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Die Rattenfalle

 

 

Walther Kabel

 

Die Rattenfalle

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Ratten.

Ich will diesen seltsamen Kriminalfall hier genau so schildern, wie er mir in seinen einzelnen Phasen bekannt geworden ist, – Harald Harst und mir, was ich betonen möchte, denn die Hauptarbeit bei der Enträtselung des geheimnisvollen Mordes an Wilbert Prang hat natürlich mein Freund Harald geleistet. – –

Die Ratten waren im Mai des Jahres 1923 auf dem Harstschen Grundstück, Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, plötzlich so zahlreich aufgetreten, daß die brave Köchin Mathilde, behäbiges, treues Inventarstück des Hauses Harst, eines Morgens beim Frühstück abermals erzählte, wie solch ein Ungeheuer, mindestens so … lang (sie deutete die Größe mit den Händen an, und diese Länge war etwa die eines ausgewachsenen Hasen), aus der Hühnerfutterkiste ihr ins Gesicht gesprungen sei …

Ich lachte und meinte tröstend, wir hätten ja bereits drei Schlagfallen und zwei Kastenfallen aufgestellt, die allerdings für Ratten von Hasengröße zu klein seien …

Woran Haralds Mutter, die mir gerade den Honignapf reichte, ebenfalls erklärte: „Mathilde lügt jeden Tag ein Stück Ratte hinzu. Gestern fuhr ihr so ein langschwänziges Untier von Kaninchenlänge unter die Röcke, heute …“

Sie schwieg …

Harald hatte die Morgenzeitung, in der er bisher gelesen, beiseite gelegt und gehüstelt …

Seine Mutter schaute hin. Ich auch. Und vor Haralds merkwürdig ernstem Gesicht schwand unser Interesse für Mathildes virtuose Aufschneidereien genau so schnell, wie die brave, dicke Köchin nun empört mit ihrer in der Erregung wenig angenehmen Stimme überlaut rief:

„Herr Schraut, Ihre Fallen sind für die Katz’! Die eine Kastenfalle ist nämlich verschwunden, – die aus dem Hühnerstall, Herr Schraut, und ganz sicher ist so ’n Biest bloß mit dem Schwanz eingeklemmt worden und hat die Falle einfach mitgezogen …“

All dies galt mir. Ich hörte jedoch nur halb hin. Haralds Gesicht war mir augenblicklich mehr wert.

Und – versonnen durch das offene Fenster der Glasveranda zum regendunklen Himmel emporschauend, sagte er nun:

„All das ist außerordentlich vielversprechend …“

Schweigen folgte – minutenlang …

Bis Harst hinzufügte: „Nicht wahr, Mathilde, ich bin heute doch bereits um sechs Uhr aufgestanden …“

„Stimmt,“ brummte unsere Küchenfee. „Ich hörte Sie auf dem Hofe hin und her gehen, Herr Harst …“

„Und gestern abend habe ich die Kastenfalle aus dem Hühnerstall auf den Müllhaufen gestellt …“

„Ach so!“ meinte Mathilde enttäuscht. „Mit dem weggezogenen Rattenschwanz ist’s also nichts …!“

„Nein, liebe Mathilde.“ Harst blieb trotz der dicken überjährigen Jungfrau allzu gedrängter Ausdrucksweise (weggezogener Rattenschwanz!!) völlig ernst.

Seine Mutter und ich, die wir auf seine Besonderheiten besser eingespielt sind und leichter herausmerken, wenn er auf Umwegen einem bestimmten Ziel zusteuert, warteten mit wachsender Spannung auf das Ende dieser Unterhaltung mit unserer Mathilde.

Und er wiederholte: „Nein, damit ist es nichts, gar nichts sogar. Die Kastenfalle habe ich frühmorgens in die leere Tonne hinter dem Kaninchenstall gelegt und den Tonnendeckel wieder aufgestülpt. Das Tierchen, das sich darin gefangen hat, bedankt sich bei Ihnen, Mathilde, für die vorzüglichen kalten Klopse …“ –

Diese eigenartige Szene hier in der Veranda am 18. Mai morgens halb acht Uhr gebe ich hier nur deshalb als Einleitung einigermaßen genau wieder, um den Leser, der vielleicht meines Freundes Harald Harst Eigentümlichkeiten noch nicht genügend kennt, mit Harsts teils witziger, teils so sehr zum Nachdenken anregender Art, andere auf nicht gerade alltägliche Vorfälle hinzuweisen, ein wenig vertraut zu machen. –

Frau Auguste Harst meinte jetzt denn auch hastig mit erhobener Stimme: „Harald, Harald, – was ist’s mit der Falle?! Dahinter steckt doch irgend etwas!“

„Allerdings, liebe Mutter: hinter dem mittleren Gitterteil der Kastenfalle steckt ein Hündchen …“

Schweigen … Allgemeine Sprachlosigkeit …

Dann Mathildens Türangelorgan: „Ich hol’ ihr!“

Und sie schwebte davon, daß die Dielen und die Verandastufen krachten …

Ich sah sie über den Hof keuchen …

Sah sie zurückkommen – mit der Falle, die wir selbst angefertigt hatten: Patent Harst! –

Dann … schlüpfte in der Veranda aus dem Holzkasten ein winziges Hündchen mit Teckelbeinen, langem Schwänzchen, Schnauze wie ein Bologneser, Behang wie ein Pudel: kurz, das Musterbild einer konzentrierten Stubenhundausstellung – heraus.

Aber – niedlich war der kleine Kerl doch, dazu so zutraulich und so überaus lebhaft.

Frau Harst war ganz entzückt. Mathilde schlenkerte mit dem Kopf und brummte: „Also der hat die Klopse gefressen!!“ und ich schaute Harald fragend an.

Da – – legte er unbemerkt den Zeigefinger schnell auf die Lippen und gab mir auch mit den Augenbrauen ein Zeichen …

Erklärte nun: „Das herrenlose Hündchen ist wahrscheinlich durch unseren Zaun geschlüpft und dann in die Falle geraten.“

Das stimmte natürlich niemals!!

Unser Gartenzaun ist sehr dicht. Und da wir noch letztens ein paar schadhafte Stellen ausgebessert hatten, da schließlich auch die Gartenpforten jeden Abend sorgfältig versperrt werden, war es unmöglich, daß das Tierchen – durch den Zaun geschlüpft sein könnte.

Aber eingedenk Haralds Warnungssignale tat ich so, als ob ich dieses Märchen glaubte. –

Nachdem das Hündchen genügend angestaunt worden war, nahmen wir es mit hinüber in Haralds Arbeitszimmer.

Harst sagte: „Wir werden mal die Morgenzeitungen durchsehen, ob jemand dieses Hündchen durch eine Anzeige sucht.“

Auch das wurde von Frau Auguste, meiner mütterlichen Freundin, und von Mathilde gläubig hingenommen.

 

2. Kapitel.

Liliputs Halsband.

Harst saß im Klubsessel, die Mirakulum im Mundwinkel. Und Liliput, so hieß der Bastard nach dem auf dem Halsband eingravierten Namen, saß auf seinem Schoße …

„Bitte, mein Alter, nun lies mal im Hauptblatt der Berliner Morgennachrichten den Artikel über ‚Leichenfund im Grunewald‘ vor,“ meinte er leise.

Ich hatte den Artikel sehr bald entdeckt und las:

„Wie wir bereits gestern abend im „Zehnuhrabendblatt“ kurz mitgeteilt haben, wurde gestern nachmittag gegen halb fünf von Spaziergängern im Grunewald-Forst nördlich von Schlachtensee inmitten einer Blöße des dort überaus üppig wachsenden, sehr hohen Grases eine männliche Leiche gefunden, die auf dem Rücken lag und deren Stirn an der linken Seite eine Einschußöffnung zeigte.

Die sofort benachrichtigte Polizei des Vororts Zehlendorf ließ ihrerseits wieder die Berliner Mordkommission verständigen, da den Umständen nach mit einem Kapitalverbrechen gerechnet werden mußte.

In der Tat erscheint es denn nunmehr auch für gewiß, daß der Unbekannte niedergeschossen und ausgeplündert worden ist. Es ist ein Mann von etwa dreißig Jahren, gut gekleidet und von angenehmen Zügen, der dort in der Waldeinsamkeit die Raubgier irgendeines verkommenen Burschen erregt hat und dann dessen Opfer geworden ist. Über die Person des Toten ließ sich bisher nichts feststellen. Seine Leibwäsche ist mit W. P. gezeichnet. Da es gestern im Laufe des Tages häufiger geregnet hat, waren keinerlei Spuren am Tatorte zu finden. Auch der Polizeihund versagte vollständig.“ –

Der weitere Inhalt des Artikels interessiert hier nicht. –

Ich legte die Zeitung auf den Tisch zurück.

„Nun – –?!“ fragte Harald. „Du hast doch etwas zu bemerken, nicht wahr?“

„Allerdings. Das Halsband des Hündchens trägt die Gravierung:

Liliput. – Z., d. 12.7. 21. – W. P.

Und W. P. ist die Wäsche des Ermordeten gezeichnet.“

„Wenig, zu wenig, mein Alter!“

„Gestatte: die Rattenfalle kommt noch hinzu!“

„Sehr gut. Also …?“

„Liliput ist von irgend jemandem in der verflossenen Nacht heimlich in der Absicht in die Kastenfalle eingesperrt worden, damit Du das Tierchen finden und –“

Hier stockte mein Redefluß.

Ich hatte hinzufügen wollen: „… und auf den Mord an W. P. aufmerksam gemacht werden solltest.“ – Aber diese Schlußfolgerung erschien mir denn doch zu kühn, andererseits aber auch zu alltäglich.

Uns beiden war es ja bereits häufiger begegnet, daß Haralds Klienten, die aus irgendwelchen Gründen sich nicht persönlich oder schriftlich an ihn wenden mochten, die seltsamsten Wege wählten, ihn für einen bestimmten Kriminalfall zu begeistern. Ich denke da nur an den Papierdrachen, an den gekalkten Birnbaum und unsere Spargelbeete. Die alten Freunde meiner Harald-Harst-Abenteuer werden sich auf diese Vorfälle noch besinnen.

Wie gesagt: Liliput mit einem solchen Versuch, Haralds Interesse zu erregen, hier in Zusammenhang zu bringen, erschien mir denn doch zu abgedroschen. –

Harst blinzelte mich durch die Rauchwölkchen der Mirakulum an und sagte nachdenklich:

„Es kann kein Zufall sein, dieses W. P. im Halsband und in der Wäsche. Der Hund sollte mich tatsächlich auf den Leichenfund besonders hinweisen, und das scheutest Du Dich auszusprechen, mein Alter, – mit Unrecht! – Ich will Dir nun noch mitteilen, daß das Tierchen in dem Kasten kläglich winselte, daß ich es fütterte und eine Weile im Gemüsegarten umherlaufen ließ, daß ich infolge der nächtlichen Regengüsse keinerlei Fußeindrücke desjenigen fand, der das Hündchen uns auf diese Art zukommen ließ, und daß ich schließlich … bereits weit mehr weiß, als die Polizei – über Wilbert Prang …“

„Ah – – Wilbert Prang!“

„So heißt der Herr, der das Tierchen am 12. 7. 21 aus Zahna, Hundezüchterei, Sachsen, bezogen hat. Ich habe infolge des Z. auf dem Halsband bereits heute früh die Züchterei angerufen, bekam auch sehr bald Verbindung und erfuhr so, daß der Schriftsteller Wilbert Prang, damals wohnhaft Berlin, Sedanstraße 14, ein Hündchen sich schicken ließ mit dem ausdrücklichen Bemerken, er lege keinerlei Wert auf edle Rasse, nur klein, anhänglich und munter solle das Tierchen sein. – Kurz: ich wußte nun den Namen des W. P., des Hundebesitzers, und als ich dann an den Artikel im gestrigen Zehnuhrabendblatt dachte, wo auch schon das Monogramm W. P. erwähnt ist, da hatte ich zum zweiten Male telephoniert, und zwar mit Frau Hebamme Julie Sommer, Berlin-Schöneberg, Sedanstraße 14, bei der Wilbert Prang bis zum November 1922 als Untermieter oder möblierter Herr zwei Zimmer innehatte …“

„Glänzend – –!!“

„Es wird noch glänzender … – Frau Julie Sommer war um viertel acht heute gerade von einer erfolgreichen Hilfsaktion bei einer jungen Mutter heimgekehrt. Ich fragte sie über Prang aus, ohne anzudeuten, daß er sehr wahrscheinlich ermordet sei. Sie konnte mir mitteilen, er habe im Oktober des Vorjahres seinen Oheim beerbt, der Plantagenbesitzer im südlichen Vorderindien gewesen, habe dann auf diese Erbschaft hin seine Braut geheiratet und wohne in Schlachtensee-Berlin in einer eigenen Villa.“

Harst machte eine kurze Pause, nahm eine neue Zigarette und streichelte Liliput …

„Nach diesem zweiten Telephongespräch sah ich das Adreßbuch der Vororte durch. Dort ist kein Wilbert Prang vermerkt. Ich rief also Frau Julie Sommer nochmals an. Sie verbesserte sich dahin, sie hätte nur von Herrn Prang gehört, daß er sich in Schlachtensee ankaufen wolle. Sie habe geglaubt, er hätte es auch getan. Sie selbst sei mit ihm durch seine Braut ganz auseinandergekommen, obwohl er doch drei Jahre bei ihr gewohnt habe. – Auf meine Frage, ob er sich im Juli 1921 ein Hündchen angeschafft gehabt habe, erwiderte sie: „Ja, leider. Der Köter hat zwei Teppiche verdorben, denn seine Seen haben die Farbe ausgezogen“ – – Nun bist Du ebenfalls im Bilde, mein Alter …“

Ja – das war ich! Und – ahnte doch nicht, daß ich’s … nicht war!

Harst stand auf …

„Begeben wir uns zu Fräulein Hanni Gülden …“

„Gülden?“

„Ja. Mach Dich nur fertig … Auch Sedanstraße!“

 

3. Kapitel.

Arme Hanni …!

Gegen neun Uhr vormittags war’s, als wir die Straßenbahn benutzten und nach Schöneberg fuhren.

Auf meine bescheidene Frage, wer denn Hanni Gülden sei, hatte Harald noch daheim ausweichend geantwortet: „Die andere!“

Ich war also genau so schlau wie vorher. Weiter mit Fragen ihn zu bestürmen, hätte keinerlei Zweck gehabt.

Ich kenne ja meinen Harald! Der läßt sich nicht ausquetschen wie eine Zitrone!

So fuhren wir denn stumm und jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt nach der Sedanstraße – dort am Ringbahnhof Schöneberg.

Gingen nun zu Fuß die Sedanstraße hinab. Und ich fragte mich zum soundsovielten Male: Wer hat uns Liliput gebracht? Wer?! Etwa diese Hanni Gülden, die … andere?! Und, was hieß dieses „die andere“? Etwa eine zweite Liebe Wilbert Prangs?! –

Wir kamen am Hause Nr. 14 vorüber. Ich sah das Schild der Frau Julie Sommer neben der Haustür …

Und dann betrat Harst Nummer 18.

Eine Mietkaserne wie alle hier in der Sedanstraße. Verräuchert, schmierig: Nachkriegsfolgen!

Im sogenannten Gartenhause vier Treppen empor – bis unter das Dach. Und im Dache ein großes Fenster, Bodentüren, dann eine hellbraun gestrichene Flurtür, daran ein Messingschildchen:

Hanni Gülden,
Malerin.

Harald drückte auf den Knopf der Flurglocke. Drinnen ein feines, zartes Schrillen, das so recht zu dem zarten Namen Hanni paßte … –

Niemand kam.

Unter uns im Treppenhause Türenschlagen, Stimmen, das Geräusch eines kräftig geführten Ausklopfers.

Hier oben in der Mansarde Stille. Eine Welt für sich.

Und abermals läutete Harald, horchte, flüsterte mir zu: „Die Sommer hat mir viel Gutes und Liebes über die arme betrogene Hanni am Telephon erzählt. Prang muß ein sehr schwacher Charakter gewesen sein, daß er sich nachher von Leonie Tassard umgarnen ließ, die er dann geheiratet hat. Übrigens gebrauchte die Sommer den Ausdruck ‚umgarnen‘ …“

Nun wußte ich also wiederum etwas Neues. Meine Vermutung war richtig gewesen: erst Hanni Gülden, dann Leonie Tassard, – zwei Lieben hintereinander …

Und zum dritten Male läutete Harald … Wartete … Bückte sich, deutete auf das Schlüsselloch der Flurtür …

Der Schlüssel steckte von innen!! –

Haralds Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. „Sollte etwa …“ begann er einen Satz, dessen Rest ich mir hinzudenken konnte …

Und Harst griff in die Innentasche des leichten Ulsters, holte das schmale Lederfutteral hervor, öffnete es und legte so die blinkenden Instrumente frei: die bestgearbeiteten Einbrecherwerkzeuge, die je einem Gentlemandiebe abgenommen wurden! – Vor Jahren war’s in England, als wir diese Ledertasche erbeuteten. Sie hatte uns bereits häufig gute Dienste geleistet.

Bevor Harald jedoch die Schlüsselzange in das Schloß einführte, bückte er sich nochmals.

