere Interessen laufen parallel, wenn sie auch verschiedene Ziele haben. Sie, Mr. Craw, lieben Frau Wendmoor. Für mich ist sie – – sagen wir Studienobjekt. Nur die Wahrheit über die damaligen Vorgänge an der Ostküste Englands wird uns beide innerlich zur Ruhe kommen lassen.“

Der Major nickte selbstvergessen.

„Ich schlage Ihnen also vor, Mr. Craw, Sie sorgen für meine Freilassung, ohne die Herren von der Polizei einzuweihen. Ich möchte es vermeiden, die hiesigen Behörden in Anspruch zu nehmen. Das dürfte auch Ihren Wünschen entsprechen. Man weiß nie, wie solch ein verwickelter Fall wie dieser endet. Die jetzt schuldig Erscheinenden können schuldlos sein. Zieht man die Polizei ins Vertrauen, so ist Frau Wendmoor öffentlich bloßgestellt.“

„Nur das nicht!“ stieß Craw gequält hervor.

„Gut, dann sind wir einig. Ich allein genüge für die hier nötigen, zum Teil recht gefährlichen Ermittlungen nicht. Ich brauche einen Mann wie Sie, Major, der keine Nerven kennt und auch geistig Gefahren gewachsen ist. Wir beide werden die Wahrheit an den Tag bringen. Nehmen Sie vierzehn Tage Urlaub, damit Sie völlig frei über Ihre Zeit verfügen können.“

Allan Craw schaute den Deutschen nochmals scharf an. Doktor Bracks Blick, der dem des Majors begegnete, war offen und voll verborgener Teilnahme.

Craw reichte dem Verbündeten die Hand.

„Abgemacht, Brack,“ sagte er warm. „Ich weiß jetzt, daß ein Gentleman mir gegenübersteht.“

Brack hatte sich erhoben. In seiner schlichten Art erwiderte er:

„Noch eins … – Ihr Herz, Major, muß bei dem, was wir vorhaben, unbedingt schweigen. Ein Mann, verliebt, ist blind und nimmt halb unbewußt für die Geliebte Partei.“

„Keine Sorge,“ meinte Allan Craw hart. „Ich bin Soldat, Brack. – So, und nun will ich draußen mit Thomas Rice sprechen. Er wird Ihren Haftbefehl aufheben.“

Craw ging in den Flur und trat auf Rice und Doubra zu.

„Wie ist’s?“ fragte der Geheimagent begierig. „Hat Brack alles eingestanden?“

„Er hat nichts einzugestehen, Mr. Doubra. – Ich wollte Sie bitten, Rice,“ wandte er sich an den Inspektor, „Mr. Brack sogleich freizulassen. Ich bürge dafür, daß er der Mörder Panjas nicht ist, ebensowenig der Attentäter.“

Rices rundes Gesicht verriet zunächst ein maßloses Staunen, wurde dann aber plötzlich steinern und eisig.

„Ein merkwürdiges Ansinnen,“ meinte er bedächtig. „Leider bin ich nicht in der Lage, Ihrem Wunsche zu entsprechen, Major. Ihre Bürgschaft ist in diesem Falle …“

Da unterbrach Craw ihn mit ebenso eisiger Miene.

„Bitte, treten wir dort ans Fenster, Rice. – Sie entschuldigen, Mr. Doubra.“

Der Inspektor folgte nur widerwillig.

„Rice,“ sagte der Major sehr dienstlich, „Sie wissen, daß ich geheimer militärischer Kommissar für den Verwaltungsbezirk Radschputana bin und daß die Zivilbehörden meinen Befehlen unbedingt nachzukommen haben. So … befehle ich denn, daß Brack sofort freigelassen wird und daß Sie die ganze Angelegenheit nicht weiter bearbeiten. Sie und Doubra verpflichte ich außerdem zu strengstem Stillschweigen.“

Der Inspektor verbeugte sich.

„Wenn die Dinge so liegen, Major … – Brack wird entlassen werden – auf Ihre Verantwortung hin.“

Craw gab Rice die Hand. „Hören Sie, Tom, – diese Sache darf unsere Freundschaft nicht trüben. Wenn es so weit ist, will ich Sie in alles einweihen.“

Der Inspektor schaute Craw sinnend nach, der sehr eilig zu Doktor Brack in das Bureauzimmer zurückkehrte.

Doubra schlängelte sich heran.

„Na – hat der Major sich überzeugen lassen, daß …“

„Brack ist unschuldig,“ sagte Rice sehr kurz angebunden. „Sie halten über all diese Dinge den Mund, Doubra. Ich will nur andeuten, daß die Angelegenheit eine militärisch-politische Seite hat.“

Der Agent lächelte etwas. „So … so! – Gut, wir sind also ausgeschaltet.“ Und er dachte an den Zettel mit den Zahlenreihen, von dem er noch niemandem gegenüber gesprochen hatte. „Ich dränge mich zu keiner Arbeit, Mr. Rice, zumal ich gern ein paar Tage in den Aravalli-Bergen wilde Ziegen jagen möchte. Ich kann doch Urlaub bekommen, Mr. Rice?“

„Das können Sie, Doubra. Jedenfalls: halten Sie den Mund!“

In dem Bureauzimmer aber sagte gleichzeitig Doktor Brack zu dem Major: „Der Nachtzug nach Bhartpur verläßt Agra kurz vor zwölf. Wir treffen uns dann in Bhartpur bei dem Pferdeverleiher Sakindru.“

Craw nickte nur und schaute zu, wie der Deutsche seine Perücke und die Brille wieder aufsetzte. Er hätte Brack nur zu gern sofort noch verschiedenes gefragt. Aber er wollte zeigen, daß er sich zu gedulden wüßte. So trennten sie sich denn vorläufig mit einem stummen Händedruck.

 

5. Kapitel.

Angesichts der Tigerinsel.

Nachdem der alte James Grimser den beiden Herren bis zum Parktor das Geleit gegeben hatte, nachdem dann das Auto in der Richtung Bhartpur in einer riesigen Staubwolke verschwunden war, ließ er durch zwei Diener, wie ihm Mr. Doubra dies befohlen, Panjas Leiche in die Keller der Burg schaffen.

Der alte Mann mit dem zerknitterten Gesicht schloß den Kellerraum selbst ab und folgte langsam den beiden Dienern, die bereits vorausgeeilt waren.

Die Karbidlaterne in James’ Hand warf weiße Lichtstreifen auf die Wände der gemauerten Kellergänge, auch auf eine große Klavierkiste, die in einer Ecke stand und mit einem Stück Öltuch halb bedeckt war.

James blieb vor dieser Kiste stehen.

„Man sollte sie doch lieber verbrennen,“ murmelte er. „Jetzt, wo die Polizei hier herumschnüffelt, kann man nicht vorsichtig genug sein.“

Er seufzte. Seine Sorgenlast war noch größer geworden.

Abermals formten sich seine Gedanken zu leisen Worten.

„Ich werde ihr Panjas Ermordung mitteilen müssen. Sie will drei Tage wegbleiben. Es ist ratsamer, daß sie bald zurückkehrt. Ich … ich fürchte mich hier so allein …“

Dann schlurfte er weiter, müde und gebückt, stieg die steile Kellertreppe keuchend hinan und befand sich nun in einer weiten Halle, deren Fensteröffnungen und breite Tür nach dem Hof hinaus gingen.

Auf dem Hofe saß unter einem Zelt, das noch von ein paar uralten Bäumen beschattet wurde, das Kinderfräulein Miß Roobs mit den beiden Zwillingen. Miß Roobs war eine Eurasierin, die Tochter eines Europäers und einer Inderin. Sie war nicht mehr ganz jung, neigte zur Fülle und verwöhnte die Zwillinge über Gebühr. Die beiden jetzt zweijährigen Bürschchen spielten auf einem Sandhaufen mit Sandformen. Vor ihnen hockte Mauzi, das Ichneumon, während zwei zahme Affen dicht dabei sich um eine Banane balgten.

James trat in die Tür der Halle und beobachtete eine Weile die friedliche Szene, bis die Kinder ihn erspähten und jubelnd auf ihn zugelaufen kamen. Mutwillig zerrten sie ihn am Schoß seiner weißen Jacke nach dem Sandhaufen hin und zeigten ihm die prächtig gelungenen Sandfiguren.

Des alten Mannes Gesicht verzog sich nur zu einem schwachen Lächeln. Eilig entfernte er sich dann wieder, nachdem er noch mit Miß Roobs ein paar leise Worte über Panjas Tod gewechselt und ihr versichert hatte, die Leiche würde sehr bald abgeholt werden.

In seinem Zimmer im Erdgeschoß nahm er aus einem Schränkchen einen Revolver und ein langes sogenanntes Buschmesser heraus, schob beides in die Innentaschen seiner Jacke und verließ das Zimmer. In der Küche erklärte er dem Diener Ahmed, daß er im Parke nach Brillenschlangen suchen wolle. Falls Besuch käme, sollte Miß Roobs die Betreffenden empfangen.

James Grimser schritt durch die Wildnis des endlosen Dadri-Parkes auf kaum noch erkennbaren Wegen mit der Sicherheit eines Mannes dahin, der diese unkrautüberwucherten Wege genau kennt.

Eine schwüle Hitze lagerte unter dem dichten Laubdach der Baumriesen, deren Äste die schmalen Pfade mit vielfachen grünen Dächern überspannten. Kein Sonnenstrahl drang hindurch, kein Lufthauch.

Je weiter der alte Mann sich von der Radschputenburg entfernte, desto wilder und unzugänglicher wurden die Baumwände zu beiden Seiten der einstigen Wege, auf denen vor Jahrhunderten Dschana Dadri, die Lieblingsgattin eines Radschas van Bhartpur, entlanggewandelt war.

Hin und wieder öffneten sich kleine Lichtungen, auf denen die weißen Marmorüberreste von Brunnen und Fontänen aus dem grünen Überzug der Schlingpflanzen hervorlugten. Seltsame Steinfiguren standen an den Wegen in gleichen Abständen, Tiere und Menschen in schreckhafter Verzerrung darstellend.

Nach einer Viertelstunde dann schwand auch die kleinste Andeutung der Wege unter dem ungehinderten Wachstum des Unterholzes: James Grimser schien sich verirrt zu haben. Nur mit dem Buschmesser hätte von dieser letzten Lichtung aus jemand nach Westen zu vordringen können.

