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John Goodsteaks Hochzeitsreise

 

 

Walther Kabel

 

John Goodsteaks Hochzeitsreise

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

Der Direktor des Zuchthauses kannte den bescheidenen, höflichen Herrn Sixtus Rumar seit Jahren und erklärte daher in freundlichem, teilnehmendem Tone:

„Ich bedauere es sehr, Ihnen eine Unterredung mit Ihrem Stiefvater dieses Mal nicht gewähren zu können. Er hat sich abermals gegen die Anstaltsdisziplin so schwer vergangen, daß ich ihm jede Vergünstigung wieder entziehen mußte. Außerdem, Herr Rumar, sind Sie erst vor vier Wochen hiergewesen, und Ihr vorletzter Besuch liegt auch erst sechs Wochen zurück. Es tut mir leid, aber ich kann bei Ihnen wirklich keine Ausnahme machen.“

Der alte Herr mit der straffen militärischen Haltung streckte Sixtus Rumar die Hand hin und fügte warm hinzu: „Es geht nicht, Herr Rumar! Wenn Sie Ihrem Stiefvater jedoch ein paar Zeilen schreiben wollen, will ich sie ihm persönlich übergeben. Sie sagten ja, es handele sich um eine Familienangelegenheit. Vielleicht flechten Sie für ihn auch gleich einige eindringliche Ermahnungen mit ein. Wenn seine Führung besser gewesen wäre, würde er nicht jetzt nach achtzehn Jahren noch immer Strafgefangener sein.“

Sixtus Rumar saß regungslos in dem weichen Gobelinsessel, das Gesicht dem Direktor und dem hohen Fenster des Bureaus zugekehrt.

Dieses bartlose, schmale Gesicht mit der fahlen Farbe und dem schwer zu enträtselnden Zug um den kleinen Mund sah bekümmert und zerquält aus. Hinter den runden Gläsern der modernen Hornbrille waren die Augen halb geschlossen.

„Zu gütig, Herr Direktor,“ erwiderte der im übrigen mit unaufdringlicher Sorgfalt gekleidete Besucher leise und wehmütig. „Wenn Sie gestatten, schreibe ich gleich hier ein paar Worte an meinen Stiefvater.“

„Bitte, setzen Sie sich dort nur an meinen Schreibtisch, Herr Rumar. Hier ist Papier, Feder … Und hier – diese Zigarre ist rauchbar. Ich lasse Sie eine Viertelstunde allein. Genügt Ihnen das?“

„Oh – gewiß. Vielen Dank …“

Rumar nahm am Schreibtisch Platz. Hinter ihm schloß sich die Tür des kleinen Bureauraumes, des Zimmers des Direktors.

Rumar schnitt langsam die Spitze von der Zigarre ab, rieb langsam ein Zündholz an und überlegte, wie er die wichtige Botschaft in harmlose Worte kleiden könnte.

Er rauchte, beschaute die Zigarre. Sein Mund verzog sich. Dann holte er seine Zigarrentasche hervor, verglich das Aussehen seiner Zigarren mit dem der geschenkt erhaltenen, löschte diese mit dem angefeuchteten Zeigefinger, steckte sie in die elegante Ledertasche und zündete sich eine seiner eigenen an.

Er tat all das halb mechanisch. Seine Gedanken waren bei dem Briefe, den er schreiben wollte.

Sein Gesicht, jetzt von niemandem beobachtet, hatte sich merkwürdig verändert. Der Zug um den Mund war klarer geworden: Menschenverachtung, höhnisches Überlegenheitsgefühl und listige Schlauheit verriet diese Mundpartie, deren Kinn, breit und etwas vorspringend, eine vor nichts zurückschreckende Energie erkennen ließ.

Sixtus Rumar griff zum Federhalter.

Ohne einen Augenblick innezuhalten, schrieb er:

„Lieber Vater! Herr Direktor Kramm hat mir soeben mitgeteilt, daß Du abermals Deine Lage durch Dein Verhalten verschlechtert hast. Ich bitte Dich inständigst, fortan Dein Benehmen zu ändern. Vergiß nicht, daß ich beabsichtige, nochmals ein Gnadengesuch an den Herrn Justizminister einzureichen. Da ich Dich nicht persönlich sprechen darf, teile ich Dir mit, daß meine Gönnerin Frau Rampford mir nun wieder eine sehr einträgliche Stellung besorgt hat und daß Vetter Johannes demnächst Hochzeit feiert, bei der ich die Hochzeitsgesellschaft durch mein kleines Talent etwas zu überraschen hoffe. Der Plan zu der Hochzeitszeitung ist fertig. Tante Klara läßt grüßen. Sie ist mir noch immer die mütterliche Freundin von einst. Ich weiß, wie sehr Du Dich freuen wirst, daß Johannes nun endlich das Glück gefunden hat, das er so überreich verdient. Denke am 5. Mai an Deinen Sohn, der an diesem Tage als Gast an der Hochzeitstafel sitzt. – Ich grüße Dich vielmals und hoffe, daß Du begreifst, wie schmerzlich mich heute wieder die Mitteilung von Deinen Verstößen gegen die Anstaltsdisziplin berührt hat. – Dein Sixtus.“

Sixtus Rumar lehnte sich zurück, überflog den Brief und lächelte.

Dann wandte er den Kopf nach der Tür. In seinem Blick war etwas von dem lauernden, stets wachen Mißtrauen eines Menschen, der gewohnt ist, überall eine Gefahr zu wittern.

Der Blick glitt weiter durch das Zimmer, blieb auf dem Aktenbock neben dem Schreibtisch haften.

Rumar nahm aus dem unteren Fach ein paar Aktenstücke heraus, blätterte sie durch, stutzte …

Seine Augen wurden größer. Gedanken kamen, gingen.

Dann löste er ein Blatt vorsichtig heraus, faltete es zusammen und schob es in die Tasche. –

Als Direktor Kramm eintrat, stand Sixtus Rumar am Fenster und schaute in den einen Anstaltshof hinab, wo ein paar Sträflinge Holz zerkleinerten.

Mit leichter Verbeugung reichte er dem Direktor nun den beschriebenen Bogen und fragte bescheiden:

„Es sind doch keine unerlaubten Mitteilungen darin, Herr Direktor?“

Der las rasch, schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Rumar. Ich werde sofort nachher Ihren Stiefvater holen lassen.“

Sixtus Rumar verabschiedete sich mit erneutem Dank und verließ die Anstalt. Um zwölf Uhr mittags fuhr er nach Berlin zurück. –

Direktor Kramm rief den Zuchthäusler und Mörder Friedrich Paulsen aus dem Vorraum in sein Zimmer. Paulsen hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Sixtus, obwohl sein kittgraues Gesicht magerer und von unzähligen Falten durchfurcht war. Nur die Augen waren anders – waren weit offen und strahlten einen Haß und einen Geist der Widersetzlichkeit aus, daß selbst Direktor Kramm, der ihren Ausdruck doch bereits kannte, auch jetzt ein Gefühl des Widerwillens nur schwer unterdrücken konnte.

„Ihr Sohn war hier,“ sagte er streng. „Da – lesen Sie!“

Paulsen nahm den Bogen und drehte sich halb um, damit das Licht vom Fenster her auf die Schrift fiele.

Kramm beobachtete ihn still.

Er sah plötzlich, wie des Sträflings Gesicht sich verzerrte …

Da reichte der ihm schon den Bogen zurück.

Kramm bemerkte, daß dieses kittgraue Antlitz noch den letzten Widerschein satanischer Freude zeigte.

Als Paulsen das Zimmer stumm verlassen hatte, überflog der Direktor nochmals die Zeilen.

Dann zuckte er die Achseln, wollte den Bogen schon zerreißen und in den Papierkorb werfen, zauderte und legte ihn schließlich in ein Fach des Schreibtischaufsatzes.

* * *

John Goodsteak verließ um sechs Uhr das Gebäude der Bank, in der er seit vier Monaten als Korrespondent arbeitete, und schlenderte die Linden hinab dem Brandenburger Tor zu, ging eine halbe Stunde im Tiergarten spazieren und war gegen halb sieben im Speisezimmer des Standard-Klubs, wo er die übliche Mittagsrunde bereits vorfand. Redakteur Doktor Bieber, Ingenieur Grüner von den Aero-Werken, Komiker Zwillig und Sixtus Rumar, Feuilletonist und Schwanktextdichter.

John Goodsteak verneigte sich steif und nahm auf dem fünften Stuhl am runden Tische Platz, langte nach der Menukarte und sagte zu seinem linken Nachbar, während er die Speisenfolge prüfte:

„Rumar, Ihre Plauderei über das Traumleben der Menschen und seine Beziehungen zu Vorgängen der Wirklichkeit sprüht von Geist.“

Er legte die Menukarte wieder aus der Hand und schaute Rumar an …

„Sie kennen ja mein Interesse für alles, was die übersinnliche Welt betrifft. Wir Amerikaner sind zu Unrecht als Dollarmenschen und klägliche Materialisten verschrien. Nirgends beschäftigt man sich so viel mit Mystik, Spiritismus, Okkultismus, Hypnose und dergleichen wie in den Vereinigten Staaten.“

„Weil auch das was einbringt. Die Dummen werden nicht alle,“ meinte Doktor Moses Bieber trocken.

Goodsteaks helle ehrliche Augen wanderten zu dem bissigen Redakteur hin.

„Sie sollten doch ganz schweigen, Bieber …! Wer die Politik als milchende Kuh behandelt, hat hier nicht mitzureden.“

Ein Klubdiener trug die Suppe auf.

Eine Weile war es still am Tisch. Dann wandte sich John Goodsteak wieder an Rumar:

„Sie scheinen es wirklich schon einmal erlebt zu haben, daß Sie so logisch träumten, daß Sie kaum unterscheiden konnten, ob es sich tatsächlich nur um einen Traum handelte?“

„Nicht einmal – mehrmals, Goodsteak.“ Und leiser und sich zu dem jungen blonden Neuyorker hinbeugend: „Ich bin leider auch Schlafwandler. Ich spreche nicht gern darüber. Was darüber in dem Artikel steht, sind eigene Erlebnisse.“

„Ah – –!! Nicht möglich!“

Komiker Zwillig rief von der anderen Tischseite herüber:

„Goodsteak, lassen Sie sich mit Rumar auf solche Gespräche nicht ein! Der beweist Ihnen mit seiner unheimlichen Schnauze, daß Sie nur träumen, jetzt eine delikate Spargelsuppe im Standard-Klub zu essen. Erzählen Sie uns lieber, wie Ihr alter Herr über den Dollarkurs in den nächsten zwei Wochen denkt. Der muß es doch wissen. Und – spekulieren tun wir alle.“

John Goodsteak schob den geleerten Teller etwas vor. Die beiden kostbaren Brillantringe am linken kleinen Finger sprühten und löschten das bescheidene Blinken des Verlobungsringes am nächsten Finger völlig aus.

„Mein Vater kümmert sich nicht um den Dollarkurs. Dazu hat er keine Zeit, Zwillig.“

„Na – dann erzählen Sie von Ihrer Villa in Zehlendorf, dem neuen Turteltaubennest. Werden Sie es eigentlich gleich nach Ihrer Hochzeit beziehen, oder machen Sie erst eine Hochzeitsreise?“

„Hochzeitsreise!“ nickte Goodsteak, und sein frisches Gesicht strahlte. „Nach sechs Tagen bin ich in Norwegen.“

„Richtig – am fünften Mai hat er ja Hochzeit!“ rief Doktor Bieber. „Eine Schande, daß er uns nicht dazu eingeladen hat!“

John errötete flüchtig. „Sie wissen, daß meine Schwiegereltern die Feier nur in bescheidenster Weise ausrichten können. Und ich bin ganz damit einverstanden. Ich bitte die Tischrunde jedoch, an diesem Tage hier auf meine Kosten ein bereits bestelltes Souper einzunehmen und dabei meiner freundlichst zu gedenken.“

„Bravo – angenommen!“ krähte Zwillig.

Sixtus Rumar seufzte laut. „Schade. Ich bin dann leider schon in Nordafrika.“

„Wie er mit dieser Reise renommiert!“ sagte der Ingenieur Grüner. „Ihr Feuilletonisten habt es gut. Ihr verdient überall Euer Geld.“

„Übrigens – ich war heute mittag bei Ihnen, Rumar, und habe Ihnen den Golem von Meyrink[1] zurückgebracht,“ fügte der Ingenieur hinzu. „Sie seien verreist, sagte Ihre Tante. – Ein verrücktes Buch, der Golem. Das sollten Sie lesen, Goodsteak.“

Doktor Bieber pfiff durch die Zähne. „Rumar, Rumar, – – verreist?! Söhnchen, wohl mit dem bildschönen Weibe, das da letztens mit Ihnen im Zirkus Busch in der Loge saß!“

Sixtus Rumar schob die Hornbrille zurecht, lächelte rätselvoll: „Ich reise nie mit Damen, Bieberschwänzchen. Ich war in Geschäften auswärts. Ich habe Studien im Zuchthaus Riesental gemacht.“

Er drehte sich zur Seite, beobachtete Goodsteak.

Der schien sich jedoch für Zuchthäuser nicht zu interessieren.

„Pfui Deubel – – Zuchthaus!“ brummte Zwillig. „Auf was für ausgefallene Ideen Sie aber auch kommen, Rumar!!“

„Bitte, Zuchthäusler sind die besten Studienobjekte. Meinen Sie nicht auch, Goodsteak?“

„Schon möglich.“

Rumar dachte: „Er weiß nichts! Er würde sonst nicht so gleichgültig sein!“

Und sagte laut: „Da sitzt auch seit achtzehn Jahren ein Mörder in Riesental, der von Zeit zu Zeit alles kurz und klein schlägt, was ihm bei diesen Anfällen erreichbar ist. Er behauptet nämlich, unschuldig zu sein, und sein Haß gegen die Menschheit sucht sich in dieser Weise auszutoben.“

„Hören Sie doch mit derlei unangenehmen Geschichten auf!“ schnauzte Bieber. „Dieser Fischsalat ist doch wirklich zu schade dazu, durch …“

Rumar fiel ihm ins Wort: „Entschuldigen Sie. Ich glaubte, Goodsteaks Vorliebe für alles Außergewöhnliche bezöge sich auch auf die Psyche der Sträflinge.“

John Goodsteak blickte auf. Seine Augen begegneten einem Blick Rumars – einem Blick, der ihn leicht zurückfahren ließ.

Im nächsten Moment lächelte Rumar schon, griff nach seinem Weinglas und trank dem Amerikaner zu.

„Ihr Wohl …! Wenn ich in Algier am fünften Mai über den Boulevard de la Republique schlendere, werde ich Ihrer gedenken, Goodsteak.“

* * *

Um acht Uhr verließ John Goodsteak den Klub zusammen mit Rumar. Er wollte seine Braut besuchen, während Rumar angeblich sich im Cafee Größenwahn, dem alten Cafee des Westens am Kurfürstendamm, mit einem Kollegen verabredet hatte.

Goodsteak und Rumar trennten sich an der Gedächtniskirche. Der Amerikaner bestieg ein Auto und fuhr nach Charlottenburg hinein. Rumar bog nach der Kantstraße ab und betrat das Haus Nr. 311, zu dem er einen Hausschlüssel besaß.

Im Gartenflügel wohnte hier seit etwa vier Wochen bei einer verwitweten Sanitätsrätin eine Frau Lydia Rampford, deren Bekanntschaft Sixtus Rumar seiner scharfen Beobachtungsgabe verdankte. Er hatte gemerkt, daß sie für einen seiner Klubfreunde eine Teilnahme bezeigte, deren ganze Art ihn vermuten ließ, daß die reife Schönheit nicht gerade freundschaftliche Gefühle für jenes Klubmitglied hege.

Mit diplomatischem Geschick hatte er sich ihr dann genähert und mit noch größerer Kunst sie für seine Zwecke geködert, während sie selbst glaubte, in der Person Rumars einen ebenso gewissenlosen wie schlauen Helfershelfer gefunden zu haben. –

Lydia Rampford hatte Sixtus Rumar erwartet. Der Teetisch im Salon war zierlich gedeckt, und die Amerikanerin empfing Rumar in einem Hauskleide von raffinierter Einfachheit und Knappheit. Aus dem tiefen Ausschnitt leuchteten die zarten Andeutungen eines üppigen Busens lockend hervor, und der hochgeschlitzte Rock gestattete zuweilen den Anblick eines Seidenstrumpfes, durch dessen Florgewebe die Haut kokett hindurchschimmerte.

