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Das Radiogespenst

 

 

Walther Kabel

 

Das Radiogespenst

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1926 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

The pile of wood.

Doktor Gerhardi, der am Kamin lehnte, überflog nochmals mit ironisch-prüfendem Blick den Salon Maja Granvilles …

Es waren heute am Fastnachtabend dieselben Gesichter wie stets: Majas sogenannter Freundeskreis!

Sogenannter …

Von diesen siebzehn Personen, Damen und Herren, zählte mindestens die Hälfte zu jenen vornehmen oder geistvollen Schmarotzern, die sich überall da einfinden, wo eine reich gedeckte Tafel und andere Annehmlichkeiten Vorteile bieten, die als Entlohnung für dieses gesellschaftliche Statistentum gelten können …

Da war zum Beispiel der italienische Graf Piamela, fraglos ein besserer Abenteurer, aber ein … vorzüglicher Pianist nebenbei, der stets betonte, er habe es nicht nötig, öffentlich aufzutreten …

Da war der Amerikaner John Weller, Ingenieur angeblich, ebenfalls eine Zierde jedes Salons – fraglos! Dieser Mensch mit dem Stiernacken und dem eisigen Bulldoggengesicht fiel überall auf. Er sollte reich sein.

Da saß in einem der Brokatsessel auch der alte Major a. D. Baron von Gussing, Maler im Nebenberuf … Seine Aktstudien fanden immer noch Abnehmer. Mit der Staatsanwaltschaft stand er infolge dieser perversen Schmierereien – anders nannte Fritz Gerhardi diese Art Afterkunst nicht – ständig auf recht gespanntem Fuße.

Und dort hinter dem Baron hockte in malerischer Verkrümmung auf einem der goldlackierten Stühlchen Frana Doggy, die Schriftstellerin. Ihr fahles, verlebtes Gesicht mit den brennenden Augen ruhte gerade voller Neid auf der schlanken, eleganten Erscheinung der Hausfrau, die den Gästen soeben am Teewagen die Täßchen füllte …

Da war noch dieser und jene, die mit zu den schmarotzenden Statisten gehörten.

Und dann – die anständige Garnitur: ein Geheimrat, zwei Regierungsräte mit ihren Frauen, ein bekannter Politiker und zwei harmlose Schauspieler von Ruf. –

Die junge Witwe – Maja zählte kaum fünfundzwanzig, deutete sie stets an, und ihr Äußeres strafte sie nicht Lügen – kam jetzt auf Gerhardi zu und stellte ihm das gefüllte Täßchen auf den Kaminvorsprung, rückte dabei das Bild ihres verstorbenen Gatten etwas beiseite und flüsterte:

„Lieber Freund – es gibt sofort eine Überraschung.“

„Für die andern …“ meinte der Nervenarzt kühl und blickte nach der einen Ecke des Salons hin, wo ein kostbarer Gebetteppich mit seinem weichen Glanz heute irgend etwas verdeckte …

Maja preßte die vollen Lippen fest aufeinander. Sie war enttäuscht, ärgerlich …

Und hastig sagte sie dann: „Natürlich – wieder der Herr Allwissend! Sie verderben einem jede Freude, Doktor …!“

„Ein Radioapparat ist heute, am vierten März 1924, bereits etwas Alltägliches, Frau Maja …“

„So?! Glauben Sie?! – Wir werden Punkt neun Uhr das Konzert aus der Alhambra in London hören. Mein Lautsprecher ist erstklassig, ein ganz neues Erzeugnis …“

„Hm – eine gefährliche Modesache …“

„Gefährlich …?!“ Und ihre langbewimperten Augen, das Schönste an diesem nervösen, schmalen Frauenantlitz, hatten plötzlich den Ausdruck geändert.

Fritz Gerhardi beobachtete Maja, nickte kurz und erklärte gedämpft:

„Gefährlich insofern, als es kaum noch lange dauern dürfte, und die Herren Verbrecher werden sich der elektrischen Wellen zu neuartigen Tricks bedienen …“

Sie beugte sich etwas vor. In der Tiefe ihrer Augen lauerte versteckte Angst.

„Oder – um mich genauer auszudrücken,“ fuhr Gerhardi gleichmütig fort, „die Herren Übeltäter tun bereits Übles mit dem Radio … Hat Ihnen der Graf Piamela nicht erzählt, was sich gestern abend bei Botschaftsrat Johnston ereignete?“

„Nein, nein. Was denn? – So sprechen Sie doch!“

Gerhardi stellte abermals fest, daß der Name Johnston auf Maja Granville wie das heisere Kläffen eines tollwütigen Köters wirkte.

Maja fieberte förmlich. Ihr Gesicht zuckte. Die Augen waren größer und seltsam starr geworden!

„Johnston überraschte uns ebenfalls durch ein Radiokonzert aus London,“ berichtete der hagere Nervenarzt in seiner leidenschaftslosen Art. „Und – in einer Pause kam da eine andere Überraschung: aus dem Trichter des Lautsprechers ertönte eine Stimme – schreiend, heiser, drohend. – Vier englische Worte rief diese Stimme … Und Johnston sank ohnmächtig vom Sessel.“

Maja Granville hielt den Atem an.

In ihrem Blick lag jetzt nicht mehr versteckte Angst. Nein – ein namenloses Entsetzen … ein Grauen wie vor einem furchtbaren Gespenst, das da soeben aufgetaucht sein mußte … –

Fritz Gerhardi sah das alles, flüsterte rasch:

„Nehmen Sie sich zusammen, Maja! Sie zittern ja. Sie sind blaß geworden … John Wellers Bulldoggenaugen stieren hierher …“

Ein Seufzer kam über Majas Lippen …

Und dann – überstürzt:

„Vier Worte? Welche Worte? – Bitte, bitte – welche Worte …?“

„Ich habe sie leider nicht verstanden.“

„Oh – ist das auch die Wahrheit?“

Gerhardi griff nach seiner Teetasse.

„Die übrigen Gäste warten auf die Hausfrau,“ meinte er nur.

„Entschuldigen Sie, Doktor … Entschuldigen Sie … Ich habe Sie verletzt. Weshalb sollten Sie mich auch belügen und mir die Worte vorenthalten …“

„Die Sie ja ohnedies kennen,“ warf er so nebenbei hin und rührte mit dem Löffelchen in der Tasse …

Maja Granville drehte sich jäh um. Und während dieser Körperwendung, die ihr Gesicht den anderen Gästen wieder voll darbot, gelang es ihr wirklich, ein harmloses Lächeln herbeizuzwingen.

Gerhardi dachte: „Diese Frau trägt wirklich ein dunkles Geheimnis mit sich herum. Es dürfte sich lohnen, diesen Dingen auf den Grund zu gehen. Es wäre doch einmal etwas anderes als die täglichen Sorgen. – Ob sie’s wohl wagen wird, den Lautsprecher einzuschalten?!“

Neben ihm holte jetzt auf dem Kaminsims die kostbare alte Meißener Uhr mit leisem Surren zum Schlagen aus …

Schlug hell und schrill die – neunte Stunde.

„Ob – sie es wagen wird?“ fragte Gerhardi sich abermals.

Er sah, wie Maja mit John Weller leise sprach.

Dann schritt der Ingenieur schnell auf den seidig glänzenden Gebetteppich zu, schob ihn beiseite und enthüllte so den kostbaren Schrankapparat, den großen schwarzen Trichter und die Drähte, die von der Dachantenne und von der Erdleitung in den Apparat liefen.

Fritz Gerhardi hatte nur Augen für Maja.

Sie achtete nicht auf die Ausrufe der Gäste.

Sie saß auf dem Brokatsofa neben der Geheimrätin von Berg und hatte die Lider halb über die Papillen gesenkt …

Starrte geradeaus auf den schwarzen Trichter, aus dem bereits ein leises Knattern hervordrang.

Starrte und saß da wie versteinert vor herzzerfressender Angst.

„Sie will Dir nur beweisen, daß sie die vier Worte nicht fürchtet,“ ging ein Gedanke flüchtig durchs Gerhardis Hirn …

Flüchtig nur – begleitet von anderen Gedanken, die jetzt Lotte Reinar galten, die soeben den Salon betreten hatte, im schlichten dunklen Wollkleid, wie es für eine bescheidene Gesellschafterin sich geziemt.

Lotte Reinar … Lotte!!

Eine linde Wärme stieg in Doktor Gerhardis Herzen hoch wie ein feiner Windhauch aus den tropischen Ländern heißer Liebe …

Auch dieses Schöne, Duftige ging unter in dem gellenden Ton einer metallisch harten Stimme, die mit heiserem Nachschrillen den im Salon Versammelten – vier Worte aus dem Trichter zurief …

Vier Worte nur …

Aber klarer, deutlicher als gestern abend bei dem amerikanischen Botschaftsrat Reginald Johnston …

The pile of wood …!!
(Der Scheiterhaufen!!)

Jetzt hatte Gerhardi sie ganz genau verstanden – ganz genau …

The pile of wood – – der Scheiterhaufen …!

Und sein Blick glitt von Lotte Reinar über die seltsam verwirrten Gesichter der Anwesenden hinweg zu Frau Maja Granville …

Sie saß noch aufrecht da – aufrecht neben der Geheimrätin – ein leeres Lächeln um den Mund, die Augen noch mehr geschlossen …

Und in das vielsagende Schweigen sprach sie mit brüchigem, fremdem Organ hinein – gleich einem Automaten, der gegen seinen Willen eingeschaltet wird:

„Es ist das wohl der Titel des Orchesterstücks, das wir hören werden …!“

Kaum beendet diese für Gerhardi so durchsichtige Lüge, als die Stimme des fernen Sängers in der Alhambra in London, die ersten Töne der Arie aus Puccinis Madame Butterfly den deutschen Hörern durch die elektrischen Wellen übermittelt wurden … –

Gerhardi wußte, was folgen würde.

Als Arzt hatte er Maja Granvilles Bekanntschaft gemacht. Als Arzt hatte Lotte Reinar ihn an jenem Januarabend zu ihrer Herrin geholt, die nach heftigen Schreikrämpfen in einer tiefen Ohnmacht auf dem Diwan gelegen hatte.

Lotte war in ihrer Sorge und Bestürzung damals vor sechs Wochen zum nächsten Arzt geeilt, und das war eben Fritz Gerhardi – nur drei Häuser weiter in der stillen Luitpoldstraße des alten Berliner Westens …

So hatte diese Freundschaft zwischen Arzt und Patientin begonnen.

Eine Patientin, die wie keine die Ursachen ihrer schweren Hysterie, ihrer völligen Nervenerschöpfung zu verbergen, zu verheimlichen wußte.

Ein steter Kampf zwischen ihr und Gerhardi, dessen Verordnungen sie entweder gar nicht befolgte oder umging … –

Ja – er wußte, was folgen würde …

Er sah dieses Lidflattern, dieses Zucken der Wangenmuskeln, dieses qualvolle Lächeln – leer, erlogen, – eine schlechte Maske des Sturmes im Innern der Seele dieser rätselvollen Frau …

Und – war mit fünf schnellen Schritten neben ihr …

Kam doch nicht zur Zeit …

Sie hatte die im Schoße verschränkten Hände plötzlich hochgeworfen, hatte die Pupillen nach oben gedreht, daß nur noch das Weiße sichtbar war …

In Puccinis weiche Musik, in die klare Stimme des englischen Heldentenors schrillte ein Schrei, der die Gäste emporschnellen ließ …

Gerhardi hatte Frau Maja schon in den Armen.

Ein Wink genügte für Lotte Reinar. Sie öffnete ihm die Türen – eilte voran in das Schlafzimmer, schaltete das Licht ein …

Gelblicher, wohliger Schein überfloß aus der flachen Steinampel das breite französische Bett …

Laue, wohlgerucherfüllte Luft umspielte Gerhardis heißes Gesicht …

Auch ihm zerrte die Erregung an allen Nerven …

Und hastig rief er der blonden Lotte Reinar zu, während abermals ein tierischer Schrei sich den Lippen der halb Besinnungslosen entrang:

„In meinem Ulster – die kleine Ledertasche …“

Lotte flog hinaus …

Gerhardi riß die seidene Bettdecke von dem üppigen Lager der schönen Frau und legte die mit den Armen krampfhaft um sich Schlagende in die Kissen …

Fünf Minuten darauf wirkte die Morphiumeinspritzung. Maja Granville schlief …

An ihrem Bett standen Fräulein Reinar und Fritz Gerhardi …

„Bleiben Sie noch, Herr Doktor,“ bat das junge Mädchen. „Ich – ich fürchte mich …“

Er lehnte sich an den Fußteil des Bettes.

„Ich bleibe, Fräulein Reinar …“ Er sprach leise und tief in Gedanken. „Wollen Sie mir bitte eine Frage beantworten … Wer hat Frau Granville wohl geraten, sich zur Zerstreuung den Radioapparat anzuschaffen?“

Lotte Reinar blickte den Arzt mit einem Male so prüfend an.

Erwiderte bedächtig, während dieser Ausdruck stillen Forschens in ihren ernsten grauen Augen noch schärfer wurde:

„Niemand … Frau Granville sah in einem Schaufenster vor vier Tagen diesen neuesten Apparat. Wir gingen hinein und ließen ihn uns vorführen. Die Übermittlung des Konzertes aus Kopenhagen war so tadellos, daß Frau Granville sofort den Kauf abschloß …“

„Hm – John Weller bediente heute den Apparat,“ meinte Gerhardi sinnend. „Ob Weller vielleicht doch so ein wenig diesen Entschluß vorbereitet hatte?“

Mit einem verfänglichen Eifer suchte Lotte Reinar ihm dies auszureden.

„Wie kommen Sie nur gerade darauf, Herr Doktor?! Ich bitte Sie: Sie kennen Frau Granville doch genügend. Niemals läßt sie sich von jemandem beeinflussen. Nicht einmal von Ihnen, ihrem Arzte …“

Fritz Gerhardi nickte nur zuweilen recht zerstreut.

Ein unbehagliches Gefühl war da plötzlich in ihm aufgestiegen, etwas wie Mißtrauen gegen dieses blonde junge Mädchen, das ihm in diesen letzten Wochen lieb und wert geworden …

Er hörte kaum mehr hin auf ihre sich überstürzenden Worte.

Er fühlte ganz deutlich: sie wollte jeden, auch den kleinsten Verdacht gegen John Weller bei ihm sofort im Keime ersticken …

Dann – lauschte er doch mit steigendem Interesse, als Lotte Reinar jetzt in fragendem Tone sagte:

„Ich glaube, auch Sie haben längst die Überzeugung gewonnen, Herr Doktor, daß Frau Granville Geheimnisse zu hüten hat.“

Sein zu Boden gerichteter Blick hob sich wieder, begegnete dem ihren …

Und – da war in den ernsten, großen grauen Augen ein fast lauerndes Forschen – etwas, das wie ein Warnungssignal auf Gerhardi wirkte.

„Jede Frau hat ihre Geheimnisse. Wir Ärzte wissen das am besten. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns um Derartiges zu kümmern …“

Er lächelte, und war in seinem Innern doch so bitter enttäuscht.

Er dachte an seinen Freund Viktor Kardow.

Was der wohl zu alledem sagen würde! – Es war ja jetzt an der Zeit, daß man Freund Viktor ins Vertrauen zog. –

Und Lotte Reinar saß auf dem Polsterstühlchen in Frau Majas Schlafzimmer dem jungen Arzte gegenüber und ahnte – ahnte, daß dieser unselige Abend zwischen ihnen beiden eine Schranke aufgerichtet hätte, die notwendig durch die verworrenen Verhältnisse, durch all dies Dunkle hier höher und höher wachsen mußte …

Vielleicht – vielleicht war es nur gut, daß es so gekommen. Lotte Reinar kannte ihr Geschlecht. Sie wußte, daß Fritz Gerhardis herbe Männlichkeit mehr wirkte als des Grafen Piamela sinnbetörendes weiches Klavierspiel – mehr als die Grafenkrone, mehr als die schwarzen Schwärmeraugen des Italieners … – –

Nach einer Stunde verabschiedete sich Gerhardi. Frau Granville schlief fest und ruhig, würde bis in den hellen Vormittag hinein schlafen …

Die anderen Gäste hatten sofort nach dem peinlichen Zwischenfall still das Haus verlassen. Nun ging auch Gerhardi. Die Zofe Anna geleitete ihn die beiden Treppen hinab und schloß ihm die Haustür auf.

„Hören Sie mal, Anna,“ sage der Doktor unten zu dem feschen Mädchen, das in seine Herrin geradezu verliebt war, „besinnen Sie sich, ob damals, als die gnädige Frau am zwölften Januar den ersten schweren Anfall hatte und ich hinzugerufen wurde, Herr Johnston vorher bei der gnädigen Frau gewesen war?“

„Nein, Herr Doktor. Herr Johnston ist seit einem halben Jahre nicht mehr bei uns gewesen. Die gnädige Frau trifft mit dem Herrn Botschaftsrat nur im Theater, in Konzerten und bei Gesellschaften zusammen. Aber – Herr Johnston hatte damals telephoniert, Herr Doktor. Ich rief die gnädige Frau an den Apparat. Die Schneiderin war gerade da …“

„Und – der Anfall begann am Telephon?“

„Nein – nein. Erst eine halbe Stunde später …“

„Ohne jede äußere Ursache, Anna? Denken Sie mal nach. Ich als Arzt muß da genau Bescheid wissen. Frau Granville hat mir gegenüber bisher erklärt, sie habe sich über das von der Schneiderin verpfuschte Kleid so sehr aufgeregt …“

Hier unten im Flur brannte die Nachtbeleuchtung. Gerhardi konnte das Gesicht der Zofe beobachten, konnte jetzt feststellen, daß das Mädchen leicht verwirrt wurde.