Und winkte dann, zeigte mir auf dem schwarz lackierten Beschlag neben dem Schlüsselloch drei kleine Kratzer, wischte mit dem Finger darüber und … hatte an der Fingerspitze schwarze Krümchen der infolge der Kratzer losgerissenen Lackschicht.

„Ganz frisch!“ meinte er flüsternd …

Durch das große Dachfenster schien schräg die Maisonne herein. Es war so hell, so freundlich hier. Diese schlichte Umgebung, erfüllt von Tageslicht und überspannt von dem blauen Maihimmel dort oben, hatte so gar nichts an sich, was die Stimmung nachteilig beeinflussen konnte. Und doch: in meinem Innern lastete bereits die trübe Vorahnung dunkler Geschehnisse, die hinter dieser Flurtür auf uns lauerten …

„Ganz frisch!“ hatte Harald geflüstert. Und das bedeutete doch, in unsere Sprache übertragen: „Hier war vor kurzem jemand, der sich an dem Schlosse zu schaffen gemacht hat!“

Vor kurzem! Denn – die losgerissenen Lackteilchen am Rande der Kratzer wären sonst ja längst abgefallen oder durch eine Berührung mit einer den Schlüssel einführenden Hand weggewischt worden! –

Harst schob die Schlüsselzange über den Schlüssel, drehte sie. Ein zweimaliges Knacken – ein Druck auf die Türklinke, und der Weg war frei.

Haralds Taschenlampe blitzte auf, beleuchtete den sauberen Läufer des kleinen Flurs und blieb mit ihrem grellen Strahlenkegel auf einer bestimmten Stelle haften. Ich sah – ich sah da etwas, das der Laie nie beachtet hätte. Nur ein abgebranntes Zündholz, nur ein winziger Rest des weißen Hölzchens … –

Harst kniete auf dem Läufer. Winkte wieder. Ich beugte mich hinab … Und konnte so erkennen, daß dieses Zündholz mit der Sohle eines Stiefels auf dem Läufer vollends zum Erlöschen gebracht worden war. Die verkohlten Reste und der Zündholzkopf waren breitgedrückt.

Harald nahm den Rest des Hölzchens und hielt ihn dicht an die Nase.

Bückte sich noch tiefer … Beroch die Stelle, wo die Fragmente des verkohlten Teiles lagen.

„Ich behaupte, dieses Zündholz ist vor kaum einer halben Stunde hier benutzt worden,“ erklärte er leise. „Der Brandgeruch ist noch schwach zu spüren …“

Und sich aufrichtend fügte er hinzu: „Der Rest des Hölzchens lag dicht an der Tür. Das wollen wir uns merken. Es kann jemand mit diesem Hölzchen das Schlüsselloch beleuchtet haben.“

Und er drückte nun die Tür ins Schloß.

Wir standen in der fremden Wohnung, wir, zwei Eindringlinge, die hier widerrechtlich weilten.

Rechter Hand vier matte, helle Scheiben einer Küchentür. Geradeaus eine dritte, größere. Die öffnete Harald.

Ein Atelier, – winzig, peinlich sauber, behaglich, ohne den billigen Kram als Schmuck an den Wänden, den man sonst in diesen Heimen der Künstler bescheidener Art findet …

Durch das schräge Fenster eine Überfülle von Licht.

Und auf einem Diwan rechts eine Gestalt – ein blondes Mädchen, – still, starr, mit geschlossenen Augen.

Daneben auf einem Hocker zweierlei: ein Wasserglas, leer, und ein Zettel … –

Harst trat rasch näher, beugte sich über die Blonde, faßte nach deren Hand …

„Tot …!“

Und griff nach dem Zettel, dessen acht Bleistiftzeilen die Unterschrift trugen:

Hanni Gülden.

Der Inhalt des Zettels:

Das Leben hat mir alles genommen. Ich werfe es von mir. Es gibt in dieser Welt nichts als Lug und Trug. Ich verzeihe denen, die mich zu diesem Schritt getrieben haben. Kein Gesetz reicht an sie heran, kein menschliches Gesetz verbietet es, auf diese Weise ein einsames Herz zu vernichten.

Hanni Gülden.

 

4. Kapitel.

Die weiße Ratte.

Ich hatte Harald über die Schulter geschaut, als er diese Zeilen überflog.

Ich hörte sein leises, zweifelndes „Hm – – hm!!“ Und ich dachte an die Person, die noch vor einer halben Stunde hier bei Hanni Gülden gewesen …

Fragte leise – aus Ehrfurcht vor dem Tode, vor der friedlichen Schläferin dort: „Wann starb sie?“

„Vor kurzem … Vielleicht eine halbe, eine ganze Stunde. Länger ist es bestimmt nicht her. Die Leiche ist noch warm …“

„Du hegst Verdacht?“

„Du nicht?“

„Ja. Dieser Zettel kann eine Fälschung sein.“ Ich sprach lebhafter. „Es kann ein Mord vorliegen. Die Person, die das Atelier verließ und von draußen die Flurtür mit einer Schlüsselzange abschloß, während der Schlüssel von innen steckte, kann …“

Harst hatte das Wasserglas emporgehoben.

„Zyankali …“ flüsterte er.

Der Bittermandelgeruch drang auch mir in die Nase.

„Zyankali,“ wiederholte er und stellte das Glas wieder hin. „Wir müssen jetzt die Kriminalpolizei benachrichtigen. Doktor Rietmeier vom Schöneberger Präsidium wird uns nichts in den Weg legen, in diesem Falle weitere Ermittlungen …“

Er unterbrach sich.

„Da – da – – war soeben eine Ratte …“ flüsterte er noch leiser und deutete auf einen großen Schrank … „Eine weiße Ratte … – eine Seltenheit …“

Und im gleichen Augenblick tauchte das langschwänzige Tier mit den rötlich schillernden Augen abermals unter dem Schranke auf, lief hurtig zum Diwan hin, kletterte an den Falten der Diwandecke empor und saß gleich darauf, uns wie neugierig anblinzelnd, auf der Schulter der Toten.

„Zahm …“ meinte ich.

„Ja – zahm …Und …“

Das weiße Tierchen hatte das Gesicht seiner Herrin beschnuppert, wurde unruhig, sprang dann urplötzlich mit langem Satz auf den Teppich hinab und verschwand in einem Käfig, der in der Ecke neben dem Schranke stand und die Form einer kleinen Burg hatte.

Harald blickte mich an. „Es ist ein merkwürdiger Zufall, mein Alter. Daheim die Rattenfalle und Liliput, der kleine Bastard, und hier … eine zahme, weiße Ratte. – Ich werde jetzt vom nächsten Zigarrengeschäft die Kriminalpolizei anrufen. Du kannst Dich derweil hier noch etwas umsehen. Es gibt hier …“ – kleine Pause – „es gibt hier manches zu sehen. So empfehle ich zum Beispiel Hanni Güldens Abschiedszeilen oder besser das Papier, auf das sie geschrieben worden sind, Deiner Beachtung …“

Dann ging er …

Und ich schloß hinter ihm die Flurtür ab, war nun allein in der kleinen Mansardenwohnung mit der Toten.

Ganz allein … Nur die Ratte, die zahme, weiße Ratte leistete mir Gesellschaft. Sie saß hinter der Glasscheibe, die den Burghof, den mittleren Teil ihres Käfigs, nach der einen Seite hin begrenzte.

Sie saß halb im Heu verborgen, das aus der Türöffnung ihres dunklen Schlafraumes herausragte. Und sie spielte mit irgend etwas Hellem, Duftigem, das sich bei näherem Hinsehen als ein Taschentuch entpuppte, ein sehr elegantes Taschentüchlein mit Spitzenrand. Vielleicht hatte sie es verschleppt, vielleicht gehörte es Hanni Gülden … –

Hanni Gülden! – Arme Hanni! Betrogen, verlassen! Der, den Du liebtest, heiratete eine andere!

Und ich nahm den Zettel und besichtigte ihn, sowohl die beschriebene wie die unbeschriebene Seite, ganz wie Harald es getan hatte.

Auf der Rückseite des Papiers bemerkte ich da, wenn ich es schräg gegen das Licht hielt, etwas wie dunkle Streifen. Nichts weiter.

Ich kam auch nicht dazu, es noch genauer zu betrachten. Denn – ich fuhr leicht zusammen – draußen hatte die Flurglocke angeschlagen!

Ich zögerte … Sollte ich öffnen?! Da – schon wieder das zarte Schrillen – ungeduldig, anhaltend …

Etwa Harald?! Konnte er denn bereits zurück sein?!

Ich eilte in den Flur, öffnete …

Vor mir stand ein älterer, bärtiger Mann, fast ein Greis, – zerlumpt, armselig …

Und armselig und zitternd war auch die Stimme, die nun kläglich um ein Almosen bat.

Ich wollte den Alten schnell loswerden, zog die Brieftasche hervor und suchte unter den sogenannten Banknoten, unter den elenden Papierfetzen der Inflationszeit, nach einem … Lappen für den Bettler.

Suchte und sah nicht, daß der Kerl da vor mir plötzlich mit seinem dicken Knüttel ausholte …

Der dicke eichene Spazierstock traf meinen unbedeckten Kopf mit voller Kraft. Ich taumelte … fühlte noch, daß der Bettler mich auffing …

War bewußtlos …

Kam erst wieder zu mir, als Harald sich um mich bemühte, als ich durch feuchte Kompressen und durch Einreibungen mit Kölnischem Wasser von dem Freunde fast eine halbe Stunde lang behandelt worden war.

Ich lag in Haralds Arbeitszimmer auf dem Sofa. Und Harst saß neben mir, während seine Mutter und die dicke Mathilde in der Nähe standen.

Und wieder eine Stunde drauf hatte ich die Folgen des heimtückischen Raubanfalls so ziemlich überwunden.

Ja – es war ein Raubanfall gewesen: der Bettler hatte mir die Brieftasche und die goldene Uhr nebst Kette abgenommen, hatte mich ins Atelier geschleift und dort liegen lassen. So fanden mich Harald und die Kriminalbeamten. – Harst war sofort mit mir nach Hause gefahren. Man hatte mich in ein Auto getragen, und Kommissar Doktor Rietmeier hatte uns sein Dienstauto zur Verfügung gestellt. –

Jetzt war ich wieder völlig bei Sinnen, jetzt erzählte mir Harald, was sich dort in Hanni Güldens blitzsauberem Heim mit mir zugetragen hatte.

„Ich habe uns ein Andenken mitgebracht,“ meinte er nun und zeigte auf einen Stuhl am Fenster.

Dort … stand die Behausung der weißen Ratte, – die Burg.

„Das Tier konnte doch nicht verhungern,“ erklärte Harst auf mein verwundertes Gesicht hin. „Außerdem, mein Alter, – außerdem wollte ich aber auch eine sehr einfache Probe aufs Exempel machen …“

Meine Aufmerksamkeit galt jetzt Liliput, dem Hündchen, denn Harald hatte den Arm ausgestreckt und in die Ecke neben dem Schreibtisch gedeutet.

Dort … dort saßen Liliput und die zahme Ratte vor einem Schälchen mit Milch und soffen sehr friedlich gemeinsam aus dem einen Näpfchen.

„Glaubst Du, daß sie aneinander gewöhnt sind?“ fragte Harald mit besonderer Betonung.

„Allerdings!“

„Und wenn ich Dir nun weiter mitteile, daß Hanni Güldens Unterwohner, das Rentnerpaar Grünberg, Rietmeier und mir bei ihrer kurzen Vernehmung zu sagen wußten, daß, bevor Wilbert Prang die verführerische Leonie Tassard heiratete, das Hündchen wochenlang bei Hanni Gülden in Pflege war und daß Hanni schon damals die zahme Ratte besaß, – wenn ich hiernach nun weiter behaupte, daß Hanni auch zuletzt wieder Liliput bei sich gehabt haben muß und daß Hund und Ratte wieder die frühere Bekanntschaft auffrischen konnten, dann wirst Du kaum daran zweifeln: nur Hanni Gülden trug uns Liliput zu – nur sie!“

Ich saß nun bereits aufrecht in der Sofaecke. Ich hatte bereits vergessen, daß ich eine Eisblase auf dem Kopfe zu liegen hatte. Ich war nur noch mit meinen Gedanken bei dem an Wilbert Prang verübten Morde und bei dem recht fragwürdigen Selbstmord der jungen, blonden Malerin.

 

5. Kapitel.

Die vergrößerte Rückseite.

Harst, der im Klubsessel mir gegenübersaß, erhob sich jetzt rasch.

„Ein Auto ist vorgefahren: Rietmeier!“ – Und er ging und ließ den behäbigen Kommissar ein.

Rietmeier drückte mir die Hand. „Freue mich, Herr Schraut, daß Sie schon wieder auf dem Posten sind …“

Dann nahm er Platz, nahm die Zigarre, trank ein Glas Rotwein und erstattete Bericht.

„Hanni Gülden, 23 Jahre alt, ohne nähere Angehörige, war in der Hauptsache Zeichnerin für Modejournale. Sie galt in der Sedanstraße allgemein als Verlobte Wilbert Prangs. Dann erbte dieser ein recht beträchtliches Vermögen von seinem Onkel. Etwa drei Wochen vorher hatte er Leonie Tassard, damals Korrespondentin bei der Firma Benesch, kennen gelernt. Dieses reife Weib, eine sogenannte Männerschönheit, soll sofort großen Eindruck auf ihn gemacht haben. Jedenfalls: die arme Hanni bekam den Laufpaß, und Prang heiratete die andere. Seinen Wohnort habe ich ebenfalls schon ermittelt: Potsdam, Werderstraße 25 – eigene kleine Villa! – Das Ehepaar Grünberg hat mir außer diesen Angaben noch Ihre Vermutung, lieber Herr Harst, bestätigt: vorgestern, also am 16. Mai, tauchte das Hündchen Liliput bei Hanni wieder auf. Sie hat Grünbergs erklärt, Herr Prang habe es ihr zugeschickt, da seine Frau keine Hundefreundin sei und da er außerdem für längere Zeit zu verreisen gedenke. – Ob dies zutrifft, ich meine die Zusendung Liliputs an Hanni Gülden, wird man nachprüfen müssen …“

Er schaute dabei Harald fragend an.

Der nickte zerstreut …: „Man wird hier sehr vieles nachprüfen müssen!“

Rietmeier holte eine Photographie aus der Tasche hervor. „Hier – dies ist Wilbert Prang. Ich fand das Bild bei Hanni Gülden zusammen mit einigen hundert Liebesbriefen von Prangs Hand in einer kleinen Truhe.“

Harst nahm die Photographie.

„Ein weichliches, aber gutes Gesicht. So recht ein Mann, bei dem ein raffiniertes Weib alles erreicht,“ lautete seine kurze Kritik. – Dann gab er mir das Bild und meinte: „Wenn Hanni Gülden Selbstmord verübt hätte, würde sie wohl die Briefe vorher verbrannt haben. Kein Mädchen läßt solche Zeugen eines Liebesglücks anderen in die Hände geraten, jedenfalls kein Mädchen vom Schlage Hanni Güldens.“

Doktor Rietmeier, in dessen gemütlichem, rundem Gesicht lediglich die äußerst lebhaften, klugen Augen den Mann von Tatkraft und Intelligenz verrieten, wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.

„Sie bleiben also bei Ihrer Annahme, daß die Person, die da heute vormittag die Wohnung der Malerin heimlich verließ und die Tür von außen absperrte, vielleicht die Mörderin der Gülden ist?!“ sagte er etwas zurückhaltend. „Bedenken Sie, Herr Harst, unser Polizeiarzt hat bereits einwandfrei festgestellt, daß eine Vergiftung durch Blausäure vorliegt. In dem Wasserglase neben dem Diwan befanden sich noch Reste verdünnter Blausäure. Ein Mord ist doch schon deshalb ausgeschlossen, weil man ja der Gülden das Gift geradezu gewaltsam eingeflößt haben müßte. Dafür liegen nicht die allergeringsten Anzeichen vor. Außerdem noch Hanni Güldens Abschiedszeilen, die ja fraglos von ihrer Hand herrühren. Ich habe die Schrift mit anderen Papieren, die die Schriftzüge der Malerin tragen, verglichen. Ich verstehe etwas davon. Der Zettel ist niemals gefälscht!“

„Das behaupte ich auch nicht …“

„Nun also?! Wenn der Zettel echt ist, dann …“

„… kann er vielleicht vor längerer Zeit in einer Stunde der Verzweiflung geschrieben worden sein …“

Doktor Rietmeier zuckte die Achseln. „Bester Herr Harst, Sie verbeißen sich da in eine Theorie, die –“

„Haben Sie den Zettel da?“

„Bitte …“

Harald winkte Rietmeier ans Fenster. „Sehen Sie hier auf der Rückseite diese Streifen?“

„Ja – Schmutzstreifen …“

„Wir wollen mal in meine Dunkelkammer hinabgehen. Ich bin in der Lage, diese Streifen, die ich für die ganz schwachen Abdrücke von noch nicht völlig trockener Tinte halte, hundertfach zu vergrößern.“

„Hm!“ machte Rietmeier. „Dauert das sehr lange? Ich muß ja noch zu Frau Leonie Prang nach Potsdam hinaus und ihr schonend den Tod ihres Mannes mitteilen.“

„In zehn Minuten sind wir hier fertig. Wenn Sie nichts dagegen haben, komme ich mit nach Potsdam.“

Rietmeier stutzte, blickte Harald fragend an.

