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Die eiserne Frau

 

 

Walther Kabel

 

Die eiserne Frau

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1926 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die Grabkapelle des Erbbegräbnisses derer von Perant war bis auf das letzte Plätzchen gefüllt.

Ganz vorn vor dem schweren, kostbaren Eichensarge saßen die Verwandten des verstorbenen Majoratsherrn Heinz-Günther von Perant, des letzten Vertreters der Hauptlinie der alten Familie der Barone von Perant-Saintville.

Und vor dieser Stuhlreihe wieder ein einzelner hochlehniger Eichensessel, mit Flor umgeben, – umflort auch das in den Oberteil der Rücklehne eingeschnitzte Wappen der Perant-Saintville … –

Bis auf den letzten Platz gefüllt diese Halle – gefüllt von Neugierigen, Sensationslüsternen und – von den wenigen, die wirklich wahre Teilnahme hierher geführt hatte. –

Neugier, Sensationslust und – leider auch geheime Feindseligkeit, Abneigung und hochmütige Unduldsamkeit warteten hier auf Heinz-Günther von Perants Witwe, für die der stolze Eichensessel bereitstand …

Der Geistliche des Dorfes Loxten, der greise Pfarrer Triebel, lehnte neben dem Altar und ließ seine Augen, die unter buschigen weißen Brauen scharf und voller Leben hervorblitzten, prüfend über die Gesichter der anderen Perants und ihres Anhangs hingleiten.

Seine Blicke wurden hart, fast drohend.

Diese Gesichter da waren sämtlich wie versteinert vor eisiger Ablehnung …

Gesichter, die ohne Scheu, ohne Ehrfurcht vor der Heiligkeit dieses Ortes die Gefühle zum Ausdruck brachten, die man gegenüber der Baronin Vera von Perant hegte und hier öffentlich zur Schau trug.

Aber – diese Baronin kam nicht …

Gerade sie, die Hauptperson dieser Tragikomödie, verspätete sich … –

Immer ungeduldiger wurde die Trauerversammlung.

„Unerhört!“ flüsterte der kleine Oberregierungsrat von Perant, ein Onkel zweiten Grades des Verstorbenen, seinem Vetter Justus von Perant leise zu.

Und „Unerhört!“ krähte die alte Exzellenz Perant, deren vertrocknetes Mumiengesicht wie immer lächerlich rosig durch Schminke und