Sie zögerte mit der Antwort.

Da sagte Gerhardi eindringlich:

„Es geht um Ihrer Herrin Gesundheit, Anna …“

Das half. Sie gab ihr kleines Geheimnis preis.

„Herr Doktor,“ flüsterte sie scheu, „nur ich habe damals gesehen, daß die gnädige Frau leichenblaß wurde, als sie ärgerlich das Kleid in den Karton zurückwarf, nachdem die Schneiderin gegangen war. Auf dem Deckel des Kartons war nämlich ein Firmenschild, Herr Doktor, mit einer Adresse … Und auf diese Adresse hat die gnädige Frau hingestiert, als ob sie einen bösen Geist sähe. Und dann – fiel sie plötzlich um … – So war’s.“

„Wie lautete denn diese Adresse, Anna?“

„Ja – das ist merkwürdig, Herr Doktor. Ich war doch vorhin im Salon, als – als – das – das da geschah. Und ich war doch ein halbes Jahr Zofe bei Lady Glyn, hier in Berlin. Daher verstehe ich so ein wenig Englisch.“

„Ah – es war keine richtige Adresse, sondern es waren die vier Worte, die heute aus dem Radiotrichter kamen …“

„So ist’s – dieselben vier Worte:

The pile of wood …!“

Gerhardi dachte wieder an den Freund, der mit alledem weit mehr anzufangen wußte als er …

Und fragte sinnend:

„Wo ist der Karton geblieben?“

„Ich sollte ihn verbrennen, Herr Doktor. Ich habe ihn aber in meinen Schrank gestellt und gar nicht mehr …“

„Können Sie ihn mir sofort holen, Anna? Es darf aber niemand etwas davon erfahren …“

Gleich darauf schritt Fritz Gerhardi seinem Hause zu, in der Hand den nur lose zugeschnürten Karton.

Er wohnte im Eckhause Luitpold- und Eisenacher Straße. Neben der Haustür hing der große Reklamekasten eines Photographen, und oben an dem Kasten prangte in weißen Buchstaben der Name des Lichtbildkünstlers:

Viktor Kardow.

 

2. Kapitel.

Dunkle Fäden …

Dieser Viktor Kardow saß zu derselben Zeit in dem Mansardenstübchen neben seinem Dachatelier und umwickelte einen kleinen Pappzylinder mit besponnenem Kupferdraht.

Auf dem Tische vor ihm lagen allerlei Werkzeuge, allerlei Instrumente.

Die elektrische Stehlampe, deren grüne Glocke etwas hochgestellt war, beleuchtete scharf das schmale, bartlose, furchenreiche und melancholische Gesicht des emsig Schaffenden.

Ihm ging die Arbeit flink von der Hand. Und so eifrig war er dabei, daß er leicht zusammenzuckte, als draußen im kleinen Flur die elektrische Glocke anschlug – fünfmal kurz hintereinander: Gerhardis Signal!

Der Photograph Kardow warf rasch den Pappzylinder und manches andere in eine Holzkiste, die er unter das Bett schob.

Nun richtete er sich auf – ein Mann von mittlerer Größe, von mittlerem Alter.

Ein Mann, der im Lebenskampf versagt hatte, der vieles begonnen, nichts vollendet, bis er schließlich hier in diesem Atelier gelandet war, wo er sich genau so kümmerlich durchschlug wie sein Freund Gerhardi aus dem ersten Stock.

Er ging und öffnete.

„’n Abend, Viktor,“ sagte Gerhardi hastig. „Gut, daß ich Dich antreffe. Ich muß etwas mit Dir besprechen.“

Er drückte Kardow die Hand – diese feine, zarte Hand, die einst so geschickt als die des Studenten der Medizin Viktor Kardow im Anatomiesaal die feinsten Nerven herauspräpariert hatte.

„Was schleppst Du denn mit Dir herum?“ meinte der Photograph verwundert. „Einen Pappkarton? Bist Du leichtsinnig gewesen und hast Du Dir …“

Sie waren in das Stübchen eingetreten.

„Zum Leichtsinn gehört Geld,“ fiel Gerhardi dem Freunde ins Wort.

„Stimmt. – Gib her, ich stelle den Karton beiseite. Leg’ nur ab!“

„Ah – Du bastelst wieder!“ lachte der Arzt heiter.

Er hatte wenig Verständnis für diese Schwäche des um ein Jahrzehnt Älteren.

Viktor Kardow hielt den großen Karton flach in den Händen. Das weiße Papierschild auf dem Deckel hatte seine Neugier erregt. Ein flüchtiger Blick – und er las:

The pile 
    of   
    wood.

Das hatte wie eine Adresse ausgesehen.

Und war doch alles andere als das …

Nochmals las Viktor Kardow …

Schüttelte den Kopf, auf dem nur noch spärliches graumeliertes Haar einen Scheitel vortäuschte.

Gerhardi hatte den Ulster an den Kleiderriegel gehängt, wandte sich um, bemerkte des Freundes Interesse für diese seltsame Anschrift und sagte leise:

Deshalb komme ich!“

Viktor Kardow schaute auf.

„Merkwürdig, Fritz, sehr merkwürdig!“ murmelte er. „The pile of wood – Scheiterhaufen …!! – Wo hast Du den Karton her?“

Sie standen nun dicht beieinander, mitten im Stübchen. Und – der Karton trennte sie, – das Geheimnis der vier Worte, des einen Ausdruckes, lag sozusagen zwischen ihnen – auf dem Karton …

„Das kann ich Dir nicht so in kurzem beantworten,“ erwiderte der Arzt mit einer kaum merklichen Steigerung der Stimme. „Aber – woher kennst Du die vier Worte?“ fügte er gespannt hinzu. „Schließlich ist the pile of wood doch kein so landläufiger …“

Kardow hatte eine Handbewegung nach dem Rohrsessel neben dem Arbeitstische gemacht.

„Setz’ Dich mal erst, Fritz. Eine Zigarette ist für Dich auch noch da.“

Gerhardi nahm Platz, streckte die Beine von sich und sah zu, wie der Freund den Karton behutsam wie ein Wertstück auf einen Stuhl legte, dann einen Zigarrenkasten und Zündhölzer holte und sich nun langsam auf seinen Schreibsessel, hier zugleich Arbeitsschemel, niederließ. –

Gerhardi fühlte sich nirgends so behaglich wie in diesem ärmlichen Stübchen. Und – das machte einzig und allein dessen Bewohner, diese – verfehlte Existenz, dieser bescheidene Mann von so vielseitiger Bildung und so treuem, gütigem Herzen.

Kardow rieb ein Zündholz an.

„Bitte, Fritz!“ – Auch er nahm eine Zigarette. – „So, und nun schieße los. Es handelt sich natürlich um Frau Maja Granville. Du warst ja heute dort zur Fastnachtfeier, und da Du bereits jetzt, um fünf Minuten nach zehn, Dich erfreulicherweise hier bei mir eingefunden hast, muß ich annehmen, daß der Gesellschaftsabend dort drei Häuser weiter einen unvorschriftsmäßigen Abschluß gefunden hat.“

„Leider!“

„Und da Du offenbar geradeswegs von dort zu mir gekommen bist, denn Deine Stiefel sind noch blank wie Dein Ehrenschild, so dürftest Du den Karton auch von Frau Granville mitgebracht haben. Meine Frage vorhin nach der Herkunft des Kartons war also eigentlich überflüssig. – Um nun auch gleich Deine Frage zu erledigen, lieber Fritz: ich bin vorläufig Schwarzhörer …“

„Was bist Du? Schwarzhörer? – Was soll das?!“

„Schwarzhörer sind Leute, die ohne Lizenz, also im geheimen, die Darbietungen des Voxhauses durch zumeist selbstgefertigte Apparate mit genießen – also so eine Art Diebe elektrischer Wellen. Auch ich rechne vorläufig – ganz im Vertrauen – zu diesen Dieben. Ich habe die sechzig Mark für die Lizenz noch nicht beisammen. Wenn ich sie habe, zahle ich sofort, denn ich halte es für eine Gemeinheit, etwas zu stehlen, was anderen Unkosten bereitet – so hier dem Voxhause. Allerdings ist die Reichstelegraphenverwaltung zum Teil mit schuld an der Entstehung dieser Schwarzhörergilde. Würde man die Lizenz vierteljährlich bezahlen können, so würde fraglos diese Gilde sehr zusammenschmelzen.“

Gerhardi hatte atemlos gelauscht. Er ahnte bereits, was kommen würde.

„Wie gesagt, lieber Fritz, auch ich habe mir einen Radioempfänger gebaut, selbstredend auch einen sogenannten Verstärker. Ich kann mit Hilfe dieses Apparates selbst – Londoner Konzerte, Wellenlänge 510, abhören.“

Der Doktor rutschte auf seinem Sessel weiter nach vorn.

„Du hast heute abend also ebenfalls gehört, wie …“

Kardow nickte. „Ja. Ich kenne diesen – Zwischenruf: The pile of wood jedoch bereits seit Sonnabend.“

„Sonnabend? Meinst Du nicht gestern?“ fragte Gerhardi überhastet.

„Nein, Fritz – Sonnabend 9 Uhr fünfzehn Minuten vernahm ich ihn zum erstenmal in einer Pause des Konzertes im Eden-Theater, London, das ich mitanhörte. Dann gestern abend, und schließlich heute. – Und da nun Frau Granville auf dem Dache Sonnabend hat Antennen spannen lassen, und da Du nun den Karton mit der verfänglichen Aufschrift von dort mitgebracht hast, da ferner der Fastnachtabend so rasch ein Ende gefunden und schließlich Frau Maja Granvilles merkwürdige Krankheitserscheinungen mich längst vermuten ließen, daß es mit dieser Dame so in einigen Punkten nicht ganz stimmen könnte, so glaube ich nach alledem einigen Grund und auch einige Grundlage für die Annahme zu haben, daß dieser englische Ausdruck „Scheiterhaufen“ Frau Majas Nerven heute böse mitgespielt hat, als er ihr aus dem Trichter des Lautsprechers entgegenscholl. – Jetzt rede Du, Fritz. Aber hübsch übersichtlich.“

Gerhardi erstattete Bericht. Als er auf Lotte Reinars Person zu sprechen kam, lehnte Kardow sich weiter zurück und brachte sein Gesicht in den Schatten. –

Der Doktor hatte keinerlei Geheimnisse vor dem Freunde. Ganz offen gab er jetzt sein Interesse für Lotte zu.

„Sie hat mich heute nun aus allen Himmeln gestürzt, diese kühle Blonde. Sie – kann nicht harmlos sein. – Daß dieser Ausdruck Scheiterhaufen, der sowohl Johnston als auch Maja Granville derart in Schrecken setzte, mit irgendeiner dunklen Geschichte in Beziehung steht, ist ja selbstverständlich.“

„Allerdings. Und – Du glaubst nun, Lotte Reinar und der Ingenieur Weller stecken hinter diesem Radioschreck, etwa als Urheber?“

„Ich weiß nicht recht, was ich denken soll. Harmlos jedenfalls ist Fräulein Reinar nicht.“

Viktor Kardow nahm eine neue Zigarette. Nach den ersten Zügen meinte er:

„Weil ich nun vor Jahren einmal Angestellter einer Detektei gewesen bin und weil Du mir nicht nur Menschenkenntnis, sondern auch andere für sogenannte Ermittlungen nützliche Fähigkeiten andichtest, so …“

„Bitte, Du besitzt sie!“

„… so soll ich jetzt wahrscheinlich dieses Radiogespenst entlarven, – stimmt’s?“

„Ja, es stimmt, Viktor. Maja Granville ist meine Patientin. Ich will herausbringen, weshalb die Nerven dieser Frau, die hier seit drei Jahren in den glänzendsten Verhältnissen lebt, von Tag zu Tag schlechter, schwächer werden.“

„Und Du hoffst, daß wir beide, die wir nicht gerade übermäßig viel zu tun haben, mithin uns der Sache mit Nachdruck widmen können, Erfolg haben werden?! – Lieber Fritz, da unterschätzt Du die Schwierigkeiten dieser Nachforschungen doch ganz gewaltig. Ich möchte, um nur die technische Seite dieses Radiogespenstes etwas zu beleuchten, folgendes erwähnen. Diese Zurufe, diese vier Worte, die hier in Berlin an Johnston, Maja Granville und eine dritte, uns noch unbekannte Person – ich denke hier an den ersten Zuruf vom Sonnabend! – gerichtet waren, können nur von einer geheimen Sendestation mit der gleichen Wellenlänge, also 510, hierhergefunkt worden sein. Wo liegt diese Station? Wo?! Sie kann in der Nähe von Berlin zu suchen sein, sie kann in Dänemark, in Bayern – weiß Gott wo liegen!“

Gerhardi machte ein sehr langes Gesicht.

„Na – ganz so schwierig,“ fuhr Viktor Kardow lebhafter fort, „ganz so schwierig ist die Geschichte doch nicht, denn – der Funker dort in der Ferne muß Verbindungen zu Personen hier in Berlin haben, von denen er rechtzeitig unterrichtet wurde, wann er sein Radiogespenst als Zuruf auftauchen lassen konnte, das heißt, er wußte, daß gestern abend Botschaftsrat Johnston eine Gesellschaft gab und dabei seinen Gästen, genau wie heute Maja Granville, einen Lautsprecher vorführen wollte …“

„Ah – also Verbündete des – Funkers! Das leuchtet ein. Vielleicht John Weller und Lotte Reinar!“

Kardows Gesicht umwölkte sich etwas.

„Keinen Verdacht äußern, Fritz, der so geringe Grundlagen hat!“ warnte er ernst. „Wenn es Dir recht ist, nehme ich die Sache in die Hand. Ich möchte zu diesem Zweck um eins bitten: mache mich auf unauffällige Art mit Fräulein Reinar bekannt …“

„Nichts leichter als das. – Du mißtraust ihr also auch?“

„Vielleicht. – Noch einige Fragen nun über die Personen, die uns hier interessieren: Maja Granville, Johnston, Weller und Lotte Reinar …“

Gerhardi gab Auskunft, soweit ihm dies möglich war. –

Maja Granville, geborene Maria Schmidt, war als Deutsche 1919 im Januar Hausdame bei dem zur internationalen Kommission gehörigen, verwitweten Oberst Percy Granville geworden. Sie war Waise gewesen und hatte infolge mißlicher Vermögensverhältnisse eine Stellung annehmen müssen. Im Herbst 1919 heiratete Granville seine junge, schöne Hausdame und kehrte mit ihr auf seine Plantagen nach Kuba zurück, wo er fünf Monate später verstarb. Seine Frau erbte sein gesamtes Vermögen und ließ sich bald darauf für dauernd in Berlin nieder, wo sie bald Anschluß an erste Gesellschaftskreise fand. – Lotte Reinar war jetzt seit einem halben Jahre bei ihr Gesellschafterin, nachdem sie vorher an einer Bank längere Zeit tätig gewesen. Ihre Eltern lebten in dürftigen Verhältnissen im Norden Berlins. – John Weller hielt sich seit Monaten in Deutschland auf und war mit Gerhardi erst bei Frau Maja bekannt geworden. – Von Johnston wieder wußte der Arzt nichts weiter, als daß er seinerzeit ebenfalls auf Kuba irgendeinen diplomatischen Posten innegehabt und dort die Granvilles kennengelernt hatte. –

Viktor Kardow machte sich eifrig Notizen.

Gerhardi ahnte nicht, daß seines Freundes Interesse für diese seltsamen Vorfälle, die nun in ihrer Gesamtheit bereits als „Radiogespenst“ gleichsam zusammengefaßt waren, nicht lediglich einem gewissen Hange nach allem Außergewöhnlichen zuzuschreiben war.

Während Kardow noch das Wichtigste auf ein Blatt Papier stenographierte, sagte der Doktor unvermittelt:

„Wie wär’s, wenn ich Dich bei Frau Granville einführte, Viktor? Sie liebt es, Künstler zu protegieren. Als Photograph – Du bist ja nicht empfindlich – könntest Du dort natürlich nicht auftreten. Weder Maja noch Lotte Reinar kennen Dich von Ansehen, obwohl ich oft von Dir gesprochen habe …“

Kardow blickte auf.

„Du befindest Dich da in einem Irrtum. Fräulein Reinar kennt mich doch. Sie hat sich vor fünf Monaten hier bei mir photographieren lassen. Es war am 2. Oktober 1923. Ich weiß den Tag zufällig noch ganz genau. Sie war damals also erst kurze Zeit bei Frau Granville.“

Doktor Gerhardi schüttelte den Kopf. „Und das erzählst Du mir erst heute, Viktor?! Merkwürdig!“

„War das denn so wichtig?!“ warf Kardow gleichmütig hin.

„Hast Du noch ein Bild von ihr da?“ fragte Gerhardi nach einer Weile etwas zögernd.

„Nein. Sie ließ nur ein einziges Brustbild, Visitformat, anfertigen. Sie wollte es als Paßbild benutzen.“

„Paßbild?!“

„Ja. So erklärte sie mir wenigstens.“

„Hm – sonderbar, daß sie nie erwähnt hat, daß sie Dich mal in Nahrung gesetzt hat, Viktor. Ich habe doch so oft von Dir gesprochen!“

Kardows faltiges Gesicht mit der hohen, intelligenten Stirn senkte sich über das Stenogramm.