„Hegen Sie etwa Verdacht gegen Prangs Gattin?“ fragte er gespannt.

„Ich interessiere mich stets für Frauen, die so kurz vor einer Erbschaft sich an den glücklichen Erben heranmachen, Herr Doktor …“

Diese so schlicht hingesprochenen Sätze veranlaßten den Kriminalkommissar zu einem abermaligen Kopfschütteln. „Lieber Herr Harst, Ihre Phantasie ist geradezu … ausschweifend! Wenn man alles, was zufällig vielleicht gegen eine Person sprechen könnte, derart bewerten wollte wie Sie, dann …“ Er schwieg, und ein verlegenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Entschuldigen Sie,“ fügte er hinzu. „Ich vergaß soeben, daß Ihre Erfolge, Herr Harst, Ihnen recht geben: man soll die Phantasie schweifen lassen! Der Kriminalist ohne Phantasie ist wie ein Maler, der an Farbenblindheit leidet.“

Harald blieb stumm, ging uns voran in den Keller und schaltete in der Dunkelkammer das Licht ein.

Fünf Minuten später bereits erschienen auf dem weißen Schirm in dem grell leuchtenden Kreis erst nur wie ein dunkler Hauch verschwommene Buchstaben.

Harst stellte die Linsen des Apparates anders ein.

Die Buchstaben wurden klarer und klarer, zogen sich zu Worten zusammen.

Was wir da nun erblickten, war tatsächlich der Abdruck eines Briefanfangs, waren Schriftzüge … war Hanni Güldens Schrift …

Berlin-Schöneberg,

den 12. November 1922.

Wilbert, gestern hatte ich die Absicht, mich selbst von diesem kläglichen Dasein zu befreien. Ich mache Dir keine Vorwürfe, weil Du unsere Liebe verraten hast. Ich bin jetzt ruhiger geworden. Die beifolgenden Bleistiftzeilen sollten mein Abschiedsgruß für Dich sein. Sie klingen verbittert, ver…

Das weitere war selbst durch die Vergrößerung nicht mehr zu entziffern.

„Sie sehen nun,“ sagte Harald da und ließ das elektrische Licht aufflammen, „daß der Zettel Prang zugleich mit einem Briefe zugeschickt worden ist. Die Tinte war noch feucht und hat, vielleicht infolge besonders starken Feuchtigkeitsgehaltes der Luft an jenem Tage und infolge anderer Umstände, der Rückseite des Zettels den Briefanfang aufgeprägt …“

„Und der Brief kann der vielleicht eifersüchtigen Leonie Tassard, die damals schon Prangs Verlobte war, in die Hände gefallen sein,“ fügte der Kommissar überhastet hinzu …

„Ja – und jetzt, heute kann jemand diesen Zettel, um den Anschein eines Selbstmordes hervorzurufen, abermals benutzt haben …“

„Jemand – also die Person, die heute bei Hanni Gülden war und …“

„… mit der Schlüsselzange von außen die Flurtür abschloß, – dieselbe Person, die das verbrannte Zündholz auf dem Flurläufer liegen ließ, ein Zündholz, das anderer Art ist als die, die von Hanni Gülden benutzt wurden. In der Küche lag noch ein angebrauchtes Paket Zündhölzer und eine halb volle Schachtel. Ja – ein anderes Zündholz, eins, das ein echtes Schwedenhölzchen ist, dünner, festeres Holz, – kurz ein besseres Streichholz! Und dieses hat der Mörder Hanni Güldens dort zurückgelassen – diesen Hölzchenrest!“

Doktor Rietmeier war etwas betreten, reichte Harald dann impulsiv die Hand und meinte:

„Ich gebe es auf, Ihnen zu widersprechen. Sie haben mich überzeugt, Herr Harst. Obwohl – ja – obwohl ich nicht begreife, wie man der armen Hanni das Gift beigebracht hat.“

Harald hatte den Vergrößerungsapparat wieder in die Ecke geschoben, drehte sich langsam um.

„Und doch ist es leicht zu begreifen,“ erklärte er. „Würde ich Ihnen jetzt hier meine Theorie über diesen Hauptpunkt entwickeln, lieber Rietmeier, so würden Sie aus Anstandsgefühl vielleicht so tun, als hielten Sie diese phantastische Möglichkeit für denkbar. Im Innern aber würden Sie mich für … übergeschnappt ansehen!“

Rietmeier lachte. Harald hatte dieses „übergeschnappt“ so komisch vorgebracht, daß auch ich den Schmerz über den Verlust von Uhr, Kette und Brieftasche vergaß und zur Unterstützung des Kommissars meinte:

„Harald, Du könntest diese phantastische Möglichkeit immerhin andeuten.“

„Später!“ Und Harst verließ die Dunkelkammer. Wir folgten ihm.

 

6. Kapitel.

Wilbert Prangs Gattin.

Ein Salon – sehr geschmackvoll, sehr modern …

Drei breite Fenster nach der Havel hinaus. Und draußen Maisonnenschein, lärmende Spatzen im Baumgrün …

Hier im Salon Karl Rietmeier, Doktor juris, der soeben der schönen Frau Leonie seine beiden Begleiter als Kriminalbeamte vorgestellt hat, zwei ältere Leute mit biederen blonden Vollbärten, der eine lang, hager, der andere klein, etwas dick: ich selbst, Max Schraut!

Harst hat es so gewollt, daß wir unkenntlich das Haus des toten Wilbert Prang betreten sollten, unkenntlich und nur Zuhörer dessen, was Doktor Rietmeier sagen und fragen wird als Sprachrohr der größten Kriminalintelligenz der Welt, als Sprachrohr Harald Harsts!

Wir beide setzen uns bescheiden auf die zierlichen Stühlchen neben der Tür.

Ich staune – bewundere … Selbst mit meinen Jahren und Erfahrungen ist ein Weib von dem Aussehen Leonie Prangs im Mai etwas Aufregendes.

Schön?! Ob sie schön ist?! – Ich wette: von hundert Frauen würden neunundneunzig bestimmt „nein!“ sagen; von hundert Männern ebenso bestimmt neunundneunzig sich die Lippen lecken und ein „Ja!“ flüstern.

Sie ist eben eine Männerschönheit.

Gertenschlank, dabei voll, ein rassiges Gesicht mit brennend roten Lippen, die wie vor immerwährendem Durst trocken und matt scheinen …

Mit Augen, deren lange Wimpern den ebenso matten Blick noch mehr verschleiern …

Mit einer hohen, klugen Stirn, einer Kopfform, der die Frisur mit dem glatten Scheitel und dem dicken, tiefen Haarknoten vortrefflich steht …

Schließlich – die Nase: etwas groß, brutal, schmal, mit tief eingedrückten Nasenflügeln … Eine nicht alltägliche Nase …

Und das Ganze ein Weib, in deren Nähe die Männer unruhig werden, Wünsche aufsteigen, Phantasien heiße Träume gebären …

So ist Leonie Tassard, verehelichte Prang, – so ist die Frau, die Harald Harst für eine Mörderin hält, wenn er das auch noch nicht ausgesprochen hat. –

Auch Doktor Rietmeier ist befangen – gefangen. Ich merke das an der Art, wie er nun beginnt …

„Gnädige Frau, Sie erwähnten bereits kurz: Ihr Herr Gemahl ist verreist …“

„Ja, seit vorgestern abend, Herr Kriminalkommissar. – Sie werden verstehen, daß der Besuch eines Beamten der Polizei mich immerhin überrascht. Kommen Sie des Hundediebstahls wegen? Haben Sie meine Anzeige in den Zeitungen gelesen? Die Belohnung für die Wiederbringung Liliputs ist ja etwas hoch, aber Wilbert, mein Mann, hängt so sehr an dem Tiere.“

Sie spricht ohne Ziererei, ohne Gepränge. Große Dame, Dame von Welt – in allem.

Rietmeier findet sich selbst wieder. Der Mann in ihm schweigt. Der Beamte wacht auf.

Er erwidert: „Seit wann vermissen Sie das Hündchen doch, gnädige Frau?“

„Seit vorgestern vormittag. – Es ist also gefunden worden?“

Harst hustet diskret und benutzt das Schnupftuch.

Rietmeier beachtet das Signal.

„Nein, es ist leider noch nicht gefunden, gnädige Frau,“ erklärt er. „Ich bin auch lediglich Ihres Herrn Gemahls wegen hier …“

„Ah …“ Sie wird unruhig. „Ist … ist ihm etwas zugestoßen?“

Der Kommissar überhört das.

„Wohin ist er gereist, gnädige Frau?“

„Nach München zur Kunstausstellung,“ meint sie zerstreut. „Bitte – ist ihm etwas zugestoßen?“

Rietmeier bleibt fest.

„Wissen Sie genau, daß er dorthin reiste?“

„Gewiß …“ Das klang sehr erstaunt. „Ich habe ihn ja vorgestern abend bis Berlin begleitet. Ich war auf dem Bahnsteig, als der D-Zug den Anhalter Bahnhof verließ …“

Sie wird nervöser. „Herr Kriminalkommissar, – Sie verschweigen mir etwas … Ich fühle das …“

Harst schnäuzt sich abermals. Das heißt – an Rietmeier gerichtet: Laß sie noch im unklaren!

Aber Doktor Rietmeier ist in diesem Moment zu sehr Mensch und zu fest von dem untadeligen Charakter dieser berückenden Witwe überzeugt. Das hat er uns nachher selbst eingestanden …

„Gnädige Frau,“ sagte er weich, „Ihr Gatte ist leider schwer erkrankt …“

Sie fährt empor …

Ich beobachte sie. Unsereiner hat Blick für komödiantenhaftes Getue …

Sie fährt empor … Die Augen groß und starr … Stützt sich halb aufgerichtet auf die Sessellehne …

„Krank …?!“ Und die Stimme ist brüchig und heiser vor Angst. „Mein Gott – – die Wahrheit!! Was ist’s mit Wilbert?“

Rietmeier ist blaurot. Schweiß tritt ihm auf die Stirn. „Gnädige Frau, er ist … sehr, sehr krank im Grunewald aufgefunden worden – gestern nachmittag.“

Da sinkt sie in den Sessel zurück. Ihre Züge entspannen sich.

„Das kann nicht Wilbert sein,“ sagt sie aufatmend. „Wilbert ist in München … Er hat mir gestern eine Depesche geschickt. Sie traf um zwei Uhr nachmittags ein. Er hat mir seine Ankunft gemeldet und mir das Hotel angegeben, wo er abgestiegen ist: Zentralhotel, am Hauptbahnhof, Zimmer 21 und 22.“ –

Auch ich bin genau so verwirrt wie Rietmeier. Ich schiele nach Harst hin. Harst besieht seine Stiefelspitzen, hat den Kopf gesenkt und flüstert, ohne die Lippen zu bewegen:

„Eine Dummheit …“

Nur ich kann’s verstehen.

Rietmeier wendet den Kopf, fragt:

„Sagten Sie etwas, Müller?“

„Ich meinte nur, daß der gnädigen Frau der Tote dann gezeigt werden müßte,“ erwidert Harst bescheiden.

„Wozu?!“ Frau Prang bleibt gelassen. „Wozu? Ein fremder Toter?! Es kann nicht Wilbert sein …! Wie sind die Herren überhaupt auf diesen unmöglichen Gedanken gekommen?!“

Sie schaut Harald an. Der erhebt sich, tritt zwei Schritt vor, stützt sich mit der Rechten leicht auf den runden Salontisch …

„Wegen der Ähnlichkeit mit der Photographie, die wir bei Fräulein Gülden fanden, gnädige Frau …“

Leonie Prangs Gesicht verfinstert sich – für Sekunden. „Fräulein Gülden besitzt noch ein Bild meines Mannes? – Oh – das wußte ich nicht …“ Das klingt scharf und unfreundlich, klingt fast feindselig.

„Fräulein Gülden ist auch … tot,“ sagt Harald Müller gleichmütig.

Und da – wieder das Hochschnellen des schlanken Frauenkörpers …

Die Lippen werden zur schmalen Linie. Die üppige Brust fliegt …

„Etwa – etwa beide – beide im Grunewald gefunden?“ ruft sie heiser, und in den Augen lodern Eifersucht, Angst, Haß … – ein seltsames Gemisch von Empfindungen.

„Nein, gnädige Frau. Fräulein Gülden hat sich vergiftet. Sie hinterließ einen Zettel, der den bei ihr noch entdeckten Liebesbriefen nach nur auf Ihren Gatten und Sie Bezug haben kann.“

Frau Prang steht jetzt kerzengerade.

„Verschonen Sie mich bitte mit alledem,“ erklärt sie kalt. „Ich wiederhole nochmals: mein Mann ist in München. Der Tote, den Sie meinen, ist niemals Wilbert.“

Harst-Müller zuckt die Achseln und tritt zurück.

Rietmeier greift wieder ein …

„Gnädige Frau, trotzdem bitte ich Sie, uns nach dem Leichenschauhaus zu begleiten … Hatte Ihr Herr Gemahl besondere Kennzeichen – Narben, ein Muttermal?“

Sie errötet, der Kopf sinkt etwas …

„Ja – ein Muttermal auf der Brust – Von Fingernagelgröße …“

Rietmeier holt tief Atem. „Der – der Tote hat genau solch ein Mal …“

Ihr Kopf ruckt hoch. In den Augen flackert Angst.

„Ja – – ich will den Toten sehen.“ Sie zittert. „Ich – ich bin sofort bereit …“

„Das Dienstauto wartet draußen, gnädige Frau!“ –

Fahrt durch den Grunewald, durch den Frühling, die Autostraße dahin – in rasendem Tempo … Der Motor surrt … In dem Wagen wir vier – stumm …

Dann Moabit … Straßen, Menschen … Und schließlich die Halle, kalt und drohend …

Der Tote …

Ein gellender Schrei! – Wir tragen Frau Leonie hinaus. Sie kommt rasch zu sich.

Und Müller-Harst und Schneider-Schraut bringen sie im selben Auto nach Potsdam zurück …

Harst hat es so gewollt. Harst tut nichts, das nicht einen Zweck hat.

 

7. Kapitel.

Der Papagei.

Die Zofe, die Köchin nehmen in der Villa draußen am Havelufer die Witwe in Empfang.

Wir sind vorläufig ausgeschaltet. Wir schlendern durch den großen Obstgarten, sprechen mit dem alten Gärtner, der hier jetzt gerade Arbeit hat, seit vielen Tagen schon. Er singt das Lob des Ehepaares Prang in allen Tönen …

„Ich wäre mit meiner Frau in diesen schlimmen Zeiten verhungert, meine Herren,“ sagt er gerührt. „Die gnädige Frau hat für uns gesorgt. Ein Engel – ein Engel!“

„Und so tierlieb, nicht wahr?“ wirft Harald hin.

„Hm …“ Ein erstaunter Blick „Hm – tierlieb? Na – das ist ja nun verschieden bei den Menschen …“

„Also nicht tierlieb?“

„Nein …“

„Den kleinen Liliput konnte Frau Prang nicht ausstehen …“

„Leider nicht! – Nun ist er ja verschwunden.“

„Ja – verschwunden. – Prangs leben wohl sehr gesellig?“

„Und ob, Herr, und ob! Haben oft Gäste …“

„Das wundert mich. Solch ein jung verheiratetes und so verliebtes Paar ist doch lieber allein …“

„Ja – die reichen Leute, Herr …! Und schließlich: sie müssen doch ihr Geld ausgeben! Dann haben auch andere Vorteil davon, – Lieferanten, wir Gärtner …“

Harst sagt dann ernst: „Damit Sie es ebenfalls erfahren: Herr Prang ist ermordet worden!“

Das trifft den Alten schwer. „Mein Gott, – nun wird’s hier wohl vorbei sein mit dem schönen Verdienst.“

Es ist der gesunde Egoismus der einfachen Menschen, der an sich selbst zuerst denkt.

Und der Gärtner fügt hinzu: „Schrecklich, schrecklich! Die arme gnädige Frau …“

Das Gespräch geht weiter, bis von links hinter einer hohen Hecke hervor, die die Stallungen verbirgt, ein Mann in Chauffeurtracht erscheint.

Ein noch junger Bursche mit dem bei Privatchauffeuren so häufig zu findenden patzigen Benehmen.

Er baut sich vor uns auf, Hände in den Hosentaschen. Unsere einfache, spießbürgerliche Kleidung weckt seine Flegelhaftigkeit. Er hat uns noch nicht gesehen.

„Was wollen Sie beide denn hier?“ fragt er. Und zu dem Alten: „Na, Lenz, Sie jehören auch zur Arbeitsschoner-Gilde …“

Harst mustert ihn, erklärt scharf: „Wir sind Kriminalbeamte!“

„Donnerwetter!“ Er faßt an die Mütze. „Entschuldigen Sie … So, so – Kriminalbeamte …“

„Ja, Herr Prang ist ermordet worden. Deshalb sind wir hier.“

Der Chauffeur glotzt uns verständnislos an.

Ich – beobachte.