Der alte Mann erkletterte ohne Zögern die Einfassung eines großen Brunnenbassins, das halb von einem entwurzelten und doch noch lebenden Rasamala-Baum bedeckt war, kletterte auch über den dicken Stamm hinweg und erinnerte sich dabei jenes Tages, als er zufällig beim Durchstreifen des Parkes zum ersten Male die Brunneneinfassung als Brücke benutzt hatte.

Tief gebückt schob er sich unter Zweigen und Ranken hindurch und gelangte so an eine kahle, grauschwarze Reihe von Felsenhügeln, die sich, durchzogen von sumpfigen Stellen, in westlicher Richtung höher und höher türmten. Es waren die Ausläufer der Aravalli-Berge, die nördlichsten Ausläufer.

Grüne Täler senkten sich von hier aus zu dem von Urwäldern und dichtestem Dschungel umgebenen Dadri-See hinab, in dessen Mitte die langgestreckte Dschana-Insel lag, so benannt nach der Lieblingsgattin des Radschas Sirwara Mir Khan.

Über eine halbe Stunde hatte James Grimser gebraucht, bis er von der Kuppe eines Hügels durch eine lange Baumlücke diese Insel auf dem im Sonnenlicht glänzenden stillen Gewässer tief unter sich erblickte.

Und inmitten dieser Felseninsel, über deren steile Ufer das Astgewirr prächtiger Baumriesen sich bis zum Wasserspiegel hinabsenkte, waren undeutlich die Überreste des kleinen Tempels zu erkennen, in dem die Fürstin Dschana Dadri, die Einzige, ihren ewigen Schlaf hielt. –

Der Alte hatte auf der Kuppe halt gemacht.

Wie so oft schon nahm ihn auch heute wieder die Schönheit des Landschaftsbildes völlig gefangen.

Wie so oft schon dachte er auch heute wieder: „Wahrlich! Dieses Felseneiland hätte eine andere Bestimmung verdient!“

Schneller als sonst ward James Grimser sich jetzt bewußt, daß sein naturfreudiges Herz den düsteren Tatsachen gegenüber schweigen müsse.

Auf einer kahlen Felspartie des Inselufers drüben stand ein prachtvoller ausgewachsener Königstiger und hatte die rechte Vorderpranke auf den untersten Querstab des starken, hohen Eisengitters gelegt, mit dem das Eiland auf Frau Wendmoors Geheiß so kunstvoll umgeben worden war, daß dieses für die gelben Riesenkatzen unüberwindbare Gitter zumeist unter dem Laubgrün verborgen blieb.

Der alte Mann beobachtete den Tiger. Der stand fast unbeweglich und schaute über die Wasserfläche hinweg nach den Bäumen des Parkes und den Felsenhügeln – gerade dorthin etwa, wo Grimser ebenso regungslos verharrte.

Herabkollernde Steine und Blätterrauschen zeigten Grimser an, daß in der Nähe ein Trupp wilder Bergziegen, die hier in dem bisher so sicheren Parke sich ständig vermehrt hatten, weidete.

Die heilige Stille ringsum zerstörte jäh der harte Knall eines Büchsenschusses.

An Grimser vorüber flüchteten die aufgescheuchten gehörnten Tiere, – – verschwanden im Dickicht.

Gleich darauf zog der Alte vor seiner Herrin den breitrandigen Strohhut.

Marga Wendmoor hatte den Leitbock der kleinen Herde durch Kopfschuß niedergestreckt. Neben ihr stand ein nur mit Hüfttuch und Turban bekleideter Eingeborener von stämmigem Wuchs und negerartigem Aussehen. Es war ein Bhil, ein Angehöriger jenes Volkes, das man allgemein als die Ureinwohner Indiens betrachtet. Der struppige Vollbart, aus dem die Wulstlippen rot hervorleuchteten, reichte dem Bhil fast bis zum Gürtel. – Mit breitem Grinsen hatte er den alten James begrüßt und stolz auf die Jagdbeute der angebeteten Herrin gewiesen, die ihm und seiner Familie gestattet hatte, den Park von Dadri weiter als geheime Zufluchtstätte zu bewohnen.

Frau Wendmoor, deren Sportanzug mit Kniehosen und Gürteljacke das Ebenmaß ihrer Gestalt in klaren Linien hervorhob, blickte den treuen James fragend an.

„Es ist etwas geschehen, James,“ sagte sie hastig. „Ohne Grund wärest Du nicht hier.“

Grimser nickte und machte eine Kopfbewegung nach dem Bhil hin.

Marga Wendmoor verstand.

„Arubi, trage den Bock ins Boot und warte dort,“ befahl sie dem braunschwarzen Bhil, dessen Bart bereits von silbernen Fäden durchzogen war.

Arubi schwang sich das Wild auf den Nacken, ergriff seinen im Grase liegenden Speer und schritt federnden Ganges davon.

James tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

„Major Craws Chauffeur Panja ist ermordet im Dickicht gegenüber dem Parktor aufgefunden worden,“ sagte er leise und widerstrebend.

Frau Wendmoor wich dem Blick des alten Mannes aus und meinte nur erstaunt:

„Panja – ermordet?! Das muß ein Irrtum sein, James, eine Personenverwechslung. Mr. Craw ist doch gestern abend im Auto nach Agra zurückgekehrt.“

„Das Auto liegt zerschmettert in der Bhartpur-Schlucht, erzählte der Bäcker, der heute früh die Backwaren brachte.“

Marga Wendmoor erblaßte.

„Und – und Craw?“ stieß sie hervor.

„Lebt und war heute mittag mit einem Fremden in der Burg, der ein Polizeibeamter gewesen sein muß. Er hieß Doubra und durchsuchte auch das Gebüsch unterhalb der Terrasse, wo Chattar morgens eine von Mauzi getötete Kobra gefunden hatte. Und dieser Doubra suchte dort, obwohl ich ihm nichts von der Kobra mitgeteilt hatte. Ich denke, Mistreß, Major Craw hat gestern abend die Zuckerschale und die Teetasse nicht umgeworfen. Auf den Fliesen der Terrasse sah ich ein paar eingetrocknete Blutstropfen, ebenso auch auf der Treppe. Mauzi hat die Kobra auf der Terrasse gepackt. Daher das Blut. Und die Kobra, Mistreß, – – die Kobra ist auf dem Tische gewesen. Ich kenne den Rachenschleims einer Kobra.“

Marga Wendmoors Augen bedeckten sich halb mit den Lidern. Ein Zittern ging über ihre Gestalt hin.

„Was denkst Du weiter, James?“– fragte sie scheu.

Der alte Mann zuckte kaum merklich die Achseln.

„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Mistreß. In letzter Zeit ist so viel Unerklärliches geschehen.“

„Du meinst …?“

James drehte den Kopf und schaute nach der Insel hin. Frau Wendmoor biß die Zähne in die Unterlippe.

„Unmöglich – – unmöglich!“ rief sie nach einer Weile. „Es ist unmöglich, James!“

Der Alte flüsterte rasch:

„Vergessen Sie die Drohung nicht, Mistreß! Major Craw wäre gestern …“

„Oh – laß das ruhen, James!“ bat sie gequält. „Du hast ja recht, es ist viel Unerklärliches geschehen. Vielleicht bin ich selbst etwas unvorsichtig gewesen. Ich habe über Craw gesprochen – einige Male …“

Die beiden Menschen hier in den Felsenhügeln schwiegen jetzt, spürten in Gedanken dem Unerklärlichen nach, das sie seit Tagen beunruhigte.

Dann sagte James Grimser eindringlich:

„Ich rate Ihnen, Mistreß, recht bald in die Burg zurückzukehren. Die Polizei wird fraglos nochmals erscheinen. Dieser Mr. Doubra ist ganz der Mann danach, seine Nase auch in Dinge zu stecken, die ihn nichts angehen. Er war mit Craw heute in Ihrem Salon, Mistreß, und telephonierte, schickte mich nachher hinaus. Horchen ist mir verhaßt. Heute habe ich gehorcht. Doubra rief die Polizei in Agra an, einen Mister Rice, und schlug diesem vor, Doktor Brack zu verhaften.“

„Brack – –?!“

„Ja, Brack soll Panja ermordet haben.“

„Brack?! Welch ein Unsinn!“

James lächelte sein trübstes Lächeln. „Mistreß, für uns wäre das die beste Lösung – – leider! Auch – Eifersucht, Mistreß! So denkt dieser Doubra.“

Marga Wendmoor machte eine[4] hastige Bewegung.

„James – um Gott, – wo hast Du das Buch hingelegt, das Arubi heute früh brachte?“ – Ihre Stimme vibrierte. „Etwa wie sonst auf den Schreibtisch? – So sprich doch! Wenn dieser Doubra den Roman vielleicht beim Telephonieren in die Hand genommen hat und …“

Sie verstummte. James’ entsetztes Gesicht verriet ihr, daß sie allen Grund hatte, das Schlimmste zu befürchten.

„Ja, er … er … hat in dem Roman geblättert,“ stammelte der Alte kläglich. „Lag denn ein Zettel in dem Buche?!“

Frau Wendmoor schwankte, stützte sich schwer auf die Winchesterbüchse.

Ihre Lippen zitterten. Mühsam nur erwiderte sie:

„Ich … ich kehre sofort zurück. Abends bin ich in der Burg. Dann … beraten wir.“ Ihre Stimme wurde fester. „Hat Doubra den Zettel sich angeeignet, so gibt es nur ein Mittel, uns zu schützen …“

Sie beugte sich vor und flüsterte James drei Worte zu …

 

6. Kapitel.

Das Drama in der Villa Wendmoor.

Allan Craw und Doktor Brack hatten Bhartpur um sechs Uhr morgens zu Pferde verlassen und waren nach Nordwest auf einsamen Wegen durch die künstlich bewässerten Felder der weiten Bhartpur-Ebene dahingetrabt.

Kurz hinter der Stadt hatte Craw die Unterhaltung mit der Frage begonnen, was Brack denn über Wendmoors Vergangenheit wüßte.