Rumar küßte Lydia Rampford die Hand und setzte sich in den großen Klubsessel, in dessen Tiefe seine knabenhafte Gestalt fast verschwand. Er hatte sich, seit er dieses Haus betreten, merkwürdig verändert. Nicht nur der Name Rumar schien ihm hier nicht mehr zu gehören, denn Lydia Rampford hatte ihn mit den Worten: „Da sind Sie ja, Mr. Parwoor,“ begrüßt, hatte sich auch gar nicht weiter gewundert, daß dieser Parwoor im Gegensatz zu Sixtus Rumar das dunkelblonde Haar anstatt gescheitelt, glatt nach hinten gestrichen und einen halblangen Schnurrbart trug, dazu an Stelle der Brille vor dem rechten Auge ein Monokel mit der selbstverständlichen Sicherheit jahrelanger Übung eingeklemmt hatte. Mithin war Sixtus Rumar der schönen Frau Rampford nur in dieser Aufmachung und unter dem Namen Parwoor bekannt, eine Vorsichtsmaßregel, die der bescheidene Feuilletonist seinen Lebensgewohnheiten entsprechend je nach Bedarf abänderte. Seine jetzige äußere Verwandlung war im dunklen Hausflur sehr rasch erledigt worden, da es ihm an Übung in derlei Dingen nicht fehlte. –

Lydia Rampford hatte gewartet, bis Mr. Parwoor Platz genommen. Sie stand, die linke Hand mit den überaus kostbaren Ringen leicht auf die Kante des Teetisches gestützt, in der ihr eigenen Haltung mit etwas vorgestrecktem Kopfe da und blickte auf Rumar herab. Die stark gedämpfte Beleuchtung ließ seine Gesichtszüge verschwimmen. Nur das Monokel schillerte wie das Auge eines Zyklopen.

„Erledigt?“ fragte sie gespannt, sich abermals des Englischen bedienend.

„Ja, Mistreß, – erledigt,“ nickte Rumar.

„Und der Preis?“

Ein eigentümliches Lächeln umspielte blitzschnell seinen Mund.

„Zweihundert Dollar, dazu fünfzig Dollar Vermittlergebühr. Etwas teuer. Aber – die Sache paßte zu gut für uns. Da wollte ich nicht feilschen.“ Er sprach das Englische wie ein geborener Amerikaner. Er konnte sich daher auch ohne Scheu als solcher ausgeben.

Lydia Rampford schien an dem Preise nichts auszusetzen zu haben.

„Und auf wessen Namen?“ fragte sie nach kurzer Pause.

„Auf den einer Miß Olivia Ogly. Merken Sie sich das: Olivia Ogly, als deren Bruder ich auftrat.“

„Ich danke Ihnen, Mr. Parwoor.“ Sie setzte sich ihm gegenüber. Man hatte ihrer Stimme angehört, daß sie sehr befriedigt über Rumars Antworten war.

Sie schenkte Tee ein.

„Ihre Auslagen betragen mithin …“ – sie rechnete im stillen nach – „mithin rund tausend Dollar. Ich gebe Ihnen das Geld sofort nachher. – Greifen Sie zu, lieber Freund. Ich kenne ja Ihre Schwäche für Röstbrötchen und Kaviar …“

Rumar rückte den Sessel näher und bediente sich.

„Eine meiner Schwächen,“ sagte er so nebenbei und tat mit dem silbernen Löffelchen Kaviar auf das noch warme Röstschnittchen.

„Kaviar und Frauen …,“ lächelte Lydia Rampford kokett.

„Sie irren, Mistreß. Frauen sind eine Schwäche von Schwächlingen. Halten Sie mich dafür?“

„Nein.“ Wofür sie ihn hielt, sagte sie nicht.

Rumar lächelte jetzt gleichfalls. – „Sie kann ohne Flirt nicht leben,“ dachte er geringschätzig. „Selbst mit mir, den sie als ihren Handlanger einschätzt, versucht sie diese kindlichen Mätzchen.“

Das Gespräch ging weiter. Frau Rampford war etwas enttäuscht. Es ärgerte sie doch, daß dieser Fred Parwoor, dieser Mensch ohne Nerven, auch heute seine fischblütige Ruhe bewahrte.

Nach etwa anderthalb Stunden verabschiedete Rumar sich. Die tausend Dollar hatte er wortlos in die Westentasche gesteckt.

„Es ist besser, wir sehen uns erst am Entscheidungstage,“ meinte er, nachdem er ihr wieder die Hand geküßt hatte. „Es ist ja alles klar, Mistreß. Auf Wiedersehen also.“

Sie geleitete ihn bis zur Flurtür, verschloß diese dann wieder und legte die Sperrkette vor.

Die Sanitätsrätin Winter trat wie zufällig aus dem ihr verbliebenen Hinterzimmer in den Flur. Sie war eine jener feinen, unter der Not der Zeit in stiller Ergebung leidenden, unpraktischen Damen, die als Vermieterinnen über die Moral ihrer Wohnungsgenossen zu wachen sich verpflichtet fühlen. Daß Rumar stets nur abends sich einfand, hatte ihr längst nicht behagt. Als sie jetzt noch Lydia Rampford in diesem für veraltete Moralbegriffe dirnenhaften Abendkleid vor sich sah, sagte sie eifrig:

„Ich glaube, es ist besser, Sie ziehen aus, Frau Rampford.“ Dabei blickte sie starr auf Lydias geschlitzten Rock.

Lydia verstand immerhin genügend Deutsch, um nicht nur den Sinn, sondern auch den Nebensinn dieser Worte zu verstehen.

„Ich reise ab,“ erklärte sie. „Morgen schon. Machen Sie die Rechnung fertig.“ Und sie rauschte weiter, ließ die arme Sanitätsrätin nur zu deutlich fühlen, daß sie hier so etwas wie die Herrin war.

* * *

Sixtus Rumar hatte sich im Treppenflur wieder in den Feuilletonisten Rumar zurückverwandelt, ging nun dem Bahnhof Zoologischer Garten zu und blieb dreimal stehen, da seine Zigarette anscheinend nicht brennen wollte.

Anscheinend! – Rumar vergaß nie die üblichen Vorsichtsmaßregeln. Und dazu gehörte auch, daß er sich stets vergewisserte, ob ihm nicht jemand nachschliche.

Er bemerkte nichts Verdächtiges, löste in der Bahnhofshalle eine Fahrkarte bis zum Bahnhof Bellevue, fuhr bis an dieses Ziel und betrat zehn Minuten später eine Mietkaserne im Stadtteil Moabit, in der Stromstraße. Auch zu diesem Hause Nr. 29 besaß er einen Schlüssel. Im Hochparterre öffnete er die Tür eines Zimmers mit Flureingang, ohne das Nachtlicht einzuschalten. Die Tür hatte zwei komplizierte Sicherheitsschlösser.

In diesem einfenstrigen, bescheidenen Zimmer wohnte der bescheidene Stadtreisende[2] Siegfried Ringel, ein sehr bequemer Mieter, da er sehr selten zu Hause war, dafür aber desto pünktlicher bezahlte.

Ringel war eine zweite Aufmachung des wandlungsfähigen geistvollen Feuilletonisten. Ringel war ein älterer, etwas krummer, hinkender, bärtiger Mann von jener Sorte Menschen, die nirgends auffallen.

Bei sorgfältig verhängtem Fenster, das zudem noch von innen Laden hatte, entstand aus Sixtus Rumar in weiteren zehn Minuten der unscheinbare Herr Ringel.

Und der setzte sich nun an den Schreibtisch, rückte die elektrische Stehlampe näher und begann sich mit dem Blatt aus den Akten des Zuchthauses Riesental sehr eifrig zu beschäftigen, wobei er eine Säure zu Hilfe nahm, die jede Tintenschrift spurlos verschwinden ließ. Ebenso bediente er sich eines über einer Spiritusflamme erhitzten kleinen Bügeleisens, um dem Blatte ein frisches Aussehen zu verleihen und alle Knüllen und Falten zu entfernen.

Draußen schlenderte an dem Hause ein Beamter der Berliner Wach- und Schließgesellschaft vorüber, ein alter Mann, auch ein Opfer der Zeit, ein Darbender, der froh war, diesen Verdienst gefunden zu haben.

Eine verschleierte Dame sprach ihn an, drückte ihm sofort Geldscheine in die Hand.

Die Dame war bereits vor dem Hause des Standard-Klubs auf und ab gegangen, als Rumar und John Goodsteak es verlassen hatten. Sie war Rumar gefolgt, hatte in der Kantstraße das Haus Nr. 311 beobachtet und dann ebenfalls den Stadtbahnzug bis Bellevue benutzt. Vor Stromstraße Nr. 29 hatte sie gesehen, daß im Hochparterre in einem Zimmer das Licht eingeschaltet wurde.

Nun fragte sie den alten Mann, ob er wüßte, wer dort wohne. Sie bezeichnete ihm das jetzt wieder dunkle Fenster, an dem nur dünne Lichtstreifen, die Spalten der Klappläden, zu erkennen waren.

Der Alte vermutete, daß hier vielleicht Eifersucht mitspiele. Aber er ließ diesen Gedanken wieder fallen. Dort wohnte ja der lahme Ringel seit einem Jahre, und Ringels wegen dürfte wohl kaum eine Frau aus eifersüchtigen Gefühlen nachts nach elf Uhr hier auf der Lauer liegen.

Er zögerte mit der Antwort. Aber die Verschleierte, die so wunderschön duftete, als sei sie ein blühender Fliederstrauch, kannte das Mittel, Zungen zu lösen. Neue Geldscheine zerstreuten des Alten Bedenken.

„Ein Stadtreisender Siegfried Ringel wohnt dort,“ sagte er.

Die Frau flüsterte ein „Danke“ und eilte davon.

Der Alte schaute ihr nach. Als er eine Stunde später bei seinem Rundgang wieder durch die Stromstraße kam, strich ein verschleiertes Weib, in einen Lodenumhang gehüllt, an ihm vorbei. Er hätte sie nicht beachtet. Aber der Fliederduft, der hinter ihr herwehte, machte ihn aufmerksam.

„Es ist dieselbe,“ brummelte er. „Nur der Hut und der Umhang täuschten mich.“ –

Sixtus Rumar hatte seine Arbeit beendet.

Er verließ das Haus als Siegfried Ringel und wanderte bis zum Lehrter Bahnhof, bis zu einer Kneipe, in der hauptsächlich Chauffeure und Droschkenkutscher verkehrten.

Er schien hier bekannt zu sein, denn kaum hatte er an einem Tische Platz genommen, als ein jüngerer Chauffeur sich zu ihm setzte.

Die Unterhaltung zwischen beiden begann im Flüsterton und endete damit, daß Siegfried Ringel dem Chauffeur heimlich zehn Dollar reichte.

„Abgemacht also …!“ meinte er.

„Abgemacht, Herr Ringel,“ grinste der andere. „Das Geschäft war in letzter Zeit auch verflucht still.“

Ringel begab sich wieder nach der Stromstraße, ward wieder zu Sixtus Rumar und legte für die Vermieterin einen Zettel auf den Schreibtisch sowie eine größere Geldsumme. Der Zettel benachrichtigte die Frau, daß Ringel für längere Zeit verreise.

Rumar fuhr mit der Straßenbahn nach Charlottenburg, wo er in der Giesebrechtstraße im Gartenhause bei seiner Tante, der einzigen Schwester seines Stiefvaters, wohnte, um dem alten Fräulein, einer Klavierlehrerin, den harten Existenzkampf zu erleichtern.

Die Wohnung enthielt drei Zimmer. Zwei gehörten Rumar. Sie waren modern und fast kostbar eingerichtet. – Rumar machte es sich bequem und begann in seinem Arbeitszimmer auf dem rotblauen Afghanteppich ruhelos und lautlos hin und her zu gehen.

Nach einer Weile klopfte es zaghaft.

Ein verhutzeltes altes Weiblein trat ein und blieb zaghaft neben der Tür stehen.

„Guten Abend, Sixtus. – Hast Du noch Wünsche?“

„Ja – Kaffee! Aber bitte nur Bohnen, nicht Gerste. – Weshalb hast Du übrigens Grüner gesagt, daß ich bis heute nachmittag verreist sei?! Ich habe Dir schon wiederholt geraten, stets zu erklären, ich sei beruflich unterwegs. Das ist sehr dehnbar – beruflich unterwegs.“

Das alte Fräulein mit dem traurigen Eulengesicht drückte sich scheu zur Tür hinaus.

Rumar setzte sich an den großen Diplomatenschreibtisch, nahm eine Zigarre, rauchte nachdenklich und begann dann zu schreiben. Die Feder flog – die Gedanken flogen noch schneller.

Es wurde eine geistsprühende Abhandlung über den moralischen Zusammenbruch jener Gesellschaftskreise, die vor dem Kriege auf die Ehrenbezeichnung „geistige Elite“ mit Recht Anspruch erhoben hatten.

Der vielseitige Rumar hatte seine andere Natur jetzt völlig abgestreift, war nur noch der Mann der Feder, dessen Arbeiten selbst heute noch, wo die Zeitungen und Zeitschriften mit billigen Angeboten notleidender Schriftsteller überschüttet wurden, nur nach Goldwährung zu haben waren.

* * *

Der Nacht-D-Zug nach Saßnitz war am 5. Mai gut besetzt. Der letzte Wagen, ein Schlafwagen, sollte das junge Ehepaar Goodsteak der Flitterwochenseligkeit entgegentragen.

John hatte zwei benachbarte Schlafwagenabteile erster Klasse mit je einem Bett vorherbestellt, hatte soeben Lieserls Koffer in deren Abteil verstaut und den Rollvorhang des Fensters herabgezogen.

Lieserl saß auf dem Bettrand – mit brennenden Wangen.

„So, mein Liebling,“ sagte John zärtlich, „nun könnte der Zug endlich abdampfen.“ Er lachte glücklich. „Dann kommt nur noch der Zugführer die Fahrkarten kontrollieren, und dann …“ – Er beugte sich herab und küßte Lieserl …

„Aber John – die Tür ist offen!“

John schaute hin. Und im selben Augenblick war dort ein Dienstmann sichtbar, der nun die Kabine betrat und Elise Goodsteak schweigend einen Strauß wundervoller roter Rosen mit einem linkischen Bückling überreichte, sodann dem jungen Ehemann eine halbe Flasche Sekt, deren Kork bereits gelöst war, und zwei Sektkelche, die in Seidenpapier eingehüllt waren.

Bevor John dem Manne noch ein Trinkgeld geben konnte, hatte der die Kabinentür schon zugeschoben und war verschwunden.

„Natürlich von der Mittagsrunde, Liebling,“ sagte John erfreut.

Lieserl, geborene Storm, drückte das heiße Gesicht in die köstlichen Blüten.

Der Zug ruckte an, verließ langsam den Stettiner Bahnhof.

Nachdem der Zugführer die Fahrkarten nachgesehen hatte, riegelte John die Türen der beiden Abteile ab.

Allein – allein mit seinem jungen Weibe …!

Er fühlte, daß er etwas nervös, etwas unsicher war.

Lieserl saß noch im Reisemantel und Lederhut auf dem Bettrand ihrer Kabine.

John stand vor ihr.

„Liebling, trinken wir auf das Wohl der Freunde, die uns heute zum zweiten Male erfreut haben. Erst das gemeinsame Hochzeitsgeschenk, dazu Rumars launige Verse, und nun dieser Blumengruß …“

Er schenkte die Sektkelche voll.

Lieserl nippte nur. John leerte das Glas. Ihm kam der Sekt gerade recht. Diese Unsicherheit mußte niedergekämpft werden.

Er füllte den Kelch aufs neue.

„Jetzt – – Dein Wohl, süßes Frauchen!“

Dann setzte er sich neben sie, zog sie an sich …

Er merkte, daß es wie ein Beben über ihre Gestalt hinging.

„Hast Du mich lieb?“ flüsterte er innig.

Sie schaute ihn an. Und vergaß die Angst vor dem so nahen Schritt aus dem Mädchen- ins Weibesleben.

Küßte ihn …

John sprang auf …

„Gute Nacht – –!“ Die Stimme klang gepreßt, von Leidenschaft zerwühlt …

Er trat in die Nebenkabine, schob die Verbindungstür zu …

Begann sich zu entkleiden, streifte die Schuhe ab … –

Lieserl, geborene Storm, ruhte mit offenen Augen an dem schmalen Bett des Schlafwagenabteils.

Sie hatte die Stoffhalbkugeln über die Deckenlampe gezogen. Es war dunkel ringsum. Nur oben an der Decke schimmerte ein schmaler Lichtschein.

Das Rollen der Räder, das Klirren der Fensterscheiben, – all die Geräusche des dahingleitenden Zuges vereinigten sich zu einem beruhigenden Sang von Liebe und Glück.

Rosenduft durchzog die Kabine.

Lieserl wartete.

Und dachte zurück an die letzten Monate.

Da hatte es eine kleine Korrespondentin in der Bank gegeben, in der John Goodsteak auf Geheiß seines Vaters einen deutschen Bankbetrieb kennen lernen sollte. In diese Korrespondentin hatte John sich verliebt. Er wußte, daß Elise Storms Vater Arzt, Sanitätsrat war, daß zwei Brüder von ihr studiert hatten. Er schrieb an Goodsteak Senior nach New York, daß er sich mit Elise Storm verloben möchte.

Nach zehn Tagen depeschierte der alte Goodsteak.

„Auskünfte über die Familie sehr gut. Gratuliere.“

John verlobte sich, und am selben Tage trat Lieserl aus der Bank aus.

Es war wie ein Märchen, wie ein Roman: Elise Storm die Braut des einzigen Erben eines Dollarmultimillionärs, eines frischen, hübschen Menschen, den sie von ganzem Herzen liebte!