Da – da ist irgend etwas in dem Verhalten dieses Burschen, das mir auffällt. Da ist in diesem jähen Staunen über diese Nachricht vom Tode seines Herrn ein unmerkliches Zuviel. Und da ist auch in der Stimme seltsamerweise ein Klang, der in mir irgend – irgendeine Erinnerung weckt. Ich muß diese oder eine ähnliche Stimme schon einmal gehört haben. Wo aber – wo nur? – Mein Gedächtnis versagt. Ich fühle mich müde und abgespannt. Das Blut braust mir in den Ohren. Die Kopfschmerzen nach dem überkräftigen Knüttelhieb am Vormittag haben zugenommen. Die Wunde unter der Scheitelperücke, nur dünn bepflastert, brennt immer stärker …

Harst berichtet dem alten Gärtner und dem unsympathischen Chauffeur, wie man Herrn Prang dort nördlich von Schlachtensee im Walde in der Blöße des hohen Grases aufgefunden hat.

Ich höre kaum hin. Die Erregung der letzten Stunden hat mich aufrecht erhalten. Jetzt – bin ich dem Zusammenklappen nahe.

Dann – schweigt Harald ganz plötzlich …

Von der Villa her drang ein Kreischen bis zu uns hin – ein wütendes Kreischen.

Des Chauffeurs Kopf schnellt herum …

„Ach – nur der Papagei der Gnädigen …“ sagt er achselzuckend. „Gräßliches Vieh!“

Und – ich sehe, daß in sein Gesicht, trotzdem es nur der Papagei war, ein merkwürdig gespannter Zug getreten ist – ein Ausdruck erhöhter Aufmerksamkeit – etwas … Lauerndes.

Ja – das sehe ich trotz der Mattigkeit …

Harst spricht weiter. Der Chauffeur findet Worte der Teilnahme für seinen toten Herrn, die durchaus echt wirken – ungekünstelt …

Und abermals schreit der Papagei.

Abermals dreht der Chauffeur den Kopf …

Sagt dann etwas zu unvermittelt: „Na – dann werde ich man wieder an die Arbeit gehen …“

Verschwindet hinter der Hecke. –

Der alte Gärtner greift nach dem Spaten. Wir schlendern neben ihm her, dem Flusse zu, der im Sonnenschein glitzert. Boote liegen am Ufer vertäut, Bootstege ragen über den Wasserspiegel hinweg.

Und Harst fragt: „Schreit der Papagei häufig am offenen Fenster?“

„Nein, Herr Müller. Manchmal nur. Ich glaube, er kann den Chauffeur Günther nicht recht leiden. Wenn er ihn sieht, wird er ganz wild, aber nicht immer …“

Der alte Lenz ebnete ein paar frische Maulwurfshügel mit dem Spaten ein.

Dann hinter uns eine Stimme: „He – Lenz – Lenz!“

Es war die Zofe, ein fesches Mädel, trotzdem bescheiden und zutraulich.

„Lenz, Sie sollen zur gnädigen Frau kommen,“ erklärte das Mädchen atemlos. Und zu uns beiden: „Sie wollten die gnädige Frau doch noch sprechen. Sie erwartet Sie im Salon. Es geht ihr schon wieder besser.“

Lenz war schon davongeeilt.

Harald fragte die Zofe: „Sind Sie schon längere Zeit hier bei Prangs, Fräulein?“

„Zwei Monate.“

Wir schritten dem Hause zu.

„Und es gefällt Ihnen hier, Fräulein?“

„Hm – wie man’s nimmt. Man hat ja Augen. – Aber ich verbrenne mir nicht den Mund.“

„Vorhin schrie der Papagei. Es muß ein großes Tier sein,“ meinte Harald so recht gleichgültig so, als ob er das Gespräch nur fortsetzen wollte.

„Die gnädige Frau hatte sich ihn ins Schlafzimmer bringen lassen. Wir hatten sie dort auf den Diwan gebettet. Und dann läutete sie mit einem Male Sturm. Ich lief zu ihr. Und da verlangte sie den Papagei. Komisch war das, wo die gnädige Frau doch so furchtbar unglücklich und matt war …“

„Die Fenster des Schlafzimmers gehen wohl hier nach dem Garten hinaus?“

„Ja. Das Zimmer liegt im ersten Stock, das mit dem Erker …“

Wir betraten die Villa durch den Nebeneingang.

 

8. Kapitel.

„Am Schlachtensee …“

Die Zofe meldete uns an.

Wir standen in der Diele, deren stilechte alte Bauernmöbel abermals den verfeinerten Geschmack der Prangs bewiesen.

Harald schaute sich um, beugte sich zu mir hin:

„Merkst Du? Der Papagei: ein Signal für den üblen Burschen, den Chauffeur! Ich glaube, mein Alter, es hat keinen Zweck mehr, hier uns als Beamte auszugeben. Wir sind durchschaut.“

Da erschien der alte Lenz vom Seitenflur her, nickte uns seltsam scheu zu und ging vorüber.

„Aha!“ flüsterte Harst rasch. „Er ist von der Gnädigen fraglos angehaucht worden, weil er sich mit uns unterhalten hat. Und der Papagei, mein Alter, – der Papagei sollte den Günther vor uns warnen.“

Das Zöfchen tauchte auf …

„Die gnädige Frau läßt bitten!“ –

Frau Leonie Prang saß in der Ecke des zierlichen Brokatsofas. Sie hatte jetzt ein schwarzes, schlichtes Kleid an. Ihre kostbaren Ringe waren von den Fingern verschwunden. Sie saß da, die Hände im Schoße verschlungen, – blaß, mit roten, verweinten Augen …

Und zwischen den Fingern hielt sie ein zartes Tüchlein mit Spitzenrand.

„Nehmen Sie bitte Platz,“ sagte sie leise.

Harald blieb stehen, verbeugte sich …

„Gnädige Frau, ich möchte zunächst etwas aufklären. Haben Sie den Namen Harald Harst bereits gehört? Wissen Sie, wer Harst ist?“

Sie machte erstaunte Augen. „Harst? Harald – – Harst? – Ja – richtig, das ist ja wohl der bekannte Detektiv …“

„Ich bin dieser Harald Harst, gnädige Frau …“

„Ah – – Harst!!“ Sie musterte Harald interessiert.

„Kommissar Doktor Rietmeier hatte mich und meinen Freund Schraut gebeten, ihn zu begleiten, gnädige Frau. Ich will nicht, daß Sie länger im unklaren bleiben, wen Sie vor sich haben[1]. Wir sind nicht Beamte, und wenn Sie daher wünschen, daß wir uns wieder entfernen, werden wir …“

„Nein, nein, Herr Harst,“ unterbrach Frau Leonie ihn lebhaft. „Mir ist es nur angenehm, daß Ihr Name und Ihre Person, Herr Harst, mich da auf einen Gedanken gebracht haben, der mir sonst vielleicht gar nicht gekommen wäre. Bitte, setzen Sie sich doch, meine Herren!“

Sie hatte zuletzt wieder bedächtiger gesprochen, ganz so, als ob sie sich besänne, daß ihre allzu große Frische in Sprache und Mienenspiel hier nicht am Platze sei.

„Herr Harst,“ begann sie dann, und ihre Stimme vibrierte leicht, „Herr Harst, ich wünsche, daß Sie dieses … dieses Verbrechen aufklären, das mir meinen Mann geraubt hat …“

Ein paar Tränen rannen ihr aus den Augen …

Sie tupfte sie mit dem Tüchlein weg …

Fügte bittend hinzu: „Nicht wahr, Sie übernehmen diesen Auftrag, Herr Harst? – Herr Doktor Rietmeier deutete ja bereits an, daß dieser Mord …“ – ihre Stimme sank zum Flüstern herab – „sehr schwer zu …“

Da versagte ihr die Stimme. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Ihr Leib bebte in fassungslosem Schluchzen.

Und ich dachte: Komödie – –?!

Nein – – niemals! Diese Trauer, dieser Schmerz waren echt! Das wäre sonst eine schauspielerische Leistung gewesen, wie nur eine gottbegnadete Künstlerin sie fertiggebracht hätte.

Und von diesem Augenblick an gab es hier bei dem „Fall Prang“ zwischen Harald und mir jenen tiefen Riß in unseren Ansichten, der uns zeitweise fast zu Gegnern machte. –

Dann sprach Frau Leonie weiter …

„Dieser Mord soll um jeden Preis gesühnt werden, Herr Harst. Ich bitte Sie, keinerlei Ausgaben zu scheuen, nichts unversucht zu lassen, die näheren Umstände des Todes meines Mannes zu ergründen. Bedenken Sie: er will nach München fahren! Ich sehe den Zug mit ihm aus der Halle dampfen – vorgestern neun Uhr abends! Ich bekomme gestern eine Depesche von ihm aus München. Hier ist sie. Und – gestern wird er erschossen hier im Grunewald aufgefunden! Er muß also den Zug unterwegs verlassen haben. Er ist nach Berlin zurückgekehrt.“

Sie war immer erregter geworden. Sie begleitete ihre Worte durch eindrucksvolle Gesten.

„Herr Harst – im Vertrauen: ich habe die Eifersucht auf jene Hanni Gülden nie ganz verdrängen können! Sie war die Geliebte meines Mannes – jahrelang. Dann – erfuhr er zufällig, daß sie ihn betrog … Und fast zur selben Zeit lernte er mich kennen. Er war mit Gott und aller Welt zerfallen. Er haßte die Frauen. Er hatte Hanni Gülden so geliebt!“

Sie schwieg atemlos …

Da sagte Harald bedächtig: „Und Sie glauben, daß er etwa zu Hanni Gülden die alten Beziehungen wieder aufgefrischt hat? –Seien Sie ganz ehrlich, gnädige Frau …“

Sie biß die Zähne in die Unterlippe. Ihre Nasenflügel bebten. Alles an ihr war in Aufruhr …

Eifersucht – – Eifersucht!!

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll,“ stieß sie hervor. „Ich weiß nur eins: Wilbert und dieses Mädchen haben sehr häufig Waldspaziergänge unternommen. Ich fand einmal ein Heft unter den Papieren meines Mannes, und in diesem Heft Gedichte – schamlose Gedichte über Liebesszenen … Und da war eins darunter, das hieß „Am Schlachtensee …“ – Warten Sie, ich hole Ihnen das Heft. Sie sollen selbst lesen, selbst Ihre Schlüsse ziehen.“

Sie erhob sich. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß.

Harald schaute starr geradeaus.

Unsere Stühle standen nebeneinander.

„Eifersucht – aber über jeden Verdacht erhaben,“ flüsterte ich.

Er lächelte ironisch: „Blinder Tor – verführt durch die Reize des gefährlichsten Weibes, dem ich je begegnet bin!“

„Gestatte: diesmal bin ich denn doch anderer Ansicht!“

„So?! – Schade! Ich hätte Dich für klüger gehalten. In Deinen Jahren sollte man sich von der verderblichen, die Sinne umnebelnden Witterung eines temperamentvollen Frauenleibes längst …“

Da kehrte Leonie zurück …

„Hier – bitte …“

Ich las das Gedicht mit …

Am Schlachtensee …

Wenn uns zu Füßen Wasser blinken,
Wenn helle Wölklein sonnig winken,
Wenn schlanke Bäume um uns rauschen:
Mit keinem Nabob möcht’ ich tauschen!
Kein Nabob hat ein Bett wie wir,
– Wie wir in zarten Gräsern hier …!
Kein Nabob hält ein Weib umschlungen,
Und keinem ward jemals gesungen
Von Fichten, Gräsern und … von Deinem Mund
Das Lied der heißen Hochzeitsstund’ …!

Harald ließ das Heft sinken …

Frau Leonie Prang stand vor uns …

„Herr Harst, – ich bin nur ein Weib mit den unzulänglichen Gedankengängen aller Frauen. Aber – wäre ich … Sie, Herr Harst, dann würde ich mir sagen: vielleicht hat jene … Dirne, jene Hanni Gülden, meinen Mann gestern dort in den Wald gelockt, – dorthin, wo sie … die seine war, und – dort hat sie ihn erschossen, hat sich dann heute vergiftet! – Das ist’s, was ich eigentlich der Kriminalpolizei mitteilen wollte. Ich hielt mich dazu für verpflichtet. Nun wissen Sie es als erster, Herr Harst! Handeln Sie!“

Mit ihrer Fassung war’s wieder vorbei …

Sie schluchzte auf – – entfloh … – –

Die Depesche aus München und das Heft nahmen wir mit.

 

9. Kapitel.

Leonie aus der Schlegelstraße …

Vier Uhr nachmittag war’s jetzt …

Wir gingen durch die stillen Straßen der alten Residenzstadt dem Bahnhof zu.

Und zwischen uns schritt als Gespenst die ernste Meinungsverschiedenheit über Frau Leonie Prang, geborene Tassard.

Harst hatte bereits kurz nach unserem Weggang aus der Villa zu mir gesagt:

„Lieber Alter, – – sie versteht’s!“

Und ich hatte scharfen Tones erwidert:

„Du bist diesmal denn doch zu arg auf dem Holzwege!“

Worauf er seinen Arm in den meinen schob …

„Alterchen – abwarten! Dir werden die Augen schon aufgehen!“

Ich zog meinen Arm zurück …: „Vielleicht Dir!!“

„Blinder Tor!“

Und dann schwiegen wir … Schwiegen, bis wir in Berlin, Potsdamer Bahnhof, ausstiegen.

Bis Harald ein Auto herbeiwinkte:

„Chauffeur – Firma Benesch, Gertraudenstraße 114.“

Wir stiegen ein.

„Bei Benesch war Leonie Tassard bekanntlich Korrespondentin,“ erklärte Harald ironisch. „Du wirst dort erfahren, daß sie kaum sehr lange diese ehrbare Beschäftigung ausgeübt hat …“

Ich blieb stumm. –

Herr Jakob Benesch lernte uns nur als Kriminalbeamte kennen.

Sein entsetztes Gesicht bewies, daß sein Gewissen nicht so tadellos rein war wie seine perlgraue Weste.

Harst-Müller beruhigte ihn schnell.

„Wir kommen nur Ihrer früheren Korrespondentin wegen, Herr Benesch.“

„Ach so. – Bitte, welche?“

„Leonie Tassard …“

„Ah – die!! – Na, da kann ich Ihnen leider nicht gerade viel mitteilen, meine Herren. – Ich denke, sie hat eine glänzende Partie gemacht …“

„Ja … Hat sie, Herr Benesch! Wie lange war sie bei Ihnen?“

Benesch grinste. „Einen Tag … Dann wurde sie krank, verzichtete auf ihr Gehalt, ließ sich ihre Papiere zurückschicken und – ward nicht mehr gesehen – leider! Es war ja was zu sehen an ihr, und außerdem war sie im Englischen, Französischen und Holländischen so firm, als ob sie jahrelang im Auslande gewesen. – Hat sie was berissen?“

„Bewahre! Ihr Mann ist ermordet worden …“

„Oh – sehr bedauerlich!“

„Wie waren denn ihre Zeugnisse?“

„Zeugnisse?! Sie hatte keine. Es sollte ja ihre erste Stellung werden hier bei mir …“

„Danke, Herr Benesch. Über ihren Mann wissen Sie nichts?“

„Nichts …“

Wir verabschiedeten uns.

Ich war etwas kleinlaut geworden – sehr kleinlaut.

Wir nahmen wieder ein Auto …:

„Chauffeur – Polizeipräsidium, Alexanderplatz!“

Und im Auto meinte Harald:

„Na, mein Alter?! Wie steht’s?! Legst Du noch Deine Hand für Leonie Tassard ins Feuer?!“

„Beide!!“ erklärte ich bockbeinig, obwohl ich mir sagte, daß Leonie Tassard die Stellung bei Benesch doch zweifellos nur zum Schein angenommen hatte. –

In dem für den Buchstaben T (Tassard) zuständigen Zimmer des Einwohnermeldeamts des Polizeipräsidiums trafen wir mit Doktor Rietmeier zusammen, der sich hier gleichfalls über Leonie Tassard orientieren wollte.

Und – da kam denn (ich wurde noch kleinlauter!) heraus, daß Leonie Tassard erst seit dem 14. September 1922 wieder gemeldet war – als aus dem Ausland (England) zurückgekehrt.

Vorher hatte sie bis 1914 bei ihrer inzwischen verstorbenen Mutter in der Schlegelstraße Nr. 228 im Norden Berlins gewohnt. Sie war am 6. August 1893 geboren, jetzt mithin 29 Jahre alt. Ihr Vater war Agent gewesen. Sie hatte noch zwei jüngere Brüder, deren Aufenthalt seit Jahren unbekannt war. –

Wir verließen zusammen mit Rietmeier das Präsidium und gingen in eine nahe Weinstube. Auch Rietmeier hatte noch nicht Mittag gegessen.

Wir setzten uns in eine Ecke und bestellten, was die Speisenkarte an „Besonders zu empfehlenden Gerichten“ bot. –

Der Kommissar fragte Harald dann aus. Harst berichtete genau, was wir in der Prangschen Villa erlebt hatten …

„Schraut hält Frau Leonie für ein weißes Unschuldslämmchen,“ sagte er nun und füllte unsere Gläser. „Ich halte sie für die Mörderin ihres Mannes und Hanni Güldens. Natürlich hat sie nicht persönlich die Verbrechen begangen. Nein, sie ist die Anstifterin. Sie erbt ein großes Vermögen von Wilbert Prang. Das Motiv für den einen Mord ist also gegeben …“

„Hm – und für den zweiten?“ meinte Rietmeier, der offenbar noch Zweifel hegte.