„Ich nehme an, daß Sie über alles genau unterrichtet sind,“ hatte er hinzugefügt. „Schonen Sie mich nicht. Sagen Sie mir die volle Wahrheit.“

„Die Wahrheit, Craw?! Die kenne ich selbst nicht – noch nicht! Immerhin weiß ich genug, um … – Doch hören Sie mich erst an. Daß Frau Wendmoor eine geborene Deutsche ist, brauchte ich kaum mehr zu erwähnen, wenn eben nicht meine eigene Person der Familie des schlesischen Großindustriellen Lannert in gewisser Weise nahegestanden hätte. Emil Lannert, der Vater der Geschwister Margarete und Edith, war mit einer Engländerin verheiratet gewesen, die ihren eigenen Kammerdiener mit nach Deutschland gebracht hatte: James Grimser! – Frau Alix Lannert starb nach zehnjähriger Ehe. Ihr Gatte, einer der reichsten Leute Deutschlands, hat nun manchem begabten armen Jungen den Besuch einer höheren Lehranstalt und der Universität ermöglicht. Auch mir. Aus Neigung wurde ich dann nach sechssemestrigem juristischen Studium Kriminalkommissar. Mein Wohltäter Lannert starb, als ich diese gesicherte Lebensstellung erreicht hatte. Seine einzigen Erben waren seine Kinder Marga und Edith. Die Lannert-Fabriken wurden durch die bisherigen Direktoren weitergeführt: Dann aber verlobte Marga Lannert sich mit dem Chemiker Edward Wendmoor, einem Landsmann von Ihnen, der in den Lannert-Gruben eine Anstellung gefunden hatte. Edward Wendmoor soll ein Mensch von bestechendem Äußeren gewesen sein. Ich selbst habe ihn nie gesehen. Mit dem Tode meines Wohltäters hatten meine Beziehungen zu den Lannerts aufgehört. Auch die Töchter kannte ich nicht persönlich. Deshalb durfte ich es auch getrost wagen, hier Frau Wendmoor als harmloser Botaniker aufzusuchen. – Edward Wendmoor gewann auf beide Schwestern sehr bald großen Einfluß. Man sagt, auch Edith habe ihn heimlich geliebt. Auf sein Betreiben wurden die Lannert-Werke in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, und kurz nach der Hochzeit siedelten das junge Paar sowie Edith und der alte James Grimser nach England über, wo Wendmoor mit dem Gelde seiner Frau in dem Städtchen Dollon an der Ostküste, das gleichzeitig Seebad ist, eine schloßartige Villa käuflich erworben hatte.“

Doktor Brack machte eine Pause und zündete sich eine Zigarre an.

Craw rauchte fortgesetzt Zigaretten.

„In dieser Villa spielten sich dann jene Ereignisse ab,“ fuhr Brack fort, „die bisher für mich fast genau so dunkel sind wie an jenem Tage, als ich von der Ermordung Edith Lannerts und dem Tode Wendmoors durch die Zeitungen Näheres hörte. Ich interessierte mich für dieses Doppeldrama sowohl als Kriminalkommissar wie als früherer Schützling Emil Lannerts. – Um die Vorgänge in der Villa Wendmoor kurz wiederzugeben: eines Nachts gegen halb ein Uhr wurde die Dienerschaft durch Schüsse und Hilferufe geweckt. Man fand Edith Lannert in ihrem Schlafzimmer erschossen auf. Als Täter kam einzig und allein der Diener John Getrow in Betracht, den Edward Wendmoor noch erkannt zu haben scheint. Er verfolgte den Mörder jedenfalls durch den Garten bis zur See. Hier ist Getrow in ein Boot gestiegen und aufs Meer hinausgerudert. Wendmoor nahm ein zweites Boot und blieb hinter ihm. Einen Tag später wurde Wendmoors Leiche an Land gespült. Der Diener John, gegen den Haftbefehl erlassen wurde, konnte bisher nicht ergriffen werden.“

Der Major ließ sein Pferd in Schritt fallen.

„Brack, viel Neues haben Sie mir da nicht berichtet,“ meinte er. „Ich verstehe nicht, wie man Marga Wendmoor aus Anlaß dieser Geschehnisse irgendwie verdächtigen konnte!“

„Verdächtigen?! Das ist zuviel gesagt. Es gab da aber in diesem Drama geringfügige Einzelheiten, die den Londoner Detektiven zum mindesten eigenartig vorkamen und so allerlei Gerüchte entstehen ließen. Zum Beispiel ist nie aufgeklärt worden, weshalb John Getrow nachts in das Schlafzimmer Edith Lannerts eingedrungen sein mag. Getrow war ein jüngerer Mann von untadeligem Charakter, außerdem verlobt und zwar mit einem hübschen reichen Mädchen, der[5] er die schwärmerischsten Briefe geschrieben hatte. Daß er etwa Edith Lannert Gewalt antun wollte, ist gänzlich ausgeschlossen. Weshalb also überfiel er die junge Dame, würgte sie und schoß sie nieder, als sie um Hilfe rief?!“

Brack schwieg jetzt minutenlang. Er wollte seine letzten Worte erst wirken lassen.

„Das wäre – – ein dunkler Punkt,“ begann er dann wieder. „Und der zweite ist folgendes: Es steht fest, daß Frau Marga Wendmoor in jener Nacht noch völlig angekleidet in ihrem Damensalon gesessen und gelesen hatte, daß sie ihrem Gatten bis an die See folgte und erst nach einer halben Stunde zurückkehrte. – Dies hat sie nachher geleugnet und behauptet, sie sei nur bis ans östliche Ende des Gartens geeilt, wo sie mit James Grimser längere Zeit gestanden habe. – Und doch sagten zwei Zeugen aus, Frau Marga und Grimser hätten an der Landungsbrücke, wo die Boote befestigt waren, eins der Boote loszumachen versucht. – Beide, Frau Wendmoor und James, haben später unter Eid ihre Behauptungen aufrecht erhalten.“

Abermals schwieg Brack und blickte den Major verstohlen von der Seite an.

Craw zerkaute nervös das Mundstück seiner Zigarette, warf die Zigarette weg und fragte zaghaft:

„Noch etwas, Brack?!“

„Ja. – Edward Wendmoor lebte mit seiner Frau zuletzt sehr unglücklich. Die Schuld muß an ihm gelegen haben. Er hat seine Gattin wiederholt … geschlagen. – Frau Marga hat auch dies unter Eid abgestritten, während die Köchin und ein Stubenmädchen das Gegenteil bekundeten.“

„Und weiter?!“

„Das wäre alles, Major. Aber dann kam Frau Wendmoors Abreise aus England.“

„Ihre Übersiedlung nach Indien also …“

„Nein, Craw. Es war eine Abreise, die einer Flucht glich. Alle Vorbereitungen wurden im geheimen getroffen. James Grimser leitete das Ganze. Frau Wendmoors Motorjacht entführte eines Nachts sie, die Kinder und den alten James – für immer. Die Jacht ging nach Indien, nach Kalkutta, den heiligen Ganges aufwärts, in die Dschamna. Inzwischen war Grimser von Bombay mit der Bahn vorausgereist und hatte hier die Burg Dadri zunächst gemietet. Die Jacht ankerte dann südlich von Muttra an einsamer Stelle, und Frau Wendmoor und die Kinder bestiegen das Auto, mit dem Grimser sie erwartet hatte. Ein Lastauto brachte das Gepäck nach der Burg. Unter diesem Gepäck befand sich auch eine Klavierkiste, die während der ganzen Reise in Frau Margas Wohnsalon gestanden hat. Ich habe nämlich einen der Matrosen der Jacht ausgeforscht, Craw.“

Der Major lachte ärgerlich. „Na – und?! Weshalb sollte Frau Wendmoor kein Pianino mitnehmen?! Es ist sogar ein sehr gutes Instrument.“

„Sie meinen dasjenige im Musikzimmer der Burg?“

„Welches sonst!“

„Leider hast Frau Wendmoor das Pianino, das Sie kennen, Major, nicht in der Kiste aus England mitgebracht, sondern es heimlich aus Bombay bezogen. Da nun in der Burg ein zweites Instrument nicht vorhanden ist, frage ich Sie: was ist in der Klavierkiste enthalten gewesen, die von England mitgenommen wurde?!“

Der Major riß die Zügel so scharf an, daß sein Pferd vorne hochstieg. Der Tropenhelm rutschte ihm ins Genick, und so war seine weiße, mit Schweißperlen bedeckte Stirn, die wie eine helle Binde über dem gebräunten Gesicht lag, jetzt unverhüllt. Auf dieser Stirn hatten sich über der Nasenwurzel drei dicke Falten gebildet.

Der Gaul tänzelte unruhig unter dem nervösen Reiter, der nun Brack unwillig zurief:

„Verdammt, Doktor, – was soll in der Kiste gewesen sein?! Ihr Detektivhirn wittert da anscheinend Dinge, die der Phantasie eines Sherlock Holmes Ehre machen!“

Craws Gesichtsausdruck jedoch strafte diese wenig glücklich gewählten Worte Lügen. In seinen Mienen trat unverkennbar eine angstvolle Spannung hervor.

Felix Brack hielt dicht vor dem Major und klopfte seinem Pferde mit der Linken den blanken Hals.

„Ich wußte ja,“ meinte er kühl, „daß Sie nicht unparteiisch sind, Major. Ein Verliebter ist das nie. Sie versuchen hier, Gedanken von sich abzuwehren, die jedem nach meinen bisherigen Angaben über Frau Wendmoor kommen müßten – jedem!“

Unter Bracks ernstem Blick senkte Craw den Kopf, schob den Tropenhelm zurecht und murmelte:

„Na – gut denn, Doktor …! Sie wollten andeuten, daß ein Mensch in der Klavierkiste die Seereise mitgemacht haben könnte. – Wer?!“

„Der Diener John Getrow.“

Craw überlegte. Dann verzog er das Gesicht. „Marga Wendmoor hat also Ihrer Ansicht nach den Mörder ihrer Schwester mit nach Indien geschleppt?! – Brack, Brack, welch ein Unsinn! Nehmen Sie mir meine Ehrlichkeit nicht übel!“ –

Ein einzelner Dromedarreiter hatte die beiden Herren überholt und trabte vorüber. Es war ein Inder, der zum Schutz gegen die Sonne ein Tuch über das Gesicht gebunden hatte, so daß nur die Augen freilagen.

Doktor Brack schaute dem Inder nach. Ein unmerkliches Lächeln spielte, rasch wieder verschwindend, um seinen Mund. Dann wandte er sich dem Major zu, der auf irgendeine Entgegnung wartete.

„Ob meine Ansicht wirklich so unsinnig ist, werde ich Ihnen durch den Augenschein beweisen,“ meinte er ohne die geringste Empfindlichkeit. – „Reiten wir weiter. Und beendigen wir vorläufig dieses Gespräch, das, wie ich zugebe, besser auf meinem Ausguck angesichts der Tigerinsel Frau Wendmoors begonnen worden wäre.“

Er trieb sein Pferd zu einem leichten Galopp an und ließ den Major in einem Wirbel von Gedanken weit hinter sich zurück.

Craw hielt noch ein paar Minuten regungslos an derselben Stelle. Die Erwähnung der Insel im Dadri-See, die Bezeichnung des bewaldeten Eilandes als Tigerinsel hatte in Craws Hirn urplötzlich die Erinnerung an all die Absonderlichkeiten in der Lebensführung Marga Wendmoors wachgerufen.

