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Das Teufelsriff

 

 

Walther Kabel

 

Das Teufelsriff

 

Ein Abenteuerroman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der Teufel.

Glattes Meer …

Eine träge Dünung, als ob ein riesiges, matt metallisch glänzendes Tuch in seiner wagerechten Lage von schwachen Windstößen fortlaufend aufgebauscht wird …

Ein matt metallisch glänzendes Tuch, die See vor dem Hafen von Liverpool, punktiert vom Widerschein der zahllosen Sterne am klaren Firmament …

Und dort in der Ferne andere leuchtende Punkte … Ganze Reihen …

Deutlicher und deutlicher sich abhebend vom finsteren Strich der Küste, über der am nächtlichen Himmel der helle Kreis des Lichtscheins der Hafenstadt lagert …

Und ruhig und stetig zieht das prächtige Schiff, das schwimmende Luxushotel, seine Heimatsbahn dahin …

Ruhig … stetig … –

Das dumpfe Dröhnen aus dem Maschinenraum verklingt hier auf dem Promenadendeck zu schwächstem Brausen …

Ruth Gabor lehnt an der Reling …

Sagt zu Hektor Tschark, der breitbeinig, den finsteren Gladiatorenkopf etwas vorgereckt, dicht neben ihr steht:

„Ein wundervolles Bild, Mr. Tschark … – Kennen Sie Jules Verne, – seine Reise um die Welt in … ich glaube siebzig Tagen?[1] Kennen Sie die Szene, wie der Held des Romans mit seinem halb zerstörten Dampfer sich Liverpool nähert, wie da die Lichter des Hafens ihn grüßen, den scheinbar Besiegten?“

Hektor Tschark, die erlesene Zigarette im linken Mundwinkel, nickt nur …

Seine Gedanken sind anderswo …

Nicht weit ab von der Silvania, die ahnungslos ihren Kurs hält …

Nicht weit ab – nur dort drüben, wo vorhin ein Schiff ohne Positionslaternen wie ein schwarzer Schatten aus dem Grau der Ferne sich herausgeschält hat …

Ein schlanker Schatten – flink – unheimlich flink.

Und – noch immer ohne Positionslaternen – noch immer …

Dabei ist’s zwölf Uhr nachts … –

„Weshalb so schweigsam?“ fragt die Filmdiva gedehnt …

Ihre Seele möchte sie ausbreiten vor diesem ersten Manne, der ihr – nicht gehuldigt hat, der sie begeistert, weil er – Mann ist …

Ihr Herz krampft sich zusammen …

Noch wenige Stunden, und sein und ihr Weg trennen sich wieder, vielleicht für immer …

Sie weiß kaum mehr, was sie spricht, die kluge Ruth Gabor, die Dame von Welt, der verwöhnte Liebling von Millionen …

Sie fühlt, daß ihr Hirn leer ist vor Angst der Tage wegen, die nun kommen müssen, Tage des Sehnens nach diesem eigenwilligen, selbstbewußten und doch so aufreizend bescheidenen Menschen, den des Zufalls höhnisches Intrigenspiel ihr hier auf der Silvania zum Tischnachbarn gegeben …

Nie hatte Ruth Gabor vorher den Namens Hektor Tschark gehört …

Und heute, nach fast fünf Tagen, wußte sie noch nicht, was er war, woher er kam, wohin er sich von Liverpool aus wenden würde.

Niemand kannte ihn – niemand …

Nie sprach er über sich selbst – nie …

Ein Rätsel – ein Rätsel, und doch fraglos eine Persönlichkeit von alles umfassender Intelligenz. Ein Mann, der über technische Fragen der Neuzeit genau so sicher sich ausließ wie über die Kulturepoche eines Ramses des Zweiten oder über die allerjüngsten Marsbeobachtungen … –

„So schweigsam?“ wiederholte Ruth nochmals und wandte ihm ihr feines Gesichtchen voll zu …

„Da – sehen Sie …“ sagte Tschark nur.

Seine Hand, schmal, lang, braun und doch die Hand eines Gentleman, deutete auf den flinken Schatten …

„Da, Miß Gabor, das gefällt mir nicht …“

„Ein Dampfer – ein kleiner Dampfer …“ Sie zuckte die Achseln …

„Der sich in unseren Kurs schiebt – ohne Lichter, der wie ein Torpedobootzerstörer gebaut ist … – – Ja – da haben wir’s!“

Und dieses letzte folgte, als die grelle Lichtbahn eines Scheinwerfers die Decks der Silvania getroffen hatte, als plötzlich fast im selben Augenblick ein dumpfes Krachen ertönte und die vier Riesenschlote des Riesendampfers metergroße Löcher zeigten …

„Tadellos gezielt – ein einziger Schuß!“ meinte Tschark …

„Ein Schuß …?“

Ruth Gabor verstummte …

Ein Angstgeheul wirbelte von den mit Passagieren angefüllten Decks zum Nachthimmel empor … –

Kapitän Gollfreed auf der Kommandobrücke war aschfahl geworden …

„Verdammt … verdammt …!!“ Er schnappt erst nach Luft. „Verdammt, Spencer, be…begreifen Sie das? Ein Schuß – in jedem Schornstein Riesenlöcher – – und kein Knall?“

„Und das im Mai 1924 …!“ murmelte der Erste Offizier verstört.

Der eine Signalgast kam gelaufen …

„Käp’ten, die Schufte geben’s Signal „Sofort stoppen“! – Signal mit Laternen, Käp’ten …“

Gollfreed stierte geradeaus auf das schlanke, grauschwarze Schifflein …

Und da – mit hohlem Sausen ein zweites Projektil!

Fegte wieder durch die Schornsteine …

Der zweite knickte um …

Prasselnd, knirschend …

Neues Angstgeheul schrillte über die Decks …

„Moderne Piraten,“ erklärte Tschark und sein Gesicht wurde einen Schatten dunkler. Das Blut stieg ihm in die gebräunten, hageren Wangen. Die Augen zogen sich schmal, zu engen Sehschlitzen …

Ruth lächelte …

„Piraten?!“

„Bitte, Miß, am 3. März wurde im Gelben Meer der Dampfer Shamon Darl von chinesischen Seeräubern überfallen, am 28. März der Dampfer …“

Ruth umklammerte seinen Arm …

„Wir – wir stoppen …“

„Ja – und das Fallreep geht hinab … Kapitän Gollfreed will sich die Schlote nicht total kaputtschießen lassen …“ –

Angesichts des Hafens von Liverpool stürmten dreißig Kerle in einer Art Phantasieuniform mit den gleichen schwarzen Vollbärten, die falsch sein mußten, das Fallreep empor …

Die Gürtel voller Handgranaten, in der Linken jeder eine lange fünfzehnschüssige Gramlypistole, in der Rechten runde, schwarze, kindskopfgroße Bälle …

Dem Trupp folgten zehn andere, nur mit Pistolen, mit Tragriemen über der Schulter …

Und diesen folgte ein Einzelner …

„Fastnacht!“ meinte Tschark …

Der Einzelne jagte wie ein roter Schatten die Kommandobrücke empor, während seine Bande im Nu die Decks und Treppen besetzt hatte …

Vor Kapitän Gollfreed stand der Rote …

In fast malerischer Pose …

Feuerrot sein altdeutsches Wams, feuerrot der flatternde Umhang, feuerrot das in die Stirn gekämmte Haar …

Und zwischen den Stirnsträhnen hervorlugend zwei Hörner, zwei Bockshörner …

Und das Gesicht wie die Theatermaske des Beelzebub zurechtgemacht: dicke schwarze, über der weißen Nase zusammenlaufende Augenbrauen … Augen dazu von unheimlichem Feuer … Pechschwarz der Spitzbart, und weiß geschminkt die Wangen …

Stand so vor dem erdfahlen Gollfreed …

Grinste … satanisch …

„Kapitän, bitte den Schlüssel zur Tresorkammer. Amerikas überflüssiges, durch das Blut des Weltkrieges zusammengescharrtes Gold wird nie die Gewölbe der Bank von England sehen …!“

Gollfreed japste …

„Ah – – so – – so ist’s gemeint!! Schurke, Lump, eher wirst Du’s erleben, daß John Gollfreed …“

Der rote Teufel hatte plötzlich die Linke emporgereckt, und diese Hand leuchtete – alle Finger leuchteten, sprühten …

Mit hartem Knall explodierten auf dem Oberdeck fünf Handgranaten …

Rissen den vordersten Schornstein weg …

Gollfreed taumelte zurück …

„Meine rechte Hand empor – und ein paar Dutzend Tote!!“ sagte der rote Satan ebenso gleichmütig in seinem tadellosen Englisch. – –

Ruth Gabor lehnte an Hektor Tscharks Brust …

Der Schreck der fünf Explosionen, der Luftdruck hatte sie in seine Arme getrieben …

Er stützte sie …

Blickte zu ihr hinab … In den dunklen Augen lag Weichheit, lag etwas, das Ruth bisher nie bemerkt …

Sie – hoffte …

Ihr Hirn war leer …

Sie flüsterte: „Wer – sind Sie?“

Im grellen Strahlenkegel des Scheinwerfers des Piraten standen sie …

Der rote Teufel schritt vorüber. Hinter ihm die zehn mit den breiten Ledertragriemen …

Blieb stehen, schaute sich um …

Ruth begegnete den flammenden Augen …

Zitterte, umklammerte Tschark, versteckte ihr Gesicht …

Der Freibeuter eilte weiter … –

Die fünf Kisten mit Gold, jede zwei Zentner schwer, jede zwanzig Barren Reingold enthaltend, wurden in die beiden Motorpinassen der Piraten geschleppt, hingen in den Eisenhaken der breiten Tragriemen … –

Ruth Gabor blickte zu Tschark empor …

„Wer sind Sie?“ fragte sie wiederum … Und fügte hinzu: „Haben Sie doch Erbarmen mit mir!“

Tscharks Augen erloschen …

Sein Gesicht ward Stein …

„Ich heiße Hektor Tschark, und ich war einst etwas, Miß Gabor, – – einst … Jetzt bin ich – ein Nichts!“

Er machte sich sanft von ihr frei.

„Leben Sie wohl, Miß …“

Ging … – –

Auf der Brücke stürzte Gollfreed in das Funkerhäuschen.

„Hölle und Teufel, Rigley, – los doch, – – funken Sie … nach Liverpool – an alle englischen Stationen!“

Der Telephonist, die Kopfhörer aufgeklemmt, tat eine verzweifelte Handbewegung nach oben – als wollte er den Himmel für diesen Überfall verantwortlich machen …

„Käp’ten, – Antennen zerrissen …! Unmöglich! Bin lahmgelegt …!“

Gollfreed stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus …

 

2. Kapitel.

Howard Garden.

Die Silvania hatte am Kai festgemacht …

Gollfreed, der durch Lichtsignale das Geschehene bereits kurz der Hafenpolizei gemeldet hatte, empfing den Vizeadmiral Botterfly am Fallreep …

Der Admiral hörte mit verkniffenen Lippen zu … Und fünf Minuten später jagten zwei Torpedobootdivisionen in die offene See hinaus, – eine Viertelstunde drauf das Kreuzergeschwader. –

Ruth Gabor wartete im Kabinengang auf Hektor Tschark.

Er würde ja fraglos wie die meisten Passagiere sofort die Silvania verlassen und den Nachtschnellzug zur Weiterfahrt benutzen …

Ihr Hirn war leer …

Sie mußte wissen, was hinter diesem Manne steckte, der ihr, selbst ein Rätsel, zum Abschied neue Rätsel aufgegeben hatte …

Im Kabinengang ein ewiges Hasten und Lärmen …

Stewards mit Koffern, Herren mit Handtaschen, Damen mit noch immer verstörten Augen …

Kein Tschark …

Da fragte Ruth den einen Steward. Sie wußte, der hatte Kabine 12 mit bedient …

„Oh – Mister Tschark scheint bereits an Land zu sein,“ erklärt der Steward. „Da – die Tür ist halb offen. Die Kabine leer …“

Und eilte weiter.

Ruth vergaß alles … Mochten gehässige Gerüchte entstehen! Ihr gleichgültig …!

Sie stieß die Tür vollends auf, trat ein …

Auf dem Bett zwei aufgeklappte leere Koffer … Auf dem Schreibpult Geld, ein Zettel:

Für Steward Lewis Hook.

Ruth Gabor stützte sich auf die Pultplatte …

Unter ihren Füßen öffnete sich ein Schlund … Ein Wirbel riß sie hinab …

Aber sie zwang die Nerven zur Ruhe, verließ die Kabine.

„Miß Holler,“ erklärte sie in ihrer Kabine ihrer Gesellschafterin, „wir werden den Schnellzug nach London nicht benutzen. Fahren Sie mit dem Gepäck ins Hotel Vanderbilt voraus und geben Sie sofort eine Depesche an Impresario Sallstein auf, daß ich die europäische Tournee wegen Krankheit absagen muß. – Ich komme in einer Stunde nach …“

Miß Holler ahnte …

„Sallstein wird ein ärztliches Zeugnis und Entschädigung verlangen,“ warnte sie.

„Er soll beides haben. – Also in einer Stunde, Hotel Vanderbilt.“

Und Ruth Gabor begab sich vom Kai zur Autohaltestelle. Fand nur noch eine elende Pferdekutsche.

„Können Sie mir einen erstklassigen Privatdetektiv empfehlen?“ fragte sie den verschlafenen Lenker …

Der alte Mann nickte …

„Ja Miß, … erstklassig: Mister Howard Garden, ein Gentleman! Um die Zeit ist er meist im Unionklub. – Hat man Ihnen was gestohlen?“

„Das Beste, was ich hergeben kann … – Fahren Sie zum Unionklub …“ – –

Howard Garden und sechs andere Klubmitglieder saßen im Lesezimmer vor dem Lautsprecher und vernahmen in schnarrenden Worten aus dem Trichter die Nachtdepeschen, die Nachtpresse …

„Piratenüberfall auf die Silvania dicht vor dem Hafen von Liverpool.“ –

Und dann kamen die Einzelheiten …

Ein Diener trat ein, schlich lautlos neben Gardens Sessel und reichte ihm auf silbernem Teller eine Karte:

Ruth Gabor,

darunter mit Bleistift:

in sehr dringender Angelegenheit.

„Führen Sie die Dame in das Vorstandszimmer,“ befahl Garden dem Diener und erhob sich, steckte die Karte ein und trank seinen Eispunsch aus. –

Ruth war enttäuscht, als sie nun diesem englischen Gentleman im Frack gegenüberstand.

Ein Frack, der wie angegossen saß und eine Knabenfigur eng umschloß …

Ein rosiges, längliches Gesicht mit weichen Zügen, dunkelgraue, listige Augen und ein Mund, der viel zu charakterlos feingeschwungen für einen Mann war.

Garden seinerseits musterte Ruth Gabor mit dem zurückhaltenden Interesse des wohlerzogenen Weltmenschen …

„Nehmen Sie bitte Platz, Miß Gabor …“

Seine Stimme war fast melodisch …

Ruth zögerte. Sollte sie diesem eleganten Dandy, der so zart nach Parfüm duftete, wirklich ihr Anliegen vortragen?

Garden lächelte ganz wenig. „Ich imponiere zu Anfang nie, Miß Gabor. – Sie kommen von der ausgeplünderten Silvania. In allen Zeitungen war’s zu lesen, daß Miß Ruth Gabor sich während der Überfahrt hauptsächlich mit einem Herrn beschäftigt hat, der so etwas den Geheimnisvollen spielte – ein Mister Hektor Tschark. – Das ist der Nachteil der Funkeinrichtungen an Bord, Miß: berühmter Passagiere Tun und Lassen erfährt die ganze Welt! Mitten vom Ozean her!“

Er wurde ernst – so ernst sein heiteres Knabengesicht werden konnte …

„Ich vermute, dieses Mister Tschark wegen sind Sie hier. – Bitte, setzen Sie sich doch …“

Ruth ließ sich in den Sessel nieder. Sie schätzte Garden bereits anders ein. Sie begann …

„Tschark hat also seine offenbar nur mit Ballast gefüllt gewesenen Koffer zurückgelassen,“ warf Garden ein. „Wahrscheinlich ist er verkleidet von Bord gegangen. Geben Sie mir bitte den Zettel, den er für den Steward hinlegte …“

Ruth reichte ihm den Zettel.

„Rundschrift – sehr schlau!“ nickte Garden … „Nun, immerhin wird der Zettel Fingerabdrücke Tscharks uns liefern, Miß … – Wünschen Sie Nachforschungen ohne Rücksicht auf die Kosten?“

„Ich wünsche über diesen Mann alles zu erfahren, was sich irgend ermitteln läßt. Ich werde Ihnen tausend Pfund Vorschuß anweisen, Mister Garden.“

„Bitte nicht, Miß Gabor. Ich werde Ihnen später meine Liquidation senden. – Etwas anderes … Sie haben also den Anführer der Freibeuter gesehen?“

„Ja – genau!“

Sie erzählte.

Dann geleitete Garden sie bis in die Vorhalle …

„Heute haben wir den 12.Mai,“ sagte er beim Abschied. „Heute um 2 Uhr nachmittags werde ich Ihnen im Hotel Vanderbilt die ersten Ergebnisse mitteilen. Auf Wiedersehen, Miß Gabor.“

Ruth hatte den klapprigen Wagen vor dem Klubhaus warten lassen, stieg ein und fuhr dem Hotel zu.