„Hanni Gülden mußte sterben, damit der Verdacht, Prang erschossen zu haben, auf sie gelenkt werden konnte. Frau Leonie hat ja unter schlauester Benutzung des Gedichts „Am Schlachtensee …“ uns bereits mit der Nase auf diese Theorie gestoßen …“

Der Kellner brachte die Suppe …

Rietmeier aß hastig, schob den Teller weg …

„Herr Harst, wollen Sie mir bitte zwei Fragen beantworten,“ sagte er leise. „Erstens: glauben Sie, daß Prang wirklich wieder mit Hanni Gülden angebändelt hatte und ihretwegen den Münchener Zug irgendwo sehr bald wieder verlassen hat und nach Berlin zurückgekehrt ist?“

Harald hob die Schultern. „Das alles bleibt noch aufzuklären …“

„Dann zweitens: wie wurde Hanni Gülden das Gift beigebracht?“

„Lieber Rietmeier, wir werden gleich nachher das Atelier der Malerin nochmals besuchen. Sie haben es ja versiegeln lassen. Sie können hinein. Dort werden wir es finden …“

„Was?“

„Den Beweis für die größte Schurkerei, die je begangen wurde! – Ich will meine Behauptung nämlich dahin korrigieren: Prang wurde ermordet – von irgendeinem Helfershelfer der Leonie Tassard! Hanni Gülden aber trank den Giftbecher scheinbar freiwillig, während Frau Leonie dabei war.“

„Gestatten Sie: das verstehe ich nicht!“ meinte Rietmeier kopfschüttelnd.

„Sie werden es verstehen!“ –

Und eine Viertelstunde drauf fuhren wir nach der Sedanstraße in Schöneberg.

 

10. Kapitel.

Das amerikanische Duell.

Die Siegel an der Flurtür des Ateliers waren unverletzt. Rietmeier schloß auf. Die Leiche Hanni Güldens war schon am Vormittag weggeschafft worden.

Wir standen in dem kleinen, blitzsauberen Atelier. Nichts war hier verändert worden – nichts …

Da war der Diwan …

Die Kissen zeigten noch den Eindruck des Kopfes der Toten …

Da war der Hocker … Da war das Wasserglas – der Giftbecher …

Harst nahm es in die Hand, stellte es wieder hin, nachdem er es gegen das Licht gehalten hatte.

Und ging zu dem altmodischen kleinen Damenschreibtisch, zu dem Papierkorb, der bis auf zwei Papierstreifen leer war.

Er zeigte sie uns, diese Streifen …

Sagte: „Sie sind von verschiedener Länge. Der eine etwa vier Zentimeter, der andere acht Zentimeter, beide gleich breit: etwa ein Zentimeter. – Mir sind diese Papierstreifen schon vormittags aufgefallen. Und hiervon sind sie abgeschnitten worden …“

Er schlug eine Schreibmappe auf. Da lag ein Briefbogen, und von der einen Seite war ein Stück tatsächlich weggeschnitten worden.

Rietmeier hielt die Streifen an diese Seite.

„Da fehlt noch immer ein Stück,“ meinte er.

„Allerdings – ein Streifen von ebenfalls acht Zentimeter,“ nickte Harald. „Und den will ich Ihnen[2] nun zeigen …“

Er ging zum Ofenvorsatz. In einer Ecke lag da ein Papierkügelchen.

Harst faltete es auseinander und strich es glatt.

„Bitte …“

„Ja – das ist’s!“ sagte der Kommissar langsam.

„Aber – was soll das alles?!“

„Nun – stellen Sie sich einmal folgendes vor, lieber Rietmeier. – Leonie Tassard ist eine gefährliche Abenteuerin und erfährt irgendwo und irgendwie, daß Wilbert Prangs Onkel, der Plantagenbesitzer, demnächst sterben und daß Prang dann sein Erbe werden wird. Sie beschließt, dieses Vermögen an sich zu bringen …“

Rietmeier unterbricht Harst. „Diese Vorgeschichte habe ich mir genau so vorgestellt …“

Und Harald spricht weiter:

„Sie kommt mit ihren Helfershelfern nach Berlin, nimmt zum Schein die Stellung bei Benesch an, damit sie sich als ehrbare Korrespondentin ausgeben kann, pirscht sich an Prang heran, führt ein Zerwürfnis mit Hanni Gülden herbei und umgarnt den charakterschwachen Prang derart, daß er sich mit ihr verlobt und sie auch heiratet, nachdem er durch die Erbschaft reich geworden. Die Abenteuerin liebt Prang nicht, muß aber noch einige Monate mit der Vollendung ihrer Pläne warten, damit keinerlei Verdacht gegen sie entsteht. Jetzt im Mai hält sie die Zeit für gekommen. Prang will nach München reisen. Sie begleitet ihn nicht, was schon recht merkwürdig ist. Sie schickt zwei ihrer Kumpane aus. Der eine fährt nach München und gibt von dort die Depesche auf. Der andere lockt Prang irgendwie aus dem Zuge …“

„Hm – hm!“ machte Rietmeier. „Schon faul, lieber Harst. Wer läßt sich so leicht aus einem Zuge locken und zur Umkehr nach Berlin bewegen?“

„Jeder Ehemann, dem man mitteilt, seine Frau betrüge ihn; er solle sie nur mal heimlich beobachten …“

„Ah – in der Tat! Das wäre möglich …“

„Nun also! – Jedenfalls: Prang fährt mit dem Helfershelfer nach Berlin zurück, der ihn weiter irgendwie in den Wald lockt und hier niederknallt, ihm zum Schein die Taschen ausräumt und so einen Raubmord vortäuschen will …“

„Sehr gut – einverstanden. – Und dann?“

„Ich muß noch nachholen, daß Prang, der genau weiß, daß seine Frau den kleinen Liliput nicht leiden mag, und der daher fürchtet, das Tierchen könnte während seiner Abwesenheit schlecht behandelt werden, das Hündchen am Vormittag des Reisetages scheinbar verschwinden läßt und es Hanni Gülden zuschickt …“

„Hm – hm, – – das will mir weniger gefallen …“

Harald läßt sich nicht stören. „Hanni Gülden aber – und nun kommt noch ein anderer dunkler Punkt – muß irgendwie bereits gestern abend erfahren haben, daß Prang ermordet worden ist. Um mich den Mördern auf die Fersen zu hetzen, bringt sie in der verflossenen Nacht Liliput zu mir und steckt ihn in den Kasten der Rattenfalle …“

Rietmeier hebt abwehrend die Hände. „Bester Harst, entschuldigen Sie schon: das alles ist auf Sand gebaut – total auf Sand! Das sind Phantasien – ohne Beweise …“

„Glauben Sie?! Beweise lassen sich herbeischaffen. Ich werde das tun. – – Und heute morgen dann findet sich überraschend Leonie Prang hier bei der Malerin ein – maskiert, nicht etwa als elegante Dame …“

„Auch das noch!! Maskiert!!“

Dieser ironische Ausruf geht spurlos an Harald vorüber.

„Die beiden Frauen,“ erklärt er in demselben sachlichen Tone weiter, „einigen sich dahin, daß sie durch ein … amerikanisches Duell den Liebesstreitfall aus der Welt schaffen wollen. Eine von ihnen soll das Zyankali trinken – eben die, die den längeren[3] Papierstreifen zieht …“

Ich war jetzt genau so verblüfft wie Rietmeier.

Harst fuhr schon fort:

„Leonie Prang schneidet die Lose zurecht, schneidet aber heimlich zwei gleich lange Streifen und einen kürzeren. Dann nimmt sie die drei Streifen in die Hand, ballt sie zur Faust und läßt Hanni einen der Streifen ziehen, die des Glaubens ist, Leonie habe nur zwei in der Hand. Hanni zieht den einen längeren Streifen, und das sollte … das Todesurteil sein, wie die Frauen ausgemacht haben: wer den längeren Streifen erwischt, muß das Glas leeren! – Und Hanni konnte ja nur einen der längeren ziehen, da Leonie mit Taschenspielergewandtheit nur die beiden längeren aus der Faust herausragen ließ. – Nachdem Hanni so das Todeslos gezogen, zeigt ihr Leonie den angeblich nur noch in ihrer Hand verbliebenen kürzeren Streifen. Den anderen knüllt sie geschickt zusammen und wirft ihn hinter sich – in den Ofenvorsatz. – Hanni leert das Glas, stirbt nach wenigen Minuten. Leonie legt den Zettel, den die Malerin früher einmal Prang zugeschickt hat, neben das Giftglas und verläßt das Atelier, zündet im Flur noch ein Streichholz an und verschließt die Flurtür von außen mit einer Schlüsselzange …“

Rietmeier lächelt, als Harald nun endlich zu Ende gekommen …

Lächelt wie ich und sagt: „Das alles hört sich ganz nett an. Nur …“

Und – da verging uns das Lächeln …

Da zog Harald seine Brieftasche hervor und legte sich zwei abgebrannte Zündhölzchen auf die flache Hand.

„Bitte!! Beides sind Schwedenhölzchen! Das eine ist das hier aus dem Flur, das andere hob ich im Flur der Villa Prang auf …!!“

Wir verstanden sofort: beides Schwedenhölzchen! Also konnte Frau Leonie von daheim eine Schachtel Schwedenhölzer hierher mitgebracht haben!!

„Donnerwetter!!“ meinte Rietmeier sehr ernst. „Wenn … wenn Sie doch recht hätten, Harst …!“

„Ich werde noch mehr beweisen. – Nach Potsdam – Villa Prang! Verhör der Dienstboten, des Chauffeurs. Sofort …!“

„Gut, bin dabei …!“ Und Rietmeier steckt die drei Papierstreifen zu sich.

Ich sage gar nichts mehr …

Und bin doch überzeugt, daß Haralds Gedankenbau kläglich einstürzen wird!

 

11. Kapitel.

Das Verhör.

Obwohl wir erst gegen acht Uhr abends in der Villa Prang eintrafen, da wir beide uns noch schnell daheim äußerlich wieder in Harst und Schraut zurückverwandelt hatten, empfing Frau Leonie uns späte Gäste doch mit aller Liebenswürdigkeit und stellte uns ihres Gatten Arbeitszimmer für das Verhör zur Verfügung.

Harald hatte ihr gegenüber betont, daß er Doktor Rietmeier gebeten habe, dieser Vernehmung des Personals beiwohnen zu dürfen. „Sie haben mich ja beauftragt, gnädige Frau, die Wahrheit an den Tag zu bringen. Deshalb werde ich auch vor keinem Mittel zurückschrecken, mein Ziel zu erreichen.“

Arme Leonie! Sie ahnte nicht, daß diese letzten Sätze sich auf sie selbst bezogen. Was wußte sie von einem Harald Harst und seinen Methoden! –

Müde und matt saß ich in einem Klubsessel. Mein Schädel brummte. Ich hatte ein paar Pyramidon-Tabletten genommen, um den Kopfschmerz zu verscheuchen.

Rietmeier, den Frau Prang gebeten hatte, im Zimmer bleiben zu dürfen, wollte dies zunächst nicht gestatten. Harald mischte sich ein. „Weshalb nicht?!“ meinte er. „Die gnädige Frau haben wir dann doch gleich zur Hand und können leichter aus dem Verhalten der einzelnen Personen unsere Schlüsse ziehen.“

Diese etwas durchsichtigen Redensarten richteten sich abermals gegen Frau Leonie. Harald wollte feststellen, ob sie bei gewissen Fragen unruhig werden würde. Das war’s!

Wir drei saßen um den großen Sofatisch herum: Harst auf dem Klubsofa, Rietmeier rechts neben ihm, ich links. Und Frau Prang hatte drei Schritt weiter in dem Schreibtischsessel Platz genommen.

Zuerst kam die Köchin an die Reihe. Rietmeier notierte die Personalien und fragte die Köchin dann, ob sie gegen irgend jemand Verdacht hätte, was den Mord an ihrem Herrn betraf. Die behäbige Minna Gräz verneinte ängstlich. Sie hockte wie ein Häufchen Unglück auf dem Stuhl vor unserem Tische.

„Haben Sie von anderen irgendeinen Verdacht äußern hören?“ fragte Rietmeier dann ohne besonderes Interesse. Es handelte sich hier ja nur um das Vorgeplänkel. Der Hauptkampf sollte von Harst eingeleitet werden.

„Nein,“ erklärte die rundliche Küchenfee abermals.

„Wissen Sie, wann das Hündchen Liliput verschwunden ist?“

„Ja. Vorgestern vormittag so gegen neun Uhr war’s mit einem Male nicht mehr da …“

„Wer vermißte es zuerst? Herr Prang?“

Die Köchin wurde verlegen …

„Oh, der war ja nach Berlin gefahren,“ stotterte sie.

„Und – hegen Sie hinsichtlich des Abhandenkommens des Hundes irgendeinen Verdacht?“

Das speckig glänzende Gesicht der Minna Gräz ward noch röter.

„Die Wahrheit!!“ mahnte der Kommissar streng.

Minna blickte scheu nach links. Dort saß Frau Leonie …

Und – da wurde auch meine Teilnahme für dieses Vorstadium der Einkreisung der armen Leonie weit reger! Ich merkte: es würde jetzt eine Überraschung geben!

„Helene meint …“ begann die Köchin zaghaft, „– ja, das Stubenmädchen Helene meint, der gnädige Herr hat den Liliput selbst in einem Handkoffer mit nach Berlin genommen …“

Ich schaute Frau Leonie an. Sie regte sich nicht, hatte den linken Arm aufgestützt und mit der Hand die Augen beschattet.

„Fuhr Herr Prang mit dem Auto nach Berlin?“ forschte Rietmeier weiter.

„Nein, mit der Bahn …“

„So – dann schicken Sie uns jetzt das Stubenmädchen herein … Sie können gehen!“

Minna Gräz eilte fluchtartig davon. Einfache Leute haben ja ein Grauen vor solchen Vernehmungen.

Frau Leonie sagte da leise: „Herr Kriminalkommissar, Sie brauchen meine Zofe dieserhalb nicht mehr auszufragen. Ich habe inzwischen erfahren, daß Wilbert tatsächlich in diesem Punkte so etwas … Komödie gespielt hat. Er hat den Hund der – der – Gülden zugeschickt.“

Das war allerdings eine Überraschung …! – Selbst Harald verriet durch seine hastige Frage, woher Frau Leonie dies jetzt wüßte, eine bei seiner sonstigen Kaltblütigkeit und Ruhe bemerkenswerte Spannung.

Die schöne Frau, jetzt in der schlichten Witwentracht vielleicht noch begehrenswerter, erwiderte zögernd:

„Dies möchte ich nur aufklären, wenn es unbedingt nötig ist. Bitte – nehmen die Herren ein wenig Rücksicht auf mich. Es ist in den Stunden, nachdem Sie mich nachmittags verlassen hatten, sehr viel auf mich eingestürmt.“

Es klopfte. Das Stubenmädchen Helene trat ein.

Sie gab dann, ebenfalls sehr scheu und verlegen, zu Protokoll, daß sie genau gehört habe, wie aus dem Handkoffer des gnädigen Herrn ein Winseln hervorgedrungen sei …

„Und – so winselte nur Liliput,“ fügte sie noch leiser hinzu.

Rietmeier schickte sie dann sehr bald wieder hinaus. Sie konnte im übrigen nichts angeben, was von Interesse gewesen wäre.

Und als sie draußen war, als sie den Chauffeur Günther nun benachrichtigen sollte, meldete sich Frau Leonie abermals …

„Sie können sich wohl vorstellen, meine Herren, wie schmerzlich für mich die Gewißheit gewesen ist, daß mein Mann tatsächlich seine Geliebte noch immer nicht vergessen hatte und daß er ihr den Hund zusandte, weil er ihn bei mir nicht gut aufgehoben glaubte.“ Mit deutlichem Widerstreben sprach sie das mit gesenktem Blick vor sich hin.

Es klopfte abermals. Günther erschien.

„Setzen Sie sich,“ sagte Rietmeier kurz.

Obwohl der Chauffeur nicht die geringste Befangenheit verriet, vielmehr mit halb spöttischem Blick uns drei musterte und nur seiner Herrin eine tiefe Verbeugung machte, hatte ich doch das peinvolle Gefühl, als wäre mit seinem Eintritt die Luft hier im Zimmer drückend schwül geworden.

„Zunächst Ihre Personalien,“ begann Rietmeier ebenso streng dienstlich. „Ihr Vor- und Zuname.“

Günther zog die Stirn kraus. „Was soll das eigentlich?!“ platzte er heraus. „Ich kann über jede Minute in den letzten Tagen Rechenschaft geben. Ich bin doch nicht Herrn Prangs Mörder …!“

„Ihr Vor- und Zuname?“ fragte Rietmeier eisig.

Günther sprang auf. „Ich … ich …“

Da hatte sich auch schon Frau Leonie erhoben … Trat an den Tisch heran. Ihr blasses Gesicht rötete sich.