„Hier steht bereits; Feststellen, wozu L. R. bald nach Antritt ihrer Stellung bei Frau Gr. das eine Bild gebraucht hat. – Du siehst, Fritz, auch mir erscheint dieses Bild wichtig. In einem Falle wie hier, wo offenbar recht dunkle Fäden sich von Person zu Person spinnen, darf man nichts übersehen …“ – Und er legte das Blatt Papier sorgfältig in seine abgegriffene Brieftasche.

 

3. Kapitel.

Worte aus dem Nichts.

Dann sah er nach der Uhr …

„Elf ist’s … Ich werde uns noch einen Punsch brauen, Fritz …“

„Dann hole ich noch rasch aus der Konditorei nebenan ein paar Pfannkuchen! Wollen mal leichtsinnig sein!“

Und schnell schlüpfte Gerhardi in seinen Ulster, wurde aber von Kardow daran gehindert, auch den Hut aufzusetzen …

„Ich werde gehen, Fritz. Ich habe ohnedies noch einen Brief einzustecken. Setz’ derweilen Wasser auf den Gasherd …“ –

Der Photograph nahm die Schlüssel mit und stieg im vierten Stock in den Fahrstuhl.

Gedankenvoll glitt er im Lift abwärts – so tief in Gedanken, daß er sogar noch auf der Straße wie im Traum dahinschritt – wie im Traum die kleine Konditorei betrat …

Während er noch vor dem Büfett stand und das Ladenfräulein ihm die runden, glasierten, appetitlichen Pfannkuchen in die Tüte packte, betraten hinter ihm zwei Gäste den Verkaufsraum und gingen in das Zimmer neben dem Laden hinein, wo ein halbes Dutzend Marmortischchen bisher vergeblich auf Besucher gewartet hatte.

Kardow blickte zufällig zur Seite.

Erkannte noch gerade Lotte Reinar, die um das blonde Haar einen schwarzen Spitzenschal geschlungen hatte und einen dunklen Wintermantel trug.

Ein paar unverfängliche geschickte Fragen an die Verkäuferin genügten ihm …

Und oben in der Mansarde konnte er dann Fritz Gerhardi mitteilen, daß Lotte Reinar mit einem Amerikaner, offenbar John Weller, schon häufiger sich in der Boßlerschen Konditorei getroffen habe.

„Unglaublich!“ meinte der Doktor erregt. „Da haben wir ja bereits den Beweis, daß die beiden verbündet sind! Ich wußte es ja! Sie wollte heute Weller den Rücken decken!“

Viktor Kardow räumte den Tisch ab, stellte den Teller mit den Pfannkuchen, die Punschkanne und die Gläser zurecht und sagte erst nach einer Weile:

„Wenn es Dir Vergnügen macht, Fritz, können wir das Fastnachtkonzert aus dem Münchener Orpheum uns anhören. Meine Dachantenne ist ja noch an Ort und Stelle.“

Er holte den selbstgebauten Radioapparat herbei, einen schwarzlackierten, mittelgroßen Kasten mit Hartgummistellschrauben und all den übrigen Zubehörteilen auf dem Deckel, erklärte Gerhardi kurz die Wirkung der Wellen und des Verstärkers, schloß die Drähte an und meinte:

„Ich werde mal den Lautsprecher mit einschalten. Der Apparat ist noch für Welle 510 eingestellt. Vielleicht ist das Londoner Konzert noch nicht beendet.“

Ein Knattern – ein Rauschen …

Weiter nichts …

„Das Konzert in der Alhambra ist vorüber,“ sagte Kardow und faßte nach der einen Stellschraube. „Ich glaubte, wir würden noch das letzte Stück erwischen.“

Er wollte den Apparat für die Münchener Wellenlänge umstellen …

Da – fuhr seine Hand zurück.

Aus dem Trichter kam eine Stimme – die helle klare Stimme einer Frau – ein paar italienische Worte …

Und – da packte Gerhardi auch schon des Freundes Arm …

„Hast Du gehört?! Hast Du verstanden?!“

Kardow nickte.

„Die Schufte telephonieren drahtlos auf Welle 510 miteinander!“ flüsterte er. „So viel italienisch verstehe ich schon … Das Weib sagte: „Morgen früh erhalten die drei die Briefe …“ – Das sagte sie – Wort für Wort! Und – die drei, das können nur Maja, Johnston und die dritte Person sein, die wir noch nicht kennen … – Warten wir, Fritz. Vielleicht geht das Gespräch weiter.“

Die Freunde standen vor dem schwarzen Trichter, – fieberten förmlich …

Und – – schraken leicht zusammen, als nun eine Männerstimme ertönte:

„Es ist gut. Besorge die Briefe. Grüße Cesare … Und morgen wieder Punkt halb zwölf mit 510 … – Schluß …“

Der Trichter schwieg …

Der Doktor wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Viktor – das greift wahrhaftig an!“ sagte er gepreßt. „Hier ist doch fraglos eine Schurkerei im Gange.“

„Ob das der Fall ist!! Ob …!! Wir werden dem Radiogespenst aber das Handwerk legen …! – So, nun Münchener Fastnachtsmusik zur Abwechslung – zur Abkühlung …! – Setz’ Dich, Fritz …“

Der Trichter meldete sich – knackte, schnarrte …

Dann … Walzermusik: Wiener Blut von Strauß …

Aber Gerhardi sagte trotzdem sehr ernst:

„Jedenfalls ist Lotte Reinar nicht die gewesen, die da telephonierte und die den Cesare grüßen sollte … Ich …“

Er schwieg … rief:

„Viktor – Viktor: der Vorname Cesare …!! Weißt Du, wer diesen Vornamen trägt?! Kein anderer als der schmalzige Graf Piamela, der Amateurvirtuose!!“

Kardow lächelte nur … meinte bissig:

„Cesare, wenn Du einer der Macher des Radiogespenstes bist, dann – ziehen wir Dich bald ans Tageslicht, edler Graf! – Prosit, Fritz, wir können zufrieden sein. Der Anfang des Erfolges ist da. Und morgen abend halb zwölf wieder … Welle 510!!“ –

Um halb eins trennten die Freunde sich.

Kardow stieg noch auf das Hausdach, was er als Mansardenbewohner sehr bequem hatte, und löste die Antenne von den beiden Schornsteinen, zwischen denen er sie ausgespannt hatte. – –

* * *

Als Fritz Gerhardi längst in seinem sehr bescheiden eingerichteten Schlafzimmer in wirren Träumen und in grotesker Verzerrung die Ereignisse des Abends nochmals durchlebte, saß sein Freund Viktor Kardow noch immer in dem Rohrsessel und sann über das Geheimnis nach, das doch offenbar sowohl Frau Maja Granville als auch den Botschaftsrat Johnston sowie den noch unbekannten Dritten in Bann hielt …

Kardow hatte sich jetzt seine geliebte kurze Pfeife angezündet, ließ sie aber immer wieder ausgehen …

Er fühlte selbst, daß die letzten Stunden ihn völlig verwandelt hatten. Sein bisheriges Leben, das ihm nichts als Entbehrungen gebracht, hatte stets auf ihm gelastet wie eine Zwangsjacke, jede freie Bewegung, jedes Regen der Kräfte hemmend. Er, der einstige Student der Medizin, er, der so vielseitig gebildete Mann, der nun ein Handwerk ausübte, das für ihn zunächst nur ein Notbehelf hatte sein sollen, – er war dann selbst in den reifen Mannesjahren nicht mehr fähig gewesen, seinem Dasein eine andere Richtung zu geben. Er war kleinmütig geworden, einer von denen, die sich treiben ließen, niemals mehr die Dinge selbst vorwärtstrieben.

Jetzt empfand er mit einer ihn beglückenden Deutlichkeit, daß es nur eines besonders gearteten Anstoßes bedurft hatte, ihn aus dieser Lethargie wachzurütteln, ihm die – Zwangsjacke abzustreifen.

Der Anstoß war heute erfolgt, heute abend.

Und ein Zweifaches war es, das ihn nun wieder auf sich selbst hoffen ließ. Erstens: er hatte ein Ziel, eine Aufgabe: das Radiogespenst! – Zweitens: er hatte heute gemerkt, daß die ihm längst bekannte Neigung seines Freundes Gerhardi für Lotte Reinar doch nur recht oberflächlicher Art war, daß Gerhardi hier sehr wahrscheinlich ein rein freundschaftliches Interesse für das junge Mädchen für Liebe hielt … –

Liebe – – Liebe?! – Und des einsamen, vom Leben so enttäuschten Mannes Augen leuchteten auf.

Liebe!! Liebe – die mußte sein wie der Sturmwind – gewaltig, jäh aufflammend, alles andere verdrängend.

Und – so war’s bei ihm gewesen, als das blonde Fräulein Reinar damals im Herbst sein Atelier betreten hatte …

Scheu und still hatte er diese große, starke Leidenschaft vor jedermann verheimlicht, selbst vor Fritz Gerhardi.

War Lotte so und so oft auf der Straße heimlich nachgeschlichen, war errötet, wenn er einmal Gelegenheit hatte, sie zu grüßen.

Und als Fritz Gerhardi dann von Lotte Reinar immer häufiger zu sprechen begann, als die Eifersucht gekommen war, als er sich klar gemacht hatte, daß diese seine stille Schwärmerei zwecklos und lächerlich sei, da – war er noch mehr so scheu und verzagt gleichsam in sich hineingekrochen, mutloser, gleichgültiger denn je …

Wer war er denn, daß er es wagen durfte, zu lieben und von dem Glück einer sonnigen Häuslichkeit zu träumen?! Ein geringer, ganz armseliger Photograph, der nur gerade für sich selbst notdürftig das Sattessen hatte!

Und Fritz – Fritz Gerhardi, zehn Jahre jünger, dazu Arzt, Doktor der Medizin, – winzige Praxis – gewiß! Aber die konnte sich heben …

Nein – ein Fritz Gerhardi stand als Bewerber um die Hand eines Weibes turmhoch über ihm – turmhoch!

So hatte Viktor Kardow noch heute abend gegen zehn Uhr gedacht …

Und dann – war der Umschwung gekommen …

Dann – tauchte das Radiogespenst auf …

Und alles lag nun in ganz anderem Lichte da – alles!

Wenn es ihm gelang, das Geheimnis dieser drei Personen, denen der Lautsprecher da, Entsetzen hervorrufend, den drohenden Ausdruck The pile of wood übermittelt hatte, zu enthüllen und nebenbei noch Lotte Reinar vor dem Verdacht, an dieser dunklen Geschichte beteiligt zu sein, zu schützen, – dann … dann würde sein Selbstvertrauen wachsen, dann würde er fest zupacken und sein ärmliches Dasein in bessere Bahnen zwingen!

Er stand auf – legte die erloschene Pfeife weg …

Trat vor den Spiegel dort in der Tür des Kleiderschrankes …

Hielt Musterung – über sich selbst …

Gewiß – die Jugend war dahin …

Aber – er war Mann, sein Gesicht strahlte den zarten Schimmer geistiger Regsamkeit aus … –

Und – – Viktor Kardow lächelte sich jetzt selbst hoffnungsvoll an – sein schlankes Spiegelbild …

„Ich will siegen!“ sagte er hart. „Ich will …! Ich muß heraus aus dieser Misere – – ich muß!“

Seine Wangenmuskeln spannten sich …

Der Mund bekam etwas Brutales …

Und im Gefühl seiner unverbrauchten Kräfte reckte er die Arme hoch, ballte er die Hände zu Fäusten …

Tatgier lohte in ihm auf …

Tatgier …

Schlafen gehen – – schlafen?! Unmöglich!

Und ebenso jäh jetzt ein Gedanke – ein Entschluß. –

Er hatte von Gerhardi vorhin erfahren, daß Graf Cesare Piamela in der Kufsteiner Straße Nr. 108 oben in der aufgestockten sechsten Etage wohnte – also dicht unterm Dach – wie er selbst …

Cesare Piamela!! Und – an einen Cesare sollte ein Gruß bestellt werden – von dem unbekannten Funker – durch das Weib mit der klaren, wohltönenden Stimme! – –

Fünf Minuten später verließ Viktor Kardow das Haus und eilte durch die kalte Märznacht davon …

 

4. Kapitel.

Die warme Tabakpfeife.

Der Beamte der Wach- und Schließgesellschaft, zu dessen Revier der Häuserblock am Bayrischen Platz gehörte, traf gegen drei Viertel zwei Uhr morgens vor dem Hause Nr. 108 einen vertrauenerweckend aussehenden Herrn im dunklen Ulster, der ihn bat, ihm doch die Haustür zu öffnen. Er sei ein Bekannter des Grafen Piamela, der oben in der neuen Etage wohne …

Da der Herr das Deutsche etwas gebrochen sprach und seine Bitte noch näher begründete, da der Schließer außerdem ein gutes Trinkgeld erhielt, gelangte Viktor Kardow wirklich auf diese einfache Art in das fremde Haus.

Er schaltete sofort das Nachtlicht ein und stieg die Treppen empor …

Was er hier beabsichtigte, wäre vielleicht jedem, der nicht wie Kardow bereits jahrelang armselige Aufgaben für eine armselige Durchschnittsdetektei gelöst hatte, als unerhörtes Abenteuer erschienen.

Kardow verspürte auch nicht die allergeringste Erregung. Seine überaus solide Lebensweise hatte seine Nerven frisch erhalten. Sie vibrierten nicht einmal, als er nun oben im Flur der aufgestockten Etage ein Zündholz anrieb (die Nachtbeleuchtung war bereits wieder erloschen) und eine kleine Laterne anzündete, die er zuweilen in seiner Dunkelkammer benutzte, und deren rote Vorderscheibe er durch gewöhnliches Glas ersetzt hatte.

Das winzige Karbidlaternchen brannte sehr hell.

Kardow orientierte sich. – Dort lief vom Vorplatz ein Gang zu der eisernen Bodentür. Und – diese Bodentür mußte er öffnen … Er hatte sich daheim vier Dietriche aus starkem Eisendraht zurechtgefeilt.

Die graublau gestrichene eiserne Tür hatte jedoch ein Patentschloß. Kardow mühte sich mit seinen Dietrichen wohl zehn Minuten lang ganz umsonst ab. Aber nach kurzer Atempause begann er von neuem. Ihm war heiß geworden. Er schwitzte. Er mußte jedes Geräusch vermeiden. Dort die beiden Flurtüren mit den Namensschildern aus Messing „Graf C. Piamela“ und „Direktor Rubbers“ waren so nah, so unheilvoll nah … Und doch: sollte er etwa schon in dieser Nacht einsehen müssen, daß er sich zuviel zugetraut hatte?!

Mit verbissener Wut arbeitete er weiter …

Er als „Bastler“ verstand doch auch etwas von Schlössern! Er begriff nicht, daß der dünne Dietrich durchaus nicht fassen wollte …

Bis – ihm schließlich die Erleuchtung kam …

Wie ein eisiger Wasserguß war’s …

Er legte die Hand jetzt zum ersten Male sacht auf die Türklinke, drückte, zog …

Richtig: die Tür war gar nicht verschlossen gewesen!!

Nun stand er da, stoßweise atmend, – stand vor einer neuen Entscheidung …

Eine offene Bodentür – – offen!!

War das ein Zufall?!

Hatte jemand der Hausbewohner sie zuzusperren vergessen?!

Oder – waren hier etwa Bodendiebe an der Arbeit?

Er hatte seine kleine Laterne rasch unter den weiten Ulster geschoben …

Er stand im Finstern … vor der zwei Handbreit offenen Tür … Lauschte – lauschte …

Und fühlte, daß scharfe eisige Zugluft durch die Türspalte wehte …

Auf dem Boden mußte ein Fenster offen sein … –

Was half das Zögern?! Hier gab’s doch nur zweierlei: Umkehren und dieses Abenteuer aufgeben, oder – hinein und frisch und mutig allem, was da kommen würde, mit kühlen Nerven begegnen!

Er entschied sich für das letztere.

Trat ein, schloß lautlos die Tür, – – horchte.

Nun war’s totenstill ringsum. Die eiserne Tür fing alle Geräusche von der Straße ab – – alle …

Kein Autorattern mehr – kein müdes Klappern müder Droschkengaulhufe …

Lähmend wirkte das. Der Großstädter ist allzeit so sehr auf geduldiges Hinnehmen einer Höllensinfonie von Straßenlärm eingestellt, daß er gar nicht mehr recht weiß, wie sehr dieser Weltstadttrubel seinen Nerven zusetzt.

Viktor Kardow sehnte sich geradezu nach dem schrillen Aufschrei einer modernen Autohupe. Es wäre das doch wenigstens ein Laut aus der Welt dort jenseits der eisernen Tür gewesen!

Hier – – nichts … Das Haus schlief … Die Bewohner schliefen … Nur das Verbrechen wachte, schlich umher, segnete die Nacht, die beutebringende …

Bodendiebe?! – Nein, doch wohl eine unrichtige Vermutung! Hier war niemand – niemand!

Und Viktor Kardow schob den weichen Hut mehr aus der Stirn und fühlte so angenehm die eisige Luft die heißen Schläfen umspielen.

Weiter …!

Die Laterne blitzte auf. Schritt um Schritt weiter.

Bis rechts und links zwischen den Bodenverschlägen Gänge hinliefen.

Bis da im linken Gang etwas wie Striche sich nach oben zog – zum Dache empor: eine Holzleiter, die gegen den Rand der Dachluke gestützt war, der – offenen Dachluke … –

Kardow blendete rasch das Licht wieder ab …

Ein neuer Gedanke: keine Bodendiebe! Nein, vielleicht der Italiener, der oben auf dem Dache – seine Antenne einzog, aufwickelte, wieder verschwinden ließ!

Es lag ja so nahe, daß Piamela eine Empfangs- und Sendestation sich eingerichtet hatte! –

Kardow[1] beschloß zu warten, wich nach rechts in den Gang hinein, fand dort einen leeren Bodenverschlag mit halb offener Tür …

Drückte sich hinein, stand still, – – wartete, lauschte.

Wartete – endlos lange … endlos lange.

Begann zu frieren …

Begann zu zweifeln, ob seine Vermutung zuträfe. Wenn Piamela nur die Antenne beseitigen wollte, war das doch in wenigen Minuten zu erledigen.

Und – eine halbe Stunde war hier mindestens schon vergangen! –

Kardow entschloß sich, der Ungewißheit ein Ende zu machen. Er fürchtete den Italiener nicht. Er vertraute seiner unverbrauchten Kraft. Eine Waffe hatte er nicht bei sich. Seine Hände genügten ihm.

Er war nun an der Leiter, löschte die Laterne, schob sie in die Tasche, nachdem sich das Metall etwas abgekühlt hatte …

Sprosse für Sprosse empor … Über ihm das helle Viereck der offenen Dachluke …

Und nun den Kopf über die Öffnung hinaus …

Ein Blick ringsum: das Dächermeer, Schornsteine, nach rechts hin die neue Wand der aufgestockten Etage.

Und dort, an dieser Wand, zwei matt erhellte Fenster, – Fenster, die durch gelbe Vorhänge von innen verhüllt waren, – Fenster, die zu Piamelas Wohnung gehörten.

Kardow klopfte das Herz mit einem Male bis in den Hals hinein.

Wenn er’s wagte, dort bis an die Fenster zu kriechen! Wenn er zu horchen versuchte!

Denn – immer wieder glitt da über die Vorhänge das verschwommene Schattenbild eines ruhelos auf- und abgehenden Mannes hin.

Piamela – – der Graf Cesare Piamela – – Cesare!

Und Viktor Kardow wagte es …

Das Dach war flach. Die einzige Gefahr bestand darin, daß er entdeckt würde.

Er kroch auf allen vieren. Zwei Schornsteine boten zunächst Deckung.

Als er den zweiten erreicht hatte, gewahrte er da im matten Sternenlicht der Märznacht … eine kurze Tabakpfeife …

Seine Hand griff danach. Er trug keine Handschuhe, spürte so, daß der Pfeifenkopf noch warm war … Ganz wenig warm … Immerhin: man fühlte die Wärme noch!

Hier hatte also jemand geraucht. Hier hatte jemand die Pfeife liegen lassen … –

Kardow wußte nun: es war jemand hiergewesen, jemand – nicht Piamela! Niemals Piamela. Der rauchte nur Zigaretten, hatte Fritz Gerhardi betont, – Dutzende von Zigaretten …

Kardow überlegte … Schmiegte sich enger an den Schornstein …

Der Schatten des Mannes auf den Vorhängen war plötzlich deutlicher geworden …

Der Mann stand jetzt innen am linken Fenster, schlug den Vorhang zurück …

Und – fast gleichzeitig erlosch dort das Licht im Zimmer …

Fast gleichzeitig, um den Mann weniger deutlich sichtbar zu machen …

Es erlosch nicht schnell genug … Einen flüchtigen Blick hatte Viktor Kardow doch noch in das Zimmer werfen können …

Sein Herzschlag hatte gestockt … Er hatte ein blondes Weib erkannt, die links an der Wand die Hand nach dem Lichtschalter ausgestreckt hatte.

Ein Weib mit dunklem Hut, unter dem das helle Haar hervorquoll: Lotte Reinar …!!

Ein Bruchteil einer Sekunde nur …

Dann erlosch das Licht – und Kardow zog den Kopf zurück …

Sein Hirn glühte mit einem Male …

Lotte Reinar – – das Radiogespenst – – Cesare Piamela – – und … The pile of wood …!!

Tolle Hetze der Gedanken … Bitterste Enttäuschung! Lotte … Lotte!! – Kein einziger Gedanke der Möglichkeit gewidmet, daß Piamela ihn, den Spion, belauscht haben könnte …

So hockte Kardow hinter dem Schornstein, eine dunkle Masse am dunklen Hintergrund, nichts als ein verschwommener Fleck … –

Lotte … Lotte Reinar hier bei Graf Piamela, die ernste, kühle Lotte … – Kardow preßte die Lippen zusammen. Sein Herz erstarb. Seine Liebe starb …

Das – das also war das Ergebnis dieser Nacht: von froher Hoffnung hinab in das Dunkel trüber Gewißheit, daß Fritz Gerhardi doch recht behalten: Lotte war eine Verbündete dieser Leute, die da mit dem gellenden The pile of wood vielleicht … Geld verdienen wollten … Die vielleicht aus der Vergangenheit Maja Granvilles und des Botschaftsrates Johnston und aus der des Dritten Einzelheiten kannten, mit denen sich ein Erpressergeschäft machen ließe …

So mußte der Zusammenhang ja sein! Nur so! Wie denn anders wohl?! Gab’s eine andere Erklärung für all diese Geschehnisse, für dieses teuflische Anwenden der modernsten Erfindung, des Radio?! …

… Erpresser, die ihre Opfer in Angst und Schrecken setzten:

The pile of wood!!

Scheiterhaufen – – Scheiterhaufen …! – Es mußte wohl zu dem Geheimnis der drei irgendwie[2] in Beziehung stehen, dieses … Scheiterhaufen – the pile of wood!! … –

Und Viktor Kardow gab sich so aufs neue in dem Sturm seiner Gedanken mit einer alle sonstigen Eindrücke völlig ausschaltenden Verbissenheit denselben tastenden Überlegungen rückhaltlos wieder hin, die ihn schon daheim im schlichten Rohrsessel völlig gefangen genommen hatten …

Bis – bis ein Geräusch hinter ihm seinen Kopf herumschnellen ließ …

Das Ende der Leiter, das noch soeben über den Rand der Luke ein gut Stück hinausgeragt hatte, wurde … kürzer und kürzer …

Verschwand …

Jemand zog die Leiter ein …

Nicht ganz … Denn jetzt erschien dort in der Öffnung der Oberkörper eines Mannes, faßte den Lukendeckel, ließ ihn herab …

Die Luke war verschlossen … –

Kardow hockte da und war wieder mit seinen Gedanken in der Gegenwart …

Steckte jetzt die kurze Tabakpfeife zu sich und kroch davon – kroch über drei – vier andere Dächer, schaute in die Abgründe der Höfe hinab, wagte tollkühne Kletterpartien, suchte nach einer eisernen Feuerleiter, die vielleicht irgendwo an einer Mauer in die Tiefe lief …

Fand keine … Fand dafür ein vernageltes Mansardenfenster, zwängte sich hinein, benutzte die Dietriche, gelangte durch dieses Haus glücklich auf die Straße …

Und jagte heim nach der Luitpoldstraße. Wollte Lotte Reinar auflauern, wollte feststellen, wann sie zurückkehrte, – patrouillierte geduldig auf und ab, patrouillierte ganz umsonst …

Niemand kam, der das Haus betrat, wo oben im zweiten Stock Maja Granville wohnte.

Als das Leben der Weltstadt erwachte, als Zeitungsausträgerinnen, Straßenreiniger, Arbeiter und Angestellte verschlafen ihre Tätigkeit begannen und hinter den Fenstern die huschenden Gestalten zimmersäubernder Dienstboten sichtbar wurden, als vom Winterfeldplatz her die Kirchenuhr endlos langsam die siebente Morgenstunde schlug, da stieg auch Viktor Kardow die Treppen zu seinem Mansardenheim empor, warf sich todmüde auf das Bett und schlief ein.

 

5. Kapitel.

Lotte Reinars Elternhaus …

Drei Stunden später erwachte Maja Granville aus dem Morphiumrausch, der ihr wohltätiges Vergessen gebracht hatte.

Erwachte – öffnete die Augen, blinzelte in das gedämpfte Licht der elektrischen Nachttischlampe, deren milden Schein sie nie vermissen durfte – – nie! Dunkelheit, Finsternis beschwor nur Gespenster herauf …

Die schöne, reizvolle Frau schloß die Augen wieder. Ihr Hirn – ihr Gedächtnis streikten noch. Sie fühlte sich so unendlich matt, so hinfällig …

Dann – wie ein leiser Ruck ging’s durchs ihren Körper. Die Lider flogen hoch. Unnatürlich große Augen starrten geradeaus – wie in eine endlose Ferne …

Und Frau Maja richtete sich auf … ebenso langsam, stützte sich auf die Hände, saß da mit etwas vorgerecktem Kopf …

Ihre Brust flog immer rascher unter dem seidenen Nachthemd auf und ab …

Bis es wie ein Schrei über die zuckenden Lippen kam, ein Schrei, der in einem verstörten Gemurmel ausklang:

„Mein Gott, – – ein Traum …?! Ein Traum, – oder doch wieder the pile of wood …!!“

Grauen packte sie plötzlich …

Sie schaute ringsum … Die Dämmerung in dem gegen die Tageshelle so fest abgesperrten Zimmer ängstigte sie noch mehr. Ein Griff nach dem Lichtschalter, und die Steinampel flammte auf … –

Maja Granville stützte jetzt den Kopf in die Linke.

Sann und sann. Gewann Klarheit …

Das Gespenst hatte sich wirklich abermals gemeldet. Genau wie bei Johnston … genau so …

Und immer deutlicher erschienen in Majas Erinnerung die Vorgänge des verflossenen Abends.

Doktor Gerhardi hatte ihr, am Kamin lehnend, von dem Vorfall bei Johnston erzählt … – Ja – so hatte das Unheil begonnen, … so …

Und dann hatte sie trotz ihrer wahnwitzigen Angst vor dem schwarzen Trichter des Lautsprechers John Weller das Zeichen gegeben …

Dann … dann …

Mit einem gurgelnden leisen Schrei preßte sie plötzlich die Hände gegen die Ohren …

Ihr war’s, als hätte sie da soeben dieselbe Stimme vernommen wie gestern abend – dieselben Worte …

Mein Gott – nur nicht mehr allein sein mit all diesen Gedanken …

Und rasch drückte sie auf den in den Lampenfuß eingelassenen Kontakt … hielt den Finger so lange auf den Knopf, bis Lotte Reinar die Tür aufriß und hastig eintrat … –

Frau Maja besann sich da auf sich selbst …

Nur nicht Verdacht erregen – nur nicht …!! Nur weiter heucheln wie bisher, die Ahnungslose spielen, die nicht wußte, weshalb die Nerven ihr derart zusetzten!!

Und sie spielte Komödie … Ließ sich erzählen …

Lotte saß auf dem Bettrand.

Und Maja klagte, daß der Fastnachtabend ein so jähes, im Grunde lächerliches Ende gefunden habe.

Sie heuchelten beide, diese Frauen, die hier in dem duftgeschwängerten üppigen Schlafgemach beide so taten, als handelte es sich wieder nur um einen Nervenanfall, ohne besondere Ursache … –

Dann brachte die Zofe das Frühstück und einen Brief.

Einen Geschäftsbrief scheinbar. Oben links auf der Vorderseite des Umschlags ein blauer Firmenstempel – scheinbar …

Lotte Reinar hatte diesen Brief vorhin im Flur heimlich sich angesehen.

Lotte Reinar wartete …

Und es kam – es traf ein, worauf sie gewartet hatte. – Frau Maja hatte jetzt den blauen Stempel bemerkt – die Worte überflogen:

The pile
of wood

Berlin.

Ein irres Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Das Papier knisterte … Und Lotte Reinar ließ kein Auge von diesem blassen verstörten Gesicht, von diesem gehetzten Blick, der die Schreibmaschinenzeilen überflog …

Sie war auf alles vorbereitet. Sie mußte diesen Brief in ihren Besitz bringen, den zu öffnen sie nicht gewagt hatte. Sie ahnte ja: der Brief war ein neuer Abschnitt, ein neuer Akt in diesem Drama! –

Frau Granville atmete ruhiger … Der furchtbaren Erregung folgte die Entspannung. Nun wußte sie ja, was diese heimtückischen Gegner, die da den Äther zur Übermittlung ihrer Foltern benutzten, im Sinne hatten.

Nochmals las sie das Schreiben. Zum Schluß stand da …:

„Merken Sie sich meine Befehle und verbrennen Sie Umschlag und Brief unverzüglich.

Das Radiogespenst.“

Radiogespenst …!!

Zum ersten Male diese Bezeichnung … Zum ersten Male flüsterten Frau Majas Lippen: „Radiogespenst!“

Dann schaute sie scheu auf. Sie hatte Lotte Reinars Gegenwart völlig vergessen …

Ein rascher Entschluß …

„Fräulein, – da, nichts als eine Bettelei … Stecken Sie den Brief in den Ofen … sofort!“

Lotte Reinar nahm Brief und Umschlag, knüllte beides in der Hand zusammen, ging die wenigen Schritte bis zu dem breiten, dunkelgrünen Kachelofen, bückte sich, öffnete die Tür, ebenso die Innentür mit dem Nickelhaken und warf den Papierball auf die noch glimmenden Preßkohlen.

Das Papier lohte auf. Frau Maja sah’s, war zufrieden … –

Nicht minder zufrieden war Lotte Reinar. Ein Glück, daß Frau Granville ihr Gesicht nicht beobachtete. Dieses Gesicht, dunkelrot vor Aufregung infolge des geheimen, ungewohnten Tuns, hätte mancherlei verraten.

Lotte wandte sich vollends um, nachdem sie den Ofen wieder geschlossen hatte. Etwas unsicher und stockend bat sie Frau Maja um Urlaub für den Vormittag …

„Ich möchte meine Eltern besuchen, gnädige Frau, möchte ihnen Geld bringen – mein … Gehalt …“

Maja Granville brauchte heute keine Gesellschaft. Sie war froh, daß sie den Vormittag allein sein konnte, allein mit dem, was nun genau überlegt sein wollte, überlegt, geprüft und erwogen mit denen, die vielleicht ähnliche Briefe erhalten hatten.

„Ah – Ihr Gehalt, Fräulein,“ meinte sie gleichgültig. „Ich habe ganz vergessen, es Ihnen zu geben. Reichen Sie mir doch bitte meine Kassette … Grüßen Sie bitte Ihre Eltern von mir … Wenn Sie um drei Uhr zu Tisch wieder zurück sind, genügt es ja …“ –

Elf Uhr vormittags war’s, als Lotte Reinar das Haus verließ und dann mit der Straßenbahn nach dem Norden Berlins fuhr. Dort wohnten ihre Eltern seit zwei Jahren in einer Mietkaserne der Gartenstraße im zweiten Hofgebäude, – zwei Stübchen, und zwei durch Schicksalsschläge vergrämte, verbitterte Menschen darin.

Lotte stieg die schmierigen Treppen empor, läutete an der Flurtür. Die Mutter öffnete – eine hagere Frau, früh verblüht, einst große Dame, als ihres Mannes Fabrik noch eine Goldgrube gewesen, – jetzt nichts als eine der sorgenbelasteten Arbeitssklavinnen, wie sie hier in den dumpfen Mauern des Nordens zu aber Tausenden hausten.

Lotte küßte die Mutter. Und das welke Gesicht Frau Reinars belebte sich etwas.

„Wie geht’s dem Vater?“ flüsterte Lotte dann scheu.

Karl Reinar, seit anderthalb Jahren infolge eines schweren, schleichenden Rückenmarkleidens an den Krankenstuhl gefesselt, empfing sein einziges Kind mit der mürrischen Miene des mit sich und aller Welt zerfallenen, ungeduldigen Kranken. Er beneidete jeden, der noch im Besitz voller körperlicher Frische war. Er beneidete Lotte auch um all das Gute, das sie im Hause der reichen Witwe genoß. Stets stellte er dieselben bissigen Fragen – nach der Einrichtung der Wohnung[3] Frau Majas, nach dem Küchenzettel der letzten Tage …

Zusammengesunken saß, er da, fahl im Gesicht, das hagere Antlitz voller Falten, in den Augen stets denselben feindseligen Ausdruck. –

Lotte hatte für die Eltern ein paar kleine Überraschungen eingekauft: für die Mutter Handschuhe, eine Küchenschürze und Näschereien, für den Vater Zigarren, eine Dauerwurst und zwei Bücher …

„Verschwendung!“ knurrte Reinar und bedankte sich nicht einmal. Trotzdem ließ er sich sofort Zündhölzer reichen und rauchte mit sichtlichem Behagen eine der guten Zigarren an.

Lotte zählte dann, neben ihm am Fenster sitzend, das Geld hin …

Neunzig Rentenmark …

Das Ehepaar, das fast ganz auf diese Beisteuer Lottes angewiesen war, schaute mit der stillen Gier derer, die das Darben und Sparen zu spät kennen gelernt, auf die Scheine …

Bis Frau Reinar erstaunt rief:

„Aber Kind, Kind, – hat denn Frau Granville Dir wieder zugelegt?! Das – das sind ja neunzig Mark!“

Lotte senkte den Kopf …

„Ja, – sie hat’s ganz aus sich selbst heraus getan, Mama …“

Karl Reinar war wie alle Kranken ein aufmerksamer, mißtrauischer Beobachter jeder Kleinigkeit …

„Ha – da scheint mir doch irgend etwas nicht zu stimmen!“ brummte er. „Sieh mich mal an, Lotte! Kopf hoch! – – Aha – – rot geworden! – Was ist’s mit dem Gelde – he?! Fünfzig Mark Gehalt im Januar, und jetzt neunzig …?! Ich kenne doch die Menschen! Und wie ich sie kenne! Niemand zahlt freiwillig mehr, als er eigentlich zahlen soll. Solche Narren gibt’s nicht mal unter den Weibern …!“

„Aber Karl!!“ mahnte ängstlich Frau Reinar.

„Ruhe! Da stimmt was nicht! Sieh mich an, Lotte! Die Wahrheit will ich wissen! Woher hast Du das Geld – woher?! Neunzig Mark!! Und noch die Einkäufe alle …! Mich macht man nicht dumm!“

Lotte blickte den Vater jetzt starr an. Und unter diesem Blick wurde er verlegen, kroch in sich zusammen.

„Es ist mein Gehalt,“ sagte sie hart. „Woher sollte ich mir sonst wohl Geld beschaffen können?!“

Sie erhob sich schnell, legte die Scheine auf das Fensterbrett …

Sie glaubte hier ersticken zu müssen. Sie brachte Opfer, – – und wie wurden sie ihr gedankt – – wie!!

„Frau Granville ist krank,“ erklärte sie ebenso kurz. „Ich habe heute wenig Zeit, muß sofort heim. Ich komme in den nächsten Tagen wieder.“

Sie verabschiedete sich hastig.

Im Flur zog Frau Reinar ihre Einzige an die Brust, weinte still …

„Er – er quält mich zu Tode,“ schluchzte sie. „Du hast es ja heute wieder erlebt, wie – wie häßlich er sein kann …“

Lotte streichelte das graue, dünne Haupthaar der Mutter …

„Glaube mir: wir haben es beide nicht leicht, Mama!“

Auch ihr würgte ein Schluchzen in der Kehle.

Dann eilte sie die Treppen hinab – hinaus auf die noch winterliche Straße … – –

Drüben in einem Hausflur stand Viktor Kardow. Blieb nun Lotte Reinar auf den Fersen, genau wie vorhin, als er sie von der Luitpoldstraße bis hierher[4] verfolgt hatte …

Blieb hinter ihr, bis sie im Westen Berlins am Prager Platz in dem Hause verschwand, wo der Ingenieur John Weller bei einer Witwe im Hochparterre die beiden Vorderzimmer bewohnte … –

Viktor Kardow schlenderte nun auf und ab. Er sah müde und übernächtig aus. Er hatte nur zwei Stunden geschlafen, war dann zu Fritz Gerhardi hinabgegangen und hatte Bericht erstattet, hatte schließlich erklärt, als der junge Arzt achselzuckend äußerte, ihn wundere es durchaus nicht, daß Lotte Reinar den Italiener nachts besucht habe …

„Ich hoffe, Du denkst denn doch zu gering von Fräulein Reinar …! Ihre Eltern sind verarmt, wie Du mir selbst erzählt hast. Wäre es nicht sehr wohl möglich, daß die Not ihrer Eltern sie zu irgendwelchen Torheiten getrieben hat, daß sie also letzten Endes aus edlen Motiven sich diesen anrüchigen Leuten zur Verfügung gestellt hat, die da – wie wir sagen – als Radiogespenst Angst und Schrecken verbreiten?!“

Gerhardi hatte noch die kurze Tabakpfeife in der Hand, die Kardow ihm vorhin gezeigt hatte. Er reichte sie dem Freunde zurück und meinte: „Das wäre immerhin möglich, Viktor, gewiß … Die Tatsache aber bleibt doch bestehen: Lotte Reinar ist von der engen Bahn der Ehrlichen abgeglitten! Ich bedauere das wahrhaftig, gerade ich! Du weißt, warum … Wenn ich mich auch über meine Gefühle getäuscht habe: Lotte Reinar stand mir doch in gewissem Sinne nahe – als Kameradin, als Freundin. – Ich wünschte, sie ginge unbeschädigt aus dieser dunklen Geschichte hervor.“

Und er hatte Kardow ernst zugenickt und noch hinzugefügt: „Diese Liebe wäre ja auch eine große Torheit gewesen, Viktor … Eine aussichtslose Liebe! Dort mein Wartezimmer ist auch heute wieder leer. Die einzige Patientin, die mir treu bleibt, ist Maja Granville. Ich werde nachher hinübergehen und mal nach ihrem Befinden mich erkundigen …“

In diesem Augenblick war’s, als Viktor Kardow zum ersten Male mit der Möglichkeit rechnete, daß Gerhardi vielleicht Maja Granvilles … Geld heiraten könnte. Gerhardi war Vernunftsmensch, nicht Gefühlsmensch. Vielleicht hatte er gerade deshalb viel vor anderen voraus … –

Und jetzt schlenderte Viktor Kardow an der Ostseite des Prager Platzes auf und ab, rief sich nochmals dies Gespräch mit Gerhardi ins Gedächtnis zurück und behielt dabei ständig die Haustür von Nummer 36 drüben im Auge …

Blieb plötzlich stehen, schaute schärfer hin …

Lotte trat auf die Straße hinaus, schob ein Papier dabei in ihre bescheidene schwarze Handtasche, schritt weiter, die Motzstraße hinab, langsam, wie in tiefem Sinnen … –

Kardow folgte …

Und Kardow war jetzt wieder ganz wie einst ausschließlich Detektiv – wie einst, wo ihn das Abenteuerliche dieses Berufes monatelang völlig gefangen genommen hatte, bis er schließlich merkte, daß diese Tätigkeit bei der Detektei „Phylax“ Herz und Charakter verdarb.

Wie damals – und doch anders! Hier ging es ja jetzt um mehr als nur um Ehescheidungsmaterial und ähnliches. Hier ging es um die Person eines jungen Weibes, das er liebte – um ihre Ehrenrettung! Das Radiogespenst – was kümmerte ihn das?! Es war für ihn nur Beiwerk, war nur die Fanggrube, aus der Lotte Reinar gerettet werden mußte!

 

6. Kapitel.

Die Radiodepesche.

Er überlegte …

Er hätte Lotte zu gern angesprochen. Seine Schüchternheit gerade ihr gegenüber ließ ihn keinen unauffälligen Grund finden, sich ihr zu nähern.

So zauderte er denn, bis er sie im nächsten Postamt verschwinden sah …

Und – folgte ihr abermals, sah sie nun an einem der Schreibpulte stehen und ein Depeschenformular ausfüllen.

Drängte sich nachher am Schalter dicht an sie heran, staunte über ihre Arglosigkeit, mit der sie das Telegramm, auf Abfertigung wartend, so in der Hand hielt, daß er das Geschriebene zum Teil entziffern konnte …

Seltsam: eine drahtlose Depesche gab Lotte Reinar auf – nach Neuyork …!

Nach Neuyork an P. I. Kerton, 32. Straße Nr. 48.

Und von dem Telegrammtext konnte er folgendes mit den Blicken erhaschen:

„Dampfer Jowe seit gestern überfällig. Scheinbar an … Küste gestrandet. Bitte …“

Mehr vermochte er von dem Text in der Eile nicht zu entziffern …

Er wollte schon zurücktreten, da Lotte jetzt die Depesche dem Schalterbeamten hineinreichte und dabei fragte:

„Als Funktelegramm ist wohl mit einer Ankunft in Neuyork in drei bis vier Stunden zu rechnen?“

„Spätestens,“ nickte der Beamte.

Lotte Reinar öffnete ihr Handtäschchen und suchte Geld hervor. Dabei zog sie auch das, was Kardow vorhin am Prager Platz für ein Blatt Papier gehalten, mit heraus …

Es war ein zerknitterter, unachtsam aufgerissener Briefumschlag mit einem ebenso zerknitterten Bogen darin, der etwas herausragte.

Der Umschlag fiel auf die Erde … flatterte zur Seite.

Kardow bückte sich hastig … Hob ihn auf … Ein Blick auf den Firmenstempel – auf die Anschrift:

The pile
of wood

Berlin.

Frau Maja Granville

Berlin W.

Luitpoldstr. 188, II.

Oh – Viktor Kardow hatte sich jetzt überraschend gut in der Gewalt …

Reichte Lotte Reinar den Umschlag, heuchelte ein plötzliches Erkennen, zog den Hut …

„Bitte, gnädiges Fräulein … Sie besinnen sich wohl noch auf mich: Photograph Kardow …“

„Vielen Dank …“ Das klang sehr kühl, klang kühler als beabsichtigt, sollte nur die Verlegenheit bemänteln …

Und Lotte wandte sich dem Schalter wieder zu, zählte das Geld hin, erwiderte dann Kardows Gruß, als sie nun abgefertigt war, bedeutend freundlicher und verließ das Postamt … –

Kardow verlangte rasch ein paar Briefmarken. Behielt sie in der Hand, eilte Lotte Reinar nach, holte sie sehr bald ein …

„Verzeihung, gnädiges Fräulein, ich glaube, Ihnen sind zugleich mit dem Briefe vorhin auch diese Marken zur Erde gefallen …“

So knüpfte er das Gespräch an, so hatte er jetzt den Grund gefunden, Lotte zu einer längeren Unterhaltung zu zwingen …

„Nein, die Marken gehören bestimmt nicht mir,“ entgegnete sie liebenswürdig. „Da haben Sie sich also umsonst bemüht, Herr Kardow. Immerhin – herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit …“

Sie hatte ja von Doktor Gerhardi so viel Gutes über diesen gescheiterten Akademiker gehört, daß sie unwillkürlich schon längst Interesse an seiner Person und seinen Schicksalen genommen hatte, eben jenes Interesse, das ihrem gütigen Herzen entsprang und das gerade infolge des Unglücks ihrer Eltern und infolge der eigenen traurigen und widerspruchsvollen Lage warm und aufrichtig war, wenn sie dies auch ihrer herben Natur gemäß nie in ihrem Gegengruß zum Ausdruck gebracht hatte, sobald der bescheidene Freund Gerhardis ihr dann und wann begegnet war. –

„Oh – keinerlei Ursache zum Danken, gnädiges Fräulein,“ hatte Kardow sofort mutig das Gespräch weitergeleitet. „Gestatten Sie, daß ich mich nach dem Befinden Frau Granvilles erkundige … Gerhardi erzählte mir, daß die Dame gestern abend wieder einen schweren Nervenanfall gehabt hat. Wir sind ja sozusagen Nachbarn, gnädiges Fräulein … Sonst pflegt in der Weltstadt sich niemand um den andern zu kümmern. Großstadthäuser sind wie Inseln im Ozean, auf denen Einsiedler hausen …“

„Frau Granville fühlt sich wieder ganz frisch,“ erwiderte Lotte bereitwillig und arglos …

Die Unterhaltung ging weiter, wobei Viktor Kardow sich als so geistvoller, eigenartiger Plauderer entpuppte, daß Lotte Reinar gar nicht merkte, wie er allmählich dem Gespräch eine andere Wendung gab.

Sie waren längst in die Potsdamer Straße eingebogen, näherten sich der Brücke …

Und da sagte Kardow denn plötzlich: „Nun nähern wir uns dem jetzt so berühmten Voxhause gnädiges Fräulein, der Quelle der elektrischen Wellen, die jeden Tag Tausenden Zerstreuung und Anregung bieten. – Eine grandiose Erfindung doch, die drahtlose Telephonie! – Schade, daß gestern abend bei Frau Granville die Überraschung der Gäste durch den Lautsprecher eine so – unangenehme war. Gerhardi schilderte mir die Szene, wie aus dem Trichter anstatt weicher Melodien diese freche Stimme hervordrang, die den Anwesenden die vier rätselhaften Worte zurief …“

Lotte hatte unruhig den Kopf gesenkt …

„Ich mag darüber nicht mehr sprechen,“ erklärte sie etwas befangen …

„Das glaube ich gern,“ meinte Kardow doppelsinnig. „Dieses The pile of wood ist ja auch wie das Menetekel, das dem Könige Belsazar in feuriger Schrift an der Wand erschien. Sie kennen doch Heines Gedicht „Belsazar“. gnädiges Fräulein?

Das gellende Lachen verstummte zumal;
Es wurde leichenstill im Saal.
Und sieh! und sieh! – an weißer Wand,
Da kam’s hervor wie Menschenhand,
Und schrieb und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand. –
Belsazar ward aber in selbiger Nacht
Von seinen Knechten umgebracht …

So heißt’s bei Heine. – Gewiß, die Verse passen ja nicht gerade auf unseren Fall – nicht ganz … Doch die Wirkung der Worte, ob geschrieben oder wie hier durch den Äther fortgepflanzt und entsetzten Zuhörern übermittelt, war doch ungefähr die gleiche …“

Lotte Reinar bog schnell nach links ab – den Kanal entlang, der noch eine brüchige Eisdecke zeigte.

Ihre Unruhe wuchs …

Eine dumpfe Ahnung beschlich sie plötzlich, daß dieser geistvolle Mann da an ihrer Seite, dieser Gescheiterte, wohl kaum zufällig, kaum aus Mangel an Taktgefühl an diesem Thema so hartnäckig festhielt.

Sie ging langsamer; sie mußte Gewißheit haben. Seit sie vorhin bei John Weller gewesen, lag es über ihrer Seele wie das ungewisse Vorempfinden drohenden Unheils. Vielleicht – vielleicht, daß sie hier in diesem ihr von Gerhardi so zuverlässig, so treu geschilderten Menschen sich einen Verbündeten werben könnte, der ihr raten und helfen wollte. Vielleicht hatte dieser stille, bescheidene Kardow absichtlich mit diesen Versen Heinrich Heines ihr andeuten wollen, daß er die tiefere tragische Seite des The pile of wood zum Teil durchschaut habe.

Viktor Kardow schwieg jetzt. Ein schneller forschender Blick auf Lotte Reinars Gesicht hatte ihm bewiesen, daß die Verse gewirkt hatten: Lotte war erregt, war rot geworden, hatte die Lippen zusammengepreßt …

Er schwieg, wartete … – Nur Geduld! Er würde schon erfahren, was er wissen wollte …

Und Lotte Reinar wieder zögerte und zögerte. Erwog immer wieder die Gefahr, die ihr drohte, wenn sie die geringste Unachtsamkeit beging. Weller hatte sie ja so eindringlich gewarnt, vorsichtig zu sein, hatte stets betont, wie leicht alles scheitern könnte, wenn sie beide auch nur den kleinsten Fehler machten … –

Kardow wartete …

Schließlich wurde er doch ungeduldig …

Und sagte so leichthin, ohne besondere Wichtigkeit:

„Daß mich dieses Radio-Menetekel, dieses The pile of wood interessiert, gnädiges Fräulein, hat einen ganz bestimmten Grund. Ich habe da vor Wochen nämlich auf der Straße ein offenbar von einem Pappkarton losgeweichtes Papierschild mit einer Adresse gefunden. Ich hob es auf, weil ich’s für einen Brief hielt. Und die Adresse auf diesem Schildchen lautete: The pile of wood! – Übrigens habe ich das Papier noch aufbewahrt …“ – Er holte seine Brieftasche hervor. „Hier ist’s … Und – denken Sie – diese Kartonadresse lag vor dem Hause Frau Granvilles …!“

Lotte griff hastig nach dem beschmutzten Blatt Papier. Las …:

The pile     
      of     
        wood,

– mit Tinte geschrieben, – eine Handschrift, die fraglos verstellt war …

Kardow belauerte wieder ihr Gesicht …

War enttäuscht …

Er merkte: Lotte Reinar hatte diese Adresse noch nie gesehen. Sie war ihr neu – etwas Neues …

„Das ist sehr merkwürdig,“ sagte Lotte leise und versonnen. „Das … wußte ich noch nicht …“ Sie verbesserte sich schnell: „Ich wollte sagen: davon hat Frau Granville nie etwas erwähnt …“

Kardow lächelte flüchtig.

„Sie sind also ebenfalls überzeugt, daß diese Adresse Frau Granville als … Drohung zuging?“ fragte er dann …

Da wurde das junge Mädchen plötzlich argwöhnisch. Sollte sie hier etwa ausgehorcht werden?! – Mit einem Male erschien ihr Kardows ganzes Verhalten in anderem Lichte. Konnte man wissen, ob er nicht … auf der Gegenseite operierte?! Er war Gerhardis Freund und Vertrauter. Er war arm, mußte nach jedem Verdienst greifen … –

Und leicht die Achseln zuckend, meinte sie:

„Drohung?! Wie soll ich das verstehen?! Es kann sich doch höchstens um einen schlechten Scherz handeln.“

Er fühlte: sie entglitt ihm wieder!

Da – – packte er zu – sagte sehr nachdrücklich:

„Von schlechten Scherzen kann hier wohl keine Rede sein! Dieselben vier Worte, derselbe Ausdruck Scheiterhaufen ist auch dem Botschaftsrat Johnston und einer dritten Person durch einen Lautsprecher zugerufen worden! Die Wirkung auf Johnston war etwa dieselbe wie die auf Frau Granville. Mithin jagte dieses Wort „Scheiterhaufen“ den Betreffenden einen Schreck ein, der wohl mit einem albernen Witz nichts zu tun haben dürfte …!“ Seine Stimme wurde weicher, eindringlicher: „Fräulein Reinar, mein Freund Gerhardi hat gestern abend in Frau Granvilles Schlafzimmer im Gespräch mit Ihnen den Eindruck gewonnen, als wüßten Sie mehr über diesen … schlechten Scherz, als für eine junge Dame vorteilhaft ist …“ Und leiser und noch wärmeren Tone: „Fräulein Reinar, falls Sie einen Freund brauchen sollten, der selbstlos und verschwiegen Ihnen irgendwie dienen kann, dann – denken Sie an mich …“

Er hatte haltgemacht, hatte sie so zum Stehenbleiben gezwungen …

Schaute sie an – bittend und forschend, und doch: aus seinen Augen strahlte noch anderes, das Lotte Reinar plötzlich begreifen ließ, weshalb Kardow sie stets so überhöflich gegrüßt hatte …

Sie errötete leicht …

Aber sie wich seinem Blick nicht aus …

„Vielleicht brauche ich wirklich sehr bald einen aufrichtigen Freund. Ich werde Sie dann zu finden wissen, Herr Kardow …“

Und neigte zum Abschied grüßend den Kopf …

„Auf Wiedersehen, Herr Kardow …“

Schritt davon, ließ Viktor Kardow allein …

Der fragte sich nun: „Bist Du jetzt auch nur um einen Deut klüger geworden?! Wohl kaum!“

Unzufrieden mit sich und Lotte Reinar ging er weiter dem Lützowplatz zu.