Und ebenso urplötzlich hatte er nun auch eine Erklärung für Margas extravaganteste Idee, für die Einrichtung der Insel als Raubtiergehege, gefunden:

Marga Wendmoor bewachte dort auf dem Eiland einen Gefangenen in der Ruine des kleinen Tempels, und die vier Tiger sollten ein Entweichen dieses Gefangenen noch schwieriger und gefahrvoller machen! Der Gefangene aber konnte nur der Diener John Getrow sein.

 

7. Kapitel.

Der Zettel.

Craw erreichte den Doktor gerade in dem Augenblick, als Brack den Dromedarreiter eingeholt hatte.

Er hörte, wie Brack den Inder fragte, ob hier in der Nähe nicht ein Gehöft sei, wo man rasten und frisches Trinkwasser erhalten könnte.

Wortlos deutete der Inder auf den fernen dunklen Strich des Ostrandes des Riesenparkes von Dadri – auf eine Stelle, wo aus diesem Strich flächige Wölkchen emporstiegen und in der unbewegten Luft sich zu einem grauen Dunstschleier zusammenschlossen: Rauch – aus irgendeiner Hütte!

Dann kam der Inder den beiden Weißen, indem er sein schnellfüßiges Dromedar durch ein paar tiefe Kehllaute antrieb, sehr bald in dem hier bereits hügeligen und unübersichtlichen Gelände aus den Augen.

Schweigend trabten Craw und der Deutsche denselben Weg entlang. Nach einer Viertelstunde tauchte vor ihnen die rotbraune, hohe Mauer des Parkes von Dadri auf, die sich wie ein immer dünner werdender Farbstreifen nach rechts und links in der Ferne verlor.

Die an vielen Stellen schadhafte und eingestürzte Mauer fehlte hier in einer Länge von fast hundert Meter vollständig. Nur unkrautüberwucherte Hügel bezeichneten die Linie, wo sie einst gestanden hatte. Und jenseits breitete sich eine Lichtung aus, auf der eine armselige Hütte aus Steinen und ein ebenso armseliger Stall inmitten sauber gehaltener Maisfelder sich erhoben. Zwei Ziegen weideten seitwärts auf einer üppigen Wiese, und im Schatten einiger Büsche ruhte wiederkäuend ein Lastkamel, dessen Rücken die blankgescheuerten haarlosen Flecke all dieser zähen Arbeitstiere zeigte.

„Hier bleiben wir bis zum Abend,“ erklärte Doktor Brack. Und rief nach der Hütte zu:

„Hallo, Singar Batta, – hallo, es sind Gäste da!“

Craw schaute seinen Begleiter überrascht an.

„Sie waren schon häufiger hier, Brack?“

„Ja. Sehr oft.“

Aus der Tür der Hütte kam langsam und würdevoll ein uralter Brahmane, die weiße Brahmanenschnur auf der braunen, knochigen Brust, auf die Reiter zu. Sein Turban war ebenso schmierig und fettglänzend wie sein mantelartiges Gewand. Das seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gewaschene Gesicht mit den von Schmutz verklebten unzähligen Fältchen hatte den nichtssagenden, in sich gekehrten Ausdruck der meisten frommen Einsiedler.

„Singar Batta, dies ist Major Allan Craw aus Agra,“ stellte Brack seinen Verbündeten dem greisen Brahmanen vor. „Sorge für unsere Tiere. Wir haben die Nacht nicht geschlafen. Schütte frisches Maisstroh in eine Ecke Deiner Hütte. Das genügt uns.“

Craw hatte sich aus dem Sattel geschwungen. Der prüfende Blick des Brahmanen ruhte unverwandt auf seinem Gesicht.

„Kennst Du mich?“ fragte Craw den Greis, da ihm dieses hartnäckige Angestarrtwerden lästig war.

„Sahib, dreimal sah ich Dich mit der Mem Sahib Wendmoor auf den Wegen des Parkes,“ erwiderte der Einsiedler, indem er seinen Bart durch die Finger gleiten ließ. „Dreimal sah ich das Blasrohr eines unreinen Bhils auf Dich gerichtet. Mein Nahen verscheuchte den Bhil. – Sahib, kehre um. Der Park von Dadri wird Dein Leben fressen.“

Felix Brack war im Nu aus dem Sattel und dicht vor dem Brahmanen. „Singar Batta, weshalb hast Du mir dies bisher verschwiegen?“ fragte er leicht erregt.

Der Greis tastete nach der weißen Schnur auf seiner Brust.

„Sahib, meine Augen sehen vieles, was ich sofort wieder vergesse. Die Mem Sahib Wendmoor ist meine Wohltäterin.“

Dann schritt er einem Haufen Maisstroh zu, der neben dem Stalle lag.

Allan Craw verspürte jetzt abermals das starke Unbehagen, das sich bereits zweimal bis zu dem Gefühl eines ihm über den Rücken laufenden eisigen Hauches gesteigert hatte. Unsicher blickte er auf Doktor Brack, der auch sofort flüsternd erklärte:

„Die Leute, die Ihnen nachstellen, Major, dürften schwer zu fassen sein. Wer wie Sie in Agra hauptsächlich in geheimer militärischer Mission weilt, wer gleichsam als Wächter über die einheimischen Fürsten bestellt ist, sollte doppelt und dreifach vorsichtig sein. Das Indien von heute, das Indien der Nachkriegszeit, ist ein Vulkan. Ihre famose Entente hat ja das Prinzip: „Jedes Land den Kindern des Landes!“ so ehrbar-streng in bezug auf deutsche und österreichische Gebiete durchgeführt. Die Inder sind längst reif, sich selbst zu regieren. Die Freiheitsbewegung wächst. Und Sie, Major, gehören zu denen, die beauftragt sind, die Quellen dieser Bewegung zu verstopfen. Die Attentate aufs Sie sind politischer Natur, behaupte ich.“

Craw nagte die Unterlippe. Mit äußerstem Widerstreben meinte er dann: „Ich habe dies auch schon vermutet.“ Er hob den Kopf höher. „Wenn ich bisher dem Giftpfeil eines Blasrohres, den Giftzähnen einer Kobra und dem Abgrund von Bhartpur entgangen bin, hoffe ich noch so lange zu leben, bis die Schuldigen baumeln.“

Und er nahm sein Zigarettenetui heraus und begann zu rauchen.

Brack führte die Pferde in den Schatten der nächsten Bäume. Seine Augen glitten dabei spähend über den grünen Saum der Lichtung hin. Das wütende Kreischen einiger Affen dort im Dickicht ließ ihn vermuten, daß die behenden graugrünen Gesellen durch irgend jemand bei ihrem Frühstück gestört worden seien.

Er band die Zügel an einen Baum und machte sich an den Sätteln zu schaffen.

Mit einem Male umspielte wieder jenes Lächeln seinen Mund, mit dem er schon auf dem Herritt den Inder mit dem Gesichtstuch wie in überlegenem Spott gemustert hatte.

Er kehrte zu Craw zurück, der am Türpfosten der Hütte lehnte. – Der Brahmane schleppte gerade einen Arm voll Maisstroh in seine dürftige Behausung.

„Mister Horace Doubra kriecht drüben in den Büschen umher,“ sagte Brack und nahm die weiße Schirmmütze ab.

„Wer?!“

„Doubra, lieber Major. Oder genauer: der Dromedarreiter, den ich nach einem Gehöft fragte.“

Craw murmelte:

„Ah – welche Unverschämtheit! Trotz meines Verbotes!“

„Regen Sie sich nicht auf. Wir werden dem Herrn den Spaß verderben. – He, Singar Batta, gib mir doch einmal ein paar Baststricke.“ –

Dann saßen Craw und der Deutsche in der halbdunklen Hütte auf dem Maisstrohlager. Der Brahmane war zu seinen Ziegen gegangen, um sie zu melken. Nach kurzer Zeit erhob Doktor Brack sich und flüsterte:

„Sprechen Sie jetzt recht laut, Craw. Erzählen Sie mir scheinbar irgendein Jagdabenteuer.“ – Er schlich zur Tür und drückte sich innen dicht an den Türpfosten.

Craw grinste etwas und schilderte sehr geräuschvoll seine erste Tigerjagd.

Dann sah er, wie Brack blitzschnell aus der Tür schoß, hörte einen halb erstickten Schrei.

„Craw – die Stricke her!“ brüllte der Doktor. „Ich habe hier, scheint’s, einen Spitzbuben erwischt!“

Der Major war schon zur Stelle. Brack kniete auf dem Dromedarreiter, der auf dem Bauche lag und sich nicht rührte.

Nachdem der angebliche Inder gefesselt war, befahl Brack ihm aufzustehen. Der Major hatte seine Dienstpistole in der Hand und schob die Sicherung zurück.

Das Gesichtstuch des Verkleideten war bei dem plötzlichen Überfall nur wenig verrutscht.

„Ich werde ihn durchsuchen,“ meinte Brack. „Antworten wird der braune Schuft ja doch nicht.“

Craw beteiligte sich an dieser Komödie und fügte seinerseits hinzu: „Und ich schieße ihm in die Beine, wenn er etwa davonläuft.“

Der Dromedarreiter stand still und ließ alles über sich ergehen. Brack fand zumeist nur Kleinigkeiten in den weiten Taschen des Gewandes. Aber – unter diesen Gegenständen waren ein elektrischer Leuchtstab, eine Repetierpistole und ein schmales Notizbuch immerhin belastend genug.

„Die Sachen hat der Kerl fraglos irgendwo gestohlen,“ sagte Brack. „Sperren wir den Burschen vorläufig in Singar Battas Vorratskeller ein.“

Er faßte den Pseudoinder beim Genick und schob ihn nach dem Stalle hin, wo ein tiefes, ausgemauertes Erdloch mit einem Deckel aus Balken nunmehr Mr. Doubras vorläufige Zelle wurde.

Brack und Craw rollten des Brahmanen schweren zweirädrigen Karren auf den Balkendeckel und häuften auch noch Steine dazu.

Singar Batta näherte sich mit einem Holzgefäß voll frischer Ziegenmilch.

„Wir haben da soeben einen Spitzbuben abgefaßt,“ rief Brack dem Greise zu. „Gib gut auf ihn acht. Morgen nehmen wir ihn mit nach Bhartpur.“

Dann zog er Craw nach der Hütte zurück.

Der Major lachte ganz leise.