„Ich bin den Herren eine Aufklärung schuldig,“ flüsterte sie. „Ich stamme aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Als ich durch meine Heirat auch für meinen jüngsten Bruder etwas tun konnte, habe ich ihn … als Chauffeur unter anderem Namen in meine Dienste genommen … Günther … Günther ist mein Bruder Günther Tassard …“

Rietmeier und ich waren starr – waren sprachlos.

Also hatte Harald abermals recht behalten: der eine Bruder Leonie Tassards war nun hier wirklich als Hausgenosse entdeckt worden!

Harald fragte nur:

„Ihr Herr Gemahl wußte nichts davon, gnädige Frau?“

„Nein … Ich – ich schämte mich. Es war feige von mir … Ich bin nur ein Weib …“

Harst winkte. „Bitte – nehmen Sie beide wieder Platz …“

Und – jetzt war Gewitterstimmung hier im Zimmer. Jetzt fühlte ich jenes Prickeln in allen Nerven, das sich stets einstellt, wenn Ohr, Auge und Hirn auf irgend etwas lauern, das kommen muß, das unabwendbar ist.

Harst hatte sich kerzengerade aufgerichtet, hatte die Unterarme auf die kostbare Persertischdecke gelegt und seinen Sessel etwas gedreht. So konnte er Günther und Leonie im Auge behalten.

„Wo waren Sie gestern morgen, Herr Tassard?“ fragte er kühl. „Denn Ihr Schwager Prang ist nach dem Gutachten der Ärzte gestern früh zwischen fünf und acht Uhr etwa erschossen worden.“

„Ich war hier – hier im Garten,“ erwiderte der Chauffeur fast schreiend. „Herr, denken Sie etwa …“

„Schweigen Sie!“ Harst blieb kalt. „Haben Sie Zeugen dafür, daß Sie die Villa gestern früh nicht verließen?“

„Ja. Den Gärtner Lenz, dem ich von halb sechs an bei der Gartenarbeit half, dann die Köchin und das Stubenmädchen. – Jedenfalls: ich … ich protestiere gegen …“

„Schweigen Sie! – Wo waren Sie heute früh?“

„Ebenfalls hier – bis halb acht. Dann habe ich mit meiner Schwester eine Spazierfahrt unternommen.“

„Im Auto also?“

„Ja …“

„Wohin …?“

„Die Chaussee nach Beelitz entlang …“

„So?! Sind Sie dort irgendwo eingekehrt?“

„Nein. Wir haben im Walde eine Stunde Rast gemacht.“

„Es ist so,“ erklärte da auch Frau Leonie, und ihre Stimme klang gereizt.

Harst schaute sie an.

„Sie waren mit Ihrem Bruder also nicht zwischen acht und neun Uhr in Berlin?“

„Nein …“

„Und – Sie könnten das beweisen, gnädige Frau?“

„Beweisen?!“ Sie wurde erregt. „Weshalb beweisen, Herr Harst?! Genügt es nicht, wenn ich …“

Harald hatte eine Handbewegung gemacht.

„Frau Prang, ich möchte Ihnen jetzt erklären, daß ich Ihren Auftrag, den Mörder Ihres Gatten zu ermitteln, ablehne, weil – dieser Auftrag von Ihnen kommt. Sie waren heute in Berlin-Schöneberg, in der Sedanstraße – im Atelier Hanni Güldens!“

Leonie starrte Harst an …

„Ich – ich in Berlin – bei – bei der Person?! Was sollte ich da …?!“ Ihre Stimme war fest und wieder genau so ruhig im Tonfall wie die Harsts.

Harald winkte mir. „Hole die Köchin …“

Ich eilte hinaus. Minna Gräz zeterte in der Küche: „Was soll ich denn schon wieder, Herr …?!“

Ich war genau instruiert. Ich nahm vom Küchenherd eine Schachtel Zündhölzer und erklärte: „Haben Sie doch keine Angst …! Es geschieht Ihnen nichts!“

Wir kehrten in das Zimmer zurück. Ich legte die Zündholzschachtel vor Harald hin.

Und er – er erhob sich …

„Frau Prang, dies sind echte Schwedenhölzer …“

Sie zuckte leicht die Achseln. „Möglich … Ich kenne die Unterschiede nicht.“

„Ein halb abgebranntes Schwedenhölzchen lag heute im Flur des Ateliers Hanni Güldens. – Minna Gräz, kaufen Sie für die Wirtschaft stets diese Hölzer?“ wandte er sich an die Köchin.

„Nur diese … Es sind die besten, Herr …“

„Und die gnädige Frau benutzt sie ebenfalls?“

„Ja … Sie raucht ja Zigaretten …“

„Sie hat also zumeist wohl eine Schachtel davon bei sich – im Handtäschchen?“

„Ja …“ –

Leonie Prang war langsam aufgestanden.

Sie stand da – ohne jede theatralische Haltung – nur große Dame – nur verletzt, gekränkt durch diese Szene, die Harst heraufbeschworen …

Und sagte mit ganz wenig vibrierender Stimme zu Rietmeier:

„Herr Kriminalkommissar, bitte schicken Sie die Köchin und meinen Bruder hinaus. Ich habe Ihnen unter diesen Umständen eine Mitteilung zu machen, die geeignet sein dürfte, Herrn Harst eines besseren zu belehren …“

Rietmeier, der genau wie ich Haralds Verdacht gegen die schöne Frau nie voll geteilt hatte, gab den beiden einen Wink. Sie gingen hinaus – die Köchin sehr eilig, Günther Tassard zögernd und erst nach einem drohenden, feindseligen Blick auf Harst …

 

12. Kapitel.

Harsts Gedankenbau stürzt …

Frau Leonie nahm jetzt auf dem Stuhl vor dem Tische Platz – mit stolzer Ruhe …

Zog einen Brief aus der Tasche hervor und sagte mit wehmütiger Ergriffenheit:

„Diesen Brief erhielt ich heute mit der Abendpost um halb sieben. Sie sehen, meine Herren, daß er in Berlin aufgegeben worden ist. Sie können ihn nachher prüfen. Herr Harst wäre vielleicht geneigt, ihn für eine Fälschung zu halten …“

Ihre Stimme schlug um. Sie kämpfte mit Tränen.

Bebende Finger zogen dann aus dem Umschlag einen Briefbogen und einen zweiten Brief hervor.

„Ich will den Herren nun zunächst das Schreiben des Sanitätsrates Doktor Siegfried Kemp vorlesen,“ begann sie wieder …

Und las leise, oft stockend, oft ein Schluchzen unterdrückend …

Berlin W., den 17. Mai 1923.

Elßholzstraße 203,

Sehr geehrte gnädige Frau!

Es schmerzt mich tief, Ihnen eine Mitteilung machen zu müssen, die in ihrer ungeheuren Tragik mir kaum in die Feder will. Sie wissen, daß Ihr Gatte früher längere Zeit eines Nervenleidens wegen sich bei mir behandeln ließ. Gestern am 16. Mai erschien Ihr Gatte abermals bei mir und bat mich, am nächsten Morgen einem Pistolenduell als Arzt beizuwohnen, das unter den schwersten Bedingungen mit einem Berliner Herrn zum Austrag käme. Er bat mich weiter, Ihnen den beiliegenden Brief im Falle eines für ihn unglücklichen Ausgangs des Zweikampfes heute zuzusenden.

Ich konnte seine Bitten nicht gut ablehnen, obwohl ich Duellgegner bin. Heute am 17. morgens sechs Uhr trafen sich die Parteien im Grunewald nördlich von Schlachtensee. Die beiden Zeugen, der Unparteiische, der andere Arzt und der Gegner Ihres Gatten wurden mir flüchtig vorgestellt. Ich habe absichtlich auf die Namen nicht geachtet und mir auch die Gesichter nicht gemerkt. Ich bin kurzsichtig und könnte kaum sagen, wie die Herren aussahen. Jedenfalls waren es Angehörige der ersten Gesellschaftskreise.

Der Gegner Ihres Gatten hatte den ersten Schuß. Sie ahnen wohl bereits, liebe gnädige Frau, daß Ihr Mann gefallen ist – durch Kopfschuß. Nachdem ich den sofort eingetretenen Tod festgestellt hatte, verließ ich den Platz, erfüllt von Abscheu vor dieser barbarischen Unsitte, die hier ein blühendes Menschenleben hinweggerafft hatte.

Wie ich aus den Zeitungen soeben ersehe, haben die anderen Beteiligten die Leiche Ihres Gatten an jener Stelle liegen lassen, wo sie zufällig entdeckt worden ist. Die Herren wollten auf diese Weise wohl allen weiteren Unannehmlichkeiten aus dem Wege gehen, insbesondere der Strafe, die das Gesetz für Duellanten und Sekundanten vorsieht. Zugleich mit diesem Briefe habe ich der Berliner Kriminalpolizei einen wahrheitsgemäßen Bericht über den Zweikampf zugeschickt, damit der Verdacht, Ihr Gatte könnte ermordet worden sein, aus der Welt geschafft wird.

Ihnen, liebe gnädige Frau, spreche ich meine aufrichtigste Teilnahme aus.

Ihr ergebenster

Dr. med. Siegfried Kemp,

Sanitätsrat.

Das war der eine Brief.

Da hier von Fälschung des Schreibens oder etwa von einer Entstellung des Sachverhalts keine Rede sein konnte, wirkte der Brief auf uns drei Herren mit einer Wucht, die sich deutlich in unseren Gesichtern ausdrückte.

Selbst Harst blickte starr vor sich hin und gab gerade durch diese völlige Regungslosigkeit zu erkennen, daß diese Lösung des Rätsels des Todes Wilbert Prangs für ihn fast vernichtend war.

Was mußte wohl auch in seinem Innern vorgehen, wo er jetzt Tatsachen gegenüberstand, die seine ganze Theorie von dem Tode Prangs und Hanni Güldens über den Haufen warf …! –

Frau Leonies traurige, wankende Stimme weckte uns drei aus diesem trüben Sinnen …

„Herr Kemp hat dem Briefe noch eine Nachschrift hinzugefügt … Sie lautet:

Gnädige Frau, ich möchte nicht unterlassen, Ihnen noch mitzuteilen, daß Ihr Gatte mir noch einen zweiten, an ein Fräulein Hanni Gülden adressierten und bereits mit einer Marke versehenen Brief übergab, den ich heute ebenfalls absenden werde.

Und nun, Herr Harst, nun frage ich Sie: glauben Sie noch immer, daß ich … etwa Hanni Güldens Mörderin bin?“ fügte Frau Leonie erhobenen Tones hinzu … „Ich verarge es Ihnen nicht, daß auch Ihr Genie Sie einmal in die Irre geleitet hat. Nein, ich denke gerecht genug: man konnte hier eine Eifersuchtstragödie vermuten!“

Harald schaute auf …

„Gnädige Frau, ich bedauere diese Irrtümer,“ sagte er nur und verneigte sich etwas.

„Und ich, Herr Harst …“ – sie sprach plötzlich lebhafter – „ich kann Ihnen nun auch einen einwandfreien Zeugen dafür nennen, daß ich heute früh im Walde mit meinem Bruder Rast gemacht hatte … Mir ist erst soeben eingefallen, daß ein Herr, der mir einmal flüchtig bei Oberst von Gotters hier in Potsdam vorgestellt wurde, auf einem Motorrad langsam an uns vorüberfuhr und mich grüßte. Den Namen dieses Herrn kenne ich nicht. Ich weiß nur, daß er ein reicher Engländer ist, der Eingang in die hiesige Gesellschaft gefunden hat …“

Harald verbeugte sich abermals …

„Das ist ja nun alles erledigt, gnädige Frau. – Vielleicht teilen Sie uns noch mit, was der Brief Ihres Gatten enthält …“

Sie zog den Briefbogen aus, dem anderen Umschlag. Ihre Augen waren von Tränen verdunkelt … Und ihre Stimme sank zum Flüstern herab …

„Ich will Ihnen vorlesen, was für[4] Sie von Wichtigkeit ist …

„Potsdam, den 15. Mai 1923.

„Meine einzige Lonni!

Wenn diese Zeilen Dir zugehen, hat das Herz, das Dein war, für immer zu schlagen aufgehört …“

Ein paar Tränen fielen auf den Briefbogen …

Eine kurze Pause … Und schwer atmend las Frau Leonie weiter … nur Teile des letzten Grußes ihres Gatten …

„Mein Ehrenwort zwingt mich, Dir die Ursache des Zwistes mit meinem Gegner und dessen Namen zu verschweigen. Unsere Sekundanten sind übereingekommen, alles zu tun, um die Teilnehmer des Duells vor der Justiz zu schützen …

Um Dich nicht zu beunruhigen, habe ich einen Münchener Bekannten telephonisch gebeten, Dir eine Depesche mit genau vereinbartem Wortlaut zu senden …

Daß ich auch Hanni Gülden ein paar Abschiedszeilen widmete und ihr als Andenken an mich meinen kleinen Liliput schenkte, daß ich in meinem Testament ferner bestimmt habe, daß ihr ein Legat von 25 000 holländischen Gulden ausgezahlt werden soll, kannst Du vielleicht nicht begreifen, nicht entschuldigen. Bedenke, daß ich Hanni Gülden einst nahestand, daß ich ihr die Jugend raubte – den Glauben an die Menschheit. Mein Gewissen hat sich mit den Geschehnissen, die unserem Liebesglück vorausgingen, nie ganz abgefunden …“

Es war totenstill im Zimmer, – es war, als ob der Geist des Verstorbenen vor uns stände, als Frau Leonie diese Zeilen las …

Und dann weinte sie still in sich hinein, erhob sich …

„Ich bin am Rande meiner Kräfte … Die Herren entschuldigen mich … Ihnen, Herr Kriminalkommissar, übergebe ich diese Briefe mit dem ausdrücklichen Wunsch, daß kein Unberufener den Brief meines Mannes zu sehen bekommt …“

Langsam ging sie hinaus …

Wir drei waren aufgestanden, hatten uns verbeugt.

Wir verließen die Villa Prang …

 

13. Kapitel.

John Clifford.

Rietmeier und ich gingen schweigend neben Harald her. Wir schwiegen aus Rücksicht auf ihn, auf seine Niederlage. Jedes Wort, selbst das noch so vorsichtig gewählte, mußte für ihn verletzend sein.

Bis er dann selbst mit merklicher Ironie meinte:

„Noch ein solcher Sieg, und sie ist verloren – also ein Pyrrhussieg!!“

Da konnte ich nicht anders … Ich blieb stehen, zwang Harst und Rietmeier gleichfalls zu kurzem Halt sagte empört:

„Wie, Du zweifelst noch immer an dieser Frau?!“

Und Rietmeier fügte ebenfalls sichtlich erregt hinzu: „Das ist ja nicht möglich, Herr Harst!“

Und ich: „Das wäre eine Halsstarrigkeit, wie sie nur ein total …“

„… ein Harald Harst besitzen kann!“ fiel Harald mir ins Wort. Und seine Stimme hatte scharf und schneidend geklungen, hatte mich gewarnt …

So gingen wir weiter – alle drei verstimmt, verärgert …

Fuhren mit der Straßenbahn zum Bahnhof, lösten Fahrkarten für die Wannseebahn, bestiegen den Zug, der erst in zehn Minuten abgehen sollte, saßen im Raucherabteil, und Harald holte sein Zigarettenetui hervor, blies dann zarte Rauchringe gegen die Decke …

Wir waren Luft für ihn …

Und – – meinte unvermittelt:

„Das gute Gewissen schickt keinen Bruder hinter dreien her!“

Rietmeier und ich wurden stutzig …

Was hieß das?! Hatte Frau Leonie etwa Günther Tassard uns als Spion an die Fersen geheftet?!

„Der Chauffeur?“ fragte der Kommissar zaghaft.

Harst blieb stumm.

Draußen auf dem Perron hielt der Beamte mit der roten Mütze seine Signallaterne hoch …

Der Zug ruckte an …

„Auf Wiedersehen!“ rief Harald, war mit einem Satz zum Abteil hinaus …

Aber – mich fand dieses rasche Entweichen vorbereitet …

Nicht minder geschickt schwang ich mich aus dem fahrenden Zuge …

„Wiedersehen, Rietmeier …!“

Der blieb zurück … Und da vorn eilte Harst dem Bahnhofsgebäude, dem Ausgang zu …

Ich blieb hinter ihm – stets fünfzig Meter zurück, stets auf der anderen Straßenseite …

Am alten Schloß bog er in den Exerzierplatz ein, verschwand um die Ecke des Schlosses …

Ich wartete …

Dann weiter … Und an der Ecke … prallte ich mit ihm zusammen …

Er lachte …:

„Amateur – – kläglicher Amateur!!“

Wer kann Harsts harmlosem Lachen widerstehen?! Niemand! Niemand!