 

7. Kapitel.

Der Dampfer Jowe.

Fritz Gerhardi traf Maja Granville in leidlicher Stimmung an. Sie war bereits zum Ausgehen fertig angezogen in ihrem Damenzimmer, hatte soeben zwei Telephongespräche erledigt und war froh, daß sie ihre Leidensgenossen sofort durch den Fernsprecher erreicht hatte.

Die nachteiligen Spuren der verflossenen Nacht hatte sie sehr geschickt durch ein wenig Schminke und Puder von ihrem Gesicht beseitigt. Sie sah so wieder einmal überraschend jung aus, reichte Gerhardi kameradschaftlich die Hand und erwiderte auf seine Frage nach ihrem Befinden ganz zwanglos:

„… Alles gut überstanden, lieber Doktor …“ Sie lächelte ihn an. Sie war schön und verführerisch, ein vollerblühtes Weib, viel umworben, betonte jedoch stets, daß sie nie mehr heiraten würde …

Gerhardi war überrascht. Schauspielerte Maja?! Sollte sie den Schreck des vergangenen Abends wirklich schon so völlig überwunden haben?!

In ihrer nervösen, etwas fahrigen Art fügte sie sofort hinzu:

„Meinem Freunde und Hausarzt gegenüber darf ich ehrlich sein, Doktor. Ich habe mein Auto bestellt. Ich kann Sie nicht zum Bleiben auffordern …“

Der Gedanke an die bevorstehende heimliche Zusammenkunft mit Johnston und Derryc trieb ihr nun doch ein nervöses Flackern in die Augen.

„Ich habe Besorgungen vor, Doktor … Wir Frauen brauchen ja stets etwas …“ Sie lachte. „Ohne uns würde es nur halb soviel Kaufläden geben …“

„Allerdings,“ nickte Gerhardi völlig ernst …

„Oh – Sie Pedant!! Ohne uns wäre das ganze Leben doch reizlos …“

„Und ruhiger, Frau Maja …“

Er fühlte: diese angeblichen Besorgungen waren andere Dinge. Wer weiß, was …

Und er dachte an Freund Viktors Lautsprecher, an die Frauenstimme aus dem Trichter:

Morgen früh erhalten die drei die Briefe …!!

Die drei …!! Also hatte auch Maja heute einen Brief bekommen … – Ob ihre „Besorgungen“ mit diesem Schreiben zusammenhingen? Ob es nicht lohnte, heute dem guten Viktor so etwas Konkurrenz zu machen und selbst den Detektiv zu spielen? –

Maja knüpfte nach einer Weile an Gerhardis letzte Bemerkung an. Sie hatte inzwischen nach ihrer Armbanduhr gesehen. Ein paar Minuten konnte sie ihm noch widmen …

„Hätten Sie so schlechte Erfahrungen mit den Frauen gemacht, Doktor?“ meinte sie schalkhaft.

Er blieb unzugänglich. „Gar keine. Das wissen Sie. Frauen lernt man nur kennen, wenn man Geld hat. Ich war stets arm. Meine Studienzeit hieß darben, und jetzt …“ Er machte eine halb ironische Handbewegung. –

Maja hatte diesen jungen Arzt vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an weit interessanter gefunden als all die anderen Herren, die ihre Millionen umschwärmten wie die Vögel nachts den blinkenden Leuchtturm umschwirren …

Weit interessanter. Er schmeichelte ihr nicht. Er blieb kühl, verschlossen, zeigte ihr zuweilen recht eindringlich sein geistiges Übergewicht. Sie fürchtete ihn ein ganz klein wenig …

„Sie sollten Ihre ganze ärztliche Tätigkeit umstellen,“ sagte sie nun eifrig und sprach so einen Gedanken aus, der sie längst beschäftigt hatte. „Sie müßten ein Sanatorium für Nervenkranke einrichten. Sie eignen sich dazu. Sie sind die Persönlichkeit danach. Es gibt in der Umgebung Berlins noch so viele landschaftlich geradezu idyllische Fleckchen Erde, wo schon die Natur allein beruhigend wirkt. Dort müßte Ihr Sanatorium stehen.“

„… Schlösser, die im Monde liegen, Frau Maja …“

„Weshalb?!“ Sie trat noch einen Schritt näher. „Weshalb sehen Sie sich nicht nach einer reichen Frau um?“ Sie schaute ihn jetzt sehr ernst an. Er merkte: das hier war mehr als ein bloßes Salongeplauder … Das ging um seine Zukunft, die Maja … ausbauen wollte …

Er wurde wärmer. Er empfand Majas Nähe zum ersten Male als … Mann.

„Ich bin halb Verstandes-, halb Gefühlsmensch,“ meinte er. „Das ist eine schlechte Mischung. Ich begeistere mich leicht und erlebe Enttäuschungen. Ich bin mißtrauisch gegen mich selbst.“ – Er dachte dabei an Lotte Reinar …

Maja errötete unter der feinen Schminkschicht. Unter diesem ihr neuen Blick seiner klaren Augen, der seine Worte gleichsam unterstrichen hatte, begann ihr Herz schneller zu schlagen …

Sie senkte den Kopf, sah wieder nach der Uhr …

„Jetzt muß ich leider aufbrechen, lieber Freund,“ meinte sie leicht verwirrt.

Gerhardi verabschiedete sich, küßte ihr die Hand und ging …

Ging und fühlte plötzlich, daß … er hier nur zuzugreifen brauchte, daß er sein Schicksal in der Hand hielt: Maja – Maja Granville! – Aber sein nüchterner Verstand rief auch sofort wieder warnend und jede Illusion vernichtend die Gespenster herbei, von der diese Frau umgeben war, – Gespenster – – Radiogespenst!

Er scheuchte diese Gedanken von sich … Er wollte das Gefühl nicht Herr werden lassen über den kritischen Verstand. Maja sollte nicht allein heute in ihrem Auto davonfahren … Ein zweites Auto würde folgen: er, Fritz Gerhardi! – –

Viktor Kardow schritt gerade an der Südseite des Lützowplatzes entlang, als ein ihm entgegenkommendes Taxameterauto näher an die Bordschwelle rollte und hielt.

Aus dem Türfenster Gerhardis Stimme:

„Viktor – einsteigen – – rasch!“

Kardow saß neben dem Freunde. Der Kraftwagen glitt weiter.

„Du hast wohl geerbt?!“ meinte Kardow erstaunt.

„Ich bin hinter Maja her.“ Gerhardi sprach hastig. „Ich war bei ihr. Sie schickte mich weg, behauptete, sie müsse Besorgungen erledigen. Ich habe sie beobachtet. Sie hatte ihr Auto nicht vor das Haus bestellt, sondern nach dem Nollendorfplatz, ging bis dahin zu Fuß, sprang schnell hinein und – dort vor uns jagt sie dahin … – Dieser Umstand, eben die Beorderung ihres Chauffeurs nach dem Nollendorfplatz, ließ mich vermuten, daß sie Spione fürchtete, denen sie so entwischen wollte …“

„Ohne Frage …“

„Und – es war auch so. Es war eine … Spionin in der Luitpoldstraße, ein blondes, elegantes Frauenzimmer, schlank, groß, dicht verschleiert. Man hätte sie für Lotte Reinar halten können …“

Kardow legte plötzlich seine Hand schwer auf Gerhardis Arm …

„Du – – ein blondes Weib, sagst Du?! Und Lotte Reinars Figur?! Und – Lotte sah ich gestern nacht von Piamela nicht heimkehren! Begreifst Du: es war gar nicht Lotte, die ich dort im Zimmer des Italieners sah!! Es war … diese Spionin! Ich bin soeben mit Lotte zusammengewesen. Wir haben uns vor kaum drei Minuten getrennt …“

Gerhardi nickte. „Ja, dasselbe habe auch ich schon vermutet. Du hast Dich durch das hellblonde Haar täuschen lassen …“

„Und durch eine entfernte Ähnlichkeit … Ich war erregt … – Wo blieb die Spionin?“

„Weiß ich nicht. Jedenfalls ist sie nicht hinter uns. Ich habe bereits zweimal nach einem verdächtigen Auto ausgeschaut.“

„Sehr gut …!“ Und Kardow holte tief Atem. „Du, ich habe Dir eine Menge zu erzählen. Das Rätsel des Radiogespenstes und die Rolle, die Lotte Reinar dabei spielt, wird immer dunkler …“ Er berichtete seine Vormittagserlebnisse: Lottes kurzen Besuch bei John Weller am Prager Platz, den Gang nach dem Postamt, die Depesche nach Neuyork und den Inhalt des Gesprächs mit dem jungen Mädchen – alles ganz knapp und übersichtlich …

„Den Brief, der ihr im Postamt aus der Handtasche fiel, muß sie Frau Granville irgendwie weggezaubert haben, Fritz … Der Brief trug ja Majas Adresse und den ominösen Stempel. Es wird der Brief sein, den Maja heute erhalten sollte, wie in der Nacht der Lautsprecher uns verriet …“

Gerhardi war ganz benommen von all den Neuigkeiten. „Unglaublich – unglaublich!“ meinte er. „Ein Jammer, daß Du die Depesche nicht ganz lesen konntest …“

„Oh – das schadet nichts. Wir werden schon herausbringen, wer dieser P. I. Kerton ist, dem Lotte so eilig eine Schiffsstrandung mitteilte. Natürlich ist das mit der Schiffsstrandung lediglich eine Deckmeldung. Du verstehst: der wahre Inhalt des Telegramms verbirgt sich hinter diesem „Dampfer Jowe seit gestern überfällig. Scheinbar an … Küste gestrandet.“ – Ja – Dampfer Jowe … gestrandet …“ – Ganz langsam hatte er die Worte wiederholt – mit halb geschlossenen Augen murmelte er nochmals:

„Dampfer – Jo … we …“

Und – – ruckte zusammen …

Preßte Gerhardis Arm …

„Du, Fritz, ein – ein Blitz der Erleuchtung: Jo–we, – das kann John Weller sein …! Es sind ja die Anfangsbuchstaben des Vor- und Zunamens, dieses Jo – we …! – Herr Gott, bin ich ein miserabler Detektiv!! Fritz, Fritz – die noch warme Tabakpfeife gestern auf dem Hausdach in der Kufsteiner Straße …!! – Fritz, raucht John Weller Pfeife?“

„Ja – leidenschaftlich … rücksichtslos, selbst in fremden Salons …“

„Ah – dann – dann weiß ich, was die Depesche bedeutet, weiß auch das, was ich nicht so rasch entziffern konnte – das fehlende Zwischenwort – es war sehr lang …“

Seine Worte überstürzten sich …

„Fritz – das Wort zwischen „an“ und „Küste“ war … „italienischer“ … – also … „scheinbar an italienischer Küste gestrandet“. – Und das heißt nichts anderes als:

John Weller seit gestern verschwunden – oder überfällig. Scheinbar von dem Italiener (also von Piamela) beseitigt.

Siehst Du ein, daß das stimmen muß?! Bedenke, ich fand die Bodentür und die Bodenluke offen! Ich fand die Tabakpfeife. Piamela schloß dann die Luke! – Fritz, die Schufte haben Weller dort oben beim Spionieren überrascht und stumm gemacht!“

„Hm – Weller soll doch mit zu den „Managern“ des Radiogespenstes gehören …!“

„Das ist eben falsch – ganz falsch …“

„Hm – die Geschichte ist jetzt noch dunkler, Viktor. Ich warne Dich vor voreiligen Schlüssen …!“

„Unnötig! Ich weiß, was ich weiß. Wir haben Lotte Reinar und Weller in ganz falschem Verdacht gehabt.“

„Hm – so eifrig, so übereifrig, wenn’s um das blonde Lottchen geht! – Ei – ei, Freund Viktor, das erscheint mir doch sehr verfänglich!“ Gerhardi lächelte, freute sich über Kardows Erröten. „Mensch, Viktor, – solltest Du etwa in Lotte verliebt sein?! Viktor, beichte!“

Kardow schaute rasch zum Fenster hinaus …

„Ah – der Tiergarten …!“ sagte er ablenkend. „Und – da hält unser Auto auch schon …“

Gerhardi stieg aus – lugte vorsichtig umher …

Dort rechts schimmerte durch die kahlen Bäume der schmucklose Bau des Cafee Tiergarten hindurch …

Dort stand auch Majas eleganter Kraftwagen. –

Der junge Arzt flüsterte Kardow zu:

„Sie ist soeben im Eingang des Cafee Tiergarten verschwunden. – Viktor, Du müßtest ihr folgen … Sie kennt Dich kaum … Ich erwarte Dich hier. Unseren Chauffeur lohne ich ab …“

 

8. Kapitel.

Die drei Schuldigen.

Maja Granville betrat das Cafee, sah sich suchend um und fragte dann den Kellner, ob das Spielzimmer besetzt sei.

„Zwei Herren nur, meine Dame …“

„Bringen Sie mir Bouillon und Pasteten,“ befahl sie kurz. – Sie hatte bereits das Porzellanschild an der Tür links bemerkt, trat ein … –

Johnston und Derryc erhoben sich, beide Männer gesetzteren Alters, beide mit typisch amerikanischen Gesichtern.

Beide reichten Maja schweigend die Hand, schweigend und ernst, fast finster.

Frau Granville nahm an demselben Ecktischchen Platz.

Es war kalt hier, schlecht geheizt. Johnston und Derryc hatten die Pelze anbehalten, tranken Glühwein.

Majas Blick streifte ängstlich ihre Gesichter.

„Eine verschleierte Frau folgte mir – von der Luitpoldstraße – zum ersten Male,“ stieß sie leise hervor.

Die beiden Amerikaner starrten geradeaus.

„Aber – sie konnte nicht hinter mir bleiben,“ fuhr Maja überstürzt fort. „Ich hatte mein Auto nach dem Nollendorfplatz bestellt. Die Frau fand so schnell keinen freien Kraftwagen.“

Johnston rührte in seinem Glase und meinte gedämpft:

„Wenn man nur wüßte, wer diese Schurken sind!“

Und Allan Derryc, Generalvertreter eines großen amerikanischen Bankkonzerns für Deutschland, ballte die sehnige Hand zur Faust und murmelte:

„Sie haben natürlich ebenfalls einen Brief erhalten, Mistreß Granville?“

„Das ist selbstverständlich!“ sagte Johnston bissig. „Eine nette Geschichte! Es war eine ungeheure Dummheit, unseren Verkehr miteinander abzubrechen, nachdem die Schufte sich zum ersten Male vor fünf Monaten gemeldet hatten. Nun haben die Halunken daraus ihre Schlüsse gezogen: schlechtes Gewissen!“

Der Kellner brachte für Maja die Tasse Bouillon, die Pasteten, und verschwand wieder.

Maja kämpfte mit Tränen.

Sie kam sich hier so hilflos, so verlassen vor. Diesen Empfang hatte sie nichts erwartet. Wie Feinde saßen ihr die Freunde von einst hier gegenüber.

Dann flüsterte der hagere Allan Derryc ebenso bissig:

„Wenn die Sache an die große Glocke kommt, sind wir geliefert!! – Wie stellen Sie sich zu dem Inhalt des Briefes?“ Er blickte Maja forschend an.

„Wir werden es tragen müssen,“ meinte sie kleinlaut.

„Wir – wir?!“ fuhr Johnston auf. „Mistreß Granville, von diesem „wir“ kann wohl keine Rede sein! Sie allein werden’s übernehmen. Das ist schon – Anstandspflicht …“

Maja hatte an diese Möglichkeit noch gar nicht gedacht. Sie erschrak. Und mußte Johnston doch recht geben. Es war eine Anstandspflicht …!

„Gut,“ erklärte sie tonlos. „Sie beide sollen darunter nicht leiden …“

„Das werden Sie dem famosen Radiogespenst dann also auf die gewünschte Art mitteilen,“ nickte Derryc erleichtert. „Ich stelle Ihnen meinen Sendeapparat zur Verfügung. – Oh, diese Schufte – diese Schufte!! Schlau sind sie! Nicht zu fassen! Wo soll man sie suchen?! Alles durch Funktelephonie! Das ist genau so, als säßen die Schurken auf dem Mond!“

Johnston trank einen Schluck, sagte:

„Andernfalls könnte man schon an sie heran, das ist richtig! Man könnte persönlich verhandeln …“

Maja stierte auf die Marmorplatte des Tisches …

Und auf dieser Platte bildeten sich scheinbar Zahlen – endlose Zahlen …

Sie fror … Sie sehnte sich heim, sehnte sich nach einem Menschen, der Mitleid mit ihr hatte: Fritz Gerhardi!

Johnston fügte hinzu: „Mistreß Granville, Sie müssen es schon hinnehmen. Es gibt keinen Ausweg.“

Einst dort auf der heißen Insel hatte er ihr den Hof gemacht – genau wie Derryc es getan hatte. Diese Erinnerungen kamen ihm jetzt, stimmten ihn weicher.

Er legte seine breite Hand auf die Majas …

„Liebe Freundin, – dann ist ja alles vorüber … Sie werden den Verlust verschmerzen …“

„Ich werde es,“ sagte Maja hart. – Und zu Derryc gewandt:

„Sind noch besondere Vorbereitungen nötig? Wann darf ich Sie heute abend erwarten? Ich möchte meine Dienstboten und Fräulein Reinar wegschicken …“

In Gedanken an den unheimlichen schwarzen Trichter des Lautsprechers lief ihr ein Eiseshauch über den Leib …

„Um halb neun,“ erwiderte Derryc. „Das genügt. Wieviel Antenne haben Sie gespannt?“

„Ich glaube fünfunddreißig Meter …“

„Das reicht,“ nickte Derryc.

Maja hatte ihre Hand längst zurückgezogen – nicht gerade auffällig, um Johnston nicht zu verletzen. Sie fühlte, daß er sein frostiges Benehmen von vorhin hatte wiedergutmachen wollen.

Die Stimmung zwischen diesen drei Menschen, die das gleiche Geheimnis verband, besserte sich.

Derryc frischte Erinnerungen an Kuba auf. Er hoffte, Maja Granville damit zu versöhnen.

Sie wehrte ab … „Bitte – bitte, – lassen Sie jene Zeit ruhen,“ unterbrach sie ihn sehr bald.

Johnston, ein kluger, kühler Kopf, meinte jedoch sinnend:

„Vielleicht finden wir auf diese Weise doch noch die Person heraus, die diesen Schurken alles verraten hat. Ich habe nun schon monatelang mir den Kopf zergrübelt, wer in aller Welt in die Geschehnisse von damals so genau eingeweiht sein kann … Ihre Angestellten auf der Plantage, Mistreß Granville, haben wir doch bereits sämtlich geprüft. Ich stehe hier vor einem Rätsel. Wir waren doch so vorsichtig. Und – trotzdem dieses … dieses The pile of wood …!! Ich begreife es nicht!“

Maja Granville sah abermals nichts als Zahlenreihen auf der Tischplatte …

Und dachte an Fritz Gerhardi … an das Gespräch vor kaum einer halben Stunde … an ihren Plan, an das große, wunderschöne Sanatorium …

Lächelte bitter … Jetzt – jetzt: Schlösser, die im Monde liegen … – jetzt, wo alles so anders werden würde …!!°

Sie fror …

Stand auf. „Es bleibt dann also dabei, Derryc,“ sagte sie kurz. „Um halb neun bei mir … – Ich möchte mich hier nicht erkälten …“

Johnston reichte ihr die Hand. „Maja, dies Unheil soll uns nicht auseinanderbringen …“

„Nein, Johnston … Ich habe Ihnen beiden ja noch zu danken. Sie waren mir treue Freunde. Das vergesse ich nicht …“

Kardow hatte soeben ganz leise die Tür ein wenig geöffnet, hatte gerade noch die Verabredung mit diesem Derryc gehört …

Schloß die Tür wieder und setzte sich hier im ersten Raum an einen entfernten Tisch.

Also Derryc hieß der Dritte … Derryc …! Und – halb neun bei Maja Granville …! Da mußte man achtgeben, was geschehen würde! –

Maja verließ das Cafee, bestieg ihr Auto und fuhr nach Hause.

Sie war erschöpft, müde … Sie hatte nur einen Wunsch: Ruhe … Ruhe!!

Sie lehnte in den weichen Polstern und weinte. – –

* * *

Fritz Gerhardi sah Viktor Kardow eilig den Promenadenweg daherkommen, ging ihm entgegen …

„Nun?“ fragte er gespannt …

„Nicht viel, Fritz. Immerhin etwas: der Dritte heißt Derryc, und heute um halb neun abends will er sich bei Maja einfinden. Da gilt’s aufzupassen. – Jetzt aber …“ – Und er zog die kurze Tabakpfeife aus der Tasche – „jetzt zu John Wellers Wirtin. Wir müssen Gewißheit haben, müssen danach alles weitere einrichten …“

Sie gingen zu Fuß bis zum Prager Platz. –

Die verwitwete Frau Amtsgerichtsrat Holty öffnete persönlich die Flurtür.

„Könnten wir Herrn Weller sprechen?“ fragte Kardow sehr höflich.

„Bedauere, – Herr Weller ist nicht zu Hause …“

„Verreist?“

„Das weiß ich nicht. Er ist seit gestern abend nicht wieder heimgekehrt. Allerdings – er ist schon häufiger über Nacht weggeblieben …“

„Wir hätten im Auftrage von P. I. Kerton, Neuyork, etwas sehr Dringendes zu bestellen, gnädige Frau. – Sie kennen die Firma wohl durch Herrn Weller …?“

Gerhardi war überrascht. Dieser Viktor verstand es, Leute auszuhorchen …

Die Amtsgerichtsrätin nickte. „Natürlich kenne ich die Firma … Herr Weller korrespondiert ja sehr lebhaft mit der Lebensversicherungsgesellschaft. – Darf ich meinem Mieter irgend etwas bestellen?“

„Das dürfte auf Schwierigkeiten stoßen, gnädige Frau. Es handelt sich um geschäftliche Dinge. Vielleicht kommen wir abends wieder. – Verbindlichsten Dank …“

Als die beiden Freunde auf die Straße hinaustraten, sagte Viktor Kardow:

„So – nun werde ich allein nochmals mit der Rätin sprechen …“ Er lächelte listig. „Ich werde ihr jetzt die Tabakpfeife zeigen und so tun, als hätte ich sie Weller zurückbringen wollen, der sie irgendwo vergessen hat. Ich werde sehr eilig tun und gleichzeitig auch noch wegen Lotte Reinars antippen … Warte hier …“

Er verschwand wieder im Hause.

Gerhardi mußte Geduld haben. Kardow erschien erst nach zehn Minuten, jetzt aber … strahlend …

„Du siehst so recht erfolggesättigt aus,“ meinte der junge Arzt neugierig.

„Ein Wunder?!“ lachte Kardow. „Du, ich bin vier Minuten allein in Wellers Arbeitszimmer gewesen. Ich brauchte ein Glas Wasser, um Pyramidontabletten zu schlucken: starkes Kopfweh! – Du verstehst! Und diese Minuten genügten für den Schreibtisch und den Papierkorb … – Mach’ kein so entsetztes Gesicht, Fritz! Ich habe nichts gestohlen! Keine Rede davon. Nur … gesehen habe ich: drei Umschläge der Firma P. I. Kerton, und auf der Löschblattunterlage des Schreibtisches in Spiegelschrift Bruchstücke eines Briefes …“

Er schob seinen Arm in den Gerhardis und fügte leiser hinzu:

„Weißt Du, was es mit dieser Lebensversicherungsgesellschaft auf sich hat?! Kennst Du den Namen … Pinkerton?“

„Nein …“

„Dann hast Du nie in Deinem Leben amerikanische Kriminalromane gelesen! Pinkerton – das ist die bekannteste Neuyorker Detektei, ein Weltinstitut, in tausend Romanen und Erzählungen verherrlicht! Ein Institut, das ungeheure Erfolge erzielt hat, das wahre Genies herausfindet, ausbildet, beschäftigt und glänzend bezahlt!“

Gerhardi begriff noch immer nicht …

„Na ja – und …?!“ meinte er gedehnt.

„Nun – John Weller ist eben Angestellter der Pinkerton-Kompagnie! Das ist’s, mein Lieber! Also Detektiv! Das ging aus der Spiegelschrift hervor. Und P. I. Kerton ist eine der vielen Deckadressen der Pinkertons. Also hat Lotte Reinar an diese Detektei telegraphiert, hat Wellers Verschwinden gemeldet und um Verhaltungsmaßregeln gebeten …“

Da war Fritz Gerhardi doch mit einem Ruck stehengeblieben …

„Lotte Reinar wäre demnach ebenfalls Angestellte der Pinkertons?“ fragte er verblüfft.

„Ganz gewiß! Und sie und Weller, mein lieber Fritz, sind hinter demselben Wilde her wie wir: hinter dem Radiogespenst!“

Sie gingen weiter. Gerhardi sagte nichts, überlegte.

Bis Viktor Kardow ungeduldig rief: „He – zweifelst Du etwa noch?!“

„Vielleicht …! – Ich bin der weniger Temperamentvolle von uns beiden, Viktor. Ich möchte Dir etwas mitteilen, was ich gestern zu erwähnen vergaß: Weller hat Lotte Reinar die Stellung bei Maja Granville besorgt! – Und weil mein Mangel an Temperament mich stets an allem sehr kühl Kritik üben läßt, möchte ich im Gegensatz zu Deiner begeisterten Theorie, daß Weller und Lotte das Radiogespenst jagen, weit eher annehmen, daß sie … Frau Maja einzukreisen suchen, Frau Maja, Johnston und diesen Derryc.“

Jetzt war Kardow ehrlich verblüfft. „Hör’ mal, Fritz, – allerhand Achtung! Der Gedanke ist nicht von ohne!! Ich erkläre mich für geschlagen, denn – die Spiegelschrift aus der Löschblattunterlage bestätigt Deine Theorie, wie mir elendem Schwachkopf jetzt erst klar wird. Aus den Bruchstücken des Briefes ließ sich nämlich herauslesen, daß … „die Dinge hier von der anderen Partei zur Entscheidung getrieben werden …“ – So kann ich die Fragmente ergänzen. Und mit der „anderen Partei“ hat Weller natürlich das Radiogespenst gemeint.“

Sie bogen in die Eisenacher Straße ein.

„Um nun auch gleich den Rest zu erledigen …“ fuhr Kardow fort … „Die Tabakpfeife gehört tatsächlich John Weller. Frau Holty erkannte sie an dem Sprung im Pfeifenkopf wieder. – Über Lotte Reinar holte ich aus der gesprächigen Dame ebenso leicht heraus, daß Lotte … Privatsekretärin Wellers ist und in dessen Bureau tagsüber arbeitet. Dieses „Bureau“ liegt natürlich im Phantasieland, existiert gar nicht. Lotte besucht Weller sehr häufig, und die Holty ist ganz verliebt in sie …“

„Wie Du, alter Sohn!“

Viktor Kardow wurde rot, seufzte und sagte:

„Ableugnen hätte keinen Zweck. Ich bin verliebt. Und – ich bin glücklich, daß nun jeder häßliche Verdacht von Lotte Reinar genommen ist.“

„Hm – und ihre Rolle als Spionin bei Maja Granville?“

Kardows zuckte die Achseln …

„Spionin klingt häßlich … Bedenke, Lotte unterstützt ihre Eltern. Das Gehalt, das sie als Gesellschafterin neben der freien Station bezieht, dürfte recht gering sein. Vielleicht – vielleicht ist sie deshalb so ernst und melancholisch, weil ihr diese Rolle widerwärtig ist.“

„Da kannst Du recht haben, Viktor …“

Kardow, nach der kurzen Abschweifung auf das persönliche Gebiet seiner Herzensneigung rasch wieder in Eifer geraten, erklärte jetzt:

„Lotte wollte, da sie bis drei Uhr beurlaubt ist, noch den Kunstsalon Meier in der Potsdamer Straße besuchen. Wenn wir uns beeilen, treffen wir sie dort noch. Sie muß Farbe bekennen. Wir müssen uns mit ihr verbünden. – Rasch – wir benutzen die Straßenbahn …“

 

9. Kapitel.

Vor der Büßerin …

Lotte Reinar saß mit im Schoße verschlungenen Händen im zweiten Ausstellungsraum des Kunstsalons Meier vor dem Bilde der Büßerin von Pierre Bagar in tiefster Ergriffenheit auf einer der Polsterbänke.

Die Unterredung mit Viktor Kardow hatte ihr Inneres weit tiefer aufgerührt, als sie dies anfänglich empfunden hatte.

Klarer denn je war es ihr heute geworden, welch klägliche, ihrer unwürdige Rolle sie im Hause der stets freundlichen und gütigen Maja Granville spielte.

Klarer denn je ahnte sie, daß ihre Beziehungen zu John Weller, daß diese Tätigkeit als Agentin der Pinkerton-Kompagnie sie in den Augen anderer tief herabsetzen mußten.

Und – eines Tages würde es ja doch offenbar werden, welches Doppelspiel sie dort im Hause der Luitpoldstraße trieb. Dann – dann würde sie dieses behagliche Heim als Geschmähte, als … Verachtete verlassen müssen, dann würde auch dieser hochsinnige, neue Freund, den sie in der Person Viktor Kardows gefunden hatte, sich von ihr abwenden … Und – wieder würde sie dann allein im harten Daseinskampfe dastehen – allein – einsam, verurteilt zum traurigen Hinwelken …

Ihr graute vor dieser Zukunft. Hinter ihrer äußeren Herbheit verbarg sich ja ein so heißes, leidenschaftliches Herz, verbarg sich eine so tiefe Sehnsucht nach dem Glück einer eigenen Häuslichkeit …

Sie starrte weltentrückt auf das lebensgroße Gemälde dort an der Wand. Sie sah es heute nicht zum ersten Male.

Und ihre Gedanken irrten weiter … – Nun war John Weller verschwunden, war nicht heimgekehrt … Gerade jetzt, wo sie ihm den Brief hatte aushändigen wollen, – gerade jetzt, wo die Annahme so sehr nahelag, daß ihm bei dem gestrigen Unternehmen etwas zugestoßen sein könnte …

„So versunken, gnädiges Fräulein …?“

Da schaute sie auf, schaute in ein Paar gütige, liebe Augen …

Und neben Viktor Kardow stand Doktor Gerhardi und nickte ihr gleichfalls freundlich zu …

„Leider müssen wir Ihre Andacht schon stören,“ meinte er. „Sie gestatten wohl, daß wir neben Ihnen Platz nehmen …“

Einen Moment durchzuckte es Lotte Reinar wie ein gelinder Schreck. Sofort aber wandelte sich diese Beklommenheit zu einem wahren Glücksgefühl. Sie ahnte, daß die beiden Herren hier nicht zufällig erschienen waren. Sie war sogar überzeugt, daß Maja Granville jetzt hier abermals den Gesprächsstoff bilden würde, – Frau Maja und das verhängnisvolle The pile of wood.

Gerhardi hatte sich schon neben sie gesetzt. Auch Kardow tat’s nun, wenn auch zögernd. Ihm erschien dieser feierliche Raum wenig passend für das, was nun erörtert werden sollte.

Er schaute sich um …

Nicht ein einziger Besucher war hier außer ihnen dreien anwesend. Das beruhigte ihn.

Und dann nahm er das Wort, begann ganz sachlich zu sprechen, mit gedämpfter Stimme …

Erklärte Lotte Reinar, wie es gekommen, daß Gerhardi und er sich entschlossen hatten, das Geheimnis des The pile of wood zu enthüllen …

Berichtete die gestrigen, die heutigen Erlebnisse, schonte sich selbst dabei in keiner Weise, gab zu, daß er Lotte verfolgt, beobachtet und sich auf dem Postamt an sie herangedrängt hatte …

Schonte aber auch Lotte nicht, sagte, daß er nun bestimmt wüßte, daß sie Agentin der Pinkertons und eine Verbündete John Wellers sei. –

Lotte Reinar unterbrach ihn nicht ein einziges Mal. Nur zuweilen nickte sie versonnen und blickte zuweilen Viktor Kardow ohne Scheu an, wenn er irgend etwas ganz besonders eindringlich und logisch entwickelte.

Zum Schluß meinte er ein wenig zaghaft:

„Wir haben nun vor Ihnen, gnädiges Fräulein, all unsere Karten aufgedeckt. Jetzt ist es an Ihnen, uns zu beweisen, daß wir uns in Ihnen nicht getäuscht haben.“

Lotte schaute ihn an – mit ruhigem Blick …

„Das haben Sie nicht, Herr Kardow … Ich bin froh, daß ich mich Ihnen beiden nun anvertrauen darf. Ich will sofort betonen, daß Ihre Schlußfolgerungen in allen Punkten stimmen: ich bin Agentin der Pinkerton-Kompagnie! Ich war aus meiner Stellung im September des Vorjahres entlassen worden, weil ich dem Herrn Chef zu – kühl war. Ein Zufall ließ mich Wellers Annonce finden. Ich meldete mich. Die Not in meinem Elternhause zwang mich zuzugreifen. Weller brachte mich dann bei Frau Granville unter, die von der Detektei Pinkerton im Auftrage der Neuyorker Lebensversicherungsgesellschaft Continental beobachtet werden sollte. Weshalb – das erklärt Ihnen dieser Brief des – Radiogespenstes …“

Sie entnahm das Schreiben ihrem Handtäschchen und reichte es Kardow, fügte hinzu:

„Oder – wenn Sie wünschen, lese ich es Ihnen beiden leise vor …“

„Bitte darum …“ –

Lotte Reinar las:

Frau Granville!

Ich habe Ihnen bereits zwei Warnungen zugehen lassen. Einmal die Adresse auf dem Karton, den Ihre Schneiderin Ihnen brachte, dann gestern abend dasselbe Stichwort durch den Lautsprecher. Ich nenne mich … Radiogespenst. Mit einigem Recht, wie Sie nach dem gestrigen Abend einsehen werden. Genau wie die elektrische Welle, die Ihnen das The pile of wood, Scheiterhaufen, übermittelte, nicht greifbar, eben etwas Unsichtbares, Unfaßbares ist, – ebenso wenig wird man mich jemals ermitteln können, mich, das Radiogespenst. – Die Wirkung des The pile of wood auf Sie war dieselbe wie auf Ihre beiden Mitschuldigen Johnston und Derryc, – ein Beweis, wie sehr Sie drei sich schuldig fühlen, wie niederschmetternd diese jäh in Ihnen erweckte Erinnerung an den … Scheiterhaufen gewesen, auf dem Sie einst in aller Heimlichkeit Ihren Gatten verbrannt haben …

Sie merken schon: ich weiß alles – alles! Ich weiß, daß Sie gestern in Schreikrämpfe fielen, daß Johnston ohnmächtig wurde und daß Derryc eine halbe Flasche Kognak brauchte, um das Entsetzen loszuwerden.

Ich bin ein Gespenst, nicht gebunden an Zeit und Raum …

Ich war auf Ihrer Plantage auf Kuba dabei, als Oberst Granville sich … angeblich durch ein Versehen selbst vergiftete, als Ihr Verehrer Johnston Ihnen den Rat gab, Granvilles Leiche nicht durch einen Arzt untersuchen zu lassen. Ich war dabei, als Johnston und Derryc als Zeugen den Totenschein unterschrieben und so als amerikanische Bürger an Eidesstatt bestätigten, daß Granville einem Schlaganfall erlegen …

Ich war auch dabei, als der leere, durch Steine beschwerte Sarg im Parke in die Gruft gesenkt und als in der Nacht dann mitten in der Wildnis der Lanabar-Berge der Scheiterhaufen aufflammte …

Und oben auf den Hölzern des pile of wood, oben in der Gluthitze der flammenden Scheite verbrannte der … Beweis, daß … Sie Ihren Gatten vergiftet hatten, weil er infolge seiner Trunksucht und Roheit Ihnen verhaßt und widerwärtig geworden.

Die rote Glut des Scheiterhaufens beleuchtete die blassen Gesichter der drei Mitwisser dieses Verbrechens.

Ein doppeltes Verbrechen, da Oberst Granville sein Leben bei der Gesellschaft Continental in Neuyork mit einer halben Million Dollar versichert hatte, eine Summe, die Ihnen dann infolge des von den beiden einwandfreien Zeugen unterzeichneten Totenscheins anstandslos ausgezahlt wurde.

Ich weiß, daß das schlechte Gewissen Sie dann aus Kuba fort nach Berlin trieb, daß Sie hier die Stimme dieses Gewissens durch rauschende Vergnügungen zu betäuben suchten und daß Ihre Nerven doch immer mehr verbraucht wurden. –

Frau Granville! Die Stimme des Gewissens ist durch eine andere Stimme verstärkt worden: durch die meine, durch die des Radiogespenstes!

Sie haben schwere Schuld auf sich geladen: Mord, Leichenbeseitigung, Betrug, Urkundenfälschung – anderes noch!

Ich will Sie schonen. Aber es wäre ein Hohn auf alle menschliche und göttliche Gerechtigkeit, wenn Sie, die Mörderin, fernerhin in Wohlleben, in Reichtum Ihre Tage verbringen würden.

Sie besitzen insgesamt ein Barvermögen von einer Million dreimalhunderttausend Dollar. Sie werden also dem Bankhause Rupter in Neuyork, das Ihr Vermögen verwaltet, binnen vierundzwanzig Stunden nach Empfang dieses Briefes durch Radiodepesche Auftrag geben, von Ihren Wertpapieren 750 000 Dollar an einen Mann auszuhändigen, der sich als Advokat Edward Howard Euston genügend ausweisen wird.

Ihren beiden Mitschuldigen habe ich in ähnlicher Weise Strafen von 250 000 beziehungsweise 150 000 Dollar auferlegt.

Sie werden mir heute abend halb zehn durch einen Funksender, der sich leicht an Ihren Lautsprecher anschließen läßt, mit Welle 510 als Zeichen Ihres Einverständnisses nur das Stichwort The pile of wood zukommen lassen …

Johnston und Derryc haben denselben Befehl erhalten, nur für je eine halbe Stunde später.

Sofern ich, das Radiogespenst, diese drei Stichworte heute nicht abhöre, decke ich Ihre Verbrechen auf. –

Merken Sie sich meine Befehle und verbrennen Sie Umschlag und Brief unverzüglich.

Das Radiogespenst.

Lotte Reinar faltete den Briefbogen wieder zusammen. „Ich brauche nur noch hinzuzufügen,“ sag sie leise, „daß die Continental-Gesellschaft irgendwie gegen Frau Granville Verdacht geschöpft und daher die Pinkertons beauftragt hat, den wahren Sachverhalt zu ermitteln, denn – falls ein Mord an Oberst Granville vorliegt, hätte die Gesellschaft der Mörderin die Versicherungsumme nicht auszuzahlen brauchen.“

Kardow und Gerhardi fanden zunächst überhaupt keine Worte, so erschütternd hatten diese Anklagen gegen die schöne Frau auf sie gewirkt.

Dann fragte Gerhardi mit ganz farbloser Stimme:

„Halten Sie denn Maja für fähig, derartige Verbrechen zu begehen, Fräulein Lotte?“

„Niemals!“ Und ihr offener Blick bewies ihre volle Aufrichtigkeit. „Niemals! Auch John Weller meint, daß hier von Mord keine Rede sein kann. Trotzdem: es ist wohl sicher, daß der Oberst Granville wirklich heimlich verbrannt worden ist, und – es ist möglich, betonte Weller stets, daß Granville Selbstmord begangen hat. Und auch in diesem Falle wäre die Continental-Gesellschaft von der Zahlungspflicht befreit.“

Gerhardi atmete erleichtert auf …

Und Viktor Kardow sagte dann nach kurzem Nachsinnen:

„Wenn wir von Frau Maja die Wahrheit erfahren wollen, die sie freiwillig kaum preisgeben wird, müssen wir sie heute abend überraschen. Um halb zehn soll sie dem Radiogespenst das Stichwort übermitteln. Ihre Aufgabe, gnädiges Fräulein, wird es sein, uns heimlich in die Wohnung einzulassen. Wenn wir dort dann Frau Maja und Derryc für unseren Plan zur Entlarvung dieser Erpresser gewonnen haben, werden wir dem Grafen Piamela einen Besuch abstatten …“

 

10. Kapitel.

Die Stunde der Entscheidung.

Abends um acht Uhr erklärte Lotte Reinar Frau Maja, daß sie sofort zu Bett gehen würde. Sie habe starkes Kopfweh.

Sie zog sich dann auch in ihr Zimmer zurück.

Maja war froh, daß auf diese Weise das Fräulein sie gerade heute allein ließ. Die Köchin und die Zofe hatte sie beurlaubt, hatte beiden Geld zum Besuch eines Kinotheaters geschenkt.

Nun … war sie allein …

Allein in dem Salon, wo in der Ecke hinter dem Gebetteppich der schwarze Trichter drohte …

Drohte er wirklich noch?!

Nein – nein, in Majas Seele war jetzt mit dem festen Entschluß, diese Erpresser zum Schweigen zu bringen, endlich Ruhe und Frieden eingezogen.

Der Brief des Radiogespenstes sprach von Strafe, von einer Sühne …

Und Maja wollte diese Strafe auf sich nehmen.

Mit wehem Lächeln dachte sie wieder an Fritz Gerhardi …

Das – das war nun vorbei. Gerhardi mußte eine reiche Frau heiraten …

Vorbei …!! –

So versunken war sie in all diese Gedanken, die weither und wieder auch von so nah auf sie einstürmten, daß sie gar nicht darauf achtete, daß die Küchentür im Nebenflur leise knarrte …

Und gerade da schlichen Gerhardi und Kardow in Lotte Reinars Zimmer. Sie waren über die Hintertreppe gekommen. –

Um halb neun fand sich Derryc pünktlich ein, hatte einen Koffer mit, den er nun im Salon auspackte.

Die Unterhaltung zwischen ihm und Maja, war einsilbig und gequält.

Maja schaute zu, wie er den Sender montierte …

Und sagte dann plötzlich:

„Von heute abend halb zehn ab bin ich arm …“

Derryc wandte sich um, schaute Maja an und beugte sich wieder über den Tisch mit den Apparaten.

Erst nach einer Weile meinte er leicht verlegen:

„Ihnen wird noch immer so viel bleiben, daß Sie nicht gerade …“

„Lassen wir’s ruhen, Derryc,“ unterbrach sie ihn.

Und abermals Stille … –

Nebenan im Musikzimmer standen Gerhardi und Kardow hinter der Türportiere, hatten jedes Wort gehört …

Die Zeit verrann …

Derryc sah nach der Uhr … Fragte nochmals – mehr zum Schein – Frau Maja mit unsicherer Stimme:

„Es bleibt also bei Ihrem Entschluß?“

Sie nickte nur … – –

Halb zehn … Nein – Sekunden fehlten noch …

Kardow schlug die Vorhänge weiter auseinander.

Jetzt – jetzt hantierte Derryc an den Hebeln …

Rief leise:

„Frau Maja – – bitte!“

Sie erhob sich, trat vor den schwarzen Trichter, der jetzt die Entscheidung durch die elektrischen Wellen in die Ferne tragen sollte …

„Bitte!“ sagte Derryc wieder …

Es war genau halb zehn …

Und Frau Maja sprach laut und klar in den Trichter hinein:

The pile of wood!

Derryc schaltete die Apparate um.

Es – – war geschehen … Maja Granville hatte dem Radiogespenst den Willen getan …

„Verzeihung!“ – Gerhardi trat rasch ein, hinter ihm Viktor Kardow …

Maja fuhr mit leisem Schrei herum … – – –

Und eine halbe Stunde später trat Derryc vor den Trichter …

Auch Lotte Reinar war jetzt Zeugin dieser Szene, saß neben Maja auf dem Brokatsofa – Hand in Hand mit ihr …

Majas Augen waren noch leicht gerötet vom Weinen. Und strahlten doch immer wieder Gerhardi und Kardow dankbar an … –

Derryc hatte die Uhr in der Hand …

Elf Uhr …

Da – sprach auch er das Stichwort in den Trichter hinein …:

The pile of wood …!

– Und wieder eine halbe Stunde drauf schickte der dritte der Schuldigen, Johnston, seine Zustimmung durch die elektrischen Wellen ins Weite – in seinem eleganten Heim, – allein …

Zur selben Zeit waren die fünf Personen, die bis dahin im Salon Frau Majas versammelt gewesen, Viktor Kardows Gäste in dem engen Mansardenstübchen.

Um halb zwölf hatten die Erpresser sich ja ihrer gestrigen Vereinbarung gemäß auf Welle 510 wieder verständigen wollen.

Dieses Gespräch gedachte Kardow seinen Gästen durch seinen Lautsprecher vernehmbar zu machen. Und dieses Gespräch sollte die Verbrecher überführen …

Wenige Minuten vor halb bereits in dem Trichter das kennzeichnende Knattern und Rauschen …

Und dann – dann dieselbe volle, klangreiche Frauenstimme wie gestern. Wieder italienische Worte:

„Achtung! – Zur Stelle, Seppo?“

„Zur Stelle! – Ihr habt’s gehört, nicht wahr?! Sie ist bereit – zu allem! Die beiden anderen auch! Wir haben gesiegt, Emanuela, – – endlich, endlich!“

Und die Frauenstimme wieder:

„Ja – gesiegt! Wir feiern’s hier – – mit Schaumwein, Seppo! – Jetzt kannst Du dort abbauen und zu uns kommen … Wenn Du ein Auto nimmst, bist Du in einer Stunde bei uns!“

„Gut – ich komme! Grüße Cesare … Wiedersehen!“

„Wiedersehen!!“ –

Der Trichter schwieg …

Frau Maja hatte sich langsam erhoben, als die Frauenstimme zum ersten Male erklang …

Frau Maja hatte sich schwer auf den Tisch gestützt, stand noch immer wie erstarrt, die Augen auf den schwarzen Trichter gerichtet …

Wandte nun den Kopf nach Derryc hin …

„Derryc – Derryc!“ rief sie bebend, „Derryc, jetzt – jetzt kenne ich die Anstifterin – das … Radiogespenst: es ist Emanuela, meine italienische Zofe, die auf Kuba acht Monate in meinem Dienst war …! Emanuela, die nachher mit meinen Brillanten verschwand …!!“ – –

Und um ein Uhr morgens hielt ein Mietauto vor dem Hause Kufsteiner Straße 108.

Ein kleiner, schwarzbärtiger, geschmeidiger Herr im Sportpelz stieg aus, stellte seine beiden Koffer auf den Bürgersteig und lohnte den Chauffeur ab …

Schloß jetzt die Haustür auf, drinnen die Fahrstuhltür und fuhr mit seinen Koffern nach oben – bis in den vierten Stock, mußte nun noch die letzte Treppe zu Fuß bis zur aufgestockten fünften Etage hinan …

Läutete an des Grafen Piamela Flurtür …

Brauchte nicht lange zu warten … Emanuela mit dem hellblond gefärbten Haar öffnete …

„Ah – Seppo …!! Endlich … Wir haben …“

Sie schwieg … prallte zurück …

Aus dem Dunkel des Ganges, der zur Bodentür führte, waren zwei grelle Lichtkegel aufgezuckt …

Und Derryc und Gerhardi sprangen zu …

„Keinen Laut!“ drohte Derryc leise …

Mattglänzende Repetierpistolen ließen die beiden Überrumpelten auf jeden Widerstand verzichten …

Kardow hatte Lederriemen bereit.

Man wollte sicher gehen … Man schnallte den beiden im Nu die Hände auf dem Rücken zusammen.

Dann drangen Kardow und Derryc in das hell erleuchtete Herrenzimmer des Grafen Piamela ein, der rauchend mit weinseligen Augen im Klubsessel lag, neben sich auf dem Tische den gefüllten Sektkelch …

Derryc sagte ironisch: „Gestatten Sie, Graf: hier Herr Viktor Kardow, der das … Radiogespenst entlarvt hat!“

Und wieder stierten hier glasige, entsetzte Augen eines völlig überraschten Verbrechers in die schwarzen runden Löcher drohender Schußwaffen.

Kardow trat näher an den regungslosen blassen Mann heran … „Ihre Hände, bitte!“ meinte er befehlend. Packte auch schon zu, schlang den Riemen um die zarten Gelenke des Klavierkünstlers … –

Gerhardi führte Emanuela und Seppo herein. Sie mußten auf dem Klubsofa Platz nehmen. Ihre fahlen Gesichter waren verzerrt vor ohnmächtiger Wut.

Kardow wandte sich an Piamela: „Wo haben Sie John Wellers Leiche gelassen? Sie haben ihn gestern nacht auf dem Dache dort wahrscheinlich niedergeschlagen. Ich fand seine Tabakpfeife neben dem Schornstein …“

Emanuela kreischte: „Er lebt … er lebt! Wir … wir wollen alles eingestehen. Wir haben ihn gefesselt und geknebelt dort im dritten Zimmer auf dem Bett festgebunden …“

Kardow und Derryc eilten hinaus – holten John Weller, der vor Erschöpfung kaum gehen konnte …

Matt sank er in einen Sessel. Um seinen Hinterkopf war ein kunstloser Verband geschlungen.

„Wir werden die Sache hier rasch zu Ende bringen,“ sagte Derryc kurz. „Es wird auch Sie interessieren, Mr. Weller, daß Oberst Granville tatsächlich aus Versehen sich vergiftet hat. Da es jedoch zwischen ihm und seiner Gattin am selben Tage eine sehr heftige Szene gegeben hatte, fürchtete Johnston, daß durch Dienstbotengeschwätz der Verdacht entstehen könnte, Frau Maja habe ihren Mann beseitigt. So unterließen wir es denn, einen Arzt hinzuzurufen. Und leider, leider entschlossen wir uns dann weiter, Granvilles Leiche zu verbrennen, füllten auch den Totenschein falsch aus. Wir drei haben uns also tatsächlich schuldig gemacht. Wir mußten daher auch diesen Erpressern den Willen tun, die wir ja bis heute abend nicht kannten. Nun aber liegen die Dinge doch etwas anders. Diese Schurken haben Sie, Mr. Weller, niedergeschlagen und wollten Sie hier wahrscheinlich solange gefangen halten, bis sie den Raub in Sicherheit gebracht hätten. Außerdem hat Emanuela Frau Granville aber auch bestohlen. Wir schaffen die Sache also wohl am besten dadurch aus der Welt, daß wir diese drei Schufte laufen lassen, nachdem sie schriftlich ein Bekenntnis ihrer Verbrechen abgegeben haben. Sie, Mr. Weller, erhalten ein Schmerzensgeld, und Frau Granville zahlt der Versicherung, damit auch die zum Schweigen bestimmt wird, die Lebensversicherungssumme zurück. So ist es zwischen uns vereinbart worden …“

Weller nickte. „Von mir aus – einverstanden.“

Die drei „Macher“ des Radiogespenstes mußten sich gleichfalls einverstanden erklären. Was blieb ihnen anderes übrig?!

* * *

Und vierzehn Tage später feierte man bei Frau Maja Granville eine Doppelverlobung …

Im Salon in der Ecke stand noch immer der Lautsprecher … Heute meldete sich jedoch kein … Radiogespenst. Heute erklangen aus dem schwarzen Trichter heitere Walzerklänge … –

Frau Maja zeigte den Gästen stolz die Zeichnung der Gesamtansicht des Sanatoriums, das sie an einem der Havelseen erbauen lassen wollte …

Und Hand in Hand standen Lotte Reinar und Viktor Kardow am Fenster und … wußten, daß eine schöne, sorgenfreie, glückliche Zukunft vor ihnen lag … eine Zukunft, die ihnen Maja Granville gesichert hatte …

Aus der Asche des drohenden pile of wood war neues Leben, neue Liebe erblüht …

 

Ende!

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Karding“.
  2. In der Vorlage steht: „irgenwdie“.
  3. In der Vorlage steht: „Wohnug“.
  4. In der Vorlage steht: „hierhr“.