Goodsteak Senior schrieb und wünschte dem Brautpaar Glück, schrieb auch, daß er nicht für lange Verlobung sei. Zur Hochzeit könne er leider nicht erscheinen. Er habe zu viel Arbeit.

Und nun war Lieserl Frau Goodsteak …

Der Traum war Wirklichkeit geworden.

Nun fuhr sie mit John hinaus in das neue gemeinsame Leben … –

Wo blieb John? – Der Zug hatte soeben gehalten.

Setzte sich wieder in Bewegung.

Hielt sehr bald abermals.

Lieserl hörte die Station ausrufen. Eberswalde! Ob er vielleicht aus zarter Rücksichtnahme …

Und Lieserl schoß das Blut ins Gesicht …

Nein – nein!! Na – so schüchtern war John doch nicht! Nein, in den letzten Tagen war er sogar, wenn er sie erst durch stürmische Küsse in einen Taumel wilder Glut versetzt hatte, zuweilen recht … recht unartig gewesen … –

Wo blieb John?

Wieder raste der Zug durch die Sturmnacht.

Lieserl griff nach dem seidenen Schlafrock, schlüpfte hinein, schlüpfte in die Saffianschuhchen, klappte die eine Halbkugel der Lampe hoch.

Etwas wie eine würgende Angst von einem unbekannten Verhängnis drängte alle mädchenhafte Scheu zurück. Sie pochte gegen die Verbindungstür, pochte stärker, schob die Tür auf.

Hell brannte hier die Lampe. John war nicht da.

Nichts war da, das an John erinnerte. Kein Koffer, keine Reisetasche, kein Stock, kein Schirm – nichts. Das Bett war nicht benutzt worden.

Elise, geborene Storm, starrte regungslos in die leere Kabine hinein.

Langsam erblaßte sie. Ein trockenes Schluchzen entrang sich den halb geöffneten Lippen.

Sie taumelte vorwärts, sank auf Johns Bett, preßte die Hände vor das Gesicht – – weinte … weinte.

Wo war John? Wo war sein Koffer?

Lieserl, jetzt Lieserl Goodsteak, hatte zwei Jahre in der großen Bank pflichttreu und eifrig gearbeitet, hatte dort alles Unselbständige abgelegt, hatte gelernt, ihre Gedanken planmäßig zu ordnen.

Das tat sie auch jetzt, nachdem die erste Angst vorüber, daß John etwas zugestoßen sein könnte.

Was sollte ihm zugestoßen sein?! Wahrscheinlich hatte er eine andere Kabine genommen.

Lieserl schaute sich um.

Andere Kabine …! – Aber weshalb?!

Ihr Blick blieb plötzlich auf einem Zettel haften, der auf dem Klapptischchen am Fenster lag.

Ein … beschriebener Zettel … –

Dann las sie. Ihr Herz stand still. Mit einem Ächzen fiel sie seitwärts auf das Bett, wurde ohnmächtig.

Der Zettel flatterte zu Boden – die Schrift nach oben – wenige englische Worte:

Verzeih mir. Ich darf Dir nicht angehören. John.

* * *

John Goodsteak erwachte, reckte sich, schlug die Augen auf …

Nun war er ganz munter, ganz Herr seiner Sinne. Fuhr mit jähem Ruck hoch, blinzelte in das grelle Sonnenlicht, das durch die Fenster auf die braunen Dielen fiel …

Und ließ die Blicke verwirrt wandern – hierhin, dorthin – über die Möbel des Zimmers hinweg, die ihm völlig fremd waren …

Sein Denken glich dem Wogenprall einer stürmischen Brandung …

Was bedeutete dies?! Wo befand er sich?! Er hatte doch seine Hochzeitsreise mit Lieserl angetreten! Und – zuletzt war er doch in seiner Kabine des Schlafwagens gewesen!

Er grübelte – grübelte …

Wo bin ich?! Wie bin ich hierher gelangt? Wo ist Lieserl?

Ihm wurde siedend heiß. Das Denken wurde zur Qual.

Plötzlich etwas wie eine beruhigende Erkenntnis:

„Unsinn!! Ich bilde mir ja nur ein, wach zu sein! Ich träume. Es ist eben einer jener Träume, wie Rumar sie in dem Artikel so treffend als logische Träume bezeichnet hat …!“

Er sprang aus dem Bett, trat ans Fenster …

Ein kleiner Garten, alte Bäume, ein großer See …

Ein Dampfer zog dort hinten seine Bahn, ein Frachtdampfer.

Die Sonne schien John ins Gesicht. Er fühlte die Wärme.

Und – da kam wieder das jähe Erschrecken, kamen die Zweifel: Träume ich wirklich?

Er lächelte. – Natürlich träume ich! Ich liege in Wahrheit in dem Schlafwagenabteil. Vielleicht habe ich Lieserls Nacken umschlungen …

Da – stutzte er abermals …

Krauste die Stirn, biß sich auf die Lippen …

Nein – ich habe doch Lieserls Kabine nicht wieder betreten! Das weiß ich genau. Ich habe auf meinem Bett in meinem Abteil gesessen und … und – – was war dann?

Er starrte dem Dampfer nach …

Was – was war dann? grübelte er.

Ja – dann wurde mir mit einem Male so schwindlig, und dann …? –

Ihm wurde wieder so siedend heiß. Er riß den einen Fensterflügel auf …

Oh – das erfrischte! Das war wie der erquickende Hauch des Meeres!

Und doch:

Träume ich wirklich?!

Er beugte sich zum Fenster hinaus – ganz weit …

Er sah, daß Garten und Haus auf der Spitze einer Halbinsel zu liegen schienen.

Die wirre Angst verging. – „Ich träume!“ entschied er. „Gut – leben wir weiter im Traumlande, tun wir so, wie ich im wachen Zustande handeln würde. Also: ziehen wir uns an! Ich habe ja Hunger. Sehen wir, wo es hier etwas zu essen gibt!“

Während er sich wusch, entdeckte er seinen Koffer, die Handtasche, das Stock- und Schirmfutteral.

Wieder die Zweifel, ob Traum oder Wirklichkeit. Wieder wies er sie von sich.

Nun war er fertig angezogen. Nun betrachtete er das Zimmer mit kritischen Augen.

Eine unmoderne, billige Einrichtung, Öldrucke an den Wänden.

Zwei Türen, zwei Fenster …

Er öffnete die eine Tür, die den Fenstern gegenüber lag.

Ein Flur mit weißgescheuerten Dielen …

Eine Treppe …

Er stieg ins Erdgeschoß hinab, sah durch die offene Haustür in den Garten hinaus – auf den See …

Und umschritt jetzt das kleine, saubere Haus, fand nach der anderen Seite zu einen Stall …

Stellte fest, daß das Haus auf einer Insel lag, die kaum hundertfünfzig Meter Durchmesser hatte. Nach Norden zu (an dem Dache war eine Wetterfahne, darüber Kreuzstäbe mit großen Buchstaben an den Enden: N, O, S, W, also die Himmelsrichtungen) erblickte er nicht allzu weit entfernt grüne Ufer, Wälder, ein paar Gehöfte.

Auch ein Bootssteg war hier auf dem Inselchen vorhanden, aber kein Boot … –

John Goodsteak lehnte am Geländer des Steges und dachte:

„Es ist verblüffend, wie klar ich träume. Ich hätte so etwas nicht für möglich gehalten! Ich muß unbedingt Lieserl dies alles erzählen …“

Leise Zweifel wollten sich ihm abermals aufdrängen. Er lachte froh: „Ich träume …! Und wenn ich erwache, wartet meiner das Glück!“

Er schritt dem Hause wieder zu, fand im Erdgeschoß keine lebende Seele, ging die Treppe empor …

„Zum Teufel, es muß doch jemand hier sein!“ dachte er. „Ein Traum mit mir als handelnder Person allein ist langweilig!“

Er fand hier oben zwei verschlossene Türen, stieß nun die dritte auf, die des Zimmers neben ihm …

Und ließ die Arme schlaff herabsinken, nachdem er sie wie in wildem Grauen hochgeworfen – in unbewußter Abwehrbewegung …

Und wie vom Blitz getroffen, blöden Unglauben in den Augen …

Dachte wirr: „Ein scheußlicher Traum …! Das da ist ja Lydia Rampford, das da auf dem Teppich …! Anscheinend ist sie tot. Sie hat einen großen Blutfleck auf der Stirn, und die Augen sind erloschen …“

Er stierte hin … Er fühlte, daß seine Knie zitterten.

Er lehnte sich an den Türrahmen …!!

Lydia Rampford …!!

Ein scheußlicher Traum – – gerade Lydia …!!

Wie unheimlich deutlich er sie sah …

Wie ihre Ringe in der Sonne blitzten …

„Ich möchte nun endlich erwachen!“ schoß es ihm durch den Kopf. „Denn – dies Bild ist gräßlich. Lydia ist tot …!“

Das Grauen bemächtigte sich seiner mit einer Macht, daß er die Tür zuschlug, um Lydia nicht mehr zu sehen.

Und schwankenden Schrittes steuerte er nun in seinem Zimmer auf den Stuhl zu, wo sein Reisetasche stand, nahm das Fläschchen Kognak heraus, trank … trank … bis kein Tropfen mehr darin war.

Setzte sich auf einen anderen Stuhl, fühlte die Trunkenheit ins Hirn kriechen, eine Trunkenheit, die anders war als Alkoholrausch, die ihm allmählich die Gewißheit gab, daß er – – wach war, daß all dies wahrhaftiges Erleben, kein Traum war!

Er saß da wie ein Schwerkranker …

Wenn es kein Traum ist, bin ich eben wahnsinnig geworden und habe im Wahnsinn Dinge getrieben, deren Beginn aus meinem Gedächtnis entschwunden ist. Sonst müßte ich doch wissen, wie ich hierher gelangt bin, wie Lydias Leiche dort ins Nebenzimmer …

Hier trieb ihn das Entsetzen hoch, trieb ihn zu einem Entschluß.

Er biß die Zähne zusammen, stieß die Tür wieder auf, trat neben die Tote, faßte nach ihrer Hand …

Eiskalt … wächsern …

Und stieß einen Schrei aus wie das Brüllen eines tollwütigen Stieres …

Rannte – rannte die Treppe hinab, rannte am Ufer der Insel entlang …

* * *

Am 6. Mai, abends neun Uhr, erhielt Goodsteak Senior folgende Marconidepesche aus Berlin:

John gestern, 5. Mai, gegen elf Uhr aus dem D-Zug verschwunden. Hat für Elise Zettel mit widerspruchsvollem Inhalt zurückgelassen in seiner Schlafwagenkabine. Elise kehrte von Station Prenzlau nach Berlin zurück, traf hier morgens acht Uhr ein. Polizei hat ermittelt, daß der D-Zug kurz vor Station Eberswalde durch Ziehen der Notbremse eines unbesetzten Abteils zum Halten gebracht worden ist. Sonst nichts. Gebe brieflich nähere Nachricht. – Dr. Storm.

Edward Goodsteak aus New York drahtete zurück:

Auf meine Kosten alles tun, um Fall aufzuklären. Deutsche Bank angewiesen, Ihnen und Elise jede Summe zu zahlen. – Herzlichst Edward Goodsteak.

Als diese Depesche am 7. Mai abends in Berlin eintraf, waren die Nachforschungen der Polizei noch nicht um den winzigsten Schritt vorwärtsgekommen.

Die Zeitungen hatten schon am 6. Mai lange Berichte mit viel Redensarten und wenig tatsächlichem Inhalt über den Fall John Goodsteak gebracht. Eignete sich doch das Geheimnis dieser auf so rätselhafte Weise unterbrochenen Hochzeitsreise vorzüglich für sentimentale Romanphrasen.

Am 7. Mai abends gegen neun Uhr saßen auch im Rauchzimmer des Standard-Klubs an einem Tischchen Moses Bieber, Komiker Oskar Zwillig und Ingenieur Franz Grüner nachdenklich und ernst beieinander. Sie hatten soeben die Sache Goodsteak nach allen Seiten hin durchgesprochen, und Moses Bieber hatte dabei erklärt:

„Kinder, daß der Rosenstrauß und die halbe Flasche Sekt nicht von uns stammen, wissen wir am besten. Wir haben das der Kriminalpolizei auch mitgeteilt. Da die halbe Flasche Sekt und die beiden Gläser nun aus der Kabine der armen jungen Frau Goodsteak verschwunden sind, da ferner der Dienstmann, der dem jungen Paare diese verdächtigen Präsente überreichte, nicht zu finden ist, behaupte ich, daß man in den Sekt einen Schlaftrunk getan hat. Frau Elise hat von dem Sekt nur genippt, John aber hat davon zwei Gläser getrunken. John ist, behaupte ich, beseitigt oder entführt worden. Die Kriminalpolizei wird wohl dasselbe argwöhnen, schweigt sich darüber jedoch vorläufig aus.“

Weder Zwillig noch Grüner hatten dem Freunde widersprochen. Sie waren genau derselben Ansicht.

Nun schwiegen sie und bedauerten ehrlich den frischen, liebenswürdigen John und noch mehr sein junges Frauchen. Bis Oskar Zwillig sagte, indem er eine dicke Rauchwolke nach oben blies[3] – stoßweise:

„Der Zettel – – ist – natürlich – – eine Fälschung. Man hat den Tatbestand durch den Zettel nur verwirren wollen.“

„Frau Elise und ich haben die Handschrift auf dem Zettel mit Johns Schrift verglichen. Es ist Johns Schrift,“ warf Ingenieur Grüner ein. „Der Schreibsachverständige der Polizei soll nun sein Urteil abgeben. Es wird ebenso lauten.“

Das Rauchzimmer war bis auf diesen einen Tisch leer. Die drei hatten daher auch ihre Stimmen nicht gedämpft, so daß Sixtus Rumar, der vor wenigen Sekunden leise die dem Tische nächste Tür geöffnet hatte, nun erklären konnte:

„Grüner hat ganz recht. Der Zettel wird gefälscht sein.“

Die drei sprangen auf.

„Rumar – Sie?!“ rief Zwillig. „Mensch, Sie sollten doch schon halb in Algier sein.“

Rumar trat vollends ein, nickte den Freunden zu und sagte, indem er sich in den vierten Sessel niederließ:

„Ich war noch in München geblieben. Dort las ich gestern abend den kurzen telegraphischen Bericht über Johns Verschwinden in der Zeitung. Ich bin daraufhin umgekehrt. Ich werde versuchen, dieses Geheimnis zu ergründen. Ich bitte Euch aber, über meine Absichten zu niemandem zu sprechen.“

„Bravo!“ meinte Doktor Bieber. „Sie sind ganz der Mann dazu, Rumar. Nur ein Mensch wie Sie, ein Mensch von so verblüffender Vielseitigkeit, Phantasie, unbarmherziger Logik und eiserner Ruhe …“

Rumar winkte mit der Hand. „Jeder weiß, was er kann Bieber. Wer das nicht weiß, ist ein Idiot oder ein Parlamentarier.“

Bieber und Zwillig lachten schallend. Grüner lächelte nur und sah merkwürdig aufmerksam zu, wie Sixtus Rumar seine Hornbrille putzte. Er hatte so seine besonderen Gedanken über den Schriftsteller – seit langem. Er war ein stiller Mensch, sehr reich, sehr genügsam, sehr befähigt.

Während nun Bieber, Zwillig und Rumar den Fall Goodsteak nochmals erörterten, rauchte er schweigend eine Zigarette nach der anderen.

Rumar behauptete, John sei wohl ermordet worden.

„Bedenkt, daß er allein schon ein Vermögen in Juwelen an sich trug, dazu seine Platinuhr nebst Platinkette. Außerdem wird er sich doch sehr reichlich mit Reisegeld versehen haben. Der Plan, ihn zu berauben, muß von langer Hand vorbereitet sein. Das beweist schon der Trick mit dem angeblichen Dienstmann, der die Rosen und den Sekt brachte.“

Es bereitete ihm eine seiner Menschenverachtung und seinem Menschenhasse entspringende satanische Freude, hier dieses Doppelspiel zu treiben und nun in der Rolle des Liebhaberdetektivs seine Freunde, ohne daß sie es ahnen konnten, zu verhöhnen. Und noch war es nicht lediglich der Wunsch bei ihm, in dieser Doppelrolle seine Nerven angenehm zu kitzeln. Nein, – er, der vorsichtige Rechner, der jeden Schachzug, auch den nebensächlichsten, prüfte, als ob davon Leben und Sicherheit abhingen, wollte mit der Kriminalpolizei auf diese Weise in Verbindung treten, wollte sich dem Kriminalkommissar Grundner, der diese Ermittlungen leitete, als Hilfskraft anbieten. Dann würde er genau unterrichtet sein, wie weit die Polizei vorwärtskam, würde nötigenfalls rechtzeitig eingreifen und den Dingen eine andere Wendung geben können.

Er wandte sich an Franz Grüner.