Ich lachte mit. Und er schob seinen Arm in den meinen …

„Komm’, mein Alter, der Fall Leonie Prang ist ja jetzt erst wirklich interessant geworden. Wir werden jetzt die Wohnung des Obersten von Gotters erfragen und dort mit der Neuarbeit beginnen …“ –

Der Oberst, Junggeselle und Besitzer eines Häuschens in der Nähe des Neuen Gartens, war zunächst bis oben zugeknöpft, bis Harald ihm nochmals unsere Namen nannte. Da taute der stramme alte Herr auf …

„Also Sie sind’s, Herr Harst! Los denn! Fragen Sie! Und daß ich das Maul halte, ist selbstverständlich.“

„Herr Oberst kennen den Schriftsteller Prang nebst Gattin?“

„Und ob! Frau Lonni!! Schade, daß man nicht dreißig Jahre jünger ist! Die Frau ist eine Sünde wert. – Verzeihen Sie … Das fuhr mir nur so heraus …“

„Bitte … – Sie kennen auch einen Engländer, der hier in den besten Kreisen verkehren soll …“

„Hm – Engländer?! Sie meinen wohl den Halbengländer John Clifford, dessen Mutter eine geborene Gräfin Senden war?!“

„Jedenfalls einen Herrn, Herr Oberst, der Frau Prang hier bei Ihnen vorgestellt wurde …“

„Ach so – natürlich – – das war John Clifford!“

„Fährt Herr Clifford Motorrad?“

„Ja – wie der Teufel …“

„Und wo wohnt er?“

„Na – doch ganz in der Nähe der Prangs in der Werderstraße, vier Häuser weiter, in dem sogenannten[5] Sparrenberg-Palais, einer kleinen verfallenen Bude in einem ebenso verwilderten Garten …“

„Danke, Herr Oberst. – – Haben Sie irgend etwas von einem Duell gehört, das gestern früh stattgefunden hat?“

„Duell – Duell?! – Lieber Herr Harst, die Herrschaften von heute duellieren sich nicht mehr. Die haben abgerüstet. Die laufen zum Kadi, wenn sie eine Ohrfeige bezogen haben. Bei Gott, sagt Ihnen Oberst von Gotters: ich weiß nichts von einem Duell!!“

Wir verabschiedeten uns …

Der Oberst versprach uns nochmals, unseren Besuch geheimzuhalten. –

Draußen auf der stillen Straße faßte Harald mich wieder unter …

„Dacht’ ich’s mir doch, daß sie gelogen hat,“ sagte er leise. „Sie wird den Namen des Engländers vergessen haben!! Lachhaft!! Und nun wohnt dieser Clifford noch vier Häuser weiter!“

Ich wagte jetzt zu fragen: „War denn der Chauffeur-Bruder wirklich hinter uns her, Harald?“

„Er war’s – bis zum Bahnhof … Und er war maskiert, mein Alter … Recht geschickt so weit … Nur – nur der Gang stimmte zu der alten Maske nicht.“

Eine Straßenbahn brachte uns wieder zum Bahnhof. Wir bekamen gerade noch einen Vorortzug von Werder. Im Raucherabteil zweiter, wo wir allein waren, setzte Harst sich dicht neben mich.

„Du hast auf Frau Lonnis Lämmchennatur bis vor einer halben Stunde geschworen,“ begann er. „Nun weißt Du zweierlei, was Dich etwas verwirrt hat: sie schickt uns einen Spion nach, der sich überzeugen soll, ob wir auch wirklich nach Berlin abdampfen. Und zweitens: Du erfährst, daß Lonni-Lämmchen nur so tat, als wüßte sie den Namen des Engländers nicht, der bezeugen würde, daß sie heute früh im Walde dort irgendwo am Chausseerand mit dem Chauffeur-Bruder gerastet hat! – Wir werden jetzt daheim Abendbrot essen, werden uns gründlichst verändern und dann wieder nach Potsdam gondeln. Ich will mir diesen Mr. John Clifford bei Nacht besehen.“

„Du bleibst also dabei, daß Frau Prang die Malerin … beseitigt hat?“

„Ich bleibe sogar auch dabei, daß es bei diesem Duell nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Ich erinnere Dich an den berühmten Pariser Mordprozeß Tissier, in dem an den Tag kam, daß Tissier im Duell nicht von seinem Gegner, sondern von dessen Helfershelfern aus dem Gebüsch mit einer Luftbüchse erschossen wurde …“

„Hm … hm …“

„Womit ich nicht sagen will, daß dies auch hier geschehen. Nein – dazu ist Frau Lonni zu schlau. Sie wollte erben und doch ihr Hälschen vor dem Henkerbeil absolut sicher schützen … Sie ist eine Tigerin – sie ist gefährlicher als ein Dutzend Gewohnheitsverbrecher …“ Er geriet leicht in Erregung. „Weiber mit ihrem Äußeren, das jeden Mann blendet und jedem das Blut erhitzt, müßten eingesperrt werden. Sie stiften nur Unheil …! – Sie ist heute früh bei der armen Hanni Gülden gewesen. Sie hat dort die Szene mit dem amerikanischen Duell heraufbeschworen, hat Hanni Gülden vielleicht gesagt, die gerade Prangs Abschiedsbrief erhalten haben dürfte: „Er, den wir liebten, ist tot. Und auch von uns beiden ist eine zu viel auf der Welt! Nur eine von uns soll ihn betrauern dürfen …“ – Und da mag Hanni in ihrem Schmerz eingewilligt haben …“

Er schwieg Sekunden, rauchte hastig …

„Sieh mal, – der Zettel mit den Bleistiftzeilen, mein Alter, – das war eine Dummheit von der Prang, ihn auf den Hocker zu legen …“

Ah – der Zettel! Den hatte ich ganz vergessen …

„Der Zettel war doch Prang zugeschickt worden. Das beweist die Rückseite. Wie also kam der Zettel wieder in Hannis Besitz?! – – Nur Leonie kann ihn mitgebracht haben – nur!! Sie wollte eben sich in doppelter Weise sichern: es sollte ein Selbstmord vorgetäuscht werden! Und, falls durch einen Zufall Zweifel an diesem Selbstmord entständen, dann war ja noch das Duell da, der Tod Prangs und damit die nähere Begründung dieses Selbstmordes: aus Schmerz um Prangs Ende vergiftete Hanni sich …! – Ich könnte Dir all das in endlosen Sätzen noch klarer machen. Wozu?! Das Zündholz lügt nicht, und John Clifford … ist mit im Spiel, John Clifford würde kaltblütig beschworen haben: Frau Prang saß fünf Meilen von Berlin entfernt am Chausseerand!“

Mir schwirrte der Kopf …

Harald hatte eine geradezu gewaltsame Art, seine Ansicht anderen einzuimpfen – –

Und daheim – daheim die dicke Mathilde mit hochrotem Kopf …

Wütend – kreischend …

Empfing uns schon im Flur:

„Das Biest läuft im Zimmer rum, hat den Käfig zernagt … Es stinkt nach dem Biest … Das muß raus. Ich räume da nicht mehr auf! Keinen Schritt geh’ ich mehr ins Zimmer, wo die Ratte rumkraucht – – ekelhaft!“

Also die Ratte – die weiße Ratte …!

Harald lachte …

„Mathildchen, immer friedlich!“

Frau Harst mischte sich ein.

„Harald, das geht wirklich nicht. Das Tier ist auch mir widerwärtig!“

„Dann verschenken wir sie, Mutter. Schraut und ich werden sie sofort einfangen. Ich hole die Kastenfalle. Die ist mit Blech ausgenagelt. Da kann sie nicht raus. Beruhigt Euch nur …“

Mathilde atmete auf.

Und der kleine Liliput sprang ausgelassen um uns herum, ließ sich von uns streicheln, war der allgemeine Liebling. –

Harst ging und kehrte mit der großen Kastenfalle, Patent Harald Harst, zurück.

 

14. Kapitel.

In die Rattenfalle …

Die freundliche Leserin und der nicht minder freundliche Leser wird sich vielleicht bereits gefragt haben, weshalb ich diesem unserem Abenteuer ausgerechnet den Titel „Die Rattenfalle“ gegeben habe …

Nur deshalb, weil wir Liliput in der Rattenfalle fanden?!

O nein! Durchaus nicht. Sondern weil diese Rattenfalle auch die Falle für jene Verbrecher wurde, die da in monatelanger Arbeit ihre ungeheuerlichen Pläne hatten heranreifen lassen. –

Und nun steht über diesem Kapitel Nummer 14:

In die Rattenfalle.

Mancher mag bei der Überschrift gestutzt haben … Ein Druckfehler? dachte er. Es soll wohl heißen: In der Rattenfalle …! – –

Nein – in die Rattenfalle kam ja nun Hanni Güldens weiße Ratte hinein …

Das heißt: erst mußten wir noch eine Viertelstunde in Haralds Arbeitszimmer Treibjagd abhalten, bevor wir der durch die Tür alle Minute kreischend fragenden Mathilde antworten konnten: „Wir haben sie!“ –

Ja, wir hatten sie endlich …

Sie lief in der Kastenfalle empört umher. Das neue Quartier behagte ihr nicht.

„Schütten wir ihr das Heu aus ihrer Burg in die Falle,“ meinte Harald. „Sie ist daran gewöhnt …“

Und er nahm den Burgkäfig, öffnete die Tür, schob auch die Klappe der Falle auf und schüttelte … schüttelte …

Heu fiel heraus – fiel in die Rattenfalle …

Zuletzt etwas Weißes … ein Spitzentaschentuch, etwas beschmutzt, zernagt …

Harald griff danach …

Schob die Klappe zu …

„Ein Batisttüchlein,“ sagte er und hob es höher …

Da dachte ich an Hanni Güldens Atelier …

Dort hatte ich das Tüchlein ja zum ersten Male gesehen.

„Die Ratte hat es Hanni verschleppt,“ meinte ich. „Ich bemerkte es bereits …“

Und – ich schwieg …

Schwieg vor Haralds verändertem Gesicht …

Vor diesen starren Augen, die an einer Ecke des Tüchleins hafteten …

Und im selben Moment auch in meinem Hirn ein blitzschneller Gedankenvorgang – ein Erinnerungsbild:

Frau Lonni auf dem Sofa, zwischen den Fingern ein Tüchlein mit Spitzenrand …!!

Ein Tüchlein – – wie dieses hier, das beinahe mit in die Rattenfalle geraten wäre …

Dieselbe Spitze – derselbe hauchfeine Stoff. –

Da sagt Harst schon:

„In der Ecke ein weißseidenes Monogramm:

L. P.
Leonie Prang!!

Jetzt, mein Alter, jetzt – – haben wir sie!!“

So sagt er, und seine Stimme, sein Gesicht, sein Auge ist eine einzige beredte Drohung gegen diese Heuchlerin!

Dann trägt er die Falle hinaus in den Stall, und ich trage den Burgkäfig.

Wir kehren zurück ins Zimmer …

Frau Harst ruft uns zum Abendbrot …

Harald erwidert: „Jetzt nicht, Mutter… Zehn Minuten später …“

Und schließt die Tür, setzt sich in den Klubsessel, legt das Tüchlein vor sich auf den Tisch und greift nach einer Mirakulum, einer seiner Lieblingszigaretten …

Raucht … sinnt …

Ich stehe am Ofen … warte …

Ich ahne, daß Haralds nimmermüdes Hirn unzerreißbare Netze spinnt …

Dann hebt er den Kopf:

„Sie war bei Hanni … Sie vergaß das Tüchlein dort … Es lag da, für die weiße Ratte erreichbar, und die schleppte es in ihren Käfig. Und als Frau Leonie Prang das Atelier verlassen hatte, als sie unten auf der Straße in ihrer Verkleidung mit dem ebenfalls maskierten Bruder zusammentraf, merkte sie, daß sie das Tüchlein nicht mehr besaß, daß es ihr vielleicht dort im Atelier als gefährlicher Zeuge entfallen war. Sie wollte es holen. Aber – da waren wir inzwischen gekommen, da waren wir oben in dem Mansardenvorraum. Sie muß umkehren. Sie schickt den Bruder aus, der … als Bettler verkleidet war …“

Da begriff ich … fügte hinzu:

„… Und der mich dann niederschlug, als Du das Haus verlassen hattest, um die Kriminalpolizei anzurufen, – der dann im Atelier nach dem Tüchlein suchte und es nicht fand, weil die weiße Ratte es inzwischen in die Burg geschleppt hatte … Der dann wieder davoneilte: Günther Tassard, dessen Stimme mir im Prangschen Garten so bekannt vorkam!“

Harald nickte …

„Günther Tassard, der uns heute nachschlich in Potsdam, auch als alter Mann maskiert …! – Ja – – die Rattenfalle, die Rattenfalle, – – die Falle für Leonie Tassard! – – So, nun wollen wir Abendbrot essen, und dann – – wieder nach Potsdam …!“

Er schloß das Tüchlein in seinen Tresor ein, und gleich darauf saßen wir in der Veranda am behaglichen Familientisch und freuten uns über Liliput, der jeder Wurstpelle wegen einen wahren Indianertanz auf zwei Beinen ausführte.

 

15. Kapitel.

Das Sparrenberg-Palais.

Zwei Männer, die schmierigen Mützen tief ins Gesicht gezogen, – zwei echte Stromer mit verwilderten Bärten, schmutzigen Händen, schwarzen Fingernägeln und zerlumpten Schuhen, aus deren Löchern das nackte Fleisch hindurchgrinste, schlichen am Ufer der Havel entlang, duckten sich in den Schatten der Bäume, wenn irgendwo ein warnender Laut menschlicher Nähe ihr Ohr erreichte …

Bis sie ein Holzfloß erreicht hatten, bis sie einen nur lose angeketteten Bretterkahn fanden, in dem auch ein erbärmliches Ruder lag …

„Endlich!“ flüsterte Harald … „Hinein mit Dir! Ich rudere …“

Der Kahn glitt davon – lautlos in die Dunkelheit der wolkigen Mainacht hinein.

Vom Turm der Potsdamer Garnisonkirche kamen die Klänge des Glockenspiels herüber:

Allein Gott in der Höh’ sei …

Harsts Stimme durchkreuzte die feierlichen Töne:

„Da drüben – das muß der Prangsche Garten sein …“

Und weiter glitt der Kahn …

Finsteres Regengewölk zog über das Firmament hin. Nur einzelne Stellen des Himmels waren heller, und dort glühten die fernen Lämpchen anderer Welten …

Das Wasser gluckste und schäumte an den Planken …

Eine Möwe strich mit heiserem Schrei unsichtbar vorüber …

Und drüben die verschwommenen Umrisse der alten Stadt – ein Märchentraum von Preußens einstiger ruhmreicher Vergangenheit …

Das war Stimmung, das alles. Das war die Stimmung, die mir unseren Beruf lieb machte … –

Harald trieb den Kahn näher ans Ufer …

„Hier muß es sein,“ flüsterte er und griff in die Zweige eines weit überhängenden Weidenbaumes.

Die an das Dunkel bereits gewöhnten Augen unterschieden einen löcherigen Zaun, einen Bootssteg, dahinter ein niederes, flaches Haus mit vier Ecktürmchen.

Ein Hund knurrte plötzlich …

Ein Schatten glitt durch den Zaun …

Eine englische Bulldogge, weiß gefleckt …

Aber – wir waren vorbereitet. Harst warf die Fleischstücke …

Ein lautes Schnuppern – ein Schmatzen … –

Wir warteten geduldig.

Der Hund tat sich dicht am Wasser nieder. Das Betäubungsmittel wirkte.

Harald zog den Kahn lautlos bis an den Bootssteg, schwang sich empor, half mir hinauf und gab dem Nachen einen kräftigen Stoß mit dem Fuße …

Der Kahn schoß davon. Wir brauchten ihn nicht mehr.

Hier am Stege lag ein zierliches Ruderboot, aber – schwarz gestrichen, innen und außen. Wir sahen es erst jetzt.

Harald schlich der Zaunpforte zu. Der Hund regte sich nicht. Die Pforte hing schief in den Angeln, war halb offen. Dahinter eine Wildnis – ein schmaler Weg zum Hause …

Unsere zerrissenen Schuhe mit den tadellos weichen Gummisohlen glitten über Gräser und Maulwurfshügel hinweg …

Bis zu dem uralten Bau, dem Sparrenberg-Palais, in dem seit August 1922 John Clifford mit einem Diener hauste, wie wir daheim auf telephonische Anfrage von der Potsdamer Polizei erfahren hatten.

Seit August …!!

Und um dieselbe Zeit war Leonie Tassard aus England nach Berlin gekommen …

Um dieselbe Zeit!! Und dann hatte Prang die Villa hier gekauft, hier ganz in der Nähe, – sein Liebesnest, in dem … der Tod auf ihn lauerte. – –

Vor uns der uralte Bau …

Alle Fenster dunkel … Nicht ein Lichtstreif fiel durch die Fensterläden, die sämtlich vorgelegt waren.