„Das haben Sie glänzend gemacht, Doktor! Doubra ahnt nicht, daß wir ihn erkannt haben.“

Brack blätterte in dem Notizbuch. Ein Zettel flatterte heraus.

Der Major bückte sich.

„Hm – nichts als Zahlen!“

„So?!“ meinte Brack gedehnt. „Manchmal sind Zahlen mir lieber als Buchstaben.“

Craw hatte den Zettel aufgehoben und umgedreht.

„Ah – hier sind Zahlen und Buchstaben, und … Teufel, da steht ja der Name Marga Wendmoor! Da steht noch mehr. Hören Sie zu, Brack …!“ – Er las vor:

„Marga Wendmoor, hüte Dich! Dies ist die dritte Warnung! Du wirst die Summe doch zahlen, wenn nicht freiwillig, dann – – anderswie!“

Brack nahm den Zettel an sich.

„Die Zahlen auf dieser Seite stellen eine Geheimschrift dar,“ erklärte er nach kurzer Prüfung. „Und auf dieser Seite hat Doubra die Chiffreschrift ins Englische übertragen. – Kommen Sie, Major. Doubra muß uns mitteilen, wie er in den Besitz des Zettels gelangt ist. – Sie sehen ja, Craw, die Geheimschrift rührt von einer anderen Hand her.“

„Allerdings!“ murmelte Craw etwas verwirrt. Doktor Bracks zielbewußte rasche Entschlüsse waren ihm noch zu ungewohnt.

 

8. Kapitel.

Bracks Baumplattform.

Horace Doubra wurde aus dem Keller wieder herausgeholt. Brack nahm ihm das Gesichtstuch ab. Und abermals bewies der Major da, daß er sich zum Verbündeten des deutschen Kriminalkommissars durchaus eignete. Er spielte tadellos Komödie, rief nun:

„Wie – – dieses gefärbte Gesicht?! Mr. Doubra, also Sie sind’s!“ Seine Stimme schwoll an. „Habe ich Ihnen nicht durch Thomas Rice bestellen lassen, daß Sie sich in diese Angelegenheit nicht weiter einmischen sollen! Und jetzt spionieren Sie uns nach!“

Doubra lächelte harmlos. „Ich bin als Privatmann hier, Mr. Craw, und befinde mich auf dem Wege nach den Aravalli-Bergen zur Jagd. Ich habe zwölf Tage Urlaub. Im übrigen glaube ich, daß Doktor Brack mich schon vorhin erkannt hat. Horace Doubra ist schwer zu täuschen.“

Brack nickte. „Ihre Polizeiaugen vergißt man nicht so leicht. – Woher haben Sie diesen Zettel? Ich nehme an, Sie fanden ihn in der Burg, als Sie gestern mit Craw dort waren.“

„Ja, in einem Buche auf Frau Wendmoors Schreibtisch. Ein merkwürdiger Zettel, Mr. Brack, nicht wahr?“

Brack nahm ihm die Baststricke ab.

„Der Major hat zu entscheiden, ob Sie sofort Ihren Ritt fortsetzen sollen,“ meinte er ausweichend.

Craw verneigte sich steif vor dem Geheimagenten. „Es war uns ein Vergnügen, mit Ihnen hier zusammenzutreffen. Glückliche Jagd, Mr. Doubra.“

Doubra war nicht empfindlich. „Schade, ich hätte so sehr gern den Fall als Privatmann weiter bearbeitet, Major. Ich möchte den Herren dann noch die Maße der Fußspuren des Mörders Ihres Chauffeurs übergeben. Die Papierstreifen liegen in der Seitentasche meines Notizbuchs. Der Mörder hat einen kleinen Fuß, wie ich schon erwähnte, – genau wie Sie, Mr. Brack. Womit ich nicht etwa andeuten will, daß ich Sie für den Mörder halte, Mr. Brack. Nein, was Sie sind, weiß ich jetzt: eine Art Kollege von mir, ohne Zweifel, wahrscheinlich ein deutscher Kriminalbeamter.“

Brack reichte Doubra die Hand. „Vielleicht haben Sie recht. Sie verstehen etwas von Ihrem Beruf, Mr. Doubra. Und doch muß dieser Fall nur von Craw und mir erledigt werden.“

„Wie Sie wünschen, Mr. Brack. – Sie haben ja mein Notizbuch. Bitte … – So, hier sind die Papierstreifen. Die nötigen Bemerkungen stehen auf den Streifen. Der Mörder hat einmal die linke Sandale verloren. Hier ist das Maß des linken Fußes.“

Auch Craw war jetzt liebenswürdiger zu Doubra, gab ihm gleichfalls die Hand zum Abschied. Gleich darauf trabte der Agent auf seinem Dromedar davon.

Brack und der Major begaben sich wieder in die Hütte auf ihre Lagerstatt.

„Doubra ist wirklich ein gescheiter Kerl,“ meinte der Doktor gähnend. „Schlafen wir jetzt, Craw. Die kommende Nacht muß uns frisch finden – frischer, als ich bisher glaubte. Der Zettel hat den Fall Wendmoor leider noch dunkler gestaltet.“

Der Major konnte nicht einschlafen. Seine Gedanken umkreisten unausgesetzt die Tigerinsel. Marga Wendmoor war ihm mehr denn je ein Rätsel. Er bewunderte Brack, der bereits ruhig neben ihm atmete und nur im Tiefschlaf zuweilen ein paar unverständliche Worte murmelte. Freilich – Bracks Herz war bei alledem unbeteiligt. – Endlich fiel Craw dann ebenfalls in einen leichten Halbschlummer. Als Brack sich nach Stunden aufrichtete und einen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr warf, erwachte auch der Major sofort.

„Acht …!“ meinte der Doktor und gähnte kräftig. „Jetzt essen wir Abendbrot, Craw, und dann brechen wir auf.“

Um halb neun, als gerade die Abendröte zwischen den Riesenbäumen des Parkes von Dadri flammte, schritten die beiden Verbündeten, jeder einen Proviantsack auf dem Rücken, auf schmalem Pfade durch das Dickicht.

Der Pfad war nur wenig von Unkraut überwuchert, so wenig, daß es dem Major auffiel und er daher den Doktor fragte:

„Haben Sie sich etwa diesen Weg durch das Unterholz gebahnt?“

Brack, der voranging, wandte etwas den Kopf. „Singar Batta wohnte in der Tempelruine der Tigerinsel als Wächter des Grabes der Lieblingsgattin des Radschas Sirwara. Er wohnte dort seit so vielen Jahren, daß er die Zeit nicht einmal mehr angeben kann. Als Frau Wendmoor den Park nebst Burg, See und Insel kaufte, mußte der Greis die Hütte beziehen. Er erhält von Frau Wendmoor seitdem eine monatliche Unterstützung.“

Craw fügte diesen neuen Beweis, daß Marga die Insel im Dadri-See zu geheimen Zwecken benutzte, in Gedanken den anderen hinzu. Singar Batta war also als Bewohner des Eilandes Frau Wendmoor unbequem gewesen. Sie hatte ihn daher ausquartiert, um den Tempel für John Getrow freizubekommen. All das war so klar – so unheilvoll klar.

Der Major rückte Brack dichter auf den Leib. „Doktor, Sie quälen mich,“ sagte er gepreßt. „Weshalb verbirgt Marga den Diener Getrow auf der Insel und läßt ihn durch Tiger bewachen?“

Brack hatte Mitleid. Der Major sollte nicht länger auf ein Liebesglück hoffen, das nie Wirklichkeit werden konnte. Hier in dieser Wildnis war kein Lauscher zu fürchten. Neben dem Pfade liefen die grünen Wände zähesten Urwaldes hin.

„Sie scheinen nun überzeugt zu sein, daß Frau Wendmoor auf der Tigerinsel jemand gefangen hält,“ begann Brack nicht allzu laut mit etwas zurückgewandtem Kopf. „Die Hauptsache: sie hält jemand gefangen! Nicht „sie verbirgt jemand“. Ich habe Beweise dafür. – Es gibt verschiedene Erklärungen für Marga Wendmoors Flucht in die Einsamkeit hier und für die Einkerkerung John Getrows. Ich will Ihnen diese Erklärungen kurz andeuten, Craw. Unterbrechen Sie mich aber nicht. Lassen Sie mich ruhig ausreden. – Erstens – die harmloseste: Getrow ist tatsächlich der Mörder Edith Lannerts, zugleich der Mörder Edward Wendmoors, der ihn in jener Nacht in einem Boote verfolgte. Marga hat den Mörder mit James Grimsers Hilfe der Polizei entzogen und sich vorgenommen, den Doppelmörder selbst zu bestrafen. Der Strick, der Tod am Galgen, war ihr keine genügende Sühne. Getrow sollte leben und doch die Vergeltung spüren. Deshalb nahm sie ihn mit sich und richtete den Kerker auf der Tigerinsel ein, vielleicht einen Kerker, der den Gefangenen tagtäglich foltert. – Das wäre eine Erklärung, die harmloseste. – Dann die zweite: Nicht Getrow hat Edith ermordet, sondern Edward Wendmoor beging die Tat, der ja in Edith verliebt gewesen sein soll. Er also drang in ihr Schlafzimmer ein, er entfloh, und Getrow verfolgte ihn. Wendmoor sprang in ein Boot; Getrow in ein zweites. Auf See kam es zwischen den beiden Männern zum Kampfe. Wendmoor unterlag, und das Meer spülte später seine entstellte Leiche an Land. Getrow wieder, der einzige, der außer Marga die Wahrheit kannte, wurde von Marga und Grimser, damit Edward Wendmoor nicht als Mörder gelte, überwältigt und nachher hier nach Indien gebracht. – Auch diese zweite Erklärung ist harmlos, da sie Frau Marga nur wenig belastet. Es ist verständlich, daß Frau Wendmoor den Vater ihrer Kinder nicht am Galgen enden sehen wollte. – Schließlich die dritte Erklärung die ich für die richtige, die zutreffende halte …“

Er schwieg eine Weile. – Craw merkte, daß es dem Doktor nicht ganz leicht wurde, diese letzte seiner Schlußfolgerungen preiszugeben. Er ahnte, weshalb …

Da sprach Brack auch schon weiter:

„Die dritte Erklärung stützt sich genau wie die beiden ersten auf die Tatsache, daß die Vorgänge in der Villa Wendmoor in jener Nacht lediglich durch die Zeugenaussagen Frau Margas und James Grimsers, die zuerst am Tatort erschienen, in wenig befriedigender Weise festgestellt werden konnten. Wenn also diese beiden Zeugen absichtlich falsch ausgesagt haben, was den ganzen späteren Umständen nach durchaus möglich ist, kann man auch vermuten, daß Frau Marga … aus Eifersucht ihre Schwester erschossen hat und daß Edward Wendmoor wieder aus Verzweiflung über diese Tat wie ein Irrsinniger in die Nacht hinausstürmte, verfolgt von John Getrow, der seinen Herrn für den Täter hielt, ihm nachsetzte und vielleicht gar nicht wußte, daß der Flüchtling Edward Wendmoor war. – Nachher mögen dann Frau Marga und Grimser, damit Getrow nichts bekunden könnte, ihn mit Gewalt verborgen gehalten haben.“

Brack hatte all dies sehr hastig vorgebracht.