„Sie sind doch mit Grundner bekannt,“ meinte er. „Was für ein Mensch ist Grundner? Ob es lohnt, daß ich mich ihm anvertraue?“

„Gewiß, Rumar. Grundner ist ein sehr zugänglicher Mensch. Er wird Ihre Mitarbeit zu schätzen wissen.“

Moses Bieber lachte ärgerlich auf. „Weshalb handeln Sie nicht allein, Rumar?! Müssen Sie sich an die Frackschöße der Polizei hängen?! Sie haben das doch nicht nötig.“

„Doch, Bieber. Ich mag, was geistige Fähigkeiten angeht, den Herren vom Fach, wie Grundner, gleichwertig sein. Aber das Handwerksmäßige ihres Berufes geht mir ab. Da fehlt es. Ich werde Grundner morgen aufsuchen und ihm sagen, wie nahe mir John Goodsteak gestanden hat. Mein Name wird ihm nicht fremd sein. Für alle Fälle könnten Sie Grundner ja telephonisch schon vorbereiten, Grüner.“

„Das will ich gern tun, Rumar.“ Er nahm eine neue Zigarette, sah nach der Uhr, stand auf. „Guten Abend. Ich bin müde. Wiedersehen …“

Eine Verbeugung, und er verließ das Zimmer und den Klub.

Zwillig sagte leise: „Weiß Gott, er kann sich fabelhaft beherrschen. Er hat Elise Storm doch lange vor John den Hof gemacht. Er ist bei Storms täglicher Gast gewesen. Aber – die Weiber haben eben ihre besonderen Geschmäcker.“

„Er ist sehr still geworden seit Elise Storms Verlobung,“ nickte Doktor Bieber.

Rumar lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Er wurde nur aus Rücksicht auf seine Herzensenttäuschung nicht zur Hochzeit eingeladen. John deutete mir das an – Armer John! Wer doch aufklären könnte, was man mit Dir angestellt hat!“

* * *

Franz Grüner hatte ein Auto bestiegen und sich nach dem Polizeipräsidium bringen lassen. Grundner war noch in seinem Dienstzimmer.

Die Schulfreunde drückten sich herzlich die Hand. Grüner zog einen Stuhl näher an den Schreibtisch heran und setzte sich. Der Stuhl knackte unter dem Gewicht des massigen Körpers des Ingenieurs.

Der Kommissar lächelte. „Nimm lieber hier den Schreibsessel!“

Grüner schaute den Freund melancholisch an, dessen hageres Sportgesicht noch so überraschend jung wirkte.

„Was Neues, Grundner?“ fragte er.

„Hm – eine Kleinigkeit, nur für Dich.“ Er bot Grüner Zigaretten an. „Vielleicht eine Spur. Vielleicht. Frau Elise wird sehr traurig sein.“

Er nahm einen Brief von seinem Schreibtisch, behielt ihn in der Hand und fügte hinzu: „Diesen Brief gab mir die Frau, bei der John bisher gewohnt hat. Du kennst die Zednick ja.“

„Allerdings …!“

„Weiber dieser Sorte sind Intrigantinnen. Sie hat den Brief angeblich aus Versehen mit alten Zeitungen weggepackt. In Wahrheit hat sie ihn John gestohlen, weil das ihrer Natur entsprach. Jetzt, wo Storm die hohe Belohnung ausgesetzt hat, hat die Zednick mir den Brief heute nachmittag gebracht. – Nun lies ihn. Du wirst überrascht sein.“

Grüner griff hastig nach dem Briefbogen …

New York, den 29. März 1923.

Mr. John Goodsteak! Auf Ihr Schreiben erwidere ich Ihnen, daß ich niemals vergessen und vergeben kann – niemals! Sie haben als Schurke an mir gehandelt. Die Entschuldigungsgründe, die Sie für Ihre Schlechtigkeit zusammensuchen, zeigen Sie erst in wahrem Lichte. Was tut es, daß ich vier Jahre älter, daß ich Witwe bin?! Haben Sie nicht monatelang mich mit einer Glut geliebt, wie nur eine große tiefe Liebe sie entflammt! Und jetzt – werfen Sie mich von sich! – John, Sie sind ein Schuft! Nie vergesse ich – nie! Fürchten Sie jedoch nicht, daß ich nach Art eifersüchtiger kleiner Ladenmädchen nun womöglich Ihrer Braut mitteilen werde, daß ich sehr wohlbegründete Ansprüche auf Sie habe. Nein – dazu bin ich doch zu stolz. Sie zu strafen überlasse ich der Vorsehung. Ich – – verachte Sie! – Lydia Rampford.

Grüner hatten den englisch geschriebenen Brief leicht übersetzen können. Er war beim Lesen etwas bleich geworden.

Nun gab er dem Kommissar den Brief zurück.

„Armes Lieserl!“ sagte er leise.

Grundner strich den Brief auf dem Schenkel glatt. „Ein gefährliches Weib, diese Rampford, – ohne Frage. Das Schreiben ist so eisig, so ohne Zeichen größerer Erregung abgefaßt, die Schrift so energisch und klar, daß man dieser Rampford alles zutrauen kann, zumal sie bis zum ersten Mai hier in Berlin gewohnt hat.“

Grüner beugte sich vor. „Hier – in Berlin?“

„Ja, in der Kantstraße. – Ich habe sofort daran gedacht, daß sie womöglich nach Berlin gekommen sein könnte. Wir arbeiten schnell. Die Rampford war vom vierten April in Charlottenburg, Kantstraße 311, bei der verwitweten Sanitätsrätin Winter gemeldet. Am ersten Mai ist sie abgereist, angeblich nach der Schweiz.“

„Und Du meinst, daß …“

„Ich meine, daß es eine Spur ist, Grüner. Ich war vorhin bei der Winter. Sie hat mir mancherlei über die Rampford berichtet. Zunächst, daß die reiche Amerikanerin nur tief verschleiert ausging und zwar sehr viel unterwegs war, wenigstens in den ersten vierzehn Tagen. Sie hatte bis dahin nie Besuch empfangen. Dann begann ein Amerikaner namens Parwoor bei ihr zu verkehren, nur spät abends, dem die Rampford sogar einen Hausschlüssel überlassen hatte. Sie sagte der Winter, Parwoor sei ein Freund ihres verstorbenen Mannes. Die Winter hat schließlich an diesen Besuch Anstoß genommen und die Rampford an die Luft gesetzt. – Ein Parwoor ist hier nicht gemeldet. Die Winter hat ihn mir aber genau beschrieben: schlank, mittelgroß, dunkelblonder halblanger Schnurrbart, Monokel, volles glatt zurückgestrichenes Kopfhaar, elegante Kleidung, jung, etwa dreißig. Nun lasse ich diesen Mann suchen, ebenso die Rampford.“

Grüners Zigarette war ausgegangen. Er ließ sein Feuerzeug aufflammen, rauchte zwei Züge und schaute den Freund wieder an.

„Kennst Du Sixtus Rumar von Ansehen?“ fragte er.

„Ja. – Den Namen kennt wohl jeder. Ein geistvoller Mensch.“

„Er war mit John befreundet, Grundner. Er wollte nach Nordafrika reisen. Als er in München von Johns Verschwinden in der Zeitung las, kehrte er zurück. Ich sprach ihn soeben im Klub. Er will Dir helfen, das Geheimnis zu enträtseln, und er bat mich, Dich zu fragen, ob Dir das recht sei.“

Der Kommissar lächelte. „Eine Laune, Detektiv spielen zu wollen. Meinetwegen!“

Der Ingenieur zog die Stirn etwas in Falten.

„Bist Du damit nicht einverstanden, daß Rumar seinen Scharfsinn an dem harten Stein des Falles Goodsteak wetzt?“ fragte Grundner hastig.

„Ich möchte Dir im Vertrauen etwas mitteilen,“ erwiderte Grüner in, seiner bedächtigen Art. „Rumar spielt und verliert zumeist. Er verspielt Unsummen mit der Gelassenheit eines Menschen, der über unerschöpfliche Mittel verfügt. Selbst durch Spekulieren könnte er so viel Geld niemals aufbringen. Ich habe ihn schon monatelang in aller Stille beobachtet, wenn er am Baccarattische saß. Es ist mir ein Rätsel. Er scheint sich zu freuen, wenn er verliert. Er sagt stets, er mache Studien. Eine etwas kostspielige Art, seine Menschenkenntnis zu erweitern. – Außerdem … außerdem hat er noch Gewohnheiten, die ebenso eigenartig wie teuer sind. Seine Bescheidenheit ist nur Pose, behaupte ich.“

„Und diese Gewohnheiten wären?“

„Er hat eine Vorliebe für Tanzlokale dritter Sorte und sucht dort … Liebe bei Stubenmädchen, Verkäuferinnen und dergleichen, denen er nicht nur Garderobe, sondern auch Schmuck schenkt.“

„Woher weißt Du das?“

„Weil ich zuweilen Ausländern, Geschäftsfreunden Berlin zeigen muß, weil ich so Sixtus Rumar dreimal in Tanzlokalen traf, ohne daß er selbst mich bemerkte, weil ich schließlich ein Mädchen mit an unseren Tisch nahm, die ihn näher zu kennen schien. Er trug dort statt Brille einen Kneifer und nennt sich dort nicht Rumar, sondern Runke, gibt als Beruf Bankbeamter an.“

Der Kriminalkommissar schüttelte leicht den Kopf. „Das ist allerdings sonderbar. Ob er dort auch nur Menschen studiert?! Seine Aufsätze verraten ja eine so genaue Kenntnis aller Volksschichten und aller Vergnügungsstätten, daß …“

„Woher hat er die Mittel zu diesem Leben?“ warf Grüner ein. „Und dann, Grundner, – als letztes: ich glaube nicht an seine freundschaftlichen Gefühle für John Goodsteak! Ich habe zuweilen im Klub Blicke beobachtet, mit denen er John anschaute, in denen Haß und Hohn lauerten.“

„Hm – er ist ja wohl Menschenverächter. Danach dürfte er niemandes Freund sein. Das stimmt. – Hat er denn nur Goodsteak so angesehen?“

„Ja. Du weißt, ich übertreibe nie. Als ich zum ersten Male einen solchen Blick bemerkte, wurde mir unbehaglich zu Mute …“

„Dir erscheint Rumar mit einem Wort nicht einwandfrei.“

„Ja. Daß er seine Reise nach Algier Johns wegen aufgegeben hat, wo er ihn doch mit solchen Blicken bedachte, ist …“

Es hatte geklopft. Ein Beamter in Zivil trat ein und meldete:

„Soeben telephonische Nachricht aus Wollin, daß auf der Haffinsel Altwerk die Leiche einer Frau in dem Hause des pensionierten Lotsen Bark mit Schußwunde in der Stirn aufgefunden worden ist. Die Dame hatte durch ihren Bruder das Haus für zwei Monate mieten lassen. Sie sollte Malerin sein und hatte sich Olivia Ogly genannt. Am 2. Mai war sie nach Altwerk gekommen. Der Lotse Bark siedelte mit seiner Frau für die zwei Monate nach Wollin über zu seinem Schwiegersohn. – Nun hat man im Koffer der Toten Papiere auf den Namen Lydia Rampford gefunden, auch andere, aus denen hervorging, daß diese Rampford zuletzt hier in Berlin gewohnt hat. Deshalb fragte die Wolliner Polizei bei uns …“

Grundner und der Ingenieur waren aufgesprungen.

„Noch mehr?“ rief der Kommissar. „Reden Sie, Schmidtke! Vorwärts!“

„Nein. – Ich habe aber dafür gesorgt, daß die Verbindung nach Wollin nicht unterbrochen wird.“ Er deutete auf das Tischtelephon „Es ist bereits eingestöpselt. Ich sah voraus, daß Herr Kommissar den Wolliner Beamten selbst sprechen wollten.“

* * *

Das Gespräch dauerte zehn Minuten. Dann legte Grundner den Hörer weg.

„Es ist die Rampford,“ sagte er zu dem Ingenieur. „Sie ist am zweiten allein in Altwerk eingetroffen. Sie erklärte, ihr Bruder würde wahrscheinlich am fünften oder sechsten nachkommen. Sie lehnte es ab, sich eine Bedienung zu halten. Heute am siebenten ist dann der Lotse Bark nach Altwerk gesegelt, um dem reichen Sommergast Lebensmittel zu bringen. Da hat er die Tote entdeckt – oben in ihrem Schlafzimmer. Der Kreisarzt hat festgestellt, daß Frau Rampford mindestens schon zwei Tage tot ist.“

Er lehnte sich an den Schreibtisch und fuhr, zu dem Beamten Schmidtke gewandt, fort: „Ich fahre morgen früh nach Wollin. Sie begleiten mich. Erkundigen Sie sich nach der schnellsten Verbindung dorthin.“

Der Beamte entfernte sich.

Grundner und der Ingenieur blieben eine Weile stumm.

Dann meinte der Kommissar: „Lieber Grüner, wir denken ja doch beide dasselbe. Sprechen wir’s ruhig aus. Was hilft’s. So traurig es ist: ich glaube, daß John Goodsteak uns sagen könnte, wer die Rampford erschossen hat.“

Der Ingenieur starrte vor sich hin. „Ja, man kommt auf den Gedanken, Grundner, obwohl der Zusammenhang der Vorgänge mir sehr unklar ist. Aber – trotzdem, man wird den Verdacht nicht los! Genau so, wie ich dabei bleibe, daß Sixtus Rumars Rückkehr nach Berlin sicherlich nicht auf eine Sympathie für John zurückzuführen ist.“

Grundner rauchte sinnend.

Meinte: „Wir könnten ihm ja mal auf den Zahn fühlen. Rufe ihn doch her. Vielleicht ist er noch im Klub. Wenn Deine Beobachtungen hinsichtlich der haßerfüllten Blicke, die heimlich John Goodsteak galten, zutreffend sind, woran ich ja bei Deiner Menschenkenntnis nicht zweifele, dann muß man dieser Rückkehr Rumars und seiner Absicht, ein wenig den Liebhaberdetektiv zu mimen, sogar eine sehr ernste Bedeutung beimessen. Falls Rumar hierher kommen sollte, überlaß mir die Führung der Unterhaltung und richte Dein Benehmen so ein, daß er nicht etwa Verdacht schöpft.“ Und nach kurzer Pause: „Es wäre vielleicht doch besser, wir bestellen Rumar in eine Kneipe. Es wirkt so verfänglich, wenn er hier ins Präsidium gebeten wird – – in die Höhle des Löwen.“ –

Sixtus Rumar hatte sehr bald nach Grüner das Klubhaus verlassen, war eine Stunde etwa weggeblieben und hatte soeben das Spielzimmer des Klubs betreten, als ein Diener ihm meldete, Herr Ingenieur Grüner wünsche ihn am Telephon zu sprechen.

Rumar eilte in eine der Telephonkabinen, die der Diener ihm bezeichnete, und vernahm dann sofort Grüners tiefe Stimme.

„Ich möchte Ihnen nur mitteilen, Rumar, daß ich Grundner vor dem Kaufhaus des Westens begegnete und ihn sofort in Ihre Absichten einweihte. Er hat mich nun mit in die Fromertsche Weinstube geschleppt. Wenn Sie nichts Besseres vorhaben, kommen Sie her. Wir sitzen hier ganz gemütlich. Übrigens ist im Fall Goodsteak eine Wendung eingetreten, deren … – Doch das ist nichts für ein Telephongespräch.“

„Ich komme,“ sagte Rumar. „Auf Wiedersehen. Lassen Sie mir eine halbe Flasche Henkel Trocken kaltstellen.“

Er trat aus der Telephonzelle in den Flur hinaus, überlegte, dachte: „Andere würden vielleicht auf diese warnende Stimme ihres Innern hören. Ich bin dieser Stimme noch nie gefolgt, habe stets das Gegenteil getan. – Unsinn! Das Versteck ist gut. Nur ein Zufall könnte mir Ungelegenheiten bereiten.“

Er ging in die Garderobe, ließ sich Hut, Ulster und Schirm geben, sagte lächelnd zu der Garderobenfrau:

„Mutter Lanz, vorhin konnte man sich ohne Schirm hinauswagen. Jetzt droht’s mit Regen.“

Er schob der Alten eine Banknote hin. Er war bei den Klubangestellten beliebt. Für ihn waren es Menschen, die ihm näherstanden als die Klubkameraden. In ihnen ahnte er einen Teil desselben verborgenen Hasses, der ihn selbst beseelte.

Ein Auto glitt mit ihm der Innenstadt zu.

Grundner und der Ingenieur saßen in einer Ecke an einem kleinen Tische. Die Fromertsche Weinstube war ein Überbleibsel des alten gemütlichen Berlins. Die Leute, die hier verkehrten, besaßen alle den verfeinerten Geschmack ererbter Daseinsgewohnheiten.

„Ich freue mich, Sie kennen zu lernen,“ sagte der Kommissar zu Rumar, der ihm nur eine sehr höfliche Verbeugung machte und nicht einmal Grüner die Hand gab. Das war überhaupt eine seiner Eigenheiten: er verstand es, zwischen sich und alle anderen stets eine Schranke zu errichten, die er nur nach seinem Gutdünken entfernte.

Der Sekt für ihn stand schon bereit. Er hob die Flasche aus den knisternden Eisstückchen des Kühlers, füllte sein Glas und schmeckte den Wein in kleinen Schlucken.