Der alte Kutscher kürzte den Weg ab und bog in die Prender-Street ein.

Ein Auto kam in der engen Gasse dem Wagen entgegen, stoppte, spie drei Männer aus und schob sich weiter dicht neben den Wagen.

Ruth Gabor reckte sich hoch. Ihr Mißtrauen erwachte. In dem kleinen schmalen Lederköfferchen trug sie ihre Brillanten bei sich.

Und als die drei sich nun auf die Trittstützen des offenen Wagens schwangen, gewandt wie die Katzen, alle drei mit denselben schwarzen Barten, die falsch sein mußten, alle drei in denselben Sportanzügen, da war Ruth Gabor, Filmdiva und Akrobatin, Filmdiva und Kunstschützin, Filmdiva und makellose junge Dame von Welt, Freundin von Herzoginnen, Freundin von den feinsten Köpfen des Dollarlandes, weil selbst ein feiner Kopf, mit einem Satz vorn beim alten Rosselenker, riß ihm die Peitsche aus der Hand, fegte durch zwei Banditenvisagen blutige Striemen und hieb auf den Gaul ein …

Entkam so …

Das Auto raste nach der anderen Seite davon. – –

Howard Garden saß im Schreibzimmer des Klubs und entwarf drei Depeschen. Jede dieser Depeschen enthielt ein genaues Signalement Hektor Tscharks und einige ergänzende Mitteilungen.

Die erste Depesche ging an das weltbekannte Detektivinstitut Pinkerton nach Neuyork. Die zweite an Neuyorker Privatdetektiv Stuart Mefferson, die dritte an einen Herrn gleichen Berufs nach London.

Ein Diener brachte die Telegramme aufs Postamt, und Garden begab sich nun in eine der Telephonzellen und ließ sich mit Mr. Corniter, Detektivinspektor im Ruhestand, verbinden.

Corniters Nachttischapparat schrillte so lange, bis der Schläfer munter wurde …

„Hallo – hier James Corniter …“

„Hier Garden … – Sie werden sofort mit zwölf Gehilfen sämtliche Hotels, Pensionen und Privatlogis der Stadt nach einem Manne absuchen, der wahrscheinlich in einer Verkleidung als älterer Herr heute die vorhin eingetroffene Silvania verlassen hat …“

Folgte dann die Personalbeschreibung Tscharks.

Garden wußte aus Erfahrung, daß die Maske eines älteren bärtigen Herrn die bequemste und unverfänglichste war.

Mr. James Corniter, seit einem Jahr Mitarbeiter des früheren Advokaten Howard Garden, fuhr in die Kleider und sauste gleich darauf im Auto davon.

Garden selbst kehrte in das Lesezimmer zurück.

Es war jetzt halb zwei Uhr morgens.

Er verabschiedete sich von seinen Klubfreunden und verließ in Begleitung Lord Cecil Worynoors die oberen Räume, wurde jedoch in der Vorhalle durch einen Diener zurückgerufen …

„Mr. Garden, – eine Dame am Fernsprecher, Miß Ruth Gabor.“

„Entschuldige einen Augenblick,“ sagte Garden zu Worynoor.

Ruth Gabor teilte Garden den Überfall in der Prender-Street mit …

„Die drei Leute trugen genau dieselben schwarzen, halblangen Vollbärte wie die Piraten des roten Teufels,“ erklärte Ruth. „Auch der Chauffeur des Autos hatte einen solchen Bart, dessen Echtheit wohl zweifelhaft sein dürfte. Zunächst glaubte ich, man hätte es auf meine Brillanten abgesehen. Ich bin nunmehr überzeugt, daß es lediglich um meine Person ging …“

Garden erwiderte, unter diesen Umständen, wo doch der Verdacht so sehr nahe läge, daß einige der Freibeuter in Liverpool weilten, müsse er der Polizei die Sache melden.

Ruth hatte nichts dagegen einzuwenden, und Garden und Lord Worynoor schlenderten nun durch die stillen Straßen dem Polizeigebäude zu.

„Du bist zu beneiden, Howard,“ meinte der Lord lächelnd. „Das interessanteste Weib der Welt Deine Klientin …!! Du mußt mich ihr vorstellen.“

„Zwecklos, Cecil … Du wirst Außenseiter bleiben. Sie ist bis zum Wahnsinn in diesen geheimnisvollen Tschark verliebt …“

„Ein Abenteurer …! Wahrscheinlich doch! Das ist eine Konkurrenz, die man ausschalten kann.“ Der blonde, schlanke Worynoor tat sehr siegesgewiß. Er hatte stets unverschämtes Glück bei Frauen.

Im Zimmer des Polizeiinspektors, der heute nacht Dienst hatte, trafen die Herren den ihnen persönlich bekannten Fregattenkapitän Sir Douglas Moow an, der als Adjutant des Chefs der Flottenstation hier mit dem Inspektor über die polizeilichen Maßnahmen zur Ergreifung der Piraten beriet.

„Sie kommen wie gerufen, Garden,“ meinte der Kapitän lebhaft. „Vor zehn Minuten kam Meldung aus Southport[*1], daß derselbe Freibeuter in gleicher phantastischer Aufmachung vor dem Hafen den Australiendampfer Candarruh angehalten und von Bord zwölf Kisten mit Goldstaub herabgeholt hat. Tote hat’s zum Glück auch bei diesem Angriff nicht gegeben.“

Garden fragte: „Und was soll ich bei dieser Marineangelegenheit tun? Das ist Ihr Gebiet, Moow …“

„Oho, nicht ganz. Zollwächter haben beobachtet, daß ein Dampfer, dem Aussehen nach ein Zerstörer, ein Auto bei Gavrisend landete. Das Auto fuhr gen Liverpool.“

„So – dann ist dieser Kraftwagen also der, mit dem Miß Ruth Gabor geklappt werden sollte. Nun interessiert mich der Freibeuter doch schon etwas mehr …“ Und er berichtet, was Ruth zugestoßen. „Sie hat zweien der Halunken mit der Peitsche übers Gesicht geschlagen. Inspektor, legen Sie nun Ihre Meute auf diese Fährte.“

Garden verabschiedete sich von Lord Worynoor vor seinem Hause.

„Also heute abend zehn Uhr im Speisesaal des Vanderbilt,“ sagte er noch. „Ich werde mich mit Ruth Gabor verabreden. Gute Nacht!“

Oben in seinem Arbeitszimmer setzte er sich dann an seinen Schreibtisch und suchte die Fingerabdrücke auf dem Zettel, den Ruth ihm überlassen, sichtbar zu machen.

Es gelang ihm auch. Als er gegen vier Uhr zu Bett ging, hatte er tadellose Vergrößerungen dieser Abdrücke hergestellt.

 

3. Kapitel.

Der Flüchtling.

Ruth Gabor nahm ein Schlafmittel, bevor sie sich niederlegte. Erst jetzt, wo die Trennung von Tschark Tatsache geworden, wo ihr Herz etwas zur Ruhe gekommen, fühlte sie, wie schlecht es um ihre Nerven bestellt war. Diese Seereise von Neuyork nach Liverpool, die für die meisten Fahrgäste Erholung und Erfrischung bedeutete, hatte ihr das Schwerste gebracht, was einem Weibe von zweiundzwanzig Jahren und von dem Temperament einer Ruth Gabor zustoßen konnte: eine Leidenschaft auf den ersten Blick, ein jähes Erwachen all jener heißen Empfindungen, die von der Künstlerin Ruth schon soundso oft auf der Leinwand Millionen von begeisterten Kinobesuchern in vorbildlicher Naturwahrheit gezeigt worden war, – bisher stets nur Spiel, Kunst, jetzt bitterer Erst.

Ein tiefer Schlaf, halb Betäubung, ließ Ruth Gabor ihr Seelenleid für Stunden vergessen. Und als sie dann gegen elf Uhr mit ihrer Gesellschafterin Miß Holler auf dem Balkon beim Frühstück saß , als die ältliche, dürre Holler ihr die Depesche des Londoner Impresarios reichte, da lachte Ruth leise auf, wie sie nun Julius Sallsteins Antwort las:

„Klage wegen Kontraktbruchs wird noch heute angestrengt, falls nicht Zusage eintrifft. Werde jenen Mr. Tschark von der Silvania nötigenfalls als Sekretär engagieren. Zeitungsfunkberichte waren recht eindeutig. – Sallstein.“

„Eine Frechheit!“ meinte Ruth belustigt. „Mister Tschark als Sallsteins Sekretär – köstlich! – Depeschieren Sie also zurück, liebe Holler: „Tschark verschwunden. Falls Sekretär, werde ich gesund.“ – Wörtlich so, liebe Holler, bitte …!“

Miß Holler nickte und zeigte ein säuerliches Grinsen.

„Sie werden sich kompromittieren, Miß Gabor …“

„Hab’ ich schon! Auf eine Unze mehr oder weniger kommt’s nicht mehr an …“

Ruth hatte sich jetzt wiedergefunden. Die Nähe Tscharks hatte ihre Eigenart, ihr ganzes Wesen gelähmt und verwandelt gehabt. Die Trennung mit ihrer abgeklärteren Sehnsucht nach diesem seltsamen Manne befreite sie von dem fast unheimliche Einfluß der Persönlichkeit des Geliebten, der, und das sagte ihr nun eine innere Stimme mit vollster Gewißheit, ihre Gefühle in gleichem Maße erwiderte und lediglich seiner fraglos dunklen Vergangenheit wegen mit der Stärke des wahren Charakters seine Empfindungen zurückgedrängt hatte.

Ruth Gabor war wieder sie selbst geworden.

Der Rausch war vorüber. Aber das Erwachen war bei einem Weibe von ihrer Wesensart kein Zurückfluten all der so plötzlich zu tiefem Liebessehnen erweckten innersten Regungen in den engen Hafen kritischen Verstandes. Nein, dieses Erwachen war nur das Zurückfinden all der quellenden Tatkraft und all der körperlichen und geistigen Fähigkeiten der großen Künstlerin, die dem amerikanischen Sensationsfilm erst durch seelisch vertieftes Spiel das Kitschige genommen hatte, die als Farmerstochter oder als junges Trapperweib auf halbwildem Pferde dem Zuschauer durch verwegene Reiter- und Jagdszenen den Herzschlag stocken machte und doch schon in den folgenden Bildern nur Seele gab, nur Seele mit all den Feinheiten der echten Künstlerin.

Und Ruth Gabors Lächeln über Julius Sallsteins taktlose Frechheit schwand jetzt.

Sie sagte leise, mehr zu sich selbst: „Nein, es kommt doch auf eine Unze Bloßstellung mehr oder weniger sehr an – sehr! Ich habe in diesen Tagen auf der Silvania vieles getan, was nicht zu mir paßte. Mister Tschark mußte eigentlich so von mir nur ein Zerrbild erhalten.“

Miß Lydia Holler, deren einzige Sorge stets darin bestand, daß eines Tages Ruth Gabor heiraten könnte und daß es dann mit dieser angenehmen und gut bezahlten Stellung zu Ende wäre, nickte ernsthaft und erklärte vorsichtig:

„Machen Sie alles müßige Gerede am besten dadurch tot, Miß Gabor, daß Sie die Tournee beginnen. Die Zeitungen und das Publikum werden so das Intermezzo auf der Silvania am schnellsten vergessen und Sie … ebenfalls …!“

„Ich – vergessen?!“ – Ruth hatte vor der Holler keine Geheimnisse. Da sie eltern- und geschwisterlos war, brauchte sie einen Menschen, dem sie zuweilen einen Teil ihrer Seele in vertrauterer Zwiesprache öffnete. Sie kannte die Holler und deren Schwächen. Schätzte aber auch eins an ihr: die Treue und Verschwiegenheit!

„Nie werde ich Tschark vergessen – nie!“ fügte sie ganz schlicht hinzu und gestand so zum ersten Male unumwunden ein, daß dieser Mann ihr nun alles galt – alles …

Lydia Holler seufzte …

„Ein Mensch, von dem man nichts weiß, Miß Gabor! Ich – fürchte, Sie werden traurige Enttäuschungen erleben …“

Ruth schwieg und blickt versonnen über die Straße hinweg in das jungfrische Grün des großen Parkes.

Da – da war sie plötzlich wieder, diese ungewisse Angst – diese Angst, daß die Holler recht behalten könnte …

Traurige Enttäuschungen …!! Und wenn – was würde sie dann wohl über Hektor Tschark erfahren? Was würde der Gentlemandetektiv mit dem Mädchengesicht ermitteln? –

Ein winziger Hotelboy war in der Tür des Balkons erschienen …

Hielt Ruth den silbernen Teller hin …

„Die Dame bittet, Sie allein sprechen zu dürfen, Miß.“

Ruth nahm die Besuchskarte:

Olivia Nedrag,

– weiter nichts …

Der Hotelboy erklärte noch:

„In sehr dringender persönlicher Angelegenheit, sagte die elegante Dame …“

„Führe sie nebenan in den Salon …“ –

Ruth eilte ins Schlafzimmer und vertauschte den seidenen Kimono mit einem leichten Hauskleide.

So betrat sie den Salon.

Aus einem der Brokatsesselchen erhob sich eine schlanke, stark gepuderte, blonde Frau mit angenehmen Gesichtszügen. Ihr tadellos sitzendes Straßenkostüm, ihre ganze Aufmachung verriet den verfeinerten Geschmack wahrer Vornehmheit.

Sie neigte etwas den Kopf, flüsterte:

„Miß Gabor, Sie werden niemandem verraten, daß Howard Garden sein Äußeres zumeist zu dieser Verkleidung benutzt …“

Ruth prallte doch leicht zurück …

„Mister Garden?“

„Ja – derselbe. – Ich wollte erst um zwei Uhr zu Ihnen kommen. Ich habe jedoch bereits Nachricht aus Amerika erhalten. Die Funktelegraphie und die Pinkertons arbeiten schnell.“

Ruth beugte sich erwartungsvoll vor. „Nachricht über Hektor Tschark?“ fragte beklommen, da Gardens rosiges Gesicht noch ernster wurde.

Er zögerte etwas …

„Leider, Miß Gabor, leider sind die Ergebnisse der Ermittlungen ebenso zuverlässig wie – traurig.“

Sie trat einen Schritt näher …

„Traurig? – Dieser Ausdruck ist von Ihnen absichtlich gewählt? – Bitte, spannen sie mich nicht auf die Folter …!“

Garden winkte nach dem Sessel hin und zog für sich einen Stuhl herbei.

Ruth nahm Platz. Ihre Augen hafteten unverwandt auf des Gentlemandetektivs echt frauenhaftem Antlitz. Sie fürchtete das Schlimmste. Ihr Herz krampfte sich in banger Angst zusammen. Und doch wiederholte sie fest und tapfer:

„Beginnen Sie bitte mit dem Wichtigsten. Keine lange Einleitung, keine schonenden Phrasen …“

Garden dämpfte seine weiche Stimme noch mehr.

„Hektor Tschark ist vor acht Wochen aus der Privatheilanstalt des Doktor Roman Gripsky, Newhaven bei Neuyork, entflohen, wo er als gemeingefährlicher Geisteskranker von seinen Verwandten vor einem Jahr untergebracht worden war.“

Ruth Gabor erbleichte langsam …

Langsam – je mehr sie eben das Entsetzliche dieser Mitteilung begriff.

Dann senkte sie den Kopf …

Sie war zu sehr Weib, um sich vollständig beherrschen zu können …

Sie weinte …

Ein trockenes, qualvolles Schluchzen schüttelte ihren Körper hin und her …

Garden legte ihr die behandschuhte Rechte sanft auf die im Schoße krampfhaft verschlungenen Hände …

„Miß Gabor, ich möchte rasch mit dem zu Ende kommen, was ich zu sagen habe. Tschark ist natürlich ein falscher Name. Der Mann heißt in Wirklichkeit Hektor Schaper, war Ingenieur und hat über seinem steten Bemühen, irgend etwas Welterschütterndes zu erfinden, den Verstand verloren. Ich hatte den Pinkertons unter anderem auch als besonderes Kennzeichen das Muttermal hinter dem linken Ohr in der Depesche erwähnt, und gerade dieses eigentümlich geformte Muttermal hat die Ermittlung des von uns Gesuchten sehr erleichtert – auch hier …“

Ruth blickte auf.

„Auch hier? Haben Sie Schaper gefunden?“

„Nein. Leider nur das Privathotel, wo er übernachtet hat, in der Verkleidung eines älteren Herrn und wieder unter anderem Namen. Er ist heute vormittag mit dem Dampfer Gorbin Leeds nach Irland hinübergefahren, nach Dublin. In Dublin wird er bei Ankunft des Dampfers festgehalten werden. Ich habe depeschiert. Es handelt sich nämlich darum, Miß Gabor, daß Doktor Roman Gripsky, der Besitzer und Leiter der Anstalt Friedensport, eine sehr hohe Belohnung für die Einbringung des Flüchtlings ausgesetzt und die Pinkertons ebenfalls beauftragt hat, alles nur irgend Erdenkliche zu tun, den Kranken zu ermitteln, der bereits in Deutschland …“ – er zauderte, streichelte Ruth Gabors Hände – „mehrere Menschen zu Krüppeln geschossen hat …“

„Mein Gott …!“

„Wenn nun auch mir, Miß Gabor, an dieser Belohnung nichts liegt, da ich als Sohn eines Großindustriellen pekuniär sehr gut gestellt bin und auch nur aus reiner Neigung Detektiv wurde, so muß ich doch den Pinkertons, mit denen ich oft zusammenarbeite, diese Belohnung sichern. – Kurz: Hektor Schaper wird in Dublin von einem Arzt und drei Irrenwärtern in Empfang genommen und dann nach Amerika zurücktransportiert werden.“

Ruth Gabor weinte nicht mehr.