Er erwartete nun mit aller Bestimmtheit eine diese dritte Kombination schroff ablehnende Erwiderung des Majors. Der blieb jedoch sonderbarerweise stumm.

Und stumm schritten die beiden Männer nun weiter und weiter den schmalen Pfad entlang, bis Brack dann nach links in eine enge Schlucht abschwenkte und die westliche Schluchtwand zu erklimmen begann.

Fünf Minuten später, als bereits die Dunkelheit immer stärker zwischen den felsigen Hügeln und den mächtigen Stämmen tropischer Baumriesen ihre grauen Schleier ausspannte, als in der Wildnis des Dadri-Parkes die Nachttiere sich meldeten, Schwärme von Leuchtkäfern wie glänzende Wölkchen dahinschwebten und der schauerliche Ruf der Nachteulen in das heisere Kläffen eines beutelüsternen indischen Schakals sich mischte, hatte Brack vor einem Rasamala-Baum halt gemacht, der dicht über dem Boden mindestens drei Meter Durchmesser hatte und vielleicht einer der ältesten der grünen Riesen des meilenweiten Parkes sein mochte.

Craw wollte gerade fragen, ob man am Ziel angelangt sei …

Da – – zuckte er zusammen – – horchte …

Aus nicht allzu weiter Entfernung klang das Jaulen eines Tigers herüber, – jene charakteristischen Laute, die kein Jäger mehr vergißt.

Das Jaulen erstarb, schwoll an …

Craw fragte nichts. Er wußte: dort hinter den Blättervorhängen lag der See, lag die Insel! –

Doktor Felix Brack hatte aus einem nahen Gestrüpp das freie Ende einer Strickleiter hervorgeholt, die oben in den übermannsdicken Ästen des Rasamala irgendwo befestigt war.

Er begann ebenso wortlos den Aufstieg, wie er die letzten tausend Meter des verschwiegenen Weges stumm zurückgelegt hatte. – Craw kletterte gewandt hinter ihm drein.

Vier Strichleitern führten die beiden Verbündeten bis zu einem der oberen, nach Norden gerichteten Äste des Rasamala. Hier hatte Brack aus Zweigen eine Art Plattform mit Geländer erbaut. Von hier aus erblickte der Major nun zum ersten Male die Insel im Dadri-See, von dem Marga stets behauptet hatte, daß es so gut wie unmöglich sei, sich einen Weg bis an seine Ufer zu bahnen.

Brack legte den Proviantsacke ab.

„Tun Sie desgleichen, Major,“ meinte er leise. „Wir sind am Ziel, wie Sie sehen. Hier habe ich viele Tage und Nächte durchwacht und festgestellt, daß Frau Wendmoors einsame Ritte und Autofahrten nur zum Schein unternommen werden, denn – sie enden stets nach kurzer Zeit dort drüben am Nordufer, und Frau Marga fährt dann in einem kleinen Einbaum zur Insel hinüber und bleibt dort oft tagelang … Vielleicht auch als Wächterin …“

 

9. Kapitel.

Der Nachen.

Craw starrte zu dem nur noch undeutlich erkennbaren Eiland hinüber und … schwieg. Er wagte nichts mehr zu äußern. Er dachte nur noch an Marga Wendmoors Abschiedsworte: „Ich kann nie die Ihre werden!“ – Er glaubte jetzt zu wissen, weshalb sie ihn gebeten hatte, seine Besuche auf der Burg einzustellen. Sie war eine Mörderin. Wahrscheinlich eine Mörderin aus Eifersucht. Und sie war doch charakterfest genug, auf ein neues Liebesglück zu verzichten. Sie wollte ihn, Allan Craw, nicht mit hinein in ihr dunkles Schicksal verstricken. Ja – nur so konnte es sein, nur so!!

„Der Mond kommt nach zwei Stunden zum Vorschein,“ sagte Felix Brack und öffnete sein Fernglasfutteral. „Dann werden wir das Panorama von See und Insel mit Hilfe der Gläser so dicht und deutlich vor uns haben, daß …“

Er verstummte. Er hatte sein scharfes Triederbinokel[6] wie zur Probe an die Augen gehoben.

„Craw, – Ihr Glas heraus!“ stieß er hervor …

Craw beeilte sich.

Die Hände zitterten ihm …

Jetzt schraubte er an seinem Jagdglas …

Richtete es tiefer …

Klarer und klarer wurde das nächtliche Bild.

Da war die Oberfläche des Sees, ein Teil des Inselufers …

Da war … ein Nachen … eine helle Gestalt darin.

Mehr war nicht zu erkennen.

„Frau Wendmoor in dem Einbaum,“ flüsterte Brack. „Sonderbar, der Nachen hält auf das Südufer zu. Sonst habe ich Frau Marga die Insel stets umrunden sehen, stets legte sie am Nordufer des Sees an …“

Der Major hielt den Atem an.

Seine Augen hatten sich jetzt noch besser an die schwache Beleuchtung gewöhnt.

„Es sind doch offenbar noch zwei Personen in dem Nachen,“ meinte er.

„Vielleicht Grimser und der Bhil …“

„Wer – ein Bhil?! Ein Bhil?! – Wie kommen Sie darauf, Brack?“

„Weil ich weiß, daß Frau Marga der Familie eines Bhils auf der Insel Unterschlupf gewährt hat. Es ist ein alter braunschwarzer Kerl mit einer ebenso alten scheußlichen Hexe von Weib und zwei Söhnen.“

Craw vermochte zuerst überhaupt nichts zu entgegnen.

„Sie haben eine merkwürdige Art, Ihre Neuigkeiten tropfenweise zu verzapfen,“ meinte er dann. „Was alles wissen Sie denn noch?! Reden Sie endlich.“

Brack beobachtete fortgesetzt das kleine Boot. Er antwortete nicht. Er gab sich die größte Mühe, die beiden anderen Gestalten in dem Nachen zu erkennen.

Bis der Nachen dann durch das Baumgrün seinen bewaffneten Augen verdeckt wurde.

Da erst meinte er: „Ich weiß nur noch eins: daß der alte Bhil als Bote zwischen Burg und Insel benutzt wird.“

„Ah – dann war es also dieser braunschwarze Halbnigger, der mit seinem Blasrohr mich anpusten wollte!“ lachte Craw grimmig.

„Vielleicht …!“ Und der Deutsche bückte sich und tastete auf der Plattform nach dem Moospolster, das ihm hier stets als Sitz gedient hatte. „Da, Craw, nehmen Sie Platz,“ fügte er hinzu. „Die verdammten Stechmücken melden sich. Rauchen wir eine Zigarre. Ich setze mich auf den einen Proviantsack. Wir haben ja noch Zeit.“

„Und dann?“ fragte der Major gespannt.

„Hm – das ist wohl selbstverständlich. Dann fahren wir beide zur Tigerinsel hinüber und sehen uns den Gefangenen Frau Wendmoors persönlich an.“

Craw setzte sich. Bracks kaltblütige Entschlossenheit imponierte ihm abermals.

Sie saßen und rauchten.

Mit feinem Singen umschwärmten geflügelte Plagegeister die Plattform.

Auf der Insel jaulten zuweilen die Tiger.

„Die Bestien haben Hunger,“ meinte Brack und schlug mit der Hand um sich. „Die Bestien der Frau Wendmoor – an die denke ich jetzt, nicht an die Mücken. Frau Marga wirft den vier Tigern nur jeden zweiten Tag eine selbsterlegte Bergziege oder ein Schaf vor. Hungrige Tiger sind bessere Wächter als satte.“

Der Major sann vor sich hin.

„Hören Sie mal, lieber Brack,“ begann er dann unvermittelt, „wenn der Bhil mir auflauerte, der doch in Frau Wendmoors Diensten steht, dann … dann kann Ihre Theorie von politischen Attentaten auf mich kaum stimmen.“

„Vielleicht nicht …“

Craw wurde ungeduldig.

„Mann, begreifen Sie doch, daß Sie mich geradezu foltern!! – Es scheint, Sie haben da nur die verdammte Politik hineingemengt, um mich auf eine falsche Fährte zu locken.“

„Hm – sollte ich Ihnen so unvorbereitet erklären, daß ich Frau Wendmoor für äußerst gefährlich halte?!“

„Das heißt: Sie halten sie für fähig, ihre Gäste beseitigen zu lassen?!“ fuhr der Major auf.

Brack blieb stumm.

Und sein Nachbar, der verzweifelt an seiner Zigarre sog und dem sich im heißen Hirn schier die Gedanken verwirrten, wollte etwas sagen, wollte mit Vorwürfen über Brack herfallen, der es wagte, Marga derart zu verdächtigen …

Wollte …

Und – blieb gleichfalls stumm …

Bis sich seine verzweifelte Stimmung in den tonlosen Worten Luft machte:

„Aber – aber weshalb sollte sie mich ermorden wollen, – mein Gott – weshalb?!“

„Ich … weiß es nicht, Craw. Wirklich nicht. Es ist ja auch nur eine Vermutung von mir, die infolge der Mitteilung des alten Brahmanen ganz plötzlich in meinem Kopf sich aneinanderfügte – aus Kleinigkeiten …“

„Kleinigkeiten?! Was nennen Sie Kleinigkeiten?!“

„Nun – zum Beispiel die Tatsache, daß der Mörder Ihres Chauffeurs einen so winzigen Fuß hat …“

„Wie?! Frau Wendmoor soll …“

„Nein, nein, nicht sie selbst! Aber – – Grimser! Haben Sie sich mal Grimsers Füße zufällig angesehen?! Er hat …“

„Ja – er hat den reinen Damenfuß …,“ sagte Craw mit erlöschender Stimme.

Und abermals nun tiefe Stille auf der Plattform inmitten der Äste des uralten Rasamala.

Tiefe Stille …

Desto lauter, desto reger waren die Gedanken der beiden Männer, – gleich den Mückenschwärmen, die um sie her schwärmten und summten.

So verging fast eine Stunde.