Er hatte bisher kein Wort gesprochen. Grundner hatte das Empfinden, daß dieser Mensch es darauf anlegte, als etwas Besonderes zu erscheinen – durch Schweigen, durch eine gewisse lautlose bescheidene Liebenswürdigkeit.

Rumar sagte dann so nebenbei: „Ich habe leider nicht lange Zeit. Ich muß heute noch eine Arbeit vollenden. Der Sekt soll mir Stimmung geben.“ Er lehnte in dem altertümlichen geschnitzten Lehnstuhl, die zarten Hände auf den Armstützen lang ausgestreckt, schaute Grundner nun mit einem feinen Lächeln an und fügte hinzu: „Sie finden es von mir wohl etwas anmaßend, Herr Kriminalkommissar, daß ich Ihnen so etwas ins Handwerk pfuschen möchte. Mein Interesse für John Goodsteak macht mir das aber zur Pflicht.“

Grundner fiel das Wort „Interesse“ auf. Ein Mann wie Rumar hatte dieses Wort fraglos mit Absicht gewählt. Interesse – das ließ sich nach zwei Seiten deuten, gleichsam positiv oder negativ.

„Anmaßend – durchaus nicht, Herr Rumar, durchaus nicht!“ erwiderte er. „Zumal wir es jetzt nicht mehr lediglich mit John Goodsteaks Verschwinden, sondern noch mit der Ermordung einer Person zu tun haben, die ihm einst nahestand.“

„So? Ein Mord?“ Und Rumar griff nach seinem Sektglas. „Das ist allerdings etwas Neues.“ Er trank. Das einzige Zeichen gesteigerter Spannung waren seine Augenlider, die hinter den Brillengläsern im Spiel der Nerven flatterten.

„Die Ermordete ist eine gewisse Lydia Rampford …“

Rumar stellte das Glas hart auf die Tischplatte zurück und packte die Armstützen, richtete sich halb auf.

„Ah – die Rampford!“ sagte er gedehnt. Und sofort nahm er seine bisherige Haltung wieder ein.

„Sie kennen sie?“ fragte Grundner erstaunt.

„Ja, vom Hörensagen – durch John. Er erwähnte sie mal, als wir über Malerei sprachen. Sie soll eine hervorragende Landschaftsmalerin sein.“

„Daß er zu ihr sehr intime Beziehungen unterhalten, deutete er nicht an?“

„Nein. Ist das wirklich der Fall gewesen?“

„Ja.“

„Und Frau Rampford ist nun ermordet worden? Wo? Durch wen?“ Rumar sprach schneller. Er hielt es für gut, sein Benehmen zu ändern. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß ihm hier Gefahr drohte, obwohl er nicht recht begriff, wie diese Gefahr für ihn aufgetaucht sein könnte.

„Auf einem Inselchen im Stettiner Haff,“ erklärte Grundner, innerlich stark enttäuscht, da Rumar durch nichts Unruhe oder Befangenheit verriet.

„Merkwürdig – auf einer Insel! Gibt es dort denn Inseln? – Richtig – es gibt schon welche. Ich bin ja noch im vorigen Jahre von Stettin per Dampfer nach Rügen gefahren und besinne mich, daß mir da zwei Eilande auffielen. Auf dem einen steht ein kleiner Leuchtturm.“

„Die Insel Altwerk liegt weiter nordöstlich und gehört einem pensionierten Lotsen …“ – Grundner berichtete nun, was bisher über Frau Rampfords Ermordung ermittelt war.

Sixtus Rumar schnitt einer Zigarre die Spitze ab, löste die goldbedruckte Binde, warf sie in die Aschenschale und wandte sich an Ingenieur Grüner, nachdem der Kommissar seine kurzen Angaben beendet hatte.

„Grüner, weiß denn Frau Elise schon von alledem?“ Seine Stimme klang teilnahmsvoll. „Es ist furchtbar, daß nun auch dies noch hinzugekommen ist …!“ Er preßte die Lippen zusammen und schüttelte wie bedauernd den Kopf.

„Sie weiß noch nichts,“ sagte der Ingenieur trübe. Auch er hatte nun jeden Verdacht gegen Rumar fallen gelassen.

Rumar blies die ersten Züge gegen die Decke, fuchtelte den Rauch mit der schmalen Hand zur Seite und drehte den Kopf nach Grundner hin. „Ich fürchte, man wird womöglich John mit diesem Morde belasten, gerade weil diese Frau Ogly – Rampford dem Lotsen erklärt hat, ihr Bruder käme am fünften oder sechsten ebenfalls nach Altwerk. Man wird allerlei Kombinationen aufstellen, die sich auf Johns früheres Verhältnis zu der Rampford, seine Verlobung und Heirat mit einer anderen und sein Verschwinden in der Nacht vom fünften zum sechsten beziehen. Ich möchte diese Kombinationen von vornherein dadurch unterbinden, daß ich betone: John hat Berlin seit vier Wochen nicht verlassen, nicht auf einen Tag. Er kann also gar nicht der Bruder sein, den die Rampford erwähnt hat. Außerdem, Herr Kriminalkommissar: John ist doch fraglos in seiner Kabine durch den Sekt betäubt und dann rasch aus dem Zuge geschafft worden, als durch das Ziehen der Notleine der Zug zum Halten gebracht worden war. Man kann also unmöglich annehmen, daß er etwa den Verführungskünsten dieser Rampford wieder unterlegen ist, freiwillig auf recht geheimnisvolle Art aus dem Zuge verschwinden wollte, und daß es dann auf der Insel zwischen ihm und der Rampford vielleicht zu heftigen Szenen gekommen ist, im Verlauf derer John zur Waffe gegriffen hat.“

Er sprach das alles in einer gewissen freudigen Erregung, als ob es ihm eine Genugtuung wäre, John auf diese Weise schützen zu können. Seine Augen waren weit geöffnet. Eine leichte Röte färbte seine Wangen. Einzelne Worte hatte er durch eindrucksvolle Gesten unterstrichen. – Er war auch wirklich erregt. Er triumphierte innerlich. Er feierte in Gedanken den Sieg des Unrechts über das Recht. Diabolische Freude erfüllte ihn. In der Person Grundners sah er einen Vertreter jener Berufsklasse vor sich, die er am meisten haßte und verachtete. Lange, lange Jahre hindurch war dieser Haß in ihm genährt und gesteigert worden. Er dachte auch jetzt an den verbitterten Mann dort in den grauen Mauern von Riesental. Er dachte: „Wenn Du hier säßest und dies mit genießen könntest! Diesen Sieg!“ – Und er langte nach dem Glase, füllte es und hob es etwas vor, trank es dann aus … –

Jeder Verbrecher, mag es der genialste sein, macht Fehler, die ihm die Larve vom Gesicht reißen.

So auch jetzt Sixtus Rumar. Sein jetziger Fehler war gewesen, daß er seine Augen nicht in der Gewalt gehabt hatte. In diesen Augen war das aufgeblitzt, als er das Glas hob, was Grüner vorhin erwähnt hatte: Haß – glühender Haß, höhnischer Triumph!

Wenn dieser Ausdruck auch nur wie ein Aufblitzen sich bemerkbar gemacht hatte, – Grundner und der Ingenieur hatten ihn doch wahrgenommen, tauschten einen raschen Blick, verstanden sich: Rumar heuchelte!

Und mit diesem Moment begann Sixtus Rumars Niedergang. Unaufhaltsam glitt er abwärts, während er aufwärts zu steigen glaubte. –

Der Kriminalkommissar lächelte fein.

„Sie sind ein guter Verteidiger, Herr Rumar. Sie haben nur eins übersehen: Die Sache kann auch so gewesen sein, daß die Rampford John Goodsteak gegen seinen Willen nach der Insel bringen ließ, und daß sie hoffte, ihn dort in der Einsamkeit wieder für sich zurückerobern zu können, weiter, daß John dann in dem Inselhause in der Wut über diesen Streich des Weibes, über diese Unterbrechung seiner Hochzeitsreise die Rampford niederknallte. So wird es auch gewesen sein.“

Rumar senkte den Kopf, schien nachzudenken, blieb stumm.

„Nun?“ fragte Grundner.

„Erlassen Sie mir eine Antwort,“ meinte Rumar gequält.

Und Grundner schoß es durch das Hirn: „Welch ein Heuchler!! Welch ein satanisches Raffinement, einen Menschen erst scheinbar zu verteidigen und dann scheinbar vor erdrückenden Beweisen schmerzbewegt die Ansicht zu wechseln!“ – Und weiter dachte Grundner: „Ein Mensch wie Rumar, der auf Tanzböden sein Äußeres und seinen Namen ändert, kann auch bei der Rampford hier in der Kantstraße als Parwoor, als Amerikaner, verkehrt haben. Die Winter behauptete, Parwoor habe fließend englisch gesprochen – als Amerikaner. Sehen wir zu, wie es mit Sixtus Rumars englischen Sprachkenntnissen steht.“

Er zog Lydia Rampfords Brief aus der Tasche.

„Da – nun lesen Sie noch dies, Herr Rumar …“

Rumar überflog das kurze Schreiben.

„Sie können es doch übersetzen?“ meinte der Kommissar.

„Ich war wiederholt in Amerika,“ erklärte Rumar ohne aufzublicken, überlas nochmals den Brief und legte ihn auf den Tisch, füllte wieder sein Glas, hielt es in der Hand und verfolgte das Steigen der Kohlensäureperlchen.

„Ich verzichte nun auf eine Mitarbeit,“ sagte er wie zu sich selbst. „Morgen reise ich ab.“

Er trank das Glas leer, rief dem Kellner zu, der soeben einem Herrn in der anderen Ecke Essen auftrug: „Ich möchte zahlen …!“

Grundner beugte sich über den Tisch, wollte etwas gegen Rumars Abreise einwenden. Da bemerkte er, daß Rumar, der sich im Sessel nach dem Kellner umgewendet hatte, den Gast dort in der Ecke geradezu verblüfft musterte, dann jedoch, um dies zu bemänteln, nochmals rief: „Ober, haben Sie gehört?!“

„Sehr wohl, mein Herr …“

Jetzt schaute auch der Gast drüben von seiner Zeitung auf, schaute Rumar an … Und – hob rasch die Zeitung, verschwand dahinter. –

Grundner sagte liebenswürdig: „Wenn ich Sie nun bäte, Ihre Reise noch ein paar Tage zu verschieben, Herr Rumar? Sie sind mir als Zeuge wertvoll. Sie sind der einzige Mensch, mit dem Goodsteak hier über die Rampford gesprochen hat.“

„Es kommt mir auf eine halbe Woche nicht an, Herr Kriminalkommissar. Ich bin entweder im Klub oder daheim, jedenfalls telephonisch immer zu erreichen.“

Der Kellner kam. Rumar zahlte, gab überreich Trinkgeld, ließ sich in den Ulster helfen, wünschte Grundner und dem Ingenieur guten Abend, verbeugte sich höflich und ging hinaus, kam an dem Gast in der Ecke vorüber.

Und da sah Grundner, daß der alte Herr dort zu Rumar emporblickte, den Kopf rasch wieder senkte.

Das genügte dem Kommissar.

„Entschuldige,“ sagte er zu Grüner.

Er suchte den Telephonverschlag auf und bestellte von der nächsten Wache zwei Beamte in Zivil vor die Weinstube. „Sie folgen dem Manne … Er ist bartlos, hat ein sehr hageres faltiges Gesicht von krankhafter Blässe, trägt einen dunkelgrünen Filzhut und einen hellen grauen Ulster und eine schmale schwarze Krawatte zu einem Kragen mit umgebogenen Ecken. Ich erwarte noch heute Bericht. Ich bin im Präsidium.“ –

Zehn Minuten drauf verließen Grundner und der Ingenieur die Weinstube.

„Ich bin überzeugt, daß Rumar die Hand mit im Spiel hat,“ meinte der Kommissar jetzt. In der Kneipe hatte er ein Gespräch über dieses Thema vermieden. „Morgen vormittag nagele ich ihn fest. Du sollst dabei sein, Grüner. – Gute Nacht. Ich biege hier nach dem Alexanderplatz ab. Finde Dich um elf Uhr in meinem Dienstzimmer ein.“

* * *

Sixtus Rumar stand gegenüber der Weinstube in einer Türnische im Schatten.

Die Straße war wenig belebt. So konnte es ihm nicht entgehen, daß zwei Herren scheinbar in heiterstem Gespräch vor der Kneipe halt machten und dort mit großer Geduld ausharrten. Als Grundner und der Ingenieur aus der Tür traten, entging ihm ebensowenig, wie einer der Herren an den Hut faßte und wie der Kommissar den halben Gruß zu übersehen schien.

Rumar verzog den Mund. „Anfänger …!!“

Und überlegte, auf wen die beiden „Spanner“ wohl warten mochten.

Dann die jähe Erkenntnis: „Ihm gilt’s – ihm!! Du hast Dich verraten! Grundner hatte Dein grenzenloses Erstaunen bemerkt!“

Diese Erkenntnis war wie ein Abgrund, der sich plötzlich vor ihm öffnete.

Hatte Grundner ihn durchschaut? Hatte Grundner mit ihm gespielt, während er mit Grundner eine Harlekinsposse um Tod und Leben zu spielen glaubte?

Nur einen Moment war’s Sixtus Rumar, als wiche der Boden unter seinen Füßen, als rutsche er hinein in das Verderben …

„Ruhe!“ mahnte er sich selbst. „Wenn der Kommissar Verdacht geschöpft hat, kann es nur deshalb sein, weil der Gast in der Ecke deine Nerven zum Vibrieren brachte – nur deshalb! Hätte Grundner dir wohl all die Einzelheiten über den Mord auf Altwerk mitgeteilt, wenn er dir auf der Spur wäre?! Ausgeschlossen!“

Und er wurde ruhig. – Dieser Verdacht mußte zerstreut werden – sehr bald und gründlich!

Er überlegte. Sein Hirn arbeitete.

Dann schaute er nach den Spannern aus. Die schlenderten jetzt auf und ab.

Er griff in die Tasche, holte einen Schlüssel heraus, tastete das Schlüsselloch der Haustür ab, die ihm hier Schutz bot, schraubte den beweglichen Bart des Schlüssels kleiner und öffnete die Tür ganz leise, trat ein.

Nach kaum vier Minuten warf er die Tür von außen zu, schloß ab, pfiff ein paar Walzertakte, ging über die Straße in die Kneipe hinein. Den Ulster hatte er jetzt überm Arm, hatte eine helle Krawatte um, hatte Schnurrbart, Monokel und zurückgekämmtes Haar.

Er setzte sich gleich in das erste Zimmer in eine vom Lichtschein weniger getroffene Ecke. Hier bediente ein anderer Kellner. Er bestellte eine halbe Flasche Mosel und Würstchen mit Kraut und Kartoffelsalat.

Er saß erst wenige Minuten hier, als der alte Herr mit dem grauen Scheitel und dem faltigen Gesicht auftauchte und die Weinstube verlassen wollte.

Er erhob sich rasch, tat, als begegne er hier zufällig einem Bekannten …

„Guten Abend, Herr Müller … – Setzen Sie sich doch noch einen Augenblick zu mir …“

Das konnte niemandem auffallen.

Nun hatte der Alte Platz genommen. Rumar beugte sich über den Tisch, flüsterte:

„Wie konntest Du nur!! Du solltest doch in der Stromstraße bleiben! Du hast mich in eine sehr üble Lage gebracht.“

Der Kellner kam, brachte den Wein und das Essen.

„Noch eine halbe Flasche und ein Glas,“ befahl Rumar.

Der alte Herr blickte Rumar finster an.

„Eine nette Begrüßung! – Was sollte ich da allein in der Bude hocken! Ich habe hier früher viel verkehrt. Da sehnt man sich …“

Rumar unterbrach ihn. „Und läufst einem Kriminalkommissar in die Arme! Einer der Herren an meinem Tisch war solch ein Bursche. Er sah, daß ich bei Deinem Anblick stutzte. Und nun stehen draußen zwei Geheime und wollen hinter Dir her.“

„Pest!!“ fluchte der Alte. „Ein feiner Anfang hier in Berlin!“

„Es ist unbedingt nötig, daß der Kriminalkommissar – Grundner heißt er – wieder eingewickelt wird. Ich erkläre Dir das daheim. – Höre jetzt genau zu …“

Rumars Plan war einfach, konnte gar nicht fehlschlagen.

Der alte Herr blieb noch eine halbe Stunde an dem Tische sitzen, nachdem Rumar ihm ein Päckchen hingeschoben, das er unter dem Tische zurechtgemacht, und dann das Lokal verlassen hatte.

Rumar ging über die Straße, wich den Beamten aus, schlüpfte sehr bald in eine Stehbierhalle und telephonierte von hier aus nach der Chauffeurkneipe in der Nähe des Lehrter Bahnhofs.

Der, den er sprechen wollte, war anwesend und erklärte, das Auto würde pünktlich zur Stelle sein.

Sixtus Rumar fühlte sich wieder Sieger.