Harst bückte sich, betastete die rauhen, verrosteten Gitter eines Kellerfensters …

Holte die Werkzeuge hervor …

Ich nahm das Fläschchen mit Öl, schmierte die scharfe, fressende Stahlsäge … –

Das halbe Gitter wurde beiseite gestellt. Die Fensterscheibe dahinter zerbrochen. Das Loch mit Spinngeweben bedeckt …

Harst griff hindurch, schob den Riegel auf, schob den Fensterflügel auf … Der kreischte leise …

Wir standen in einem hohen, leeren Keller. Lichtkegel von Taschenlampen hatten für Sekunden die Finsternis zerteilt …

Die Tür offen …

Ein Kellergang – eine Steintreppe nach oben …

Und – oben eine mit dickem neuen Eisenblech benagelte Tür – zwei Schlüssellöcher von Patentschlössern, die unter vernieteten Stahlhüllen lagen … –

Harst probiert den Patentdietrich, müht sich ab, versucht’s aufs neue …

„Umsonst!“ flüstert er. „Wir …“

Ich habe ihm rasch die Hand auf den Mund gedrückt, habe die Taschenlampe ausgeschaltet …

Jenseits der Kellertür Stimmen – Stimmen oben im Flur des Erdgeschosses …

Und – wieder Stille …

Der Herzschlag beruhigt sich … –

Harst flüstert wieder:

„Wir müssen hinein! Müssen! Da war auch eine Weiberstimme dabei …“

Er schiebt den Patentdietrich wieder in das eine Schlüsselloch. Ich leuchte …

Er stellt ihn ein, schraubt, verändert die Bärte, die Zacken …

Probiert – – probiert …

Bis das erste Knacken Hoffnung gibt …

Schraubt wieder …

Ein zweites Knacken …

„Nun hab ich’s …!“

Und auch das zweite Schloß weicht dem feinen Instrument … –

Ganz langsam drückt Harst die Türklinke herab. Sie ist gut geölt, und gut geölt sind die starken Türangeln.

Lautlos, unsichtbar für mich geht die Tür nach außen auf …

Ein dünner Lichtstrahl, zwischen Harsts Fingern aufblitzend, irrt umher, erlischt …

Harst faßt meine Hand, zieht mich weiter …

„Tür zu …!“

Ich drehe mich um, schließe die Kellertür …

Und weiter – über einen dicken Läufer – an Haralds Hand wie ein Blinder … –

„Halt – –!“ Nur ein Hauch …

Wieder der dünne Lichtstrahl …

Jetzt sehe ich: ein breiter Flur mit alten Schränken, alten, hohen Türen …

Der Lichtstrahl gleitet in Harsts Hand zurück …

Stimmen – – gedämpft – – von rechts her …

Harald öffnet die nächste Tür rechts … Ganz langsam. Auch hier Dunkelheit, muffige Luft …

Hinein – – Tür geschlossen – – Lampe eingeschaltet: ein Schlafzimmer!

Ich fühle meine Nerven spielen … Das Herz jagt …

Es ist nichts Neues, nichts Ungewohntes, unser Erleben. Und doch geht’s an die Nerven … –

Der Lichtkegel gleitet, huscht …

Enthüllt das schlichte Bett, zwei Schränke, drei Riesenkoffer in der Ecke … eine Flügeltür links …

Sie ist offen, die Tür, – handbreit …

Und man hört hier die Stimmen deutlicher …

Nur Portieren – nur Türöffnungen mit Portieren trennen uns noch von John Clifford …

Harst zieht die Tür weiter auf …

Hindurch …

In ein bescheidenes Speisezimmer hinein … Drüben dicke Wollportieren – dahinter ein fast leerer schmaler, kleiner Saal – wieder Wollportieren, und jetzt – – die Stimmen ganz deutlich …

Englisch – – englische Worte …

„Und trotzdem war’s leichtsinnig!“ sagt eine harte Stimme …

Ein girrendes Lachen …

Mir stockt der Herzschlag …

Eine Frauenstimme – Lonnis Stimme:

„Wenn wir ihn zu fürchten haben, dann vielleicht von morgen ab …! Heute nicht! Wie sollte er so schnell auf John Clifford kommen!“

„Er hat schon anderes fertiggebracht …!“

Wieder das Lachen …

Und dann eine dritte Stimme:

„Es war doch ein Unfug, Lonni! Du hättest daheim bleiben sollen …!“

„Angsthasen, die Ihr seid!! – Im Grunde – was haben wir denn überhaupt zu fürchten – was?! – Die Wahrheit … – ich möchte den sehen, der die Wahrheit ans Tageslicht zerrt?!“

Abermals da das harte Organ:

„Lonni, Du wirst verständig sein …! William bringt Dich zum Boote zurück, bringt Dich nach Hause. – Sei verständig! Wir sehen uns ja vormittags wieder … Irgendwo im Walde …“

Die Stimme klingt weicher, zärtlicher …

„Und bald hast Du mich ja wieder ganz – ganz für Dich, Lonni … Wir werden reisen, wieder nach Indien. Mich friert hier in diesem nüchternen Lande …“

Stille …

Und dann … Abschied … Küsse … zärtliche Worte.

Harst zieht mich rückwärts – sehr rasch …

Wir hasten durch die Zimmer, durch den Flur …

Versperren hinter uns die Kellertür …

Und hinaus in den Garten – an den Bootssteg …

Atemlos ducken wir uns zusammen …

Harst keucht:

„Ich den Mann – Du das Weib …! Und fest zugepackt …!“

„Was hast Du vor …?“

Etwas in mir sträubt sich gegen dieses Eingreifen. Es erscheint mir übereilt, unklug …

„Warte ab … – Sie kommen …“

 

16. Kapitel.

Der Duellgegner …

Sie kamen …

Voran Frau Lonni, das Gesicht von einem Spitzenschleier verhüllt. Hinter ihr ein Mann in Dienertracht: William!

Sie kamen … Und mit zurückgewandtem Kopf fragte Frau Lonni:

„Wo mag Darry stecken?“

William pfiff leise – pfiff nochmals.

Aber die Bulldogge lag regungslos vier Schritt weiter im Schatten der Bäume …

„Sie wird wieder mal auf Abenteuer aus sein …“ meinte der Diener und beugte sich tiefer, um das Boot loszuketten …

Und da – sprang Harald zu …

Da sprang auch ich zu … Drohte dem zurückprallenden Weibe:

„Still!! Oder wir machen Euch kalt!“

Das entsprach so ungefähr meinem Kostüm …

Und – auch das weitere war brutal, war hier vielleicht notwendig … – Ich konnte dies nicht entscheiden. Ich wußte nicht, was Harald vorhatte … –

Die Hände auf dem Rücken gefesselt, Knebel im Munde, – so saßen die beiden Überwältigten in dem schwarzen Boote.

Harst ruderte wieder, fand sich leicht zurecht.

Hier in der buchtartigen Erweiterung lagen eine ganze Anzahl Segeljachten vor Anker. Harst wählte die größte aus, legte an, öffnete mit dem Dietrich das Schloß der Kajütentür und führte unsere Gefangenen dort hinab. –

Die Lichtkegel unserer Taschenlampen beleuchteten zwei verstörte Gesichter …

„Du bleibst hier,“ flüsterte Harald mir zu. „Sei vorsichtig!“

Er verschwand … Draußen stieß das Boot wieder ab.

Und mir gegenüber auf der Polsterbank, stets umlauert von dem grellen Lichtschein, saßen nun Lonni Prang und der Diener.

Saßen wie erstarrt, – ungewiß, wer diese Strolche sein könnten, von denen sie überwältigt worden waren, ungewiß des Schicksals, das ihrer harrte.

Ich hielt Wache …

Wache in einer fremden Jacht, bewachte die Frau, auf deren Schuldlosigkeit ich noch vor fünf, sechs Stunden jeden Eid geschworen hätte …

Sie regten sich nicht … Zwei Augenpaare, geblendet durch den grellen Lichtkegel, suchten meine Gestalt, meine Gesichtszüge zu unterscheiden. –

Minuten reihten sich aneinander … Die Zeit verstrich …

Die Jacht schwankte ganz wenig …

Die Tür war offen geblieben … Und ich hörte wieder das Glockenspiel – – die Schläge der Uhr.

Ein Uhr morgens …

Ein Uhr morgens! Der neue Tag war da, der 19. Mai 1923 …

Was – was alles hatte der vergangene gebracht!! Geschehnisse – bunt, wechselvoll, anschwellend zur Tragik, abschwellend zu alltäglichem Erleben …

Wie ein Traum das alles – wie Tage, viele Tage, nicht wie ein einzelner Tag … –

Dann – – das ferne Rattern eines Motorbootes.

Lauter und lauter … rasch sich nähernd: Harst mit drei Potsdamer Kriminalbeamten, alten Bekannten von uns, Inspektor von Gotzkow dabei, der blonde Hüne …

Harst beugt sich zu mir hin:

„Kein Wort … Sie sollen im unklaren bleiben …“

Die Komödie – die Tragödie geht weiter.

Kein Wort wird gesprochen … Die Beamten sind in Zivil. Wir verbinden den beiden die Augen …

Hinein in das kleine, flinke Motorboot …

Es rattert davon …

Ich stehe neben Harald am Steuer …

„Was soll das alles?“

„Warte ab …“ –

Das Motorboot gleitet an einen Bootssteg. An Land glühen die vier Augen eines geschlossenen Autos …

Hinein mit den beiden … Und Gotzkow und einer der Beamten noch fahren mit. Das Auto fährt davon.

Wir beide und der andere Beamte sind im Motorboot geblieben …

Der Hebel senkt sich … Das Rattern schwillt an, das Boot schießt in die Finsternis hinein, zurück zum Garten des Sparrenberg-Palais.

„Wir holen John Clifford,“ sagt Harald. – Das ist alles.

Und Harald hat William den Schlüssel zur Haupttür abgenommen. Wir haben es bequem …

Das Motorboot liegt am Bootssteg; der Hund liegt, wo er lag …

Wir drei durch die Wildnis dem alten Gebäude zu – still, gespannt, ob wir John Clifford noch in seinem Herrenzimmer finden werden.

Harst schließt auf – mit Geräusch, so, als kehrte William zurück …

Und Harald geht voran, schaltet im Flur das Licht ein …

Eine Stimme aus dem Herrenzimmer:

„William – – William!“

Harald stößt die Tür auf …

Wir treten rasch ein …

„Guten Abend, Mr. Clifford,“ sagt Harst …

Der Herr dort im Sessel, der Zeitung gelesen hat, läßt die Zigarette fallen … Die Zeitung raschelt auf den Teppich.

Clifford stiert auf Harsts kleine, dunkle Mehrladepistole.

Der Beamte schiebt sich vor …

„Sie sind verhaftet,“ erklärt er kurz. „Wollen Sie mir gutwillig folgen? Hier meine Legitimation.“

Clifford springt auf …

„Mich verhaften?! Weshalb …?!“

„Das werden Sie anderswo erfahren …“ – Handschellen klirren … „Strecken Sie die Arme vor – bitte.“

Der elegante, schlanke Mann ist blaß geworden. Sein bartloses Gesicht zuckt. Die lebhaften Augen unter dicken dunklen Brauen flimmern vor Erregung …

„Ich – ich protestiere gegen diese Gewaltanwendung!!“ ruft er fiebernd. „Ich werde …“

Harst fällt ihm ins Wort.

„Könnten Sie Herren angeben, die für Sie Bürgschaft übernehmen?“

„Gewiß – gewiß …“ Er überlegt … „Herrn von Bottner in Berlin, dann Herrn Direktor Doktor Rolfs und Herrn Mackedanz …“

„Alle aus Berlin?“

„Ja …“

„Woher kennen Sie die Herren?“

„Aus dem Kontinental-Klub … Ich bin dort Mitglied …“

Harald tastet weiter in das Dunkel der Persönlichkeit dieses Mannes hinein – auf seine Art …

„Kontinental-Klub? Hm – hatten Sie dort den Streit mit Herrn Prang, dem Schriftsteller …“

Ich höre zu … halte den Atem an … Ich weiß jetzt: Clifford ist der Duellgegner Prangs gewesen! Aber ich begreife nicht, wie Harald dies ermittelt hat – wie – und wann …

Clifford hat sich noch mehr verfärbt … schweigt …

„Weshalb antworten Sie nicht?“ meint Harst ohne Schärfe, leidenschaftslos … „Sie sehen doch, daß wir alles wissen …“

Clifford lacht schrill … „Das scheint wohl doch nicht so zu sein!“ –

Es ist nichts mehr von ihm zu erfahren – – nichts.

Harst gibt dem Beamten einen Wink.

Der packt zu … Ich helfe … Clifford wehrt sich kaum.

Wir lassen ihn mit dem Beamten in dem Herrenzimmer allein und gehen in das Schlafzimmer hinüber.

Und dort an der Wand hängt eine große Photographie: John Clifford im ledernen Jagdwams mit hohen Stiefeln, leicht auf eine Büchse gestützt …

Aber – ein John Clifford mit blondem Spitzbart ist’s … Trotzdem sofort zu erkennen.

Harald deutet auf das Bild.

„Ich sah es, als wir vorhin hier waren, mein Alter. Ich sah es also nur flüchtig, und doch – – ich war um vieles klüger! – So, nun wollen wir es einpacken und mitnehmen …“

Er wickelte es in Zeitungspapier, verschnürte die Hüllen. –

Auch vor dem Sparrenberg-Palais hielt ein geschlossenes Polizeiauto. Clifford saß uns gegenüber, neben ihm der Kriminalbeamte.

Er saß zurückgelehnt und schwieg …

Häuser, Villen, Wald huschten vorüber …

Dann – – Berlin …: der Tiergarten – die Linden – Alexanderplatz – – hinein in die Einfahrt des Polizeipräsidiums … – –

Ein großes, strenges Zimmer, streng mit den schmucklosen Schreibtischen, Stühlen, Aktenständern …

Hier sah ich Kriminalinspektor von Gotzkow wieder. Hier – lernte ich den Sanitätsrat Doktor Kemp kennen. Auch Kommissar Rietmeier war anwesend, dazu noch drei Berliner Kommissare.

Die elektrischen Birnen beschienen die Gesichter grell und kalt.

Harst fragte den Sanitätsrat, indem er auf John Clifford zeigte:

„Ist das der Duellgegner Wilbert Prangs?“

Der kleine, alte Herr rückte die Brille zurecht …

„Hm – ich glaube – ich glaube …“

Clifford richtete sich auf … „Ich bestreite das ja gar nicht. Ein Ehrenhandel ist kein Mord …“

Harst trat dicht vor ihn hin …

„In diesem Falle ist es Mord!“ sagte er, jedes Wort betonend. „Denn Sie, John Clifford, haben den Streit mit Prang absichtlich herbeigeführt, haben es dabei so eingerichtet, daß Sie dann der Beleidigte waren und als solcher den ersten Schuß hatten … Und – Sie waren sicher, nicht … vorbeizuschießen! Sie sind kein anderer als der in England, Amerika und Asien rühmlichst bekannte Kunstschütze John Clifford, der überall auf Varieteebühnen mit größtem Erfolge auftrat. Hier – – dies ist Ihr Bild in Ihrem Bühnenanzug!“

Er riß die Hüllen von dem Bilde …

„Und dieses Bild sah ich vor kurzem in der indischen illustrierten Zeitschrift „The india world“. Und in dem zugehörigen Artikel stand, daß Sie verheiratet sind, daß Ihre Frau eine reizvolle Schönheit und Ihre Assistentin auf der Bühne ist … Diese Frau – ist Leonie Tassard!“

Schweißperlen glänzten auf dem fahlen Gesicht John Cliffords …

In die Totenstille, die jetzt hier herrschte, polterte Inspektor Gotzkows tiefe Stimme hinein:

„Und Ihre Frau hat auch bereits ein Geständnis abgelegt! Harsts Gedanke bewährte sich. Wir haben sie in das Leichenschauhaus gebracht, haben ihr das Tuch von den Augen gerissen und angesichts der toten Hanni Gülden … brach sie zusammen. Da versagten selbst ihre Nerven …“

Die Tür zum Nebenzimmer ging auf …

Herein wankte, gestützt von zwei Beamten, Leonie Clifford … – Clifford, denn ihre Ehe mit Prang war ja ungültig …

Mir graute, als ich dieses entstellte Gesicht, diese Augen einer halb Wahnsinnigen sah …

Mit einem gellenden Schrei stürzte sie auf ihren Gatten zu …

„John … John … vergib mir! Ich … ich bin ja an allem schuld! Meine Verschwendungssucht hat –“

Clifford wandte sich ab …

Sagte laut zu Gotzkow:

„Lassen Sie mich in eine Zelle bringen … Ich will allein sein … Dieses Weib da hat mich zum Verbrecher gemacht …“

* * *

Harst und ich fuhren im Auto heim …

Wir schwiegen. Die letzten Szenen dort im Präsidium wirkten noch nach in uns …

Und daheim empfing uns Liliput mit freudigem Winseln … – –

Clifford erhängte sich. Leonie Clifford wanderte ins Zuchthaus und von da sehr bald in eine Irrenanstalt, wo sie nichts anderes tat als Papier in schmale Streifen zerreißen, mit denen sie dann immer wieder jenes Taschenspielerkunststück wiederholte, durch das sie Hanni Gülden den Giftbecher in die Hand gezwungen hatte. – Ihre Brüder Günther und Willi (oder William) wurden ebenfalls zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.

Die weiße Ratte aber sahen wir nicht mehr wieder. Mathilde hatte die Falle geöffnet und das Tier entfliehen lassen.

Liliput und die Rattenfalle, Patent Harst, sind unsere beiden Andenken an den Fall Clifford-Prang.

 

Ende!

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „aben“.
  2. In der Vorlage steht: „Inen“.
  3. In der Vorlage steht: „kürzeren“. – Das ergibt aber so keinen Sinn, da im weiteren Textverlauf (mehrfach!) nur noch vom längeren Streifen die Rede ist, der das Todesurteil bewirkt. Daher geändert auf „längeren“.
  4. Doppeltes Wort „für“ entfernt.
  5. In der Vorlage steht: „sogenanten“.