Und drüben jaulten die hungrigen Bestien, die Wächter John Getrows …

„Der Zettel!“ sagte Brack dann mit einem Male. „Der Zettel, Major, stützt meine dritte Theorie.“

Craw suchte sich schnell in den Gedankengang des andern hineinzufinden.

„Sie meinen, daß Getrow Schweigegeld verlangt?! – Ich verstehe das nicht ganz. Was soll der mit Geld, wenn er ein Gefangener ist?!“

„Nun, er mag ahnen, daß seine Anwesenheit auf der Insel nicht lange verborgen bleiben kann und daß Frau Marga ihn eines Tages doch wird freilassen müssen, da sie ihn der vielen Mitwisser wegen – Grimser und die Familie des Bhils – nicht beseitigen kann.“

Während Brack diese scharfsinnigen Bemerkungen halblaut aussprach, beobachtete er weiter über den Rand des niederen Geländers der Plattform den See und die Insel.

Jetzt gerade huschte plötzlich der erste helle Schimmer des hinter den Baumkronen aufsteigenden Nachtgestirns über die Oberfläche des dunklen Gewässers …

Und Brack fügte hinzu:

„Die Theorie ist zu Ende. Die Praxis beginnt … Der Mond ist da …“

 

10. Kapitel.

Der Kerker.

Brack erhob sich, dehnte und reckte sich.

Craw murmelte:

„Der Mond ist meines Erachtens sehr überflüssig, Doktor.“

„In der Dunkelheit finde ich mein Floß nicht, Major. Jedenfalls – es ist alles vorbereitet.“

„Hm – und die menschlichen Wächter drüben?! Ein Floß muß doch im Mondlicht auffallen.“

„Nicht mein Floß, Craw. – So, hier ist die Whiskyflasche. Trinken Sie. Ich tu’s auch. Und dann stecken Sie Ihren Leuchtstab zu sich und nehmen Sie diesen Patronenrahmen für Ihre Repetierpistole.“

„Diesen – –?“

„Ja – ich habe von den Nickelmantelgeschossen die Spitzen abgefeilt. Dum-Dum-Geschosse, Craw. Für Tiger auf nahe Entfernung wirksamer – auf alle Fälle.“

Craw suchte des Deutschen Gesicht zu unterscheiden, dieses leidenschaftslose, kluge, energische Gesicht.

Er begriff plötzlich, weshalb die Deutschen vier Jahre lang der halben Welt Widerstand hatten leisten können. Tausende solcher Männer wie Brack wogen Millionen anderer auf. –

Der Doktor reichte dem Major die Flasche.

Gleich darauf kletterten sie abwärts. Brack wieder voran.

Unten am Fuße des Rasamala flüsterte er:

„Hier – dieser dicke Knüttel ist Ihre Waffe gegen das kriechende Gewürm. Gehen Sie tief gebückt und leuchten Sie vor sich auf den Boden – genau wie ich.“

Die nächtliche Wanderung zum Seeufer hinab begann. Brack mußte diesen pfadlosen Weg recht oft zurückgelegt haben, da er auch nicht ein einziges Mal sich in der Richtung irrte, obwohl er stets kleine Lichtungen benutzte und weite Bogen beschrieb, um dem Dickicht auszuweichen.

Nach zehn Minuten standen sie dann an dem steinigen Uferabhang einer kleinen Bucht. Die Leuchtstäbe hatten sie schon vorher ausgeschaltet.

In dieser Bucht schwamm die Krone eines vom Sturm geknickten Baumriesen.

Brack griff in das Wasser hinein, fand den Strick, und zog sein Floß näher heran.

„Bitte, Major, das ist mein Fahrzeug,“ flüsterte er. „Ich habe es unten durch aufgeblasene Wasserschläuche tragfähiger gemacht. Klettern Sie nur hinauf. Ein Ruder ist in den Zweigen, die uns jedem Blick verbergen, angebunden.“ –

Das Floß verließ langsam die Bucht.

Dann schien es, von irgendeiner Strömung getrieben, gleich einem harmlosen Baumstamm der Insel sich zu nähern.

„Dort geradeaus befindet sich in dem Eisengitter eine Tür,“ flüsterte Brack. „Und von der Tür läuft ein durch Gitterstäbe zu beiden Seiten geschützter Weg zu der Tempelruine empor.“

Er ruderte etwas kräftiger, bis die Äste des Floßes die steile Felswand des Inselufers streiften und in dieser natürlichen Mauer sich eine durch eine Gitterpforte verschlossene Spalte öffnete.

Craw pachte einen der Eisenstäbe.

„Ah – – offen!“ entschlüpfte es ihm.

Die Gittertür war nach außen aufgegangen.

Brack war unangenehm überrascht.

„Das gefällt mir nicht. Ich war schon zweimal hier. Stets war die Tür verschlossen,“ meinte er leise.

Der Mond beleuchtete teilweise den Weg, der zu den Tempelresten emporlief.

„Ein … ein Tiger!“ hauchte Craw.

Auch der Doktor hatte die gelbe Bestie jetzt bemerkt, die lautlos mit pendelndem Schweif von oben den Weg herabkam – halb zusammengeduckt, wie sprungbereit.

Brack drückte die Tür wieder zu.

Mit metallischem Klingen schnappte das Schloß ein.

Und – im selben Moment schnellte die prachtvolle Bestie in ungeheurem Satz vorwärts, prallte gegen die Gitterpforte, heulte auf und fiel mit dumpfem Krach halb betäubt zu Boden.

Die Tür hatte dem Stoße widerstanden.

Der Major war erbleicht. Felix Brack schob das Floß rasch mit dem Ruder wieder ins offene Wasser.

„Ich glaube, wir geben die Sache besser für diese Nacht auf,“ meinte er halblaut. „Hier auf der Insel ist alles anders als sonst. Bisher habe ich nie einen Tiger auf dem umgitterten Pfade bemerkt. Frau Wendmoor muß heute den Bestien absichtlich auch den eingefaßten Weg geöffnet haben.“

Craw hatte sich von dem Schreck erholt.

„Wir hätten schießen sollen,“ sagte er ärgerlich. „Ich hätte den Tiger durch eine Kugel ins Hirn abtun können.“

„Die Kugeln sollten nur für den äußersten Notfall uns den Rückzug decken. Jeder Schuß ist in der Burg zu hören.“ – Brack sprach sehr bedächtig – so, als ob er in Gedanken mit anderen Fragen sich abgab. „Oder – oder wir prüfen mal, ob der alte Singar Batta mich wirklich nicht angelogen hat, als er mir als Dank für meine reichen Geldspenden angeblich das größte Geheimnis der Insel verriet.“

„Welches?“

„Er behauptet, dieses Geheimnis nicht einmal Frau Wendmoor anvertraut zu haben. Es soll an der Westseite der Insel, wo die Ufer besonders steil und hoch sind, eine durch einen genau hineinpassenden dreieckigen flachen Stein verschlossene Öffnung geben, die sich als schmale Höhle bis unter die Tempelruine hinzieht. Der Stein soll sich drehen lassen, da er oben und unten einen eisernen Zapfen hat. – Singar Batta erklärte mir, er selbst hätte diesen Zugang zu dem Tempel nie benutzt; er habe das Geheimnis von seinem Vater überliefert bekommen, der ebenfalls schon in der Ruine gewohnt habe. Möglich also, daß die ganze Geschichte Schwindel ist. Immerhin – wir können ja mal versuchen, ob wir solch einen Stein finden. Wenn wir langsam am Ufer entlangfahren, müßten wir ihn wohl bemerken, selbst wenn er nicht leicht zu erkennen ist. Die Umrisse dürften ihn verraten – für Eingeweihte.“ –

Eine Viertelstunde später befestigte Brack das Floß, damit es nicht abtreibe, an dem drehbaren Stein.

Der Major stand bereits in der Höhle, in der Linken den Leuchtstab, in der Rechten die entsicherte Pistole.

Dann schritten die beiden nebeneinander die kühle Felsengrotte hinan. Die Lichtkegel ihrer Leuchtstäbe zerteilten die Finsternis mit grellweißem Schein.

Nichts stellte sich ihnen in den Weg – nichts …

Bis sie das Ende der Höhle erreicht hatten, stehenblieben und der Doktor sagte:

„Singar Battas Vater hat nicht gelogen. Also wird es auch mit dem zweiten Teil des Geheimnisses seine Richtigkeit haben: es soll von hier aus eine versteckte Falltür nach oben in einen der beiden Nebenräume der Tempelhalle führen. – Suchen mir diese Tür!“

Craw hatte die Umgebung abgeleuchtet.

„Dort liegt ein Baumstamm,“ meinte er.

Brack schaute hin, trat näher, bückte sich …

„Ein zum Teil ausgefaulter Stamm,“ murmelte er. „Und das morsche Holz ist entfernt worden. Es ist … ein primitiver Kahn, lieber Major. Da – sehen Sie – ein paar Schilfstücke haben sich hier festgeklemmt. Und dies“ – er griff hinter den Stamm – „ist ein ebenso primitives Ruder. Das alles ist sehr sonderbar – – sehr! – Aber zunächst die Falltür …“

Auch die wurde gefunden.

Brack war dem Major auf die Schultern gestiegen, hatte so die Wölbung der Höhle abtasten können und eine viereckige Steinplatte hochgeklappt.

Oben war alles dunkel und still.

Brack schwang sich in die Öffnung hinein, saß nun mit herabhängenden Beinen auf dem Steinboden eines mäßig großen Gelasses, das als Wohn- und Schlafraum eingerichtet war. Die Möbel waren einfach, aber offenbar neu.

Brack zog die Beine an, stand auf und besichtigte das Gemach genauer, ließ den Lichtkegel des Leuchtstabes von Gegenstand zu Gegenstand gleiten und untersuchte besonders die mit starkem Eisenblech benagelte Tür, an der er nicht weniger als drei Riegel von Schlössern feststellte.

Als er nun wieder zu Craw hinabturnte und die Falltür herabklappte, erklärte er:

„Ein möbliertes Gemach ohne Fenster mit einer verschlossenen Tür, Major! – Beeilen wir uns. Diese Nacht wird noch manches klären. Fragen Sie nichts. Wir werden jetzt schleunigst mit unserem Floß das Südufer des Sees nach dem Kahn der Frau Wendmoor durchforschen. Dann kehren wir zu Singar Battas Hütte zurück, besteigen unsere Pferde und … reiten nach Burg Dadri.“

„Jetzt – nachts?!“

„Gerade jetzt, lieber Craw. Am Tage würden wir vielleicht zu spät kommen.“

 

11. Kapitel.

Die vierte Lösung.