In einem Hausflur in der Nähe wurde er zu dem bartlosen bescheidenen Schriftsteller mit Brille, Scheitel, dunkler Krawatte, angezogenem Ulster.

So schlenderte er der Fromertschen Weinstube zu, faßte auf der anderen Straßenseite Posto und beobachtete den Eingang.

Was er erwartet, geschah: die beiden Beamten wurden auf ihn aufmerksam. Der eine strich zweimal an Rumar vorüber.

Rumar rauchte gelassen seine Zigarre.

Dann erschien der alte Herr im Eingang, trat auf die Straße. Die Beamten folgten ihm, und diesen folgte Rumar.

Abermals trat ein, was er vorausgesehen.

Der eine Beamte machte kehrt, stellte ihn.

„Wer sind Sie?“ fragte er kurz.

Rumar lächelte. „Ich glaube, wir stellen demselben Wilde nach. Sind Sie etwa Kriminalbeamter?“

„Ja. Und Sie?“

„Schriftsteller Sixtus Rumar. – Kommen Sie, sonst verlieren wir den Gauner und Ihren Kollegen aus den Augen.“

Sie gingen nebeneinander weiter.

„Die Sache ist die,“ erklärte Rumar gemütlich. „Ich kam heute gegen halb zehn durch die Simsonstraße. Sie kennen sie wohl. Eine kurze Querstraße, sehr still, dort im neuen Westen am Bayrischen Platz. Da sah ich einen Mann aus einem Hochparterrefenster springen, oder nur von dem Fenstersims. Das weiß ich nicht so genau. Jedenfalls dachte ich sofort an einen Dieb, lief auf den Kerl zu, der blitzschnell über die Straße schoß und sich auf ein Motorrad schwang, das ein anderer, im Sattel sitzend, hielt. Die beiden sausten davon. Immerhin erhaschte ich doch noch etwas von dem Gesicht des Menschen, der mir so entschlüpfte. Dann stellte ich fest, daß im Hochparterre des betreffenden Hauses alle Fenster geschlossen und unversehrt waren. Ich hatte den Dieb wohl gestört, bevor er einsteigen konnte. Als ich nun etwa vor drei Viertelstunden mit Kriminalkommissar Grundner in der Fromertschen Weinstube saß, bemerkte ich einen älteren Herrn, der mir bekannt vorkam. Ich konnte mich nicht sofort besinnen, woher ich ihn kannte. Wir hatten[4] mit Grundner sehr ernste Dinge besprochen, und ich war etwas zerstreut. Erst auf dem Heimwege fiel mir ein: das war ja der Mann aus der Simsonstraße gewesen!“

„Verstehe, Herr Rumar,“ nickte der Beamte. „Da machten Sie kehrt und wollten sich den Mann nochmals ansehen.“

„Ja – und ihm folgen. Vielleicht hat der Kerl Simsonstraße 14 doch etwas berissen!!“

„Also Simsonstraße 14. Werde ich mir merken. – Gut, dann können wir den Mann …“

Sie waren in die Charlottenstraße gelangt. Sie hörten plötzlich den anderen Beamten „Halt – halt!“ brüllen, sahen ihn vorwärtsstürmen, sahen, wie der Alte in ein Auto sprang, das sofort in wildem Tempo davonsauste.

Der Beamte mußte die Verfolgung aufgeben.

„Da – das hat der Kerl weggeworfen,“ sagte er nun zu Rumar und dem Kollegen.

Es war ein kleines Päckchen aus Zeitungspapier. Und – es enthielt eine Perlenkette mit Platinschloß, das mit kleinen Brillanten besetzt war.

„Donnerwetter, da haben Sie, scheint’s, doch recht, Herr Rumar,“ meinte der Beamte, der den Schriftsteller vorhin angesprochen hatte. „Der Kerl hatte schon gestohlen. – Fahren wir nach der Simsonstraße.“

Und als sie gegen halb eins dort anlangten, fanden sie im Hause Nr. 14 bereits Kriminalpolizei vor. Dem Bankier Lönsch war durch Fassadenkletterer, während er mit Frau und Tochter in einem Konzert weilte, der Geheimtresor im Schlafzimmer ausgeräumt worden!

Rumar war nun hier die Hauptperson.

Er drückte Herrn Lönsch sein Beileid aus, er tröstete dessen Gattin, die ja nun wenigstens die eine Perlenkette zurückerhalten hatte. Er gab zu Protokoll, was er wußte.

Und während so seine liebenswürdige Bescheidenheit, sein bekannter Name der Familie Lönsch etwas über den Verlust hinweghalf und sie ablenkte, kicherten tausend Teufel in ihm …

Nachher sagte er den beiden Beamten, die nun sofort dem Kommissar Bericht erstatten wollten, daß sie Grundner doch bestens grüßen und bestellen sollten, er würde vormittags zehn Uhr aufs Präsidium kommen, da ihm hinsichtlich der Sache Goodsteak noch eine andere Lösung eingefallen sei.

Erst gegen zwei Uhr morgens war er in der Stromstraße, in dem Zimmer des Stadtreisenden Siegfried Ringel, wo er den der Polizei entwischten alten Herrn mit dem kittgrauen Gesicht auf dem Bett schlafend vorfand.

* * *

An diesem selben Abend, als Sixtus Rumar so überraschend an dem Tisch seiner Freunde im Rauchzimmer des Klubs erschienen war, hatte Elise Goodsteak, geborene Storm, eine andere Überraschung erlebt.

Das arme junge Frauchen fand keine Träne mehr. Wie eine Schwerkranke, von Eltern und Freunden mit liebevollster Teilnahme umgeben, saß sie zumeist in ihrem bisherigen Mädchenstübchen am Fenster und schaute mit umflortem Blick über die Straße hinweg in die grüne Frühlingspracht des Tiergartens hinaus.

Sie hielt John für tot. Jedes Trostwort prallte an ihr ab.

Gegen neun Uhr abends war’s. Elise Goodsteak saß wieder am Fenster. Dieser Platz auf der erhöhten Balustrade vor dem Nähtischchen war ihr heilig. Hier hatte John so oft zu ihren Füßen gesessen und seinen Kopf in ihren Schoß gelegt, hatte ihr von dem gemeinsamen Leben vorgeschwärmt, hatte ihr dieses Leben in den lockendsten Farben ausgemalt. Und dann war eine so ruhige Sicherheit in ihr Herz eingezogen, daß ein unendliches Glück ihr winke. Dann waren die angstvollen Gedanken, daß ein neidisches Schicksal ihr dieses Glück vor seiner Vollendung zerstören könnte, zerflattert in dem Bewußtsein: „Er liebt Dich über alles! Wie muß er Dich lieben, daß er Dich gerade wählte, er, der über Reichtümer gebietet!“

Von diesem Fensterplatz aus konnte sie bequem einen Teil der Straße mit einem der breiten Fußgängerwege des Tiergartens überblicken. Diesen Weg war John stets dahergekommen, hatte schon von weitem stets mit den Blumen gewinkt, die er ihr täglich brachte.

Lieserl Goodsteak beugte sich vor und starrte in das vom Laternenschein matt erleuchtete verschwommene Dunkel des abendlichen Riesenparkes hinein.

Ihr Denken bewegte sich unaufhörlich in demselben Kreislauf: „Weshalb hat John Dir den Zettel hinterlassen?! Wenn er wirklich durch den Sekt betäubt worden ist, konnte er doch gar nicht mehr schreiben! Und es ist seine Handschrift! Wie hängt das alles zusammen?!“

Plötzlich da unten eine schlanke Gestalt …

Dort unten auf dem Wege – neben der dicken Buche …

Elise Goodsteak zittert … Alles zerfließt ihr vor den Augen …

Sie reißt das Fenster auf. Zwei blühende Primeltöpfe poltern vom Fensterbrett auf die Balustrade.

Sie erkennt John …

Er winkt – – legt den Finger auf die Lippen …

Winkt wieder … Kommt näher.

Die Straße ist leer. Seine Stimme übertönt das Rauschen der Bäume nur halb:

„Liebling – – Hut und Mantel – – schnell!“

Elise begreift. Sie soll zu ihm. Er will sich nicht sehen lassen … Ja – sie begreift …

Und hastet in den Flur …

Weiß kaum, wie sie so rasch ins Freie gelangt ist. Fliegt den Weg entlang – ins Dunkel – in seine Arme …

„John … John …!! Du lebst!“ – Sie schluchzt an seiner Brust. Sie weint vor Seligkeit.

Dann schreiten sie eng aneinandergeschmiegt tiefer in den weiten Park hinein.

Stehen auf einer leicht gewölbten eisernen Brücke. Unter ihnen schießt dauernd das Wasser über das Wehr hinab.

John erzählt – berichtet …

Berichtet von Lydia Rampford, der lebenslustigen Witwe, die bald diesen, bald jenen Liebhaber hatte, bis sie sich, eine Verblühende, an Johns frische Jugend klammerte, an John, den Erben des alten Goodsteak …

„… Das war nicht Liebe, das war Sinnenrausch, Du mein alles … Und als ich’s fühlte, da entfloh ich ihr, kam nach Deutschland und fand das Glück – – Dich!“

Elise Goodsteak spürt brennende Eifersucht. Aber überwindet, vergißt.

Und John spricht weiter …

Wie er die Tote entdeckte, wie der Wahnsinn ihm nach dem Hirn griff mit scharfen Krallen, wie er um das Eiland stürmte, plötzlich dann seiner verzweifelten Lage sich voll bewußt wurde …

„Eine Pistole lag neben der Leiche – meine Pistole …! – Jeder wird mich für den Mörder halten! Das sagte ich mir. – Wurde ruhiger, wartete die Nacht ab, schleppte einen halb verfaulten Bretterkahn ins Wasser, nahm mein Gepäck mit – – floh …“

„Mein armer … armer John!“ Und Lieserl küßte ihn …

Sie braucht ihm nicht zu beteuern daß sie seinen Worten glaubt …

Sie gehen weiter – immer weiter – dem Stettiner Bahnhof zu.

„Ein kleines Dorf liegt da der Insel gegenüber hinter einer bewaldeten Bodenwelle,“ erzählt John den Fortgang seiner Abenteuer. „Dort fand ich Unterkunft bei einem alten Ehepaar, das allein in einem Häuschen nach dem Walde zu wohnt. Ein früherer Lehrer ist es. Herzensgute Leute, die mir Glauben schenkten, mich verbargen, auch Dich aufnehmen wollen, Liebling. Ein Dachstübchen wird uns beherbergen. Flieder blüht bis in das Fenster hinein, und am Deckenbalken nisten Schwalben. – Ich habe an meinen Vater nach New York depeschiert, Chiffretelegramm. Er soll herkommen. Er wird kommen, obwohl er Europa nicht liebt und Deutschland schon gar nicht …“

Lieserls Wangen haben wieder Farbe. Ihre Augen leuchten …

Ein Dachstübchen … Schwalben nisten …

Die zweite Hochzeitsreise … – –

Um zehn Uhr wird Sanitätsrat Storm an den[5] Fernsprecher gerufen. Niemand hat bisher Lieserls Verschwinden bemerkt. Jetzt ihre Stimme:

„Ich glaube eine Spur von John gefunden zu haben. Sorgt Euch nicht um mich … Wiedersehen …“

Der alte Herr Storm läuft ins Eßzimmer.

„Anna – – die Liese ist weg …“

Sie beraten …

Storm fährt zu Grundner. Er darf der Polizei diese neue Wendung nicht verschweigen.

* * *

Grundner sitzt in seinem Dienstzimmer. Der Zettel aus Johns Schlafwagenkabine liegt vor ihm auf dem Schreibtisch.

Dieser Zettel – – der paßt so schlecht in die Theorie hinein, daß John Goodsteak die Rampford erschossen hat. Der Schreibsachverständige hat erklärt: es ist Goodsteaks Schrift!

Grundner raucht und sinnt. Immer wieder schaut er den Zettel an.

Merkwürdig, daß John die englische Sprache für diese niederschmetternde, brutale Mitteilung gewählt hat. John beherrscht das Deutsche doch vollkommen … Weshalb englisch – gerade bei dieser Gelegenheit?!

Der Kommissar denkt an Lydia Rampford. Holt deren Brief hervor, diesen eisigen Brief …

Führt den Zettel und den Brief an die Nase …

Lächelt …

Beiden haftet dasselbe aufdringliche Parfüm an …

Nun weiß Grundner: Der Zettel ist für die Rampford einst bestimmt gewesen – einst, als John die Beziehungen zu ihr löste. Und jetzt hat die Rampford denselben Zettel für ihre Rache benutzt.

Natürlich – so ist’s – nur so! Grundner legt Zettel und Brief in eine Mappe und reckt sich, gähnt …

Es klopft. – Sanitätsrat Storm erscheint …

Grundner ahnt sofort, daß irgend etwas Besonderes geschehen sein müsse. Wer nachts um einviertel Zwölf einen Beamten aufsucht, kommt nicht wegen Kleinigkeiten. Außerdem verrät auch das Gesicht des alten Herrn die Zunahme der Sorgen und Kümmernisse der letzten Tage.

Herr Storm fährt sofort mit der Neuigkeit heraus.

„Elise ist weg … Sie hat telephoniert …“

Der schlanke Kommissar, wenn nötig Weltmann von größter Zuvorkommenheit, bittet den Sanitätsrat Platz zu nehmen.

Er beginnt zu fragen. Er hört, das Fenster sei offen gewesen, die Primeltöpfe hätten auf der Balustrade gelegen.

Er ist schnell im Bilde: John Goodsteak hat Elise geholt.

Er deutet dies dem Sanitätsrat an, der noch nicht im entferntesten auf diesen Gedanken gekommen ist, der noch nichts von dem Briefe, von der Ermordung der Rampford weiß, den Namen Rampford überhaupt nicht kennt.

Grundner fällt es schwer, auch den gegen John vorliegenden Verdacht zu erwähnen. Er muß es tun. Er betont, daß die Tat Johns nur eine Affekthandlung gewesen sein konnte, daß nun erwiesen sei, daß die Rampford John habe entführen lassen, daß dieser dann, aus der Betäubung erwachend, mit der früheren Geliebten in Streit geraten sei und in der Erregung den Schuß abgegeben haben dürfte.

Der alte Herr tupft sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich begreife nur nicht, daß Lieserls Stimme am Apparat so heiter und glücklich klang,“ stöhnt er. „Das begreife ich nicht! Wenn John sie wirklich mit sich genommen hat, wenn sie ihm gefolgt ist, muß er ihr doch über alles, was auf Altwerk sich ereignet hat, einen Aufschluß gegeben haben, der Lieserls Glauben an John nicht im geringsten erschüttert hat. Und – belogen hat John sie nicht! John lügt nicht.“

Grundner findet diese heitere Glückseligkeit der jungen Frau sehr, sehr wichtig. Er sagt sich, daß John hiernach kaum eine Blutschuld auf sich geladen haben könnte. Ein Mann, der einen Totschlag auf dem Gewissen hat, wagt sich auch kaum in die Nähe des Hauses seiner Schwiegereltern, wird kaum den Mut haben, seiner jungen Gattin gegenüberzutreten.

Grundner stützt den Kopf in die Hand. Ihm beginnt zu dämmern, daß er hier eine falsche Theorie aufgestellt hat. Er ist ehrlich genug, dies dem Sanitätsrat auseinanderzusetzen. Er zerpflückt seine eigenen Beweise wie welke Blätter. Er tut es gern.

Der alte Herr verabschiedet sich. Grundner hat ihn wieder aufgerichtet, sagt nochmals: „Warten Sie ab. Morgen fallen wichtige Entscheidungen. Der Fall John Goodsteak wird eine überraschende Wendung nehmen.“

Er ist wieder allein, geht auf und ab.

Seine Gedanken umspielen die rätselvolle, widerspruchsvolle Person Sixtus Rumars.

Wenn nur erst die beiden Beamten da wären, die er dem Manne an die Fersen geheftet hat, der in der Fromertschen Weinstube Rumars stoische Ruhe ins Wanken brachte!

Rumar – –! Rumar, der so viel Geld verschleudert, Rumar, ein Spieler, der lächelnd Unsummen verliert …!

Grundner kommt nicht los von diesem Menschen.

Von München aus will Rumar die Rückreise nach Berlin angetreten haben. – Ob das stimmt?! – Man muß es nachprüfen. –

Grundner setzt sich auf das Glanzledersofa. Die Müdigkeit kommt. Er gähnt. Er fühlt die körperliche und geistige Abspannung. Er muß sich Ruhe gönnen. Wer weiß, welche Anstrengungen ihm noch bevorstehen.

Der Kommissar zieht die Schlafdecke bis zur Brust, streckt sich aus, ist im Nu eingeschlummert.

Als die beiden Beamten ihn wecken, ist er wieder so frisch und beweglich wie stets.

Der Bericht des Älteren der beiden nimmt einige Zeit in Anspruch. Grundner sitzt im Schreibsessel und verarbeitet sofort im Geiste das Gehörte.