Ein unendliches Mitleid mit dem Unglücklichen, dessen seltsames Benehmen auf der Silvania nun genügend erklärt war, erfüllte sie so stark, daß sie selbst ihre Liebe darüber völlig vergaß.

Sie mußte allein sein mit sich. Sie entschuldigte sich bei Garden, der für ihre Stimmung wahrlich Verständnis hatte, und versprach ihm, abends im Speisesaal des Vanderbilt sich einzufinden.

Sie trennten sich mit einem festen Händedruck.

Ruth Gabor blieb im Salon.

Sie stellte sich ans Fenster und blickte über den weiten Park hinweg.

Das frische Grün der Bäume erschien ihr plötzlich fahl und farblos. Der klare Sonnenschein störte sie. In ihrer Seelen war es Nacht geworden.

Noch nie hatte Ruth Gabor bisher ernstere seelische Erschütterungen durchgemacht. Und nun – nun hatte ihr das Leben ganz plötzlich seine traurigste Seite gezeigt …

Geisteskrank …

„Armer – armer Tschark!“ flüsterte sie unbewußt. Wieder rollten die Tränen … Für sie blieb er Hektor Tschark … Tschark …! – –

Und zwei Stunden später ging eine Depesche an Julius Sallstein ab:

„Treffe morgen in London ein. Tournee bleibt.

Ruth.“

Miß Holler hatte zu dieser Depesche geraten. In wahrhaft mütterlicher Weise hatte sie Ruth getröstet und ihr schließlich erklärt, daß die beste Medizin für diese Herzenswunde künstlerische Betätigung sei.

 

4. Kapitel.

Eine Blamage für England.

Garden fuhr nach dem Besuch bei Ruth Gabor nach Hause. Seine elegante Fünfzimmerwohnung nahm die Hälfte der zweiten Etage eines modernen Mietpalastes ein. Die andere Hälfte hatte eine Klavierlehrerin Miß Olivia Nedrag inne, nur drei Zimmer, die aber mit Gardens Räumen eine geheime Verbindung durch eine kleine Tapetentür hatten.

Garden war’s ja selbst, der als Olivia Nedrag diese zweite Wohnung gemietet hatte.

Er öffnete deren Flurtür und begab sich sofort in sein Ankleidezimmer, legte die Verkleidung ab und verwandelte sich in den noch so jugendlich und so weibisch aussehenden Howard Garden.

Als er dann sein Arbeitszimmer betrat, erhob sich hier der graubärtige Detektivinspektor a. D. James Corniter aus dem Schreibsessel und streckte Garden mit besonderem Gesichtsausdruck eine offene Depesche hin.

„Aus Dublin,“ sagte er nur …

„Ah – Schaper ist dort nicht eingetroffen?“

„Lesen Sie nur … “

„Der Angemeldete hat den Dampfer bei der Insel Skerries verlassen, nachdem er dem Kapitän für die Verzögerung 100 Pfund gezahlt hatte. Ein Fischerboot nahm ihn auf, das gerade in der Nähe war.

Smitson, Dublin.“

Garden überlegte …

„Sie fahren sofort nach Skerries, Corniter,“ befahl er kurz. „Die Pinkertons verlassen sich auf uns. Doktor Gripsky hat den Verwandten Schapers bisher dessen Flucht verheimlicht. Wir müssen also möglichst diskret arbeiten. Miß Gabor und ihre Gesellschaftsdame werden schweigen. Ich selbst muß aufs Flottenamt. Kapitän Douglas Moow hat schon zweimal telefoniert, sagte Jacques. Sie kennen doch das Allerneueste? Nein?! Nun, der Pirat hat bei …“

Da stockte er, schaute Corniter merkwürdig an …

„… bei der Insel Skerries den russischen Dampfer Moskau, der unter anderem für sechs Millionen Platin aus dem Ural nach Liverpool bringen sollte, um halb elf vormittags überfallen und das Platin von Bord geholt. Großzügige Herrschaften, diese Freibeuter! Das muß man ihnen lassen! Unheimlich großzügig! Innerhalb von zwölf Stunden Werte von etwa 28 Millionen zu rauben – das lohnt wenigstens.“

Corniter waren die 28 Millionen gleichgültig.

„Ob das ein Zufall ist …?!“ murmelte er. „Der Geisteskranke verläßt angesichts der Insel Skerries den Dampfer, und etwa um dieselbe Zeit wird dort auch die Moskau ausgeplündert?!“

„Es muß ein Zufall sein, Corniter …!“ meinte Garden achselzuckend. „Gewiß, man kommt fast auf den Gedanken, daß zwischen Schaper und diesen Piraten eine Verbindung bestehen könnte. Aber – das ist ja unmöglich! Ganz unmöglich!“

Er läutete, und Jacques, sein Diener, trat ein.

„Hat Kapitän Moow nochmals telephoniert, Jacques?“ fragte er kurz.

„Jawohl, nochmals, Mister Garden … Im Flottenamt rauft man sich die Haare. Vor zehn Minuten traf die Nachricht von Dublin ein, daß der Tourendampfer Greenwich, der Regierungsgelder nach Cardiff an Bord hatte, nun ebenfalls ausgeraubt worden ist – von demselben Piraten, dessen Kapitän wieder in dem Teufelskostüm auftrat.“

„Donnerwetter!!“ entfuhr es Garden.

Und Corniter meinte: „Die ganze Welt wird uns auslachen! Hier in der Irischen See zwischen den britannischen Inseln solche Seeräuberstückchen! Man glaubt zu träumen!!“

Garden rief: „Jacques, meinen Hut, Mantel, Stock! Ich muß aufs Flottenamt!“

Wenn er lebhaft wurde, wenn er sich vergaß, dann merkte man, daß der weichliche Ausdruck seines Gesichts nur Maske war.

Er eilte davon, fand ein Auto, jagte zum Hafen, sprang die Treppen im Flottenamt empor und betrat Kapitän Moows Bureau.

Sir Douglas Moow saß wie ein Häufchen Unglück im Schreibsessel.

„Garden,“ stöhnte er, „dieser rote Satan von Freibeuter ist nicht zu fassen!! Wir sind machtlos! Denken Sie: vor fünf Minuten schickt uns der amerikanische Marineattachee aus London eine chiffrierte Depesche … Da liegt der dechiffrierte Text … Lesen Sie nur … Ihrer Verschwiegenheit sind wir ja sicher …“

Garden las:

„Das Marineamt meiner Regierung hat mich auf die Nachricht von dem Auftauchen eines Piratenfahrzeugs in den englischen Gewässern hin angewiesen, Ihnen die vertrauliche Mitteilung zu machen, daß am 3. April dieses Jahres von dem Kai der Union-Werft in New Orleans der für Rechnung meiner Regierung erbaute Torpedozerstörer Minneapolis nach seiner ersten Probefahrt von einer Bande von bisher unbekannt gebliebenen Männern nachts gestohlen worden ist. Meine Regierung vermutet, daß das Piratenschiff, dessen Bauart und drei Schornsteine der unserer Minneapolis entsprechen, der geraubte Zerstörer sein könnte, über den bisher keinerlei Nachricht mehr zu erhalten war. Meine Regierung hat den Diebstahl des Zerstörers streng geheim gehalten, um nicht dem Gespött der internationalen Abrüstungsfreunde neuen Stoff zu liefern. Der Zerstörer erreichte bei der Probefahrt eine Höchstgeschwindigkeit von 39 Knoten und war somit das schnellste Schiff der Welt. Er war probeweise mit zwei neuartigen Luftdruckgeschützen ausgerüstet, die ohne Knall ihre Projektile schleudern. – Ich habe die Ehre, Euer Exzellenz zu grüßen als Ihr ergebenster Stuart Morton, Marineattachee der Londoner Botschaft der Vereinigten Staaten von Nordamerika.“

Folgte unten die Adresse:

Seiner Exzellenz Admiral Botterfly,
Chef der Marinestation Liverpool.

Garden legte das Blatt auf den Tisch zurück …

Und Sir Douglas Moow sagte keuchend:

„Es ist die Minneapolis … Die Besatzung der Moskau hat sich den Piraten ja am hellen Tage ansehen können, ebenso die Leute des Greenwich. Die Schufte haben den Zerstörer „Satanas“ getauft. Satanas steht zu beiden Seiten des Bugs in knallroten Riesenbuchstaben, und als roter Satan leitet der Seeräuberkapitän die Angriffe. Das schlimmste aber: dieser Satanas ist kaum zu erwischen, Garden! Denken Sie: 39 Knoten!! Unsere schnellsten Zerstörer laufen 34 Knoten! Das sind fünf Knoten weniger!“

Er stöhnte …

„Admiral Botterfly tobt – tobt!! Großbritannien ist bis auf die Knochen blamiert!! – Werden Sie die Kerle finden, die Miß Gabor überfielen?“

Garden lehnte am Schreibtisch …

„Schwer ist das, bester Moow … Meine Garde arbeitet. Alle Mann habe ich mobil gemacht. Alle Arbeitslosen sind Spürhunde geworden. Alle Hafendirnen sind Helferinnen. Sie wissen: ich verfüge über Hilfskräfte, gegen die selbst der Polizeiapparat ein Nichts ist. Auch Corniter leistet Unglaubliches …“

Der Kapitän nickte …

„Ja, das stimmt, Garden: Sie sind ein Organisator von Treibjagden, wie es keinen zweiten gibt …! Sie, der Mann mit dem Milchgesicht!! Eine vortreffliche Maske!“

„Allerdings …“

Da schrillte der Tischfernsprecher.

Sir Moow nahm den Hörer, lauschte …

Garden beobachtete ihn …

Sah, wie des Kapitäns Stirnadern schwollen …

Dann … warf Moow den Hörer auf einen Stoß Papiere …

„Verfluchtes Ding! Nichts als Unglücksnachrichten!! Garden, Garden, – – der fünfte Überfall! Die Schufte haben dreißig Mann und ihren Kapitän unweit des Hafens von Lampeter gelandet und das Verwaltungsgebäude der Lampeter-Gruben besetzt gehabt, sind mit drei Millionen Lohngeldern wieder auf und davon …!“

Howard Garden strich ein Zündholz an und setzte seine Zigarette in Brand …

Schwieg – rauchte …

Was sollte er sagen?! Hier blieb jedem Engländer das Wort in der Kehle stecken! Dies war eine so unglaubliche Verhöhnung der britischen Seemacht, der britischen Nation, daß man am besten gar nichts sagte!

Er nahm nur den Hörer und legte ihn sorgsam auf die Stützen zurück …

Vielleicht kam noch so eine Unglücksnachricht … Wer konnte es wissen? Möglich war diesem Satanas alles – alles! –

Sir Douglas Moow blickte zu Garden empor …

„Wenn man wenigstens eine Ahnung hätte, wer dieser Korsarenkapitän ist!!“ meinte er ingrimmig. „Der Kerl spricht jedenfalls tadellos englisch und besitzt eine Kaltblütigkeit, die geradezu erstaunlich ist …!“

Ein flüchtiger Gedanke an Tschark-Schaper ging durch Gardens Hirn …

Ganz flüchtig …

Das war ja Unsinn: Schaper hatte mit Ruth Gabor an der Reling der Silvania gestanden, als der Freibeuter das Gold davonschleppen ließ! Der Piratenkapitän konnte nicht mit Schaper identisch sein! Die Insel Skerries war keinerlei Beweis dafür …!

Und Garden sagte bedächtig: „Dieser rote Satanas ist fraglos ein Mann von hervorragenden Eigenschaften. Ich möchte …“

Er brach ab. Es hatte geklopft.

Eine Ordonnanz trat ein, meldete:

„Mister Benniton, Gehilfe Mister Gardens, hat soeben einen Mann eingeliefert, der sich bei dem Augenarzt Doktor Jonkins behandeln ließ und eine blutrote Strieme über der linken Wange hat. Das linke Auge ist infolge desselben Hiebes schwer beschädigt.“

Die beiden Herren eilten schon hinaus – hinab in die Loge des Pförtners, wo Benniton und zwei andere von Gardens Gehilfen den gefesselten Fremden bewachten.

Der Mann war bartlos, breitschultrig, trug einen Sportanzug und hatte die Strieme durch Schminke zu verdecken gesucht. Sein verbundenes linkes Auge mußte ihm große Schmerzen bereiten. Häufig zuckte er zusammen, und seine starken Zähne knirschten dann aufeinander.

Aber – kein Wort war aus ihm herauszuholen. Keine Silbe. In seinen Taschen fand sich nichts von Belang.

Garden versuchte allerlei, den Freibeuter zum Reden zu bringen. Admiral Botterfly versprach ihm Straffreiheit und eine Belohnung. Nichts – nichts richtete man aus.

Und am Abend, nach dreimaligem vergeblichen Verhör, wurde der Pirat in das Polizeigefängnis übergeführt.

 

5. Kapitel.

Hektor Tschark taucht wieder auf.

Vier Tage später, am 16. Mai …

Das Alhambra-Varitee in London ist bis auf den letzten Stehplatz gefüllt. Ruth Gabor tritt auf. Das genügte, die Londoner herbeizulocken.

Nach der ersten Pause betreten zwei Herren die eine der Logen dicht neben der Bühne und nehmen ihre Vorderplätze ein.

Garden schaut in das Programmbüchlein und sagt zu Lord Cecil Worynoor:

„Jetzt kommt sie, Cecil …! Ich bin neugierig … Zwei Deklamationen, zwei Lieder …“

Worynoor schraubt an seinem Opernglas. Er ist mit Garden erst vor einer Stunde in London eingetroffen, hat lange geschwankt, ob er Ruth nachreisen sollte, die ihn damals am 12. Mai abends im Speisesaal des Vanderbilt mit so eisiger Gleichgültigkeit behandelt hat, daß er empört war, daß er frühzeitig aufbrach, Garden mit den beiden Damen allein ließ und sich zuschwor, nie mehr Ruth Gabors Wege zu kreuzen.

Doch – der Liebreiz der Filmdiva hatte bereits auf Worynoors leicht entzündbares Herz nur zu stark gewirkt. Hätte sie ihn vielleicht so vertraulich behandelt, wie sie dies mit Garden tat, hätte sie seine Huldigungen geduldet und bewiesen, daß auch für sie der schöne Cecil Worynoor immerhin ein angenehmer Gesellschafter sei, so würde Seine Lordschaft wahrscheinlich in wenigen Tagen abgekühlt gewesen sein. So aber war aus dem oberflächlichen Interesse des verwöhnten Frauenkenners für die nicht minder verwöhnte Künstlerin eine jähe Leidenschaft geworden, der selbst ein Cecil Worynoor schließlich unterlag. Und so hatte er denn Garden am Vormittag besucht und ihn gebeten, mit nach London zu kommen. Garden lehnte nicht ab. Er brauchte Zerstreuung. Er war übelster Laune. Der gefangene Pirat, dessen linkes Auge hatte operativ entfernt werden müssen, ließ nichts aus sich herausholen und blieb der einzige Gefangene. Anderseits hatte man von dem Satanas seit der Plünderung des Kassenraumes der Lampeter-Gruben auch nichts mehr gehört. Das Freibeuterschiff war spurlos verschwunden. –

Die Musik begann einen Marsch als Einleitung des zweiten Teiles des Programms.

Dann – – Vorhang hoch – – dann Ruth Gabor!

Worynoor nahm das Glas nicht von den Augen …

Worynoor warf die dunkelroten Rosen auf die Bühne …

Endlose Beifallsstürme …

Zwei Zugaben … Erneutes Beifallstosen, und Ruth zeigte sich nicht mehr …

Der Regisseur geleitete sie durch Gänge und über Treppen in das ihr als Garderobe eingeräumte Direktionszimmer.

Ruth dankte dem Regisseur an der Tür und trat ein.

Hier erwartete die neue Zofe sie, eine Deutsche, ein blondes, stilles Mädchen mit ernsten, dunklen Augen.

Hanna Lohmer hieß sie. Sie war bis vor kurzem Gesellschafterin bei einer alten Dame in Manchester gewesen und hatte ohne Besinnen die neue Stellung bei Ruth Gabor angenommen, der sie durch die Herzogin von Roncelle empfohlen worden war.

Ruth sank mit einem Seufzer der Erleichterung in den Sessel vor dem hohen Spiegel …

„Hanna – bitte ein Glas Wein …“

Sie war erschöpft … trank fast gierig …

Hanna Lohmer wies auf eine Karte auf der Spiegelkonsole …

„Der Herr schickte vorhin die Karte durch einen Theaterdiener …“

Ruth dachte an Lord Worynoor …

Ohne Interesse griff sie nach der Karte …

Eine jähe Blutwelle stieg ihr bis in die Schläfen …

Hektor Tschark,

und auf der Rückseite mit Bleistift:

bittet um eine kurze Unterredung
und wartet am Bühnenausgang.