Marga Wendmoor stand um Mitternacht am Schreibtisch in ihrem Wohnsalon und horchte gespannt auf das mühselige Gestammel des Bhils Arubi, der sich schon eine geraume Weile abquälte, mit seinen wenigen englischen Brocken seiner Wohltäterin etwas verständlich zu machen.

Endlich hatte sie begriffen.

„Der Platz liegt also ganz einsam in den Bergen in einer tiefen Schlucht?“ fragte sie hastig.

„Mem-Sahib wird sehen, daß Arubi geben gute Plan,“ nickte der Bhil eifrig.

„Gut – dann macht den Wagen bereit,“ befahl Marga Wendmoor, deren bleiches Antlitz vor nervöser Erregung zuckte. „Geh’, Arubi, geh’ …! Sage Grimser Bescheid. Er ist unten im Keller. Der Wagen soll auf dem Hofe bleiben, bis … bis alles verladen ist.“

Der Bhil verließ das Zimmer.

Marga Wendmoor sank matt in den Schreibsessel, hielt die Hände im Schoße verschlungen und starrte vor sich hin. Ihre farblosen Lippen zitterten.

„Wenn … wenn nur erst alles vorüber wäre!“ dachte sie, und unwillkürlich wurden die Gedanken zu leisem Gestammel.

So saß sie, starrte weiter ins Leere.

Horchte dann plötzlich auf …

Es kam jemand den Flur entlang gehastet. Und James Grimser trat ein – verstört – fahl – mit wankenden Knien, lehnte sich an die Wand, preßte keuchend hervor:

„Die … die Parktorglocke … Ich … ich lief hin, mußte öffnen. Es … es sind Major Craw und Doktor Brack zu Pferde. Sie wollen unbedingt empfangen werden, sagte der Deutsche …“

Frau Wendmoor war aus dem Sessel hochgeschnellt.

„Craw – – Brack …!“ Sie wiederholte die beiden Namen, als bedeuteten sie ein Todesurteil.

„Ruhe! Um Gottes willen Ruhe!“ flehte Grimser, der jetzt gegenüber dieser Verzweiflung seiner Herrin rasch seine Fassung wiedergewann. „Noch ist nichts verloren – nichts! Die beiden Herren können ja nichts wissen – nichts ahnen!“

Marga Wendmoor raffte sich auf. Grimsers Worte hatten ihr den einzigen Weg gezeigt, wie man der Gefahr begegnen könnte.

„Führen Sie die Herren herauf, James,“ flüsterte sie. „Ich werde nichts verderben. Es geht in dieser Stunde um alles. Und diese Stunde findet mich jetzt wieder als dieselbe Marga Wendmoor, die einst mit Ihrer Hilfe, treuer James, einer Leiche schaudernd die Kleider eines Lebenden anzog …“ –

Der Major und Brack traten ein.

Marga saß im Schreibsessel, neigte etwas den Kopf und meinte hochmütig:

„Ihr Eindringen hier ist nur durch ganz triftige Gründe zu entschuldigen. Sie, Mr. Brack, verlangten von mir empfangen zu werden. – Bitte – was wünschen Sie?“

Major Craw wollte etwas erwidern.

Brack fiel ihm ins Wort.

„Sie gestatten, daß wir Platz nehmen, Frau Wendmoor. Es sind allerdings sehr triftige Gründe, die den Gentleman auch in Major Craw heute zurückdrängten.“

Er zog einen Rohrsessel mitten ins Zimmer und setzte sich. Craw blieb verlegen stehen.

„Ich muß vorausschicken, Frau Wendmoor,“ begann Brack sehr sachlich und doch mit einem warmen Unterton in der Stimme, „daß ich Ihrem Herrn Vater zu großem Dank verpflichtet bin und daß ich als junger Mensch von zwanzig Jahren Ihre Schwester Edith heimlich verehrt habe. Ich bin dann Kriminalkommissar geworden. Als mir das Drama in der Villa Wendmoor bekannt wurde, reizte der recht ungeklärte Kriminalfall mich derart, daß ich schließlich auch hier nach Indien kam. – Was ich Ihnen nun über die Erfolge meiner Ermittlungen berichten will, Frau Wendmoor, wird Geheimnis unter uns dreien bleiben. Das verspreche ich Ihnen hiermit feierlichst. – Craw und ich waren vor anderthalb Stunden auf der Tigerinsel. Es gibt dort einen geheimen Zugang durch eine Höhle zu dem Gemach, in dem Sie den Mann bisher gefangenhielten, der Edith Lannerts Mörder ist. Dieser Mann …“

Frau Wendmoor schrie leise auf und streckte abwehrend die Hände gegen Felix Brack aus.

„Es muß gesagt sein – muß,“ meinte Brack mitleidig. „Und es ist für alle Teile besser, daß es gesagt wird, liebe Frau Wendmoor. – Dieser Mann, der heute aus seinem Kerker weggeschleppt worden ist, hatte dort ein Paar Schuhe stehen lassen. Sie fielen mir durch ihre zierliche Form auf. Ich maß schnell die Länge. Und – es stimmte – – leider.“

Margas Hände ruhten wieder im Schoße. Sie stierte Brack unverwandt an.

„Der Gefangene,“ sprach er noch sanfter weiter, „hat die Insel durch die Höhle offenbar wiederholt verlassen und ist mit einem Einbaum über den See gelangt, hat die Burg umschlichen und Sie, Frau Wendmoor, und Allan Craw auf der Terrasse belauscht. Aus Eifersucht oder vielleicht aus unedleren Motiven suchte er Craw, als Bhil verkleidet, durch einen Blasrohrpfeil zu töten. Da dies mißlang, warf er an einem anderen Abend die Kobra nach dem Major. Und als auch dieses Attentat mißglückte, hat er Panja ermordet und Craw in den Abgrund stürzen wollen.“

Marga hatte plötzlich das Gesicht mit den Händen bedeckt.

„Weiter …! Weiter!! Diese Qual muß ein Ende haben!“ stöhnte sie auf.

„Ich will Sie nicht quälen, liebe Frau Wendmoor. Ich will Ihnen helfen.“ Bracks Stimme war wie ein Streicheln. „Über die Vorgänge in Ihrer Villa in England hatte ich mir drei Theorien zurechtgelegt, von denen, wie mir heute in der Tempelruine klar wurde, keine einzige richtig ist. Der Mörder Ihrer Schwester wurde damals von dem Diener John Getrow verfolgt. John Getrow wurde tot, mit zermalmtem Gesicht, an Land gespült. Und John Getrow wurde von Ihnen und Grimser dann als Edward Wendmoor angeblich wiedererkannt, Getrow wurde als Wendmoor begraben. Sie arme bedauernswerte Gattin und Mutter aber wollten verhüten, daß der Vater Ihrer Kinder als Mörder hingerichtet wurde, Sie brachten ihn hier nach dem Dadri-Park, auf die Tigerinsel …“

Frau Wendmoors leises Schluchzen ließ Brack verstummen.

Allan Craw, dem diese Enthüllungen vollständig überraschend kamen, war nicht weniger bleich als Frau Marga.

Marga – – Marga nicht Witwe …!

Marga verheiratet! Ihr Mann ein Mörder!! –

Brack begann wieder:

„Niemand wird Ihre Handlungsweise verurteilen, Frau Wendmoor, niemand. Schaffen Sie den Mann, der Ihr Dasein vernichtet hat, in seinen Kerker zurück, lassen Sie die Höhle zumauern und – – seien Sie überzeugt, daß Ihr trauriges Geheimnis von Craw und mir geschützt werden wird, bis die Untersuchung des Falles Panja als ergebnislos eingestellt worden ist.“

Frau Marga weinte …

Craw beugte sich zu Brack hinab und drückte ihm stumm die Hand.

„Wie … wie gut Sie sind,“ flüsterte Frau Wendmoor und zeigte ihr blasses, tränenfeuchtes Gesicht. „Ich danke Ihnen beiden, – – wie danke ich Ihnen! – Craw, Sie verachten mich also wirklich nicht?“ fügte sie scheu hinzu. „Wollen Sie wirklich mein Freund bleiben und …“

Ein paar seltsam schrille, durchdringende Schreie trieben Marga und Brack gleichzeitig von den Sitzen hoch.

Die gellenden Rufe wiederholten sich unter den Fenstern – verhallten in der Ferne …

Atemlos kam James Grimser ins Zimmer gestürmt.

„Mistreß … Mistreß …“

Ihm schlotterte der Unterkiefer. Schweißperlen bedeckten seine Stirn.

„Edward Wendmoor ist entflohen?“ fragte Craw rasch.

„Das waren die Schreie eines Wilden, eines Bhils …“

„Er wäre längst entflohen, wenn Frau Marga ihm das Geld, das er verlangte, gegeben hätte,“ ergänzte Brack und eilte zur Tür, eilte die Treppe hinab, gefolgt von dem Major, der bereits die Repetierpistole in der Hand hatte. Auch James hastete hinter ihnen drein, rief jetzt am Anfang des Parkweges wiederholt Arubis Namen, bis der Bhil aus der Finsternis urplötzlich vor den drei Männern auftauchte.

Bracks Leuchtstab blitzte.

Der Bhil grinste und wischte die breite Spitze seines Speeres im Grase ab.

„Sahib sein tot,“ erklärte er. „Arubi schnellere Beine. Sahib mit Stein werfen. Arubi mit Speer ins Herz stoßen.“ –

Edward Wendmoors Leiche lag halb im Dickicht. Brack besichtigte sie kurz.

„Es ist ein unbekannter Weißer, der hier in die Burg einbrechen und stehlen wollte,“ sagte er zu dem zitternden James. „Dabei bleiben wir. Verstanden, James?!“ –

Eine halbe Stunde später hatte sich Brack vorläufig von Frau Wendmoor verabschiedet.

Craw blieb noch ein paar Minuten im Wohnsalon zurück.

Er hielt des blonden Weibes schmale Hand in der seinen und schaute ihr bittend in die Augen.

„Lassen Sie mir Zeit, Allan, damit ich all das Furchtbare vergesse,“ sagte sie schlicht und drückte ganz leise seine Hand. „Ich werde vergessen, und dann … werden wir sehr glücklich sein. Allan …“

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „fragter“.
  2. In der Vorlage steht: „bild“.
  3. „La donna è mobile“, berühmte Arie des Herzogs aus dem 3. Akt der Oper „Rigoletto“ (1851) von Giuseppe Verdi.
  4. In der Vorlage steht: „ein“.
  5. Grammatisch richtig muß es „dem“ heißen.
  6. Prismenfernglas.