Dann sagt er nur: „Finden Sie es nicht merkwürdig, Globig, daß das Auto in der Charlottenstraße zur Flucht für den Mann bereitstand?! Bedenken Sie auch: der Mann hat sich, wie Sie soeben erwähnten, nicht ein einziges Mal umgeschaut, ob er verfolgt würde. Und doch hat er die Perlenkette weggeworfen, also nur einen Teil der Beute, die er bei Bankier Lönsch gemacht hat.“ Und Grundner lächelt …

„Sie meinen, Herr Kommissar, daß … daß Rumar und der Dieb …“

„… die Geschichte genau verabredet hatten! Ja, das glaube ich!“

„Hm …!“ Und Globig sieht seinen Kollegen an. Der nickt und erklärt:

„Rumar ist selbst der Dieb. Die Sache mit dem Motorrad kam mir gleich etwas windig vor.“

„Herr Rumar ist ein so bekannter Schriftsteller,“ meint Globig kopfschüttelnd.

„Er ist Spieler, besucht Tanzböden dritter Sorte, beschenkt Stubenmädchen sehr reich,“ sagt Grundner hart. „Daß er mit Stubenmädchen anbandelt, wird schon seinen Zweck haben. Die Herren Einbrecher reisen heute mit diesem Trick mehr denn je.“

Globig ist bekehrt. „Ein schlauer Hund, der Rumar!“ sagt er drastisch. „Wer mag der andere gewesen sein?“

„Das werden wir schon rauskriegen, Globig. Geht jetzt in die Klappe, Kinder. Um sieben Uhr aber seid[6] Ihr vor Rumars Haus. Er will ja um zehn herkommen. Vielleicht geht er noch anderswohin. – Gute Nacht.“

* * *

Neun Uhr vormittags. – Grundner betritt das Präsidium. Unten[7] im Flur begegnet er dem Kollegen Dr. Römer von der anderen Abteilung. Sie begrüßen sich.

„Wollen Sie verreisen, Römer,“ fragt Grundner und deutet auf des Kollegen kleinen[8] Handkoffer.

„Ja – nach Riesental, Zuchthaus Riesental, dort sind vorgestern nacht sechs Sträflinge ausgebrochen. Tolle Geschichte! Unglaublich, was alles gemacht wird! Denken Sie: der Direktor erhält eine Verfügung vom Justizministerium, daß einem Mörder, der bereits elf Jahre hinter sich hatte, der Rest der Strafe erlassen sei. Der Mann hatte sich stets tadellos geführt, war als Kalfaktor verwendet worden und wird auch am fünfzehnten freigegeben. In der folgenden Nacht verschwinden fünf andere Sträflinge, nachdem zwei Wärter überwältigt, gefesselt und geknebelt worden waren. Der Direktor merkt sofort, daß die Ausbrecher Hilfe von draußen gehabt haben, und zwar durch irgend jemand, der mit dem Zuchthausbetrieb aufs genaueste vertraut sein muß. Kurz, es wird festgestellt, daß die Verfügung des Justizministers gefälscht ist, daß nur der Kalfaktor und Sträfling Brandt den fünfen den Weg in die Freiheit ermöglicht hat. Unter diesen fünf sind zwei Mörder, zwei Totschläger, ein Lustmörder. Nun sollen wir die Kerle wieder einfangen. – Wiedersehen. Hab’s eilig.“

Grundner schaut dem Kollegen sinnend nach. Er hat seine Gedanken stets beisammen. Er denkt an den grauköpfigen Herrn mit dem fahlen, kittgrauen Gesicht in der Fromertschen Weinstube, an den Zuchthausteint dieses Mannes.

Langsam geht er weiter. Das fahle Gesicht schwebt vor ihm – die vielen Falten, der verkniffene Mund, der nadelscharfe scheue Blick der unruhigen Augen …

Weshalb soll ein Mensch wie Rumar, der ein Doppelleben führt, nicht auch Zuchthausbekanntschaften haben?!

Grundner betritt sein Dienstzimmer, läutet, befiehlt dem Beamten, daß sofort eine Abschrift der polizeilichen Anmeldung Sixtus Rumars sowie eine Namensliste der aus Riesental entsprungenen Sträflinge herbeigeschafft werden solle.

Um halb zehn erscheint Frau Sanitätsrat Winter. Gleich darauf Ingenieur Grüner, den der Kommissar telephonisch für diese frühe Stunde bestellt hat.

Der eine Aktenständer an der Wand verdeckt eine Tür, hat Vorhänge. Die Rätin und Grüner nehmen im Nebenraum Platz.

Grundner ist gespannt, ob Rumar wirklich eine andere Lösung für den Fall Goodsteak bereit hat, wie er den beiden Beamten nachts erklärte.

Mit dem Glockenschlage zehn findet Sixtus Rumar sich ein, verbeugt sich höflich, setzt sich und lächelt Grundner an.

„Nun habe ich doch Detektiv gespielt,“ meint er. „Nur schade, daß ich den Kerl in der Simsonstraße nicht fassen konnte.“

Grundner lächelt auch. „Yes – sehr schade.“ Er fängt an englisch zu sprechen.

Rumar geht auf den Scherz ein, spricht ebenfalls englisch. Bis der Kommissar annimmt, daß die Sanitätsrätin die Stimme Rumars nun genügend habe prüfen können und wieder ins Deutsche zurückfällt …

„Sie haben also eine andere Lösung des Falles John Goodsteak gefunden?“ fragt er.

„Ja. Nämlich die, daß Lydia Rampford sich selbst entleibt haben kann.“

„Schade. Das ist ausgeschlossen. Der tödliche Schuß wurde aus anderthalb Meter Entfernung abgegeben. Selbstmord also unmöglich. Die Mordwaffe ist eine moderne Selbstladepistole, Kaliber 6,8 gewesen. Die Pistole ist freilich nicht gefunden worden. Das Geschoß genügt.“

Rumar betrachtete seine zarte, schmale Hand und meinte bedauernd: „Armer John! So bleibt der Verdacht doch auf Dir sitzen!“

„Vorläufig ja. – Wie wär’s, kommen Sie mit nach Altwerk, Herr Rumar? Dann habe ich doch angenehme Reisegesellschaft.“

Sixtus Rumar, der vollständig in dem Wahn lebte, daß Grundner nun jede Spur von Mißtrauen gegen ihn wieder aufgegeben hätte, glaubte am besten auch weiter Herr der Situation bleiben zu können, wenn er die bevorstehenden Ereignisse in Altwerk persönlich überwachte.

Er sagte also zu und verabschiedete sich dann.

Kaum hatte er das Präsidium verlassen, als ihm seine beiden Schatten abermals folgten.

Er war trotz seiner Überzeugung von Grundners Harmlosigkeit vorsichtig wie immer, benutzte ein ihm bekanntes Durchgangshaus in der Nähe des Schlosses, um Spione loszuwerden, sprang in ein Auto, fuhr bis Bahnhof Friedrichstraße und benutzte die Ringbahn bis Bellevue. Von hier ging er zu Fuß nach der Stromstraße, nach seinem zweiten Heim, das er als Siegfried Ringel gemietet hatte.

Ungesehen schlüpfte er in das Zimmer, wo er den Graukopf mit dem erdfahlen Gesicht gerade beim Frühstück antraf. Er hatte – als Ringel – seiner Wirtin gegenüber den Mann als seinen Onkel ausgegeben.

„Ich begleite Grundner nach Altwerk,“ erklärte er dem Alten mit höhnischem Auflachen.

Hier streifte er die Maske ab. Hier war er der, den Friedrich Paulsen als Werkzeug seines unauslöschlichen Hasses großgezogen hatte.

Der Alte grinste. „Junge, Du bist ein Genie!“

Rumars Züge veränderten sich jäh. „Ein Verbrecher und ein Genie!“ meinte er leise. „Genies werden als solche geboren. Verbrecher wird man durch die Lebensbedingungen, die Erziehung, die Umwelt. Ich betone: ich danke es Dir nicht, daß Du mich die Menschen hassen und verachten lehrtest. In meinen Adern fließt kein Tropfen Deines Blutes, obwohl wir uns merkwürdigerweise äußerlich ähnlich sehen. Mein Blut war anderer Art. Es ist vergiftet worden.“

„Bereust Du es, daß Du jetzt mit Menschen spielen kannst, daß Du stärker als alle bist, weil Du zu hassen und zu verachten weißt?!“ lachte der Alte schrill. „Sollten Deine Worte ein Vorwurf sein?!“

„Nein. Deshalb kein Vorwurf, weil ich mich in Deine Gefühle hineindenken kann. Wer schuldlos so endlose Jahre hinter Kerkermauern schmachtet, wer das Henkerbeil bereits über sich schweben sah, der hat ein Recht zum Haß.“

Friedrich Paulsen warf einen seltsamen Blick nach seinem Stiefsohne hin, der das Gesicht nach dem Fenster gewandt hatte.

In diesem Blick leuchteten Spott, Triumph, Geringschätzung.

„Und – die Reue?“ fragte er lauernd.

Rumar machte eine heftige Handbewegung. „Laß das! Das ist meine Angelegenheit. – Ich wünsche, daß Du mir nach Altwerk folgst. Du fährst nach Wollin. Das Städtchen liegt in der Nähe. Dort im Schranke unten findest Du alles, was Du brauchst, um Dein Aussehen noch mehr zu verändern.“

„Hm – was soll ich dort?“

„Für mich Spion spielen. Es könnte der Fall eintreten, daß ich jemand bei der Hand haben muß, der sicher ist. Man kann nie wissen, welche Wendung die Dinge nehmen.“

„Du wirst also dafür sorgen daß die Beweise gegen diesen … diesen John Goodsteak …“ – er zerkaute den Namen vor Haß förmlich – „noch eindrucksvoller werden?“

„Ja – in meinem Interesse, zu meiner eigenen Sicherheit.“

Der Alte feixte. Es war etwas so Widerwärtiges in diesem Gesicht, daß Rumar aufstand und an den Ofen trat. Er drehte dem entsprungenen Zuchthäusler den Rücken zu, hob das farbige Schmuckmedaillon aus der Mitte des Kachelofens heraus und entnahm seinem gerollten und mit Seidenüberzug versehenen eleganten Schirm, der nur eine Pappattrappe war, Edelsteine, Ringe und Teile zerbrochener Goldfassungen von Broschen und Brillantarmbändern und legte all dies in das bereits mit anderen Beutestücken gefüllte Versteck hinein.

Paulsen beobachtete ihn. Seine Augen funkelten. Ein höhnisches Zucken lief über sein Gesicht hin …

* * *

Am nächsten Vormittag war’s.

John und Lieserl saßen in der Fliederlaube des alten Lehrers Lemke beim Morgenkaffee, saßen dicht beieinander, hörten die Schwalben zwitschernd durch die Luft schießen, freuten sich über das zudringliche Hühnervolk, dessen Herr und Gebieter, ein prächtiger Gockel, soeben frech auf den Tisch geflattert war und nun mit ruckartigen Kopfbewegungen nach einem leckeren Happen ausspähte.

Lieserl hatte den Kopf an Johns Schulter gelehnt.

„Unsere Hochzeitsreise,“ sagte sie träumerisch.

„Und – die gräßlichen Betten,“ lachte John.

Lieserl wurde etwas rot …

„Alles ist hier schön, denn ich habe ja Dich, John …“

„Du süßer, kleiner Liebling …!“

Er küßte sie.

„Du bist wirklich süß … Deine Lippen schmecken nach Vater Lemkes Honig. – Übrigens muß Lemke sehr bald aus Wollin zurück sein. Ich habe ihm doch eine Art Vollmacht mitgegeben, daß er berechtigt sei, Depeschen für seinen Sommergast Herrn Johannes Gutstück abzuholen. Der Pa telegraphiert ja sicherlich gleich Antwort aus New York. Chiffredepeschen sind doch eine feine Einrichtung. Du wirst staunen, wie kurz die abgefaßt ist. Für die meisten Worte nur ein Buchstabe und eine Zahl … – Was gibt’s denn, Liebling?“

Elise hatte plötzlich seinen Arm umkrallt …

„Da – auf dem Wege nach dem Haff, – – das ist Kommissar Grundner …!“ flüsterte sie.

John blieb ganz ruhig. „So – das ist er. – Holla – und der Herr neben ihm, – – wahrhaftig: Sixtus Rumar!“

„Ja – – Sixtus Rumar …,“ hauchte Lieserl. „Mein Gott, John, wenn … wenn …“

Er drückte sie zärtlich an sich. „Süßes, ich habe ja ein reines Gewissen …! Außerdem werden wir jetzt vorsichtig sein und nur einsame Wege wählen. Der Kommissar wird auch nicht lange hierbleiben.“

Lieserl erschauerte leicht. „Wer nur der Mörder sein mag, John?“

„Ich weiß es nicht. Was ich weiß, habe ich Dir erzählt.“ Er stand auf. „Ich muß den beiden doch mal nachschauen, ob sie nach Altwerk hinüberrudern.“

Er verließ die Laube. Das Häuschen des Lehrers lag auf der Höhe der bewaldeten Bodenwelle auf einer Lichtung. Von der Nordseite des Gartenzaunes konnte man das Haff überblicken.

John Goodsteak stand am Zaun. Und seitwärts im Walde standen die Kriminalbeamten Globig und Schmidtke, die ohne Rumars Wissen mit nach dem Dörfchen gereist waren. Sie trugen Arbeiteranzüge, sahen ganz wie pommersche Tagelöhner aus.

Globig bemerkte den blonden, großen Herrn dort am Zaun …

„Donnerwetter – –! Schmidtke, das ist der Photographie nach der Goodsteak!“ raunte er dem Kollegen zu. „Und ohne Hut! Du der hat sich hier mit seiner Frau eingenistet – paß auf, so ist es! – Gehen wir weiter.“

Unten am Haffufer lag ein Ruderboot, in dem ein wie ein Fischer gekleideter Mann saß, das war der dritte Beamte, den Grundner mit nach dem Dörfchen genommen hatte, wo er selbst und Rumar gestern abend in dem einzigen Wirtshaus abgestiegen waren.

„Sie könnten uns mal nach Altwerk hinüberrudern,“ sagte der Kommissar zu dem Fischer. „Ich bin der Kriminalkommissar Grundner aus Berlin und dienstlich hier.“

„Steigen die Herren nur ein,“ nickte der Mann mit den hohen Wasserstiefeln.

Altwerk war in zehn Minuten erreicht. Der pensionierte Lotse Bark und seine Frau hatten das Inselhaus wieder bezogen. Die Leiche Lydia Rampfords war nach Wollin geschafft worden.

Bark führte die beiden Herren nach oben in das Zimmer, in dem er die Erschossene aufgefunden hatte. Der Fischer kam, aus Neugier scheinbar, hinterdrein, blieb dann aber im Flur stehen.

Grundner schickte Bark hinaus. – Auf den Dielen vor dem Bett zeichneten sich schwarz verfärbte Blutstropfen ab. Der Kommissar deutete auf die Flecken. „Hier starb Lydia Rampford,“ sagte er und schob die Hand dann in die rechte Beinkleidtasche.

Rumar lehnte am Fußende des Bettes und putzte seine Brille. „Wenn wir nur erst den Mörder hätten,“ meinte er und setzte die Brille auf, begegnete Grundners starrem[9] Blick.

„Waren Sie schon einmal hier, Herr Rumar?“ fragte der Kommissar in ganz anderem Tone.

Rumar schüttelte den Kopf. „Berliner dürften sich kaum hierher verirren.“ Er blieb äußerlich gefaßt. Und doch – in seinem Innern tobte ein Aufruhr. Er erkannte, daß Grundner ihn absichtlich hierher gelockt hatte.

„Wo waren Sie denn in der Nacht vom fünften zum sechsten?“ fragte der Kommissar kurz. „Jedenfalls nicht in München. Ich habe dort Erkundigungen einziehen lassen.“

Rumar verschränkte die Arme über der Brust. „Wessen beschuldigen Sie mich?“ meinte er kalt. Seine Nerven versagten nicht.

„Sie haben gemeinsam mit Lydia Rampford John Goodsteak hierher geschafft. Sie verkehrten bei der Rampford. Die Frau Sanitätsrat Winter hat in Ihrer Stimme, als Sie englisch sprachen, die jenes Parwoor wiedererkannt. Und ähnlich war es gestern hier im Wirtshaus des Dorfes drüben. Da hat der Lotse Bark Sie sprechen gehört. Sie traten hier zwar mit Vollbart, verwachsen und hinkend auf. Aber – Ihre Stimme bewies Bark, daß Sie jener Ogly waren, der für seine Schwester das Haus mietete.“ Eine kleine Pause. „Sie sind der Mörder der Rampford, Sixtus Rumar. Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!“

Er zog die Hand mit der Dienstpistole aus der Tasche.

Rumar lächelte kühl. „Lassen Sie das Ding, wo es bisher war, Herr Grundner. Ich habe verspielt. Nur – ich bin nicht Lydia Rampfords Mörder.“

Der Kommissar rief den Kriminalbeamten herein.

Rumar streckte die Hände aus und ließ sich Handschellen anlegen.

„Ich wiederhole,“ erklärte er mit höflicher Bestimmtheit: „ich habe die Rampford nicht erschossen.“

„Aber Sie geben zu, in der Nacht vom 5. zum 6.[10] John Goodsteak betäubt hierher gebracht zu haben?“, meinte Grundner ungeduldig.