Ruth Gabor atmete schwer …

Starrte auf die Bleistiftzeilen …

Tschark-Schaper …!! Der Geisteskranke!! Der Irre …!

Sie schauderte leicht zusammen …

Und doch – doch …: die Sehnsucht war plötzlich wieder erwacht – übermächtig – besinnungslos …

Nur noch ein einziges Mal ihn sprechen hören, diese harte Stimme, – nur noch ein einziges Mal dieses Gesicht sehen, das so ehern war und doch so voller Leben. –

Sie sprang auf …

„Hanna – helfen Sie mir … Rasch …“

Und im Nu hatte sie den Flitter abgeworfen, stand nun da in dem schlichten leichten Seidenmantel, den Lederhut auf dem vollen Haar …

„Auf Wiedersehen, Hanna …“

Sie nickte dem jungen Mädchen freundlich zu. Hanna war ihr so sehr sympathisch, hatte so etwas Feines, Sanftes in ihrer Art, hatte ja auch einst bessere Tage gesehen … –

Ruth fand sich mit einiger Mühe zurecht und erreichte den Bühnenausgang …

Kühle Abendluft schlug ihr von der Straße her entgegen.

Sie blieb stehen …

Die schmale Straße war leer und still …

Ruth spähte … Ruth fühlte, daß sie zitterte …

Von drüben überquerte ein Herr die Straße …

Langsam, aufrecht, ein fester Schritt …

Ruth preßte die Hände auf ihr jagendes Herz …

Er war’s … er war’s …!!

Er zog die Sportmütze, an der vorn ein goldener Anker schimmerte …

Und … reichte Ruth wortlos den Arm …

Ein Blick hatte sie dabei getroffen, ein Blick … zügelloser Leidenschaft …

Sie wußte kaum, was sie tat …

Schritt Seite an Seite neben ihm her …

Bis zu dem geschlossenen Auto …

Da erst raffte sie all ihre Kraft zusammen …

„Wohin, Mister Tschark?“ fragte sie, und ihre Stimme klang ganz fremd …

„Zum Teufelsriff, Ruth …!“ Und er preßte ihren Arm an sich, als ob er ihn zerbrechen wollte …

Wahnwitzige Angst überkam Ruth Gabor …

Sie wollte sich losreißen …

Sie hörte vom Theaterausgang her Gardens helle Stimme:

„Miß Gabor – – Miß Gabor!!“

Wandte den Kopf …

Sah Garden und Worynoor herbeistürmen …

Drei – vier Männer sprangen aus dem Kraftwagen, hoben Ruth empor …

Und – das Auto glitt davon – bog um die Ecke, hinein in das Wagengewühl … –

Worynoor lehnte erschöpft an einem Laternenständer. Wie ein Pfeil war er vorwärtsgeschossen, war doch zu spät gekommen …

Garden stand keuchend vor ihm, hielt noch die Karte in der Hand, die er der blonden Zofe abgenommen – die Karte Hektor Tscharks …

„Entführt!“ sagte Worynoor dumpf …

„Ja – und die Kerle hatten die verfluchten schwarzen Vollbärte! Dieser Verrückte steht doch mit den spurlos verschwundenen Piraten im Bunde!!“

Und nach kurzem Nachdenken: „Zur Polizei, Cecil! Ich will den Kerl fangen und Ruth Gabor befreien, so wahr ich Howard Garden heiße!“ –

Das Auto mit der vor Grauen ohnmächtig gewordenen Ruth jagte dem Hafen zu. Hier lag an einsamer Stelle ein schlanker Dampfer mit einem Schornstein, eine Jacht anscheinend …

Der Kraftwagen glitt über die Laufplanken auf das Deck, und sofort setzte die Jacht sich in Bewegung, strebte ohne besondere Eile der Themsemündung zu … – –

Nachdem Garden und Worynoor den ungeheuren Apparat der Londoner Polizei, dazu die Marine- und Zollstationen alarmiert hatten, nachdem so alles geschehen, was irgend geschehen konnte, um das Auto anzuhalten oder das Freibeuterschiff, falls es sich in die Themse hineingewagt haben sollte, abzufangen, begaben sie sich ins Astoria-Hotel, um nochmals die Zofe Hanna Lohmer zu vernehmen, die fraglos doch noch mehr über die Art der Entführung Ruth Gabors aussagen konnte.

Hanna Lohmer war bereits telephonisch verständigt worden, daß sie im Bureau des Hotels die Herren erwarten solle.

Garden und Worynoor schickten die beiden Angestellten aus dem Bureauzimmer in den Flur und setzten sich zu Hanna Lohmer an den langen, mit Papieren und Büchern bedeckten Tisch.

Hanna, blaß und etwas verängstigt, da Miß Holler vorhin bei der Unglücksnachricht von Ruth Gabors Entführung fast in Weinkrämpfe verfallen wäre, erzählte nochmals, was sie wußte.

Viel war das nicht …

Der Theaterdiener hatte die Karte gebracht, und dann war Miß Gabor von der Bühne zurückgekehrt … –

Hanna Lohmer beruhigte sich immer mehr. Gardens liebenswürdige, vertrauliche Art machte sie rasch mitteilsam und frischte ihr Gedächtnis auf. Sie besann sich auf Einzelheiten, auf dieses und jenes …

Garden fragte allerlei …

„Ich bin erst drei Tage bei Miß Gabor,“ erklärte Hanna. „Nein – erst zweiundeinenhalben Tag. Und doch habe ich Miß Gabor schon liebgewonnen.“

„Haben Sie vielleicht hier im Hotel einen Herrn bemerkt, oder in der Nähe des Hotels, der so aussah …?“ forschte Howard Garden weiter und holte das Lichtbild hervor, das ihm die Londoner Filiale der Pinkertons zur Verfügung gestellt hatte. Es war eine sehr klare Aufnahme des flüchtigen Geisteskranken Hektor Schaper.

Er reichte das Bild dem jungen Mädchen über den Tisch hin …

Hanna nahm’s entgegen …

Ein Blick …

Und Hanna Lohmer sank ohnmächtig zur Seite, wäre vom Stuhl gefallen, wenn Worynoor sie nicht rasch gestützt hätte.

Die Herren rückten schnell ein paar Stühle zusammen und legten Hanna auf dieses provisorische Lager.

Garden fühlte den Puls der Bewußtlosen …

„Sie wird sehr bald wieder erwachen, Cecil … Ich wette, sie kennt diesen Schaper. Sie ist eine Deutsche, und Schaper, wie wir seit vorgestern wissen, ebenfalls Deutscher von Geburt …“ –

Als Hanna Lohmer wieder zu sich gekommen, als sie das Glas Portwein getrunken, das Worynoor hatte bringen lassen, bestritt sie mit aller Entschiedenheit, diesem Hektor Schaper jemals gesehen zu haben. Und dabei blieb sie. Sie sei nur deshalb ohnmächtig geworden, weil Miß Holler vorhin so sehr aufgeregt gewesen und weil sie einige Wochen sehr dürftig gelebt und ohne Stellung gewesen … –

Sie sprach sehr hastig und recht zusammenhanglos.

Ein Mann von Gardens Erfahrung mußte notwendig den Eindruck gewinnen, daß sie die Wahrheit verschwieg.

Er hütete sich, etwas davon merken zu lassen. Er tat, als glaubte er ihr. –

Vom Astoria-Hotel fuhren die beiden Herren zum Polizeipalast zurück …

Hier hatte Garden die Karte Hektor Schapers mit der Anweisung zurückgelassen, das Papier auf Fingerabdrücke zu untersuchen.

Der hiermit betraute Beamte zeigte Garden nun einen großen Bogen Papier mit verschieden vergrößerten Abdrücken, erklärte dazu:

„Dies hier sind Abdrücke von Männerfingern. Ob sie von Schaper oder von dem Theaterdiener herrühren, ist schwer zu sagen. Jedenfalls stimmt nicht ein einziger Abdruck mit Ihren Vergrößerungen überein, Mister Garden, die Sie von dem für den Steward bestimmten Zettel erhielten.“

Garden verglich nun ebenfalls die Muster der Abdrücke.

Es machte ihn sehr nachdenklich, daß der Beamte recht hatte: die Visitenkarte wies keinen Fingerabdruck auf, der einem des Zettels entsprochen hätte!

 

6. Kapitel.

Auf dem Satanas.

Die hellgrau gestrichene Jacht, die das Auto und die bewußtlose Filmdiva an Bord genommen hatte, strebte in langsamer Fahrt, wie vorgeschrieben, der Themsemündung zu.

Nichts Auffälliges war an ihr zu bemerken. Am Heck wehte die amerikanische Flagge. Das Auto war durch die große Ladeluke sofort im Vorschiff untergebracht worden. Auf der Kommandobrücke standen zwei Männer in Seemannstracht, anscheinend Schiffsoffiziere, und ein Matrose am Steuerrad.

„Bolton,“ sagte der eine der Männer zu dem gut um einen Kopf größeren, „Bolton, jetzt haben wir das Unheil an Bord. Ein Weib bringt stets Unglück. Der Kapitän wollte ja nicht auf mich hören.“

„Er hört auf niemanden, Windroof,“ meinte Steuermann Bolton achselzuckend. „Er hat einen Schädel wie Eisen. Nachgeben – das kennt er nicht!“

„Stimmt! Und doch ein Kerl, der jedem imponiert, der uns alle durch einen Wink regiert! Ein feiner Kopf, ein Menschenkenner …! Hol’s der Teufel, Bolton, das macht ihm doch keiner nach, diese Piratenstückchen! Und dann noch der Anfang des Ganzen in New Orleans, als wir, nur unserer zwölf, die Minneapolis stahlen! Hätte mein Lebtag nicht geglaubt, daß Henry Windroof mal Erster Offizier eines Freibeuters werden würde! Er hat’s erreicht, damals in der Hafenkneipe, als er uns seine Pläne halb im Scherz entwickelte und dann aus dem Scherz vollster Ernst wurde. Ja, ja, – das verfluchte Gold!! Nun sind wir alle auf den Geschmack gekommen. Der Appetit regt sich immer mehr. Und schließlich: ein anderes Leben ist dies doch, als auf einem dreckigen Viehtransporter durch den Ozean zu schleichen!“

„Nur – nur das Weib!“ meinte Bolton finster. „Vergiß das Frauenzimmer nicht! Ich wünschte, wir hätten die Themsemündung erst hinter uns.“

Eine hochgewachsene Gestalt kam über das Deck und stieg die Treppe zur Brücke empor.

„Achtung – er!!“ flüsterte Windroof und hob schnell das Fernglas an die Augen …

Der Piratenkapitän machte vor den beiden halt. Er trug jetzt eine doppelreihige blaue Seemannsjacke mit goldenen Knöpfen, dazu die blaue Tuchmütze mit dem goldenen Anker. Über dem Jackenrand leuchtete ein blendend weißer Leinenkragen, und eine schwarzseidene Schleife ließ noch ein Dreieck des ebenso tadellosen Oberhemdes frei.

Sein finsterer Gladiatorenkopf wird von dem roten Schein der Steuerbordlaterne getroffen. Sein Gesicht, bartlos, hager, wie aus Stein gemeißelt, ist konzentrierteste Energie, und unter der starken Nase liegt ein brutaler, harter Mund, umgeben von den tiefen Hautkerben unnachgiebiger Entschlossenheit.

„Lassen Sie die beiden Preßluftgeschütze bereithalten, Bolton,“ sagt er zu dem Steuermann. „Ohne Tanz kommen wir nicht weg. Die Londoner Herrschaften werden uns den Ausgang versperren wollen!“

Er lachte leise. Ein unheimliches Lachen. Seine unruhigen Augen gleiten hin und her. In ihren Tiefen flammt es auf. „Und Sie, Windroof, lassen sofort den armseligen Namen, den wir da über den roten Satanas mit Wasserfarbe gekleckst haben, wieder abwaschen. Bei diesem leichten Nachtnebel kann doch niemand lesen, was da vorn am Bug steht. – Vorwärts, meine Herren, vorwärts!“

Windroof und Bolton eilen davon.

Der rote Teufel lehnt sich an das Geländer der Brücke und nimmt das am Riemen hängende Doppelglas an die Augen.

An den Ufern gleiten Werftanlagen, Docks, zierliche Landhäuser, ganze Reihen von Bogenlampen vorüber …

Plötzlich von der rechte Landseite her ein flinkes Boot …

Ein Scheinwerfer blitzt auf …

Liegt mit grellem Kegel auf dem Piratenschiff …

Erlischt … –

Der Kapitän lacht. Ein unheimliches Kichern kommt über seine Lippen …

Und sagt zu dem Matrosen am Steuer, einem gelben Mestizen mit einer Galgenvogelvisage:

„Hafenpolizei!! Idioten!! Unser einer Schornstein täuscht sie! Die Minneapolis hatte drei. Wir haben vier, wenn wir wollen.“

Der Matrose grinst …

„Und der schöne neue Anstrich, Käp’ten!! Und die feinen Deckaufbauten aus Pappe!!“

Ein anderer Matrose erscheint eilends vom Deck her.

Meldet stramm, Hand an der Mütze: „Käp’ten, die Dame ist erwacht, läßt Doktor Rice bestellen.“

„Gut … Ich komme … – Windroof soll wieder hier auf die Brücke …“ –

Der rote Teufel betritt die elegante große Kabine.

Auf dem Bett ruht die Filmdiva, noch in Kleidern. Neben dem Bett hat der kleine Doktor Rice gesessen, erhebt sich nun.

Der Kapitän winkt, und der Arzt, eine früh gescheiterte Existenz, ein Entgleister, verläßt die Kabine. –

Ruth Gabor hat sich mit einem Ruck aufrecht gesetzt.

Sie starrt dem roten Teufel entgegen. Ihr Hirn ist wieder klar. Ihr Herz jagt …

Der Kapitän verbeugt sich, hält die Mütze in der linken Hand …

„Miß Gabor, ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß Sie mein Gast an Bord dieses meines Schiffes sind, und Sie wissen doch, daß ein Gast gegen jede Gewalttat geschützt ist. Ich werde Sie nach dem Teufelsriff bringen, wo Sie in einer Umgebung leben werden, die Ihnen mancherlei Schönes bietet. Ihre Gesellschafterin und Ihre neue Zofe werden Ihnen folgen. Sie sollen nichts entbehren. Nur – – die Freiheit …!“

Ruth Gabor streicht sich unwillkürlich mit der zarten Hand über die Stirn. Sie muß doch erst ihre Gedanken sammeln. Traum – Wirklichkeit?! Und – ist das da tatsächlich Hektor Tschark, ihr Reisegefährte?!

Sie starrt ihn weiter an …

Er ist’s … Sein Gesicht drückt nichts anderes aus als die höfliche Zurückhaltung des Weltmannes einer Zufallsbekanntschaft gegenüber.

Ruth begreift langsam die wahre Bedeutung seiner Worte …

Schmerz, Mitleid, – vielerlei regt sich in ihr. Zuletzt gewinnt eine ungewisse Angst die Oberhand …

„Also – bin ich Ihre Gefangene, Mister Tschark?“ fragt sie leise.

„Nennen Sie mich bitte Kapitän, Miß Gabor. – Ja, Sie sind mein Gast und meine Gefangene …“

Ruth schaut umher, lauscht …

Eine Schiffskabine … Das Geräusch arbeitender Schiffsmaschinen … Das Quirlen und Gurgeln von Wasser … Und – Kapitän soll sie ihn nennen?!

Noch ahnt sie nichts …

Fragt sanft: „Wo befinde ich mich?“

Der Mann reckt sich höher …

„Auf dem Piratenschiff Satanas, Miß Gabor …“

Ruth streicht sich wieder über die Stirn …

„Und – und was tun Sie hier auf dem … dem Freibeuter?“ meint sie sinnend, unsicher …

Er lächelt. Seine harten Augen irrlichtern stolz. Etwas Dämonisches breitet sich über seine Züge aus …

„Ich … bin der Anführer der Piraten, Miß Gabor, der … rote Teufel …“

Ruth zuckt zusammen …

Irrsinn – – ein Kranker nur …!!

Und noch sanfter sagt sie: „Sie scherzen, Mister Tschark …! Sie standen ja neben mir an der Reling der Silvania, als wir überfallen wurden …“

„Vielleicht … lasse ich mich zuweilen vertreten, Miß Gabor,“ erklärt er leichthin. – Und eindringlicher: „Nennen Sie mich Kapitän! Ich bin’s! Sie sahen ja, daß Doktor Rice die Kabine verließ – auf meinen Wink! Hier befehle ich, nur ich!“

Da erblaßte Ruth Gabor …

Garden hat ihr erzählt, daß Tschark den Dampfer nach Dublin bei der Insel Skerries auf hoher See gegen ein Fischerboot vertauschte und daß bei derselben Insel der russische Dampfer Moskau von den Piraten ausgeplündert wurde …

Der rote Teufel bemerkt ihr Entsetzen, verbeugt sich wieder …

„Miß Gabor, Sie haben wirklich keine Veranlassung, sich irgendwie zu ängstigen,“ sagt er überaus liebenswürdig. „Sie werden auf dem Teufelsriff in einem eigenen Häuschen wohnen und in keinerlei Weise belästigt werden – mein Wort darauf. Schreiben Sie sofort an Ihre Gesellschafterin Miß Holler ein paar Zeilen, daß Miß Holler und die neue Zofe dem Überbringer Ihres Briefes in allen Stücken gehorchen sollen. Sie allein würden sich in meinem Schlupfwinkel sehr bald langweilen.“

Ruths Wangen bekommen wieder Farbe …

Sie steht auf, tritt dicht vor den Piratenkapitän hin.

„Mister Tschark,“ bittet sie und hebt die Hände zu eindrucksvoller Geste, „für mich bleiben Sie Mister Tschark …! – Weshalb – weshalb haben Sie mich entführt …?!“

Und dann … prallt sie zurück …

In dem Gesicht des roten Teufels ist jäh eine furchtbare Veränderung vor sich gegangen.

Das Finstere, Unheilvolle, Rätselhafte dieses Gesichts, bisher gemildert durch den Ausdruck weltmännischer Höflichkeit, erscheint ohne Maske in doppelter, dreifacher Dämonie …

„Diese Frage gehörten zu den verbotenen, Miß Gabor,“ stößt er hervor …

Besinnt sich, daß sie sein Gast, daß er … Gentleman bleiben will …

Sein Gesicht verliert das Abstoßende, Fremde, Tierische.

„Entschuldigen Sie, Miß Gabor,“ sagt er fast weich. „Entschuldigen Sie … Sie werden Ähnliches nie mehr erleben.“ Und wieder mit größerer Bestimmtheit: „Nun schreiben Sie bitte den Brief an Ihre Gesellschafterin, den ich jedoch lesen will, bevor Sie den Umschlag schließen. Dort liegt Papier, Feder, – alles bereit …“

Ruth zögert …

Stockend fragt sie: „Soll denn meine … meine Gefangenschaft lange dauern?“

In seinem Antlitz zuckt’s … Ein Aufglühen von Haß schimmert in den Augen …

„Nur so lange, Miß Gabor, bis jemand anderes Sie ablöst,“ sagt er dumpf … –

Und Ruth schreibt den Brief …

 

7. Kapitel.

Das Teufelsriff.

Garden und Lord Cecil Worynoor verließen den Polizeipalast, nachdem der Gentlemandetektiv nochmals mit einem der höheren Beamten die inzwischen eingeleiteten Verfolgungsmaßnahmen durchgesprochen hatte.

„Falls der Satanas sich in die Themse hineingewagt haben sollte, kommt er nicht mehr hinaus,“ meint Garden befriedigt und setzt eine Zigarette in Brand. „Nun gehen wir nach dem Astoria, Cecil, und verständigen die Hoteldetektive. Diese Hanna Lohmer muß überwacht werden. Sie kennt Tschark-Schaper. Ich bleibe dabei. Sie kennt ihn genau. Mädchen mit so weichen, zarten Zügen haben zumeist bessere Nerven als andere. Und ohne Grund kippt kein Weib vom Stuhl.“

Worynoor gähnt …

Dieses Abenteuer ist ihm zu aufregend. Seine Leidenschaft für Ruth Gabor nimmt ab. Er liebt es nicht, ein Weib auf solchen Umwegen erobern zu müssen …

Gähnt nochmals … –

Garden grübelt vor sich hin …

Denkt an Tschark, den Piraten, an die vier Männer mit den schwarzen Vollbärten, die Ruth packten und ins Auto hoben …

Denkt an den verschwiegenen, nunmehr einäugigen Gefangenen dort im Polizeigefängnis in Liverpool …

Und an die Fingerabdrücke …

Ein Chaos sieht er vor sich. Überall Unklarheiten, teilweise Widersprüche. Desto mehr reizt ihn dieser seltene, seltsame Kriminalfall, der jetzt ein Weltreich, England, in Atem hält … –

Aus einem Riesenbau stürmt ein Haufe von Zeitungsverkäufern heraus …

Zerplatzt, mit Extrablättern beladen, nach allen Seiten …

Füllt die Straße mit Gebrüll:

Ruth Gabor entführt!!

Die amerikanische Filmdiva geraubt!!

Die Seeräuber, der rote Teufel, wieder
an der Arbeit!!

„Scheußlich!“ meint Worynoor …

„Eine glänzende Reklame für Ruth Gabor,“ sagt Garden …

Sie betreten des Prachthotels strahlende Marmorvorhalle.

Hier gibt’s keine Nacht, kein Stocken des Verkehrs. Hier flutet das Leben weiter, ob Tag oder Nacht …

Der zweite Hoteldirektor begrüßt die Herren, hebt bedauernd die Schultern …

„Da können unsere Hoteldetektive nichts mehr ausrichten, Mister Garden. Vor fünf Minuten ist Miß Holler und die Zofe in Begleitung eines älteren Herrn mit Gepäck abgereist. Mehr weiß ich nicht. Miß Holler verlangte sehr eilig die Rechnung, und …“

Garden fährt dazwischen.

„Abgereist – wohin?“

„Sie fuhren im Auto zum Südbahnhof …“

„Was für ein Auto?“

„Mietauto, Taxameter …“

Garden beißt sich auf die Lippen …

„Und der Herr?“

„War ein Angestellter des Impresario Sallstein – angeblich …“

Garden nickt. „Ganz recht – angeblich – Das werden wir bald feststellen.“

Er telephoniert. Julius Sallstein wird im Schlaf gestört. Flucht … Keine Rede davon! Er hat keinen seiner Leute zu Miß Holler geschickt. – –

Die grauweiße Jacht befindet sich in der Themsemündung auf der Höhe von Erith.

Einsamer, stiller ist’s auf dem nächtlichen Flusse geworden. Ein paar Seeschiffe ankern hier, die plumpen Leichter neben sich. Der üble Duft eines Petroleumtanks verpestet die Luft.

Vorhin hat der Satanas einen der Besatzung an einem Landungssteg schnell ausgesetzt, hat kaum Sekunden dort gehalten.

Auf der Brücke stehen der Kapitän und Windroof, der Erste Offizier.

Beide mit Gläsern, beide spähen nach vorwärts …

Dort, wo die Themse den sanften Bogen macht, liegen dunkle Punkte auf dem im Sternenlicht glitzernden Wasser.

Der rote Teufel läßt das Glas sinken …

Sagt: „Nun gilt’s, Windroof! Die da vorn sind von unserer Art, Windhunde des Meeres, Torpedozerstörer. – Geben Sie acht, daß nicht zu früh geschossen wird. Ich verlasse mich auf Sie …“

Windroof faßt an die Mütze, steigt zum Deck hinab, denkt: „Das verfluchte Weibsbild! Nun sind wir eingekreist!“

Der Satanas schiebt sich weiter …

Bedächtig, langsam, harmlos …

Die acht Zerstörer dort, in Linie den Fluß sperrend, speien schwarzen Qualm aus den Schloten …

Noch sechshundert Meter …

Noch vierhundert …

Der rote Teufel lehnt am Maschinentelegraph …

Augen starr auf den Feind …

Scheinwerfer schleudern Lichtkegel …

Kleben an der Jacht …

Die hält getrost auf den mittelsten Zerstörer zu … Gleitet vorüber, stets umspielt von den Scheinwerfern.

Aus einem Sprachrohr dröhnt eine Stimme von feindlicher Brücke:

„Welches Schiff?“

Der rote Teufel hebt den riesigen Blechtrichter, brüllt zurück:

„Privatjacht Savanna, Heimathafen Neuyork …“

Der Zerstörer schwenkt plötzlich ein …

Gleitet heran …

„Stoppen Sie sofort!“ kommt der Befehl …

Der rote Teufel lacht …

Und mit dumpfem Sausen fliegt ein Geschoß dem Zerstörer ins Heck zerstört das Steuer …

Der rote Teufel hat den Hebel des Maschinentelegraphen herumgerissen …

Ein Zittern geht durch den Satanas …

Unter den drei peitschenden Schrauben schlägt der Wasserschwall hoch …

Das Rennen beginnt …

Der Pirat spottet der Gegner …

Das offene Meer ist nahe. Und von drüben fällt kein Schuß: Ruth Gabor ist ja an Bord!

Die Unendlichkeit der Nordsee nimmt den Freibeuter auf …

Sein grauweißer Rumpf taucht im Dunkel des Horizontes unter … – –

Windroof steht wieder neben dem Kapitän.

„Nun holen wir Martens bei Southend ab,“ meint der Piratenführer gleichmütig. Und ruft dem Matrosen am Steuer zu: „Nördlichen Kurs, mein Junge! Und dann von Southend heimwärts, damit wir die drei Damen schnell wieder loswerden.“

Windroof horcht auf …

Wagt zu erklären: „Ganz recht, Käp’ten, nur keine Weiber Bord!“

Der rote Teufel nickt. „Auf dem Teufelsriff sind sie ungefährlich …! Unsere Kolonie wird an Schönheit gewinnen, wenn Weiberröcke im grünen Busch flattern!“

Windroof begreift den Kapitän nicht. Und denkt an Doktor Rices Worte: „Dieser Mann ist in seiner Art fraglos ein Genie. Alle Genies aber sind … geistig nicht ganz normal!“ –

Der Satanas hält jetzt Kurs auf den Hafenort, wo die Freibeuter Miß Holler und Hanna Lohmer sowie den Beauftragten des Kapitäns aufnehmen werden.

Dieser Kapitän weiß nur, daß die Gesellschaftsdame Ruth Gabors den Namen Holler trägt. Den der Zofe kennt er nicht. In dem Briefe Ruths an Miß Holler war nur Hanna erwähnt. Und das konnte ja auch ein englischer Vorname sein. – –

Dort, wo die düsteren, nebelumwogten Felsgestade der Shetland-Inseln sich nördlich von Schottland aus dem Atlantic erheben, – dort, wo die nördlichste dieser Inseln, Unst, ihre turmhohe Steilküste der Brandung des Ozeans entgegenstemmt, dort ragt einige tausend Meter nach Nordwest zu das Teufelsriff einsam und noch düsterer als ungeheurer Felswürfel mit senkrechten, zumeist dreihundert Meter hohen Wänden aus einem Gewirr scharfer, niederer Klippen wie ein von Menschenhand geschaffener Gigantenturm aus den nie erlöschenden Schaummassen einer tosenden Brandung hervor …

Ein Turm von fünfhundert Meter Seitenlänge, ein Turm, dessen Spitze noch nie ein Mensch bestiegen, auch noch nie den Versuch dazu gemacht hatte, da eine alte Sage unter den Bewohnern der Shetlandgruppe umging, daß in dem Felswürfel mit seinen Rissen, Spalten und engen Kanälen, die stellenweise wie Tunnels sich in das Granitmassiv hineinzogen, böse Geister hausten …

Und auf der Südseite dieses Würfels hoch oben auf der schroffen, himmelhohen Uferwand war ein einzelner Steinblock zu erkennen, der ohne Zweifel einem Teufelskopf mit stark gekrümmten Hörnern glich.

Daher auch der Name Teufelsriff … –

Und hier nun – hier mitten durch die wütende Brandung hindurch führte der Kapitän des Satanas sein schlankes Schiff auf wohlbekanntem, nur ihm vertrautem Pfade mitten durch die Klippen hindurch …

Führte es weiter in einen der Kanäle hinein, der sich sehr bald zum kleinen See erweiterte, dessen Ufer in steilen Terrassen sich nach oben zogen.

Abend war’s, der neblige Abend nach jener Morgenstunde, als Miß Holler und Hanna Lohmer an Bord gebracht worden waren …

Und trotz des Nebels lag noch ein rötlicher Widerschein der schwindenden Sonne auf den langen, steilen, grünen Terrassen des hohlen Inneren dieses Gigantenturms …

Staunend, fast ergriffen, blickten Ruth Gabor, die Holler und die blonde, liebliche Hanna vom Deck des Satanas auf dieses seltsame Bild …

Da waren Bäume und Sträucher, ganze Haine, da war eine Quelle, die als dünner Wasserfall über die untersten beiden Terrassen abwärtsglitt.

Da waren, versteckt unter breitästigen Buchen, eine Anzahl blitzsauberer Häuschen, deren Holzwände und Pappdächer jedoch zum Schutz gegen Fliegersicht in grellen Farbklecksen prangten … –

Henry Windroof stand neben den Frauen …

Jetzt ganz Kavalier, vom Kapitän beauftragt, den Gästen das Quartier anzuweisen …

„Ja, das ist nun also unser Schlupfwinkel,“ sagte er etwas verlegen, da Ruth Gabors eisige Zurückhaltung ihn verwirrte. „Ja – unser Schlupfwinkel … Und dort auf der dritten Terrasse das einzelne Häuschen, Miß Gabor, dort unter den drei Eichen, – dort werden Sie wohnen, – auch Miß Holler und Miß Hanna …“

Er warf der blonden Hanna einen bewundernden Blick zu. Die gefiel ihm eigentlich noch weit besser als die berühmte Filmdiva. Die hatte so was Sanftes, Engelhaftes an sich. Die mußte weich und anschmiegend sein, ein gefügiges Frauchen …

„Wenn die Damen mir nun folgen wollen,“ bat er und faßte an die Mütze …

Ganz Kavalier …

Zeigte auf die Laufplanke, die vom Deck des Satanas nun ans hohe Ufer des kleinen Binnensees hinüberlief.

„Das Gepäck wird sofort folgen,“ beeilte er sich zu erklären. „Und im übrigen ist in Ihrem neuen Heim, Miß Gabor, alles zu Ihrem Empfang bereit …“ –

Am Ufer drängt sich am Ende der Laufplanke ein Dutzend Männer zusammen, gleichfalls Piraten, die während der Abwesenheit des Satanas das Teufelsriff zu bewachen hatten.

Ein Zuruf Windroofs verscheuchte sie. Ruth überschritt die Planke …

Und als erste betrat sie dann auch das blitzsaubere Häuschen, den kleinen, behaglich ausgestatteten Wohnsalon.

Henry Windroof hatte sich bereits draußen verabschiedet, hatte nur noch zu Hanna gesagt:

„Sie finden in der Küche alles, was Sie brauchen, Miß, selbst eine Wasserleitung. Wir sind hier sehr fleißig gewesen, bevor der Satanas seine erste Kreuzfahrt begann …“

Dann ging er wieder zum See hinab und überwachte die Maskierung des Satanas, der an seiner Liegestelle vollständig mit großen Leinwandplanen bedeckt wurde, deren Bemalung aus der Luft, von einem Flugzeug aus, Felsen und Sträucher vortäuschte.

 

8. Kapitel.

Hannele.

Einsam für sich unter einer einzelnen Buche lag da abseits der übrigen Häuschen auf der zweiten Terrasse nahe der sanft gurgelnden Quelle die Wohnung des Kapitäns, ein Holzbau wie alle übrigen, nur kleiner, nur zwei Räume enthaltend …

Ein Matrose hatte dem Piratenführer soeben aus der gemeinsamen Küche auf großem Teebrett das Abendessen gebracht …

Hatte alles sofort unberührt wieder mitnehmen müssen … –

In einem Korbsessel saß der rote Teufel und brütete vor sich hin, das Haupt in die Linke gestützt …

In seiner von Menschenhaß und Menschenverachtung erfüllten Seele wirkte noch der jähe Schreck nach, den er empfunden, als er dort südlich von Southend die beiden Frauen und seinen Beauftragten an Bord genommen und von der Brücke aus in einer dieser Frauen beim Lichte der Positionslaternen Hanna erkannt hatte – Hanna Lohmer …

Im ersten Augenblick hatte er da an eine Sinnestäuschung geglaubt – an eine Ähnlichkeit …

Doch nein – dieses liebliche, zarte Gesicht, diese ernsten und doch so milden Augensterne gab es nirgends zum zweiten Male …

Und da hatte er sich am Geländer der Brücke festgekrampft und die schlanke Gestalt mit brennenden Augen verfolgt, bis sie im Niedergang der Achterkajüte verschwunden …

Hanna – Hanna Lohmer …!!

Wie in aller Welt kam Hanna hierher?! Wie in aller Welt konnte eine Hanna Lohmer in diese erniedrigende Stellung hineingeraten sein, für eine Hanna Lohmer erniedrigend, denn –: Tochter eines deutschen Geheimrats, eines der berühmtesten Ärzte Berlins, – und nun Zofe einer Filmdiva …?! –

Der Kapitän saß wie eine Bildsäule …

Erinnerungen – bunte Bilder – kamen, flüchteten, wurden von anderen abgelöst …

Der matte Schein einer kleinen Petroleumlampe mit grüner Glocke traf des Korsarenführers eherne Züge, ließ sie noch schärfer, harter erscheinen …

Seine hastenden Gedanken verdichteten sich zu stoßweisem, leisem Selbstgespräch …

„Auch darum betrogen – – auch darum!! Und – weshalb – – weshalb?!“

Stille …

Draußen die murmelnde Quelle …

Weiter draußen, durch gigantische Felswände getrennt, die Brandung an den Klippen des Teufelsriffs – ein an- und abschwellendes Brausen, eine Musik wie das Rauschen der Kiefernwälder der märkischen Heimat …

Und durch diese Wälder war einst der rote Teufel als glücklicher Mann Hand in Hand mit der süßen, lieblichen Hannele Lohmer geschritten …

Als Brautpaar …

Als zwei, die sich liebten, wie nie zwei Menschen sich geliebt …

So – glaubten sie …!

Hielten ihre Liebe für etwas, das seinesgleichen nicht haben könnte … –

Und doch … die erste Prüfung nur, die erste Probe auf den Bestand dieser Liebe brachte – – das Ende!! –

Der Pirat lachte bitter auf. Ein böses, unheimliches Lachen …

Ballte die Fäuste …

Sprang auf, riß die klirrende Lampe vom Schreibtisch, beleuchtete ein Bild in schwarzem Rahmen – sein eigenes Bild, eine Kabinettphotographie …

Und dieses Bild war durch einen Dolch an die Wand geheftet …

Gerade durch das Herz ging die Dolchspitze hindurch.

„Schuft!!“ gurgelte der Korsar in einem Haß, der sein Gesicht zur dämonischen Fratze verzerrte …

Lachte nochmals schrill und überlaut …

Zuckte zusammen …

Horchte …

Da – wieder das Pochen gegen die verhüllte Fensterscheibe …

Ein zaghaftes Pochen … –

Der Kapitän stellte die Lampe hin.

Rief befehlend: „Ich will nicht gestört werden! – Was gibt’s denn?“

„Hanna … Hanna Lohmer bittet um eine kurze Unterredung,“ erklang’s ebenso zaghaft von draußen.

Des Kapitäns Rechte fuhr nach dem Herzen, krallte den Stoff der blauen Seemannsjacke zum dicken Bausch.

Dann – ein böses, verächtliches Lächeln, ein Achselzucken …

Was – was war ihm Hanna noch?! Nichts – nichts! –

Und er nahm die Lampe wieder auf, ging in den kleinen Flur, schob den Riegel der Haustür zurück …

Ein eisiges „Bitte – treten Sie ein …!“

Hanna stand im Dunkeln, nur gestreift vom matten, flackernden Lampenlicht …

„Empfängst Du mich so – so, Fritz, so – ganz als Fremde?!“ flüsterte sie. „Oh – das habe ich nicht um Dich verdient! Das nicht! Dann – will ich wieder gehen … – Gute Nacht …“

„Bleib’!“ Herrisch, kurz … „Tritt ein …! Vielleicht haben wir doch manches zu besprechen, zu klären, wir beide …!“

Hanna schritt an ihm vorüber. Die Haustür schlug zu. Der Riegel knackte … –

Der Freibeuter stellte die Lampe auf den Schreibtisch, deutete auf den zweiten Korbsessel neben dem Bücherständer, lehnte sich an die Wand, neben das Bild mit dem Dolche als Nagel.

Hanna Lohmer blieb stehen …

Schaute den Mann lange, lange an, den sie einst geliebt – den sie noch liebte. Und sagte dann schlicht:

„Ich habe Dich gesucht, Fritz … Der Vater ist seit Monaten tot. Die Mutter ist arm. Was wir an Vermögen besaßen, ist wertlos geworden. Ich vermutete Dich in England. Du warst so oft in England …“

Er blieb stumm …

Die sanfte Stimme, die da aus dem Dämmer des halbhellen Stübchens zu ihm drang, erfüllte sein Herz mit Weichheit und Sehnen. Er wehrte sich dagegen. Er durfte nicht weich sein – nie mehr!!

„Damals, Fritz, – damals, als ich Dich aufgab, war ich noch ein Kind trotz meiner neunzehn Jahre … Ein Kind an unselbständigem Denken und Urteilen. Alles – alles sprach gegen Dich, Fritz. Alle Welt erklärte Dich schuldig. Die Zeitungen nannten Dich mit Beiwörtern, daß ich mich schämte … Meine Eltern schickten mich fort von Berlin, zu Verwandten nach Ostpreußen. Wenn Du wüßtest, Fritz, wie unzählige Tränen dort die steile Samlandküste aus meinen brennenden Augen quellen sah, – um Dich – um Dich weinte ich, um die – gemordete Liebe … – Und dann – dann Fritz, gingen Monate hin, Monate, in denen ich reif wurde, reif durch das Unheil, das über uns Lohmers hereinbrach: Armut, Not nach des Vaters Tode! – Ich lernte das, was man Dir vorwarf, anders beurteilen, vorsichtiger … Und aus den Zweifeln, ob Du wirklich schuldig, wuchs ebenso langsam die Gewißheit hervor, daß … Du das – das niemals getan haben könntest. – Ich begann nach Dir zu forschen. Ich nahm eine Stellung in England an – als Vorleserin, als Gesellschafterin. Ich hoffte, Dich in England wiederzusehen. Ich ließ nicht nach mit meinen Anfragen, wandte mich an diesen und jenen, der Dir einst nahegestanden, natürlich auch an…“

„Halt!!“ Schrill kam’s von der Wand her. „Halt, niemals – nichts … von … dem!“

Hanna war leicht zusammengefahren …

Ihre Nerven versagten plötzlich …

Sie weinte …

Weinend sank sie in den Sessel, drückte die Hände vor das Gesicht … –

Der rote Teufel trat zu ihr …

„Du hast gesucht – und fandest einen … Verbrecher,“ meinte er mit ungeheurer Bitterkeit. „Einen Verbrecher, der nicht mehr wagt, Dir über das geliebte Blondhaar zu streichen …! Das – das fandest Du! Du – Du Ärmste!“

Ihre Hände glitten in den Schoß …

Sie erhob sich …

„Was ich gesucht, habe ich gefunden: meine Liebe!“ sagte sie ganz schlicht, aber mit fiebernden, sehnenden Augen. „Ich … verstehe Dich! Die Welt hat Dich verstoßen! Ich … bin nicht die Welt, nicht Dein Richter, – nur die, die Dich liebt …“

Und mit unendlich keuscher Innigkeit legte sie ihm die Arme um den Hals, barg den Kopf an seiner Brust.

Er küßte ihr blondes, duftendes Haar, – ebenso keusch, ebenso zart …

Preßte sie an sich …

Und stöhnte:

„Zu spät, Hanna …! Zu spät!! Der, der ich jetzt bin, wäre ein Schurke, würde er die Hand nach Deiner Reinheit ausstrecken. – Hanna – Hanna, wir beide wollen diese Minute nie vergessen, in der wir uns wiederfanden! Von dieser Minute des Glücks wollen wir zehren bis an unser Lebensende …!“

Er löste ihre Arme sanft von seinem Halse …

Wollte sich freimachen …

Desto enger schmiegte sie sich an ihn …

Schaute zu ihm auf …

„Was Du jetzt bist, – wirf es von Dir!“ flehte sie. „Wir beide, Fritz, wir beide werden irgendwo – irgendwo ein stilles Fleckchen Erde und …“

Er fiel ihr hart ins Wort.

„Ich bin nicht treulos, Hanna. Ich habe zweiundfünfzig Menschen mir geworben, die an mir hängen mit Mut und Ergebenheit, die von mir die Einlösung meiner Zusagen erwarten. Sie haben, durch mich verführt, ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Das Verbrechen des Seeraubes wird mit dem Tode bestraft. Sie haben mir geholfen, Millionen zu erbeuten. Noch nicht genug Millionen! Jedem eine versprach ich damals in New Orleans – jedem eine, verpfändete mein Wort darauf. Ich werde nie wortbrüchig werden – nie!“

Sie erschauerte unter der Wucht dieser Sätze, die wie ein Schwur klangen …

Und – leiser fügte der Korsar hinzu:

„Geh’, Hanna, geh’ …! Es muß sein …!“

Sie weinte wieder …

Er drängte sie sanft zur Tür …

Geleitete sie hinaus …

Der Mondschein lag jetzt silbern über den verschwiegenen, nächtlichen Terrassen …

Und Hand in Hand gingen die beiden schweigend dahin – bis zu Ruth Gabors Häuschen …

Im Schatten der Buchen aber umschlang Hannele Lohmer den Geliebten, küßte ihn rasch, raunte ihm ins Ohr:

„Ich bin Dein und bleibe Dein …! Gute Nacht, Du Lieber …“

Und enteilte, öffnete leise die Hintertür des Häuschens und schlüpfte in ihre bescheidene Kammer neben der Küche. – –

Der Piratenkapitän befahl eine halbe Stunde später die Seinen zu neuer Kreuzfahrt.

Der Satanas verließ um Mitternacht seinen Schlupfwinkel, und oben auf der Brücke stand … der rote Teufel …

Sagte zu Henry Windroof: „Mögen die drei Damen sich nur ohne uns auf dem Teufelsriff einleben! Vergessen wir, daß sie überhaupt dort sind! Zu unserem Handwerk passen Weiber nicht, Windroof!“

„Verdammt – da haben Sie recht Käp’ten!“ Und Henry Windroof dachte sehnsüchtig an Hannas blonde Lieblichkeit.

 

9. Kapitel.

Das Auto.

Howard Garden saß vier Tage später zusammen mit Kapitän Moow in Lord Cecils Herrenzimmer.

Draußen klapperten unaufhaltsame Regenschnüre gegen die bunten, bleigefaßten Scheiben.

Worynoors schloßartige Villa lag inmitten eines großen Parkes außerhalb Liverpools auf den Castor-Höhen.

Regenrauschen und Bäumerauschen bildeten die Begleitmusik ernster Gespräche.

Garden im tiefen Klubsessel hatte die Füße gegen den Kopf des Bärenfelles vor dem mächtigen Kamin gestemmt …

Sir Douglas Moow, in Uniform, lehnte noch bequemer in einem zweiten Sessel, während Seine Lordschaft am Schreibtisch soeben den Freunden den Bericht über des Piraten letzte, neueste Tat vorgelesen hatte. –

Kapitän Moow nahm die Zigarre aus dem Munde.

Erklärte sehr bestimmt: „Und ich bleibe dabei, daß diese Freibeuter hier in englischen Gewässern ihren Schlupfwinkel haben.“

Worynoor zuckte die Achseln …

„Gestern haben abermals sämtliche verfügbaren Militärflieger die Küsten abgesucht, lieber Moow, – bis hinauf zu den Shetland-Inseln. Das geschah auf Ihre Veranlassung. Unmengen Benzin hat das gekostet. Der Erfolg: Null!!“

Garden nickte versonnen …

„Null …! Und neun Dampfer hat der rote Teufel nun geplündert, alles Dampfer mit Edelmetalladungen. Er muß tadellose Verbindungen unterhalten.“

Moow warf die Zigarre in den Aschbecher …

„Der Teufel hole den Satanas! Diese Blamage – diese Blamage!! In Paris lacht man uns aus, in Amerika singen die Komiker Spottlieder, in Italien reibt man sich vergnügt die Hände, weil das große England nicht mal den einen Freibeuter erwischt!“ –

Garden rauchte eine neue Zigarette an …

Sein weichliches Gesicht zeigte trotz allem den Schimmer der vielseitigen Intelligenz, die diesem Gentlemandetektiv zu eigen.

Und Garden blies den Rauch in die Höhe, sagte zu Seiner Lordschaft:

„Cecil, da in der Zeitung steht rechts unten im Beiblatt noch etwas Interessantes … Überschrift: Der Sieger über die Bank von Monte Carlo.“

„Was soll das?!“ murrte der Kapitän. „Was geht uns das verdammte Spielerparadies an?!“

„Sehr viel, Moow …! Sehr viel! Da hat nämlich ein geheimnisvoller Fremder an drei Abenden hintereinander die Bank gesprengt und dann gestern mit runden drei Millionen Monaco verlassen. – Das steht dort in dem Artikel. Und – nach der Beschreibung des Äußeren dieses Spielers ohne Nerven kann’s nur – unser roter Teufel, Mister Hektor Tschark, gewesen sein! Ich habe bereits nach Monte Carlo depeschiert, damit man die Spur dieses Fremden, der dort als Spanier auftrat, weiter verfolgt.“

Er hätte noch mehr hinzugefügt.

Einer der Diener Worynoors war eingetreten und reichte seinem Herrn auf silbernem Teller eine Karte.

Worynoor schnellte aus dem Schreibsessel hoch …

„Was denn?!“ fragte Moow mürrisch.

„Wer denn?“ fragte Garden gespannt.

„Da – lies!“ Und Worynoor hielt dem Freunde die Karte hin …

Gardens Gesicht wurde starr …

„Hektor Tschark,“

stand auf der Visitenkarte …

Darunter mit Bleistift:

„bittet, die drei Herren sprechen zu dürfen.“

„Ein schlechter Scherz!“ meinte Worynoor dann … „Irgendein Bekannter, der …“

Und schwieg …

Draußen im Garten der Lärm eines nahenden Autos – eine schrille Hupe …

Der Lord riß den einen Fensterflügel auf, schaute hinaus …

Beugte den Kopf zurück …

Zu Garden: „Der Kraftwagen hält vor der Freitreppe …! Ein fremder, geschlossener Wagen, der –“

Und schaute wieder hinab, da der Motor leer weiterlief …

Sah drei – vier Männer in erdfarbenen Touristenanzügen, mit unnatürlich schwarzen Vollbärten die Stufen emporspringen – hinein in die Vorhalle …

Brüllte, Kopf halb wendend, Garden zu:

„Überfall …!! Hierher Howard …!“

Garden, der Geistesgegenwärtigere, stieß die Fenstertüren zum großen Balkon auf, der gerade über der Freitreppe lag …

Sah so, besser als der Lord, wie die vier einen eleganten Fremden mit blondem Spitzbart aus der Vorhalle zerrten – die Stufen hinab …

Dem – Auto zu, dessen Motor leer lief, dessen Chauffeur krumm saß, wie sprungbereit, Hand am Rade, Hand am Hebel …

Der Fremde wehrte sich mit äußerster Kraft, rief aber nicht um Hilfe …

Doch dort oben nun, von der Balkonbrüstung, Gardens zuweilen so metallische Stimme:

„Laßt ihn los, Schufte! Laßt ihn los!“

Rief’s und – fühlte nach der Pistole in der Beinkleidertasche …

Bekam sie zwischen die Finger …

Sicherungsflügel herum … Ein Knacken …

Und Howard Garden schoß – rücksichtslos …

Von oben dem einen Kerl durch die Sportmütze in den Schädel …

Dem zweiten in die Schulter – quer durch den Leib.

Zwei lagen, kollerten die Stufen hinab …

Zwei desto flinker, mit unheimlicher Kraft, Riesen von Gestalt, mit gelbbraunen Fäusten wie Bärenpranken, stießen den Blonden ins Auto …

Das ruckte an …

Jagte davon …

Aber – Howard Garden, mit sicherem Satz lang auf dem Verdeck landend, – Howard Garden fuhr mit …

Am Fenster des Herrenzimmers Sir Douglas Moow, Seine Lordschaft und der Diener …

Erstarrt, versteinert …

Im Eingang der Halle andere Diener: erstarrt, versteinert …

Zwei Tote unten an der Freitreppe im hellen Muschelkies verkrümmt, leblose Beweise der blitzschnellen Tragödie, die hier begonnen … –

Das Auto flog die im Sonnenglast schillernde, soeben erst frisch gesprengte einsame Asphaltstraße hinab – an anderen Villen vorbei …

Vorbei an glotzenden Unbeteiligten, vorbei an anderen Kraftwagen …

In wahnwitzigem Tempo …

Ein Tempo, das nur ein Rennauto schafft …

Und Howard Garden lang auf dem Bauche liegend auf dem braun lackierten Deck …

Pistole in der Hand … Noch fünf Schuß zur Verfügung …

Dann – im Auto ein Knall …

Ein zischendes Singen strich mit kühlem Luftzug an Gardens Kopf vorüber …

Eine Kugel, die ins Verdeck ein Löchlein gebohrt, die dem unliebsamen Mitfahrer gegolten …

„Es wird ernst!“ dachte Garden und biß die Zähne zusammen, rutschte schnell bis zum Rande des Decks …

Ein zweiter Knall …

Ein zweites Löchlein im Verdeck …

Garden schaute nach vorn …

Die Straße, jetzt unbebaut, lief zwischen Wiesen hin dem fernen Seestrande zu …

Da … feuerte Garden – rücksichtslos – ohne Besinnen …

Feuerte auf den Chauffeur, dessen halben Oberkörper er erspähen konnte …

Zielte auf das rechte Handgelenk …

Traf …

Und schwang sich zur Seite ins Leere – sprang herab – hinein in die Holunderbüsche am Wege …

Neben ihm sauste der Kraftwagen in den Graben – überschlug sich …

Krachend – splitternd …

Ein Knall – eine helle Flamme …

Benzingestank, Qualm, Stöhnen und gellendes Geheul eines halb Zerquetschten – des Chauffeurs …

Garden stieß das Türfenster ein …

Packte den Blonden …

Ein anderes Auto hielt schon an der Unfallstätte, Herren aus Liverpool, die am Seestrande gebadet hatten.

Sie halfen … Und einen Toten, zwei Bewußtlose barg man hinüber in den anderen Straßengraben.

Der Chauffeur war verstummt …

Die rote Lohe fraß weiter – weiter …

Drei Herren suchten durch Sand das Feuer zu ersticken … –

Howard Garden kniete neben dem Blonden.

Der war ihm am wertvollsten …

Fühlte den Puls, befühlte die Glieder … –

Von den nächsten Villen eilten Leute herbei. Leute mit Wassereimern, Decken, Leitern – zum Transport der Verunglückten … –

Einer der Herren, Besitzer des Autos sagte zu Garden, der ihm von Ansehen bekannt:

„Es war noch ein Motorradler dem Kraftwagen voraus, Mister Garden, – ein Mann mit ebensolchem falschen schwarzen Bart wie die da sie tragen …“

Garden nickte nur …

„Helfen Sie mir …!“

Man hob den Blonden in das Auto, dessen Besitzer dann mit Garden zu Lord Worynoors Villa fuhr …

 

10. Kapitel.

Der Kranke.

Abend war’s …

In Lord Worynoors Schlafzimmer lag der Mann mit geschienten Armen im Bett, der sich als Hektor Tschark in der Maske eines Blondbärtigen Seiner Lordschaft hatte melden lassen.

Er lag noch in tiefer Chloroformnarkose da. Die Ärzte hatten stundenlang mit ihm zu tun gehabt. Nun waren die Fenster des Zimmers weit geöffnet worden, und die Abendbrise führte vom nahen Meere frische Salzluft herbei … –

Worynoors Villa war das Ziel zahlloser Reporter, die draußen vor dem Gitter des großen Gartens herumstrichen wie hungrige Schakale, die ohne Bedenken den Zaun überklettert hätten, wenn nicht eine enge Kette von Marinesoldaten die Villa umstellt hätte.

Worynoors Villa war der Mittelpunkt der Gedanken ganz Englands geworden …

Sie barg den roten Teufel, den frechen, tollkühnen Piraten … –

Als man dem Bewußtlosen den blonden Bart und die blonde Perücke entfernt hatte, als man die geschickt aufgetragene Schminke weggewischt hatte, war das Gesicht des Mannes offenbar geworden, den die Photographie der Pinkertons darstellte: Hektor Tschark-Schaper, der Irrsinnige, der Freibeuter!

Es gab da keinen Zweifel. Ein solches Gesicht kam nur einmal im Leben vor. –

Garden, Moow und Worynoor, ferner Admiral Botterfly und Polizeichef Sir Longchear hatten, bevor die Ärzte den übel Zugerichteten chloroformierten, den für kurze Minuten Erwachten eng umstanden, und der Admiral hatte ihn streng gefragt:

„Geben Sie zu, der Piratenkapitän zu sein?“

Ein klares hartes Ja war die Antwort gewesen. –

Weiter hatte der Mann nichts geäußert – nichts, – auf nichts mehr auch nur durch Wimperzucken etwas erwidert.

Nun würde es noch Stunden dauern, viele Stunden, bis er vernehmungsfähig …

Und oben in dem großen Speisesaale der Villa tafelten die Herren, die nur an eins dachten: an den Moment, wo Hektor Tschark-Schaper ihnen Rede und Antwort stehen würde!

Admiral Botterfly, im vollen Bewußtsein seiner hohen Verantwortung, dämpfte seine Erregung durch zahllose Gläser schweren weißen Burgunders …

Garden saß links von ihm …

Garden trank Eiswasser mit wenigen Tropfen Absinth … – wie immer …

War still und wortkarg. Sein Mädchengesicht schien von holden Dingen zu träumen. So versonnen war’s.

„Garden,“ sagte Botterfly in seiner derben Art, „Garden – Teufel noch mal! – worüber grübeln Sie nach? Genügt Ihnen meine Erklärung nicht?!“

Das, was Botterfly hier andeutete, bezog sich auf den scheinbaren Widerspruch, daß die Piraten mit ihrem Auto ihren eigenen Kapitän gewaltsam aus der Villa zurückgeholt hatten …

Und hierfür hatte Botterfly, da Howard Garden sich nicht äußerte, folgende Erklärung gefunden: Der Freibeuterkapitän hätte sich, entweder von Reue gepackt oder in einem Anfall von Unzurechnungsfähigkeit, insgeheim entschlossen, sich den Behörden zu stellen. Seine Leute jedoch wären noch rechtzeitig dahintergekommen und hätten sein wahnwitziges Vorhaben vereiteln wollen. –

Allen hatte diese Lösung der auffallenden Widersprüche durchaus zugesagt. Garden blieb auch da stumm.

Und nun hatte Botterfly sich herabgelassen, den Gentlemandetektiv[2] um eine offene Angabe seiner Ansicht zu ersuchen … –

Garden erwachte aus fernen Gedanken …

„Sir Botterfly,“ erwiderte er verbindlich lächelnd, „wenn ich ehrlich sein wollte, würde ich Sie alle bitter enttäuschen.“

Der Admiral kniff die Augen klein …

„So?! Enttäuschen?! Also – meine feine Erklärung ist … Blech?“

„Ja – leider, Sir …!“

Botterfly lachte dröhnend …

Die Tafelrunde wurde aufmerksam …

Und Garden sprach klar und laut in das allgemeine Schweigen hinein:

„Ich war vorhin im Krankenzimmer und habe von sämtlichen Fingern des Mannes da Abdrücke hergestellt, die mein Gehilfe Corniter nun hier im Keller vergrößert. – Bitte – dort kommt er mit zehn Papierblättern …“

Der Graubart Corniter stelzte rasch näher.

„Mister Garden,“ sagte er würdevoll und doch erregt, „die Abdrücke hier, die von heute, habe ich mit den früheren verglichen. Und dieser Vergleich ergibt, daß der Mann da oben nicht derjenige ist, der Miß Ruth Gabor entführte, sondern der sein muß, der auf der Silvania Miß Gabors Verehrer war.“

Stille – Totenstille …

Und durch diese Stille Gardens halbes Gemurmel:

„Das habe ich mir gedacht!“

Polizeichef Longchear rief Corniter zu:

„Her mit den verschiedenen Abdrücken! Davon verstehe ich etwas!“

Und Corniter breitete die zehn Blatt Papier mit den Rillenmustern in Schwarz und sechs andere ähnliche vor Longchear aus, gab die nötigen Erklärungen dazu …

Der Polizeichef verglich …

Botterfly war hinter seinen Stuhl getreten, schaute ihm über die Schulter …

Longchear runzelte die Stirn …

„Meine Herren,“ sagte er dumpf, „Garden und Corniter haben recht. Der Mann ist nicht der Pirat, sondern ist ein Mensch, der äußerlich diesem Hektor Tschark unheimlich ähnlich sehen muß, sonst hätte Miß Gabor die beiden nicht verwechselt. Diese Abdrücke hier“ – er deutete auf drei Blätter – „rühren von der Visitenkarte her, die der Pirat Miß Gabor in die Theatergarderobe schickte. Sie sind gänzlich verschieden von denen unseres Gefangenen mit den beiden Armbrüchen!“

Wieder Totenstille …

Dann polterte Botterfly heraus:

„Aber – aber – – der Mensch da oben hat doch bereits zugegeben, daß er …“

„Gelogen hat er!“ platzte Longchear dazwischen. „Gelogen!! Und er wird wohl seine Gründe dafür gehabt haben!“

Botterfly ging an seinen Platz zurück, setzte sich, trank sein Glas leer, sagte ingrimmig: „Neue Blamage für Oldengland!! In alle Welt wird’s gefunkt, daß wir den Schuft haben, den roten Teufel, – und nun … ist’s der falsche!!“

„Und dazu bleibt noch die Frage offen: wer von diesen beiden, die sich so zum Verwechseln ähnlich sehen, ist der, nach dem die Pinkertons fahnden, – also der Wahnsinnige, der aus Doktor Gripskys Anstalt entfloh?“ fügte Garden sinnend hinzu. „Denn, meine Herren, die beiden Männer gleichen sich so vollkommen, daß auch der Kranke das von den Pinkertons angegebene Muttermal hinter dem linken Ohr besitzt!“

Wieder Stille …

Dann Botterfly: „Zigarren her, Worynoor! Gegen diese Enttäuschung hilft nur Nikotin – nur!!“

Seine Lordschaft hob die Tafel auf. Man begab sich nebenan ins Rauchzimmer …

Garden setzte sich still in eine Ecke und studierte die Abendzeitungen …

Las da einen kurzen Artikel nun schon zum dritten Male …

Die Vogelkolonie des Teufelsriffs abgewandert. Wie die Wetterwarte auf der Shetlandinsel Unst abermals berichtet, ist die auf etwa 50 000 Seevögel aller Art geschätzte Kolonie des unzugänglichen Teufelsriffs seit einiger Zeit vollständig verschwunden. Man begreift nicht, weshalb die zahllosen Vögel ihre sicheren alten Nistplätze auf dem ungeheuren Granitwürfel verlassen haben. Während früher Tag und Nacht über dem Riff eine Wolke von Vögeln dahinstrich, bemerkt man jetzt dort kaum noch einzelne Möwen, die nur für kurze Zeit auf den Rändern der steilen Wände rasten. Professor Sinclair, der Leiter der Wetterwarte Unst, führt diese Abwanderung der Seevögel auf vulkanische Ursachen zurück und nimmt an, daß im Innern des Riffs sich giftige Gasquellen geöffnet haben. – Leider ist es ja nicht möglich, diesen Dingen auf den Grund zu gehen, da das Riff noch nie erstiegen werden konnte und da auch eine Landung mit Flugzeug der Innengestaltung des Felsblockes wegen unmöglich ist.

Dreimal las Garden dies …

Sein Mädchengesicht ward seltsam steinern. Seine Augen schienen durch die Wände der Villa hindurchzudringen – nordwärts … zu den nebelumwallten Shetlandinseln …

Dann stand er auf, winkte Moow und den Lord unauffällig beiseite …

„Kapitän,“ sagte er leise zu Sir Douglas, „lassen Sie in aller Stille sofort eins Ihrer besten Marineflugzeuge abfahrbereit machen, dazu den besten Piloten, den Sie haben. Wir werden uns bei Admiral Botterfly entschuldigen, aber unsere Absichten verschweigen …“

 

11. Kapitel.

Verrat.

Seit jener Nacht, als Hanna Lohmer den Geliebten wiedergefunden, – seit jener Nacht war das Piratenschiff nicht mehr in seinen Schlupfwinkel zurückgekehrt.

Die elf Leute, die auch diesmal zur Bewachung des Riffs und der drei gefangenen Damen auf den grünen Terrassen zurückgeblieben waren, standen unter dem Befehl eines älteren Seemannes namens Colter, der einst in New Orleans zu den gefährlichsten Schmugglern gehört hatte.

Colter hielt strenges Regiment über seine kleine Schar, sorgte dafür, daß auch nicht eine der vielen Vorsichtmaßregeln vernachlässigt wurde, die des Piratenkapitäns reger Geist zum Schutze vor Überraschungen ersonnen und angeordnet hatte.

Elf junge, verwegene, gesunde Burschen waren’s, die hier auf dem engen Raum der grünen Terrassen nun Tag für Tag die Nähe des anderen Geschlechts spürten, die mit gierigen, hungrigen Augen den schlanken Gestalten Ruth Gabors und Hanna Lohmers folgten, sobald diese sich außerhalb des Häuschens nur zeigten.

Hungrige Augen … Hunger nach Weibern …

Das brütete nun wie Gewitterschwüle über dem vogelleeren Riff … –

Colter, zu alt, um dieses Erwachen wilder Instinkte in seinen elf Untergebenen auch nur ahnen zu können, saß am Morgen des vierten Tages friedlich unten am Ufer des kleinen Binnensees neben der mit Leinwand maskierten Motorbarkasse, dem für die Stunde der Not zurückgelassenen Rettungsschifflein, und angelte … rauchte seine kurze Pfeife, döste vor sich hin …

Oben neben dem Felsblock, dem Steinteufel, lag der Auslugmann mit dem Fernglase …

Und neben dem Steinteufel zogen sich die beiden Antennendrähte hin, deren Zuleitung nach innen über die Felsen in das Funkerhäuschen lief. Durch Funksprüche blieb so der Satanas mit seinem Schlupfwinkel in dauernder Verbindung. –

Tom Smarc, der Telegraphist, hatte soeben mit seinen neun Kameraden abermals geheime Zwiesprache gehalten. Er war die Seele der Verschwörung. Er war’s, der Ruth Gabor besitzen wollte – um jeden Preis.

Der stiernackige Bursche, dem der Wind aller Erdteile die Wangen gegerbt hatte, hatte das Gift Tropfen für Tropfen in die Herzen seiner Kameraden geträufelt …

Gold – Platin, viele Millionen lagen da in des Kapitäns Häuschen im geheimen Versteck …

Millionen – für jeden zwei …!!

Und – die Barkasse war da, seetüchtig, flink …

Da konnte man unschwer irgendwo an der dänischen Küste dort südöstlich landen und … verschwinden – sich trennen … –

Tropfen für Tropfen …! Verführerisches Gift …!

Die Banditen wurden einig …

Smarc beanspruchte Ruth Gabor für sich. Die Blonde sollte ausgelost werden. Die alte Schachtel, die Holler, mochte dem grämlichen Colter hier weiter Gesellschaft leisten …

So wurde es beschlossen … Und in der kommenden Nacht sollte die Geschichte vor sich gehen. Ohne Lärm … Colter würde man in seinem Häuschen festbinden. Die Weiber – mochten die ruhig schreien! Hier gab’s niemand, der ihnen zu Hilfe kommen konnte …! –

So ward’s beschlossen …

Man ging auseinander …

Smarc stülpte wieder die Kopfhörer über. Jeden Morgen sieben Uhr sandte der Sender des Satanas kurzen Bericht. Es war kurz vor sieben Uhr.

Smarc hatte die Apparate bereits auf die vereinbarte 8500 eingestellt.

Dann – die ersten Morsezeichen …

Smarc ließ den Papierstreifen ablaufen …

Punkt, Strich, Punkt, Punkt, Strich, – in bunter Reihenfolge wechselten die Zeichen …

Smarc riß den Streifen ab und übertrug die Depesche, nachdem er dem Satanas kurz zurückgemeldet hatte „Nichts Neues!“ –

Der alte Colter hatte gerade eine fünf Pfund schwere Seezunge glücklich herausgeholt, als Smarc neben ihm erschien.

„Heut nacht zwei Uhr trifft der Satanas hier wieder ein,“ sagte der Bursche gleichgültig. „Der Kapitän hofft endlich den Mann mitzubringen, auf den er’s schon lange abgesehen hatte. – Weißt Du eigentlich, Colter, wer dieser Kerl sein mag, dem unser Käp’ten so gern eins auswischen möchte?“

„Das weiß niemand,“ meinte der Angler achselzuckend. „Hm – ob der Käp’ten wieder Beute gemacht hat, Smarc?“

„Nichts gemeldet davon … – Na – guten Fang, Colter …! Ich steig’ mal zum Steinteufel empor!“

„Unterlaß das!“ brummte der Alte. „Dort oben hat nur die Wache was zu suchen. – Ist der andere Auslug besetzt?“

„Ja. Lewis hat dort Wache. Er ging vorhin nach oben.“

Smarc schlenderte davon, zur zweiten Terrasse, lugte nach den Damen aus.

Die saßen vor dem bunten Häuschen beim Frühstück – stumm, feindselig …

Ruth Gabor hatte damals nachts beobachtet, vom Fenster ihres Schlafstübchens aus, wie Hanna Lohmer den Piraten küßte …

Hatte am Morgen von Hanna eine Erklärung verlangt, hatte ihr vorgeworfen, wohl seit langem im geheimen Einverständnis mit Hektor Schaper zu stehen. – Dieser Verdacht lag ja so nahe …

Hanna hatte stolz geschwiegen. Seitdem wechselten Ruth Gabor und die Holler kaum mehr ein Wort mit ihr.

Auch jetzt dieses drückende Schweigen …

Ruth Gabor blickte zuweilen nachdenklich das blonde Mädchen an. Diese Tage hatten ihr reichlich Zeit gewährt, ihre unsinnige Eifersucht auf Hanna zu meistern und die Dinge ruhiger zu prüfen – alles, was sie bisher mit dem rätselhaften Manne erlebt hatte …

Und da war denn in diesen Stunden sorgfältigen Vergleichens jenes Hektor Tschark von der Silvania und dieses Piratenkapitäns ganz allmählich ein seltsamer Gedanke in ihr aufgetaucht, dem sie unablässig nachging, bis – bis aus Vermutung halbe Gewißheit wurde. –

Unvermittelt wandte Ruth Gabor sich jetzt der blonden Deutschen zu …

„Hanna,“ sagte sie freundlich, „nur eine einzige Frage beantworten Sie mir, und ich will Sie gern um Verzeihung bitten … – Gibt es ein Zwillingsbruderpaar namens Schaper?“

Hanna Lohmer blickte die Filmdiva offen an …

„Es gibt zwei Brüder, Miß Gabor, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Sie heißen aber weder Tschark noch Schaper. Beide Namen verhüllen nur einen anderen, mit dem viel Trauriges verknüpft ist.“

Ruth atmete tief auf …

„Oh – dann verzeihen Sie mir, Miß Lohmer,“ sagte sie weich und streckte Hanna die Rechte hin.

„Ich trage Ihnen nichts nach, Miß Gabor …“ In Hannas Augen schimmerten Tränen.

Hastig ging sie ins Haus – in die kleine Küche, überließ sich ihrer schmerzlichen Sehnsucht nach dem Geliebten. – – –

Nacht war’s …

Sturm umheulte das Teufelsriff …

Nordsturm wälzte Riesenberge schäumender Wogen gegen die Granitmauern der Piratenfeste …

Brandung tobte an der Nordseite, pflanzte sich fort nach West und Ost, verwandelte die Klippen in weiße Fontänen …

Sturm heulte stoßweise über die Terrassen, schüttelte die Bäume … die Buchen, sang in den Zacken und Klüften grausige Melodei von der Kraft der Elemente … –

Hanna Lohmer lag angekleidet in ihrem Kämmerchen auf dem Bett. Sie hatte von dem alten Colter nachmittags erfahren, daß der Satanas in dieser Nacht einlaufen würde.

Nun war’s elf Uhr, und der Sturm flaute nur ganz allmählich ab. Hanna sorgte sich um den Geliebten. Sie wußte, wie eng die Durchfahrt durch die Klippen war, wie leicht das schlanke Freibeuterschiff durch eine Strömung abgedrängt [werden][3] und zerschellen könnte …

Angstvoll lauschte sie auf die heulenden Windstöße, zählte die Sekunden, wann sie sich wiederholten, ob die Pausen länger würden … –

Es wurde halb zwölf. Hanna merkte, daß der Orkan jetzt sehr rasch nachließ. Leise erhob sie sich, schlich zur Hintertür hinaus, huschte davon, dem Häuschen des Geliebten zu. Einzelne Sterne blinkten bereits am Himmel, Wolkenfetzen jagten gen Süden. Aber – kein einziger Ton der grausen Sturmmusik unterbrach mehr das anhaltende Brausen der Brandung.

Hanna drückte die Tür auf, tastete sich im Dunkeln vorwärts, setzte sich im Dunkeln auf den Rohrsessel und wartete …

Schrak empor … – Stimmen vor dem Fenster … Kreischen der Türangeln …

Scham trieb das blonde Weib hinter den Vorhang in der einen Fensterecke. Tief drückte Hanna sich in die hier hängenden Anzüge hinein, in die leise knisternden, nach Seetang duftenden Ölröcke des Geliebten.

Männer traten ein, lachten, flüsterten. Laternenschein zuckte hin und her.

Den Tisch schoben sie beiseite, rollten den Bastteppich auf, hoben die Falltür …

Hanna zitterte, – jähe Röte schlug ihr ins Gesicht …

Smarcs Stimme hatte gerufen: „Erst das Gold ins Boot, dann die Weiber ins Bett!!“

Verrat – – Verrat!! – Sie ahnte die Wahrheit …

Alles – alles stürzte da zusammen, was sie sich vorgenommen, was sie auch erreicht hätte – durch ihre Liebe: die Beute hätte Fritz herausgeben müssen und dadurch wenigstens einen Teil seiner Schuld wieder gutmachen können! Dann wäre sie mit ihm geflohen – irgendwohin … irgendwohin! Und – er wäre ihr gefolgt, er wäre an ihr, durch sie gesundet!

Und nun – verloren, alles verloren!! Verrat, Flucht der Abtrünnigen, und mit das Verwerflichste dieser Elenden: Ruth Gabor und sie selbst Opfer brutaler Lüste!

Zitternd verharrte sie regungslos …

Bis die acht sich wieder entfernten, beladen mit den Goldkisten …

Da – hetzte sie hinaus – auf Umwegen dem Häuschen zu, Ruth zu warnen, sich mit ihr zu verbergen in den Klüften, Spalten – irgendwo …

Sah schon von weitem die Tür des Häuschens weit offen, hörte Miß Hollers jämmerliches Kreischen, – wildes Gelächter …

Hörte Miß Hollers Stimme schrillen in anderen Tönen – empört, voll geifernder Wut …

Sah Gestalten im erleuchteten Wohnraum, sah hinter den Buchen einen Mann, der lautlos auf sie einstürmte – einen der gelben Mestizen, einen schwarzhaarigen Burschen mit Tigergebiß, dessen freche Blicke sie oft gefühlt in den letzten Tagen …

In besinnungsloser Angst lief sie blindlings davon …

Blindlings klomm sie die nächste Terrasse empor. Steine kollerten unter ihren Füßen hinab …

Und hinter ihr der keuchende, gierige Schatten, gewandter, schneller, beflügelt von flammender Gier …

Blindlings nur vorwärts – vorwärts …

Sinnlos vor Schrecken – vor hellem Entsetzen, – nur einen Gedanken im brennenden Hirn:

Lieber den Tod, als die Schande!

Was – was konnte sie dem Geliebten noch sein, wenn ihr entehrter Leib ihm nichts mehr verhieß?!

Und – weiter nur – weiter, gehetztes Wild, – Todesgedanken in hehrer Seele – dem düsteren Schlunde entgegen, in dessen nie erforschten Tiefen die Wasser irgendeines unterirdischen Kanals gurgelten und schäumten …

Ein letzter Blick zurück – in ein halb verzerrtes Gesicht – in lodernde Augen …

Eine Hand streckt sich nach ihr aus, streift ihre Schulter …

Ein letzter Sprung – zwei Schritte noch …

Der Mestize taumelt zurück …

Steht – stieren Blicks – schaut hinab in das zackige Dunkel, beugt sich vor, horcht – horcht …

Nur die Wasser gurgeln und schäumen in den Tiefen des Teufelsloch … – So hat’s der Kapitän getauft – der Kapitän, der … heute heimkehrt …

Der Mestize schleicht davon … Begegnet Smarc mit einem neuen Goldtransport zur Barkasse …

„Die Blonde – ist ins Teufelsloch gesprungen,“ erklärt er scheu …

Smarc erschrickt … Abergläubisch wie er ist, nimmt er’s als üble Vorbedeutung. Flucht – denkt an Ruth Gabor, die gebunden in der Barkasse liegt, vergißt alles andere …

 

12. Kapitel.

Zwillingsbrüder.

Der große Marinedoppeldecker kämpft sich mühsam gegen den Sturm vorwärts. Auf der Höhe der Orkney-Inseln flaut der Wind jedoch zusehends ab, und Howard Garden sagt zufrieden zu Moow und Worynoor: „Wir schaffen’s!! In einer Stunde können wir die Shetland-Inseln in Sicht haben. Es bleibt bei unserer Vereinbarung: der Pilot streicht dicht über dem Teufelsriff hinweg, und ich will versuchen, mich von dem Tau auf festen Boden herabfallen zu lassen …“

„Ein Wahnsinn!“ meint Sir Douglas kopfschüttelnd. „Sie haben nur ein Leben zu verlieren, Garden!“

„Das stimmt, Kapitän. Und wenn ich’s diese Nacht verliere, so geschieht’s für Oldengland!“

Da schweigt der Kapitän.

Sie sitzen in der schmalen Kabine des Flugzeugs, sitzen und schauen zuweilen durch die Fenster hinab in die Finsternis, wo ganz – ganz unten weiße Streifen zuweilen aufleuchten, die Wogenkämme des Atlantic. –

Ruhiger, stetiger wird die Bahn des Riesenvogels. Der Pilot geht tiefer hinab. Sterne beginnen zu flimmern, das Gewölk zerteilt sich, der Mond erscheint …

Garden beugte sich zum Kabinenfenster hinaus …

Garden sieht als erster das schwarze Massiv des Teufelsriffs …

Als erster den weißen Lichtkegel des Scheinwerfers der verräterischen Barkasse, die in der Dunkelheit den Weg durch die Klippen nicht zu suchen wagt …

Und Garden winkt den Freunden: „Da – noch mehr Beweise?! – Da – ein Kanal – ein großes gedecktes Boot mit Scheinwerfer …“

Er spricht’s und läßt das Fernglas nicht von den Augen …

Moow eilt nach hinten – in den winzigen Senderaum – an die Funkapparate … Schaltet die Batterien ein … Funkt ins Weite, funkt die Torpedodivision vom nahen Kirkwall herbei … –

Die Barkasse überwindet die Riffe, gleitet ins Meer, wendet, läuft auf die Insel Unst zu, um unter Wind zu kommen.

Spritzer auf Spritzer geht über Bord …

Smarc steht am Steuer. Das Boot stampft schwer …

Unsichtbar über ihm schwebt der Doppeldecker, bleibt auf gleichem Kurs …

Die düsteren Gestade von Unst tauchen auf. Smarc steuert in die nächste Bucht hinein, in ruhiges Wasser. –

„Wir müssen hier anlegen,“ sagte er zu Pedro, dem Mestizen. „Anlegen und warten, bis die grobe See sich beruhigt. Die Barkasse liegt zu tief. Das Gold wiegt schwer.“

Sie vertäuen das Boot. Kein Lüftchen regt sich im Schutze der Buchtmauern. Die Silberbahn des Mondes glitzert auf stillen Wassern … –

Der Doppeldecker funkt abermals neue Meldung ins Weite, alarmiert englische Kreuzergeschwader, lockt die Windhunde des Meeres herbei, schlanke Zerstörer, die überall des Satanas wegen unter Dampf lagen – in zahllosen Verstecken der englischen Küste … – –

Hanna Lohmers letzter Gedanke, als sie unten in den Tiefen des Teufelslochs in das aufspritzende Wasser versinkt, gilt dem Geliebten … – Und doch nicht ihr letzter Gedanke: sie taucht wieder auf. Lebenstrieb regt sich, tastende Hände finden Halt an einer rauhen Felszacke, tastende Füße finden festen Boden … – Sie blickt empor. Ein runder heller Lichtkreis über ihr. – Sterne – Nachthimmel … Und blickt geradeaus, woher scharfe Zugluft ihr entgegenweht, sieht auch dort einen hellen Fleck, den Ausgang des unterirdischen Kanals, wagt sich vorwärts, Schritt für Schritt …

Bis der Frische Atem des Ozeans ihr entgegenschlägt, bis zu ihren Füßen die Brandung weißen Gischt emporwirft … –

Hanna beobachtet, wie die Barkasse sich durch die Klippen windet, Hanna – bemerkt den Riesenvogel, der dem Boote folgt … –

Ein Flugzeug – der Feind also!! Der Schlupfwinkel entdeckt!! – Das fährt ihr ins Hirn wie ein Blitz! – Gefahr für den Geliebten – –!! Und sie – sie hier gefesselt auf schmalem Grat, unfähig, ihn zu warnen …

Wie Fieber glüht’s in ihren Adern. Umsonst zermartert sie sich den Kopf … – Helfen, warnen, – wie nur – – wie?!

Zusammengekauert sitzt sie da … Die Kleider kleben ihr am Körper … Sie fühlt nicht die Kälte der Nacht, nicht die Frostschauer, die ihr über den Leib gehen. Starrt gen Südwest über das Meer … Von dort muß das Schiff nahen, das den Geliebten bringt …

Und dann – – drei – vier dunkle Schatten auf dem Wasser, schlanke, niedere Fahrzeuge – ohne Lichter – wie Gespenster … Bergen sich hinter dem Klippenkranz … Feinde, lauernde Feinde …!!

Hanna steht aufrecht … Ein anderes Schiff dort von Südwest … Und hinter ihm im Halbkreis weitere Schatten …

Hanna preßt die Hände gegen das stürmende Herz …

Ein greller Blitz stiebt von einem der Schatten auf …

Der Donner eines Schusses grollt über die See …

Neue Blitze …

Kaskaden spritzen neben dem Satanas hoch – Geschoßeinschläge …

Der Pirat jagt weiter – im Granatregen der erbarmungslosen Meute …

Auf der Brücke der Kapitän – sagt zu Henry Windroof, ihm fest die Hand drückend:

„Es ist aus mit uns, Windroof …! Wir sind eingekreist … Ich werde den Satanas auf die Klippen setzen … Besser den Tod in der Brandung als durch den Strick!“

Sausend fährt ein Geschoß über die Männer hinweg, krepiert im Vorschiff …

Windroof, der Kapitän, der Matrose am Steuer sind vom Luftdruck beiseite geschleudert worden …

Der Satanas, führerlos für Minuten, schwenkt herum, zeigt seine Breitseite …

Ein Regen von Granaten zerfetzt die Bordwände …

Satanas sinkt … Armselige Menschlein kämpfen schwimmend ums Leben …

Und gurgelnd schäumen die Wogen über das Grab des Piraten hinweg … – –

Und – eine der Wogen, barmherzige Tochter des Ozeans, trägt einen bewußtlosen Mann über die Klippen hinweg, spült ihn ans harte Gestade – zu den Füßen des Weibes, die nichts mehr zu hoffen wagte.

Vor den suchenden Scheinwerfern der Kreuzer und Zerstörer schleppt Hanna den Geliebten tiefer in den Kanal hinein … – – –

Zwölf Stunden später steigt Ruth Gabor vor der Villa Lord Worynoors aus dem Auto. Worynoor reicht ihr galant den Arm, führt sie die Freitreppe empor. Garden und Sir Douglas folgen. Und vor dem Krankenzimmer sagt Garden dann: „Er ist allein, Miß Gabor. Vielleicht wird er Ihnen nun die letzten Rätsel lösen. Admiral Botterfly hat bisher nichts ausgerichtet.“

Ruth tritt ein. Drückt die Tür zu. Heller Sonnenschein fällt durch die offenen Fenster auf das Krankenlager Hektor Tscharks.

Des Mannes düstere Augen blicken in Ruth Gabors blasses Gesicht …

Sie eilt näher – ohne Scheu, beugt sich über ihn … Seine geschienten Arme liegen auf der rotseidenen Steppdecke. Des jungen Weibes Finger streichen mitleidig darüber hin … In ihren Augen ist nur Liebe, Sehnsucht, Hingabe …

„Wer sind Sie?“ fragt sie sanft. „Sie können jetzt vielleicht reden – endlich reden, denn der, dem Sie so ähnlich, ist – tot. Es … gibt kein Piratenschiff mehr. Und die ganze Beute des Satanas ist geborgen …“

Ein schnell verklingender Seufzer aus den Kissen … – Dann:

„Setzen Sie sich Ruth, – setzen Sie sich hier auf den Bettrand … So, und nun – Hand in Hand – sollen Sie die Wahrheit erfahren. – Ich bin jener Rechtsanwalt Hektor Porsch, dessen Zwillingsbruder Fritz Porsch, ein begabter, phantastischer Mensch, anscheinend bei einem Einbruchsdiebstahl überrascht, in einem Anfall von sinnloser Wut zwei Fabrikwächter niederschoß, den ich dann aus dem Untersuchungsgefängnis befreite und mit ihm nach Amerika flüchtete, wo ich ihn gegen seinen Willen und nichtsahnend bei Doktor Gripsky unterbrachte, damals fest überzeugt, daß er der Einbrecher gewesen, daß er gleichzeitig auch gemeingefährlich geisteskrank sei. Unter falschem Namen irrte ich seitdem durch die Welt. War Spieler – war alles, nur um die Geldmittel zu beschaffen, meines Bruders Aufenthalt in der Anstalt bezahlen und die Nachforschungen in Berlin nach dem wahren Sachverhalt jenes Einbruchs fortsetzen zu können. Als ich gestern hier zu Lord Worynoor kam, hatte ich vorher aus Berlin von dem von mir beauftragten Detektivinstitut unter einer Deckadresse eine Depesche erhalten, des Inhalts, daß meines Bruders damaliger Chef selbst den Tresor der Fabrikkasse ausgeräumt und seine Schuld auch eingestanden habe. Ich kam hierher, um Howard Garden zu bitten, mit mir zusammen Sie und die beiden anderen Damen zu befreien und meinen Bruder zu bewegen, sein unseliges Treiben, das nur seinem Hasse gegen alles und alle entsprang, aufzugeben. Und denselben Haß hegte mein Bruder auch gegen mich, weil ich ihn der Freiheit beraubt, ihn in ein Irrenhaus gesperrt hatte. Ich tat’s seinerzeit, weil ich ihn vor sich selbst retten wollte, vor sich selbst beschützen. Bruderliebe war’s, die mich heimatlos machte, die mir so schlecht gedankt wurde. Nun weiß ich: Fritz hat mehr gelitten als ich, weit mehr! Und – mehr verloren: seine Braut, Ruth, seine Braut, – und seine Braut war …“

„… Hanna Lohmer,“ ergänzte Ruth Gabor leise.

Dann beugte sie sich noch tiefer über den Kranken, küßte ihn …

Hektor Porsch lächelte glücklich, wehmütig …

Der Glücksschimmer galt Ruth, die Wehmut dem Toten … – – –

Im Innern Brasiliens am sonnigen Bergeshang, umrauscht von hochragenden Bäumen, lebt der Tote mit seinem Hannele als fleißiger Farmer im sauberen Blockhaus …

Über dem Teufelsriff kreisen wieder dichte weiße Schwärme von Seevögeln, nisten hier wieder in Frieden wie einst …

Wie … einst …

 

Ende!

 

 

Anmerkung des Verlages:

  1. ↑* Nächster Hafen nördlich von Liverpool.

 

 

Anmerkungen:

  1. Jules Verne: Le Tour du monde en quatre-vingts jours (1873). Deutscher Titel der ersten Übersetzung aus demselben Jahr: „Reise um die Erde in 80 Tagen“.
  2. In der Vorlage steht: „Gentlemantedektiv“.
  3. Fehlendes Wort „werden“ ergänzt.