„Ja – im Auto. Ich blieb jedoch nur ganz kurze Zeit hier, fuhr dann über Stralsund, Rostock, Hamburg, Hannover bis Nürnberg.“

Grundner zuckte die Achseln. „Ihr Leugnen wird Ihnen wenig helfen.“

„Welchen Grund sollte ich wohl gehabt haben, die Rampford zu ermorden?!“

„Raubmord!! Wenn auch bei der Toten noch Schmuck und Geld gefunden wurde, so mag sie doch weit größere Beträge bei sich gehabt haben.“

„Das ist eine Vermutung Ihrerseits.“

„Ich vermute Raubmord, weil … Sie ein Dieb sind, Sixtus Rumar! Sie haben bei Bankier Lönsch als Fassadenkletterer den Einbruch verübt. Sie haben sich an Stubenmädchen auf Tanzböden herangemacht, haben durch diese Mädchen die Gelegenheiten ausbaldowert. Sie haben eine zweite Wohnung in der Stromstraße in Moabit, in der ich Ihren Stiefvater Friedrich Paulsen unauffällig bewachen lasse.“

Rumar war jetzt leichenblaß geworden.

Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Und trotzdem: er bewahrte Haltung!

Und mehr: er verbeugte sich vor Grundner.

Sagte: „Sie haben mich besiegt – mich, den Einbrecher, den Verbündeten der Rampford, – nicht den Mörder der Rampford. Ich habe sie nicht erschossen!“

Die Tür ging auf. Globig trat ein. „Herr Kommissar, auf ein Wort …“

Grundner folgte Globig in den Flur, erfuhr hier, daß John Goodsteak gefunden sei.

„Bringen Sie ihn und seine Frau sofort nach dem Wirtshaus,“ befahl der Kommissar. „Aber mit aller Milde, Globig, verstanden! Nicht etwa, daß die junge Frau einen Weinkrampf bekommt! Sagen Sie den beiden nur gleich, daß Rumar die Rampford erschossen hat. Wir kommen mit Rumar nach. Der Wirt soll Ihnen seine gute Stube zur Verfügung stellen. Die größte Überraschung für Rumar hebe ich mir für nachher auf. Vielleicht gesteht er dann …“

* * *

Globig und Schmidtke erledigten ihren Auftrag mit allergrößter Rücksichtnahme. Lieserl hatte zuerst ein wenig geweint, da jedoch von einer Verhaftung keine Rede war, sondern Globig betonte, daß der Schriftsteller Rumar bereits der Tat überführt sei, folgte das junge Ehepaar den Beamten ohne Scheu. Unterweges nach dem Wirtshause des Dörfchens fand John Goodsteak dann auch Gelegenheit, die Beamten über die ihm geradezu unfaßbar erscheinende Mitteilung von Rumars Verbrechen näheren Aufschluß zu erbitten. Globig berichtete mit gewissem Stolz, wie der Herr Kriminalkommissar Grundner den „feinen Verbrecher“ so allmählich eingekreist hätte, bis nun dessen Verhaftung auf Altwerk habe erfolgen können.

John schüttelte ganz ungläubig dazu den Kopf, daß Rumar ihn gehaßt haben sollte. „Weshalb denn – woher dieser Haß?!“ meinte er immer wieder.

„Das wird sich schon noch herausstellen,“ sagte Globig sehr bestimmt. „Wir kriegen alles heraus – alles!!“

Lieserl, Arm in Arm mit ihrem John, sah jetzt schon von weitem den alten Lehrer Lemke auf dem Rade näherkommen.

Lemke überreichte John dann auch die erwartete Depesche, die John nachher in der guten Stube des Besitzers des Gasthofes rasch entzifferte. – Er reichte Lieserl den deutschen Text: „Da – lies nur!“

„Deine Depesche durch Funkapparat des Torpedozerstörers „Jofferson,“ mit dem nach Norwegen unterwegs, aufgefangen. Komme von Norwegen mit Flugzeug nach Deutschland – Wollin. – Verdacht gegen Dich Unsinn. Die Rampford hat so viele Männer an der Nase herumgeführt, daß einer von diesen ihr wohl einen endgültigen Denkzettel gegeben hat. – Herzlichst – Dein Vater.“

Kaum hatte Elise den Text überflogen, als auch schon Grundner, der dritte Kriminalbeamte und der gefesselte Rumar eintraten.

Rumar schaute John groß an. Dann kniff er die Augen zu. „Ah – der Mörder –!! Und natürlich frei!! Das nennt man hier Gerechtigkeit!“ sagte er mit einem jäh ausbrechenden Haß, der jetzt ganz unverhüllt sich offenbarte.

Grundner wies auf einen Stuhl. „Setzen Sie sich, Rumar!“

Dann wandte er sich an das junge Paar. „Ich möchte hier in Ihrer Gegenwart Rumar zu einem Geständnis bringen. Bisher leugnet er den Mord, gibt nur zu, daß er der Rampford geholfen hat, Sie nach Altwerk zu verschleppen. – Wollen Sie mir jetzt zunächst Ihre Erlebnisse berichten, Herr Goodsteak.“

John tat es in aller Kürze. Seine Angaben trugen so sehr den Stempel der Wahrheit, daß Grundner, als John nun schwieg, wieder zu Rumar sagte:

„Glauben Sie, daß Herr Goodsteak lügt?!“

„Nein. Er ist ebensowenig der Mörder wie ich.“

„Sie beharren also bei Ihrem Leugnen?“

„Ich leugne nichts, was ich irgend zugeben kann.“

„So?! Und – woher Ihr Haß gegen Herrn Goodsteak, wenn Sie so sehr mit Ihrer Aufrichtigkeit prahlen?“

Rumar überlegte. – Es war ja nun doch alles verloren. Sein Stiefvater würde verhaftet werden oder war bereits verhaftet.

„Ich prahle nicht mit meiner Aufrichtigkeit,“ erwiderte er. „Ich bin aufrichtig. – Dieser Haß greift weit in die Vergangenheit zurück. John Goodsteaks Vater ist von Geburt Deutscher, hieß hier Eduard Gutstück. Er und mein Stiefvater Paulsen waren Angestellte derselben Exportfirma in Hamburg …“ – Er schwieg. Die Tür nach dem Flur war geöffnet worden. Ein älterer hagerer Herr stand auf der Schwelle: Edward Goodsteak! Er ging auf John zu, reichte ihm die Hand. Das war die ganze Begrüßung zwischen Vater und Sohn. Dann küßte er Lieserl auf die Stirn und drehte sich nach Grundner um …

„Ich bin Johns Vater. Klären Sie mich auf, was hier vorgeht. Sie scheinen Beamter zu sein.“

Er setzte sich zwischen John und Lieserl auf das große Sofa und lehnte sich abwartend zurück.

Grundner teilte ihm mit, was unbedingt nötig war.

Edward Goodsteak sagte darauf zu Rumar:

„Also Sie sind der kleine Sixtus, dem ich noch manchen Nickel geschenkt habe. Sie waren ein Knabe von guten Anlagen. Schade um Sie.“ –

Grundner befahl Rumar fortzufahren.

„Gern,“ meinte der. „Der Schuldige sitzt ja nun dort zwischen seinen Kindern. – Also: Gutstück und Paulsen waren bei derselben Firma. Gutstück, ein Schleicher und Kriecher, brachte es bis zum Prokuristen, während mein Stiefvater ein armseliger Schreiber blieb. Damals hat Paulsen mir als Kind klargemacht, daß die ganze Welt aus Heuchlern und Lumpen besteht. Schon damals legte er in meine Seele den Keim zu dem Haß und der Menschenverachtung, die später, als er schon im Zuchthaus saß, bei meinen Besuchen bei ihm in der Anstalt bis ins Unendliche gesteigert wurden. Er kam ins Zuchthaus, weil er einen Raubmord begangen haben sollte, den in Wahrheit Eduard Gutstück auf dem Gewissen hat.“

Er schaute den Multimillionär durchdringend an. Der sagte nur: „Nachher rede ich …!“

„Das wird Ihnen nichts helfen!“ höhnte Rumar. „Sie sind der Mörder jenes Alfred Timm – Sie, nur Sie! Mit infernalischer Schlauheit haben Sie, bereits verhaftet, den Verdacht auf meinen Stiefvater gelenkt. Sie wurden freigelassen. Er zum Tode verurteilt und zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Das ist die … irdische Gerechtigkeit!! Und – das hat mir mein Stiefvater ins Gehirn eingehämmert, daß er schuldlos im Kerker schmachtete und Sie, Eduard Gutstück, in Amerika zu Reichtum gelangt seien! Rache hat er von mir verlangt! – Brauche ich noch mehr zu sagen?! Meine, unsere Rache sollte Ihren Sohn treffen! Ich half der Rampford, John aus dem Zuge entführen. Ich kannte die Rampford. Sie rechnete damit, John auf Altwerk wieder für sich zu gewinnen. Ich aber wußte, daß es ihr nicht gelingen würde. Ich wußte auch, daß sie dann John und sich selbst vergiften wollte. Und sie hätte es getan. Sie wurde jedoch erschossen. Nicht durch mich! Ich wäre ja ein Narr gewesen, wenn ich die Rampford, mein Rachewerkzeug, vernichtet hätte!“

Edward Goodsteak betrachtete Rumar mit mitleidigen Blicken.

„Haben Sie jemals die Akten des Mordprozesses Paulsen-Timm in der Hand gehabt?“ fragte[11] er. „Haben Sie je Zeitungsberichte über den Prozeß gelesen. – Nein?! Sie haben sich also lediglich auf die Angaben eines Menschen verlassen, der eine der jämmerlichsten Kreaturen war, die je die Welt durch ihre Anwesenheit beschmutzt haben. Freilich, Sixtus Rumar, als der Prozeß spielte, waren Sie ein Kind. Das entschuldigt Sie. – Die Sache war die, daß Paulsen ein fauler, unfähiger Mensch, mich beneidete und haßte, weil ich vorwärtskam. Dieser Haß ließ ihn[12] schließlich zu einem letzten Mittel greifen, mich zu vernichten: er ermordete den Kassenboten Timm und schmuggelte Teile der Beute dieses Raubmordes in meine Wohnung ein. Ich wurde verhaftet. Aber Paulsens Streich mißlang. Meine Schuldlosigkeit und sein Verbrechen kamen an den Tag. Immerhin war mir Deutschland verleidet. Ich wanderte aus, wurde Amerikaner, änderte meinen Namen und habe John nie etwas von diesen jetzt neunzehn Jahren zurückliegenden Dingen erzählt. – Paulsen hat also auch an Ihnen, Sixtus Rumar, ein ungeheuerliches Verbrechen begangen. Er hat ihre Seele systematisch vergiftet, hat sich in Ihrer Person ein Werkzeug seiner Rache großgezogen.“

Rumar lachte schneidend auf. „Von einem Geldsack herab läßt sich jede Wahrheit verdrehen! Ich kenne meinen Stiefvater: Sie haben ihn auf dem Gewissen, Eduard Gutstück, nur Sie!!!“

Jetzt mischte sich Grundner ein.

„Sie trauen es Ihrem Stiefvater also nicht zu, daß er Sie absichtlich getäuscht, daß er nur den unschuldig Verurteilten gespielt hat?“

„Niemals!“

„So – dann will ich Ihnen Friedrich Paulsen in wahrer Gestalt zeigen. – Globig, holen Sie Paulsen herbei.“ –

Der alte Zuchthäusler trat ein, den Kopf tief gesenkt, Handschellen an den Gelenken …

Blieb stehen, wagte nicht aufzuschauen …

„Rumar,“ begann der Kommissar, „Sie hatten in Ihrem Zimmer in der Stromstraße im Ofen Juwelen und Gold im Werte von Billionen versteckt. Sie sind eben der nie zu fassende Einbrecher gewesen, der außen an den Häusern emporklomm, der ungeheure Mengen an Schmuck und Geld stahl. Mit dieser Ihrer Beute suchte der Mann zu fliehen, der Ihr Stiefvater, der Verderber Ihrer Seele ist. Er floh bis Hamburg, wollte nach Südamerika. In Hamburg verhafteten ihn meine Leute. Also wollte Ihr Stiefvater Sie zum Dank dafür, daß Sie die Verfügung des Justizministeriums fälschten und ihm die Flucht aus Riesental ermöglichten, … bestehlen! – Sehen Sie sich den Mann doch an! Wagt er dies abzustreiten?!“

Rumar war aufgesprungen …

Sein leichenfahles Gesicht zuckte wie im Krampf.

Langsam schritt er auf Paulsen zu …

Und – der wich zurück … bis zur Wand …

Bis zur Wand folgte Rumar – brüllte dann:

„Satan – Satan!! Du …“

Da hatte Paulsen wohl in der Angst, Rumar könnte ihm mit den gefesselten Händen an die Kehle springen, dem dicht vor ihm Stehenden einen Tritt vor den Unterleib versetzt – einen solchen Tritt, daß Rumar lang zu Boden stürzte und ohnmächtig liegenblieb.

* * *

Am Abend desselben Tages ging es mit Sixtus Rumar zu Ende.

Der Kreisarzt hatte eine mehrfache Darmzerreißung und eine Bauchfellentzündung infolge des Stoßes vor den Unterleib festgestellt.

Rumar lag in einem Fremdenzimmer des Gasthofes im Bett – ein Sterbender.

Man hatte ihm Morphium gegeben, um ihn nicht unnötig leiden zu lassen.

An seinem Bett saß um zehn Uhr, als der Wind vom Haff her über das Dörfchen[13] hinwegbrauste, Kommissar Grundner.

Neben dem Bett standen John Goodsteak, der Kreisarzt und Globig.

Grundner beugte sich über den Sterbenden …

„Rumar, hören Sie mich?“

Rumar schlug die Augen auf.

„Haben Sie die Rampford erschossen?“ fragte Grundner eindringlich.

Rumars Blicke wanderten zu John Goodsteak.

John trat näher.

Mit letzter Kraft hob Rumar die rechte Hand, streckte sie John hin, der sie rasch ergriff.

„Verzeihen Sie mir, John“ flüsterte Sixtus Rumar. „So wahr ich bereue, was ich getan: ich habe Lydia Rampford nicht getötet …“

Er schwieg erschöpft.

Nahm alle Kraft zusammen … fügte hinzu:

„John damit nicht etwa der Verdacht auf Ihnen ruhen bleibt: ich ahne, wer es getan hat! Es wird ein Mädchen sein, die mich liebt, eine der vielen, die ich … belog. Sie mag geglaubt haben, daß Lydia Rampford ebenfalls meine Geliebte sei … Als ich die Insel Altwerk morgens am sechsten[14] verließ, sah ich im Ufergebüsch eine weibliche Gestalt, die schnell tiefer im Walde verschwand. Dieses Mädchen kann das Boot zur Überfahrt nach Altwerk benutzt haben, das mich ans Ufer brachte. – So wahr Gott mir[15] gnädig sein wird: Dies ist die Wahrheit! Das Mädchen … soll … nicht … durch … mich …“

Da sank sein Kopf zur Seite.

Der Todeskampf begann. Um halbelf drückte John Goodsteak dem Toten die Augen zu. – –

Lydia Rampfords Mörderin ist nie entdeckt worden. Alle Nachforschungen der Kriminalpolizei blieben ergebnislos.

Als Sixtus Rumar auf dem Dorffriedhof beerdigt wurde, folgten dem Sarge nicht nur die Goodsteaks, Vater und Sohn und Frau Elise, sondern auch Ingenieur Grüner, Doktor Moses Bieber und Komiker Zwillig.

Der Geistliche betonte bei seiner Ansprache am Grabe die ungeheure Tragik im Leben dieses reuevoll Dahingegangenen, dessen Seele von Jugend an durch einen Verworfenen heimtückisch verdorben worden sei. –

Wenn Rumar im Standard-Klub später irgendwie erwähnt wurde, sprach man nie von Rumar, dem Verbrecher, nein, nur von dem armen, betörten Rumar. –

Friedrichs Paulsen starb im Zuchthaus an den Folgen einer Blutvergiftung.

Über John Goodsteaks Hochzeitsreise wäre nichts mehr zu sagen …

 

Ende.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Meyring“. Gustav Meyrink; 1868–1932, österreichischer Schriftsteller und Übersetzer; „Der Golem“, ein Klassiker der phantastischen Literatur, erschien in der Buchausgabe 1915.
  2. In der Vorlage steht: „Stadreisense“.
  3. In der Vorlage steht: „blieb“.
  4. In der Vorlage steht: „hatte“.
  5. In der Vorlage steht: „dem“.
  6. In der Vorlage steht: „seit“.
  7. In der Vorlage steht: „Unter“.
  8. In der Vorlage steht: „kleinem“.
  9. In der Vorlage steht: „starren“.
  10. In der Vorlage steht: „… in der Nacht vom 15. zum 16. …“.
  11. In der Vorlage steht: „fargte“.
  12. In der Vorlage steht: „ihm“.
  13. In der Vorlage steht: „Dörfchens“.
  14. In der Vorlage steht: „sechszehnten“.
  15. In der Vorlage steht: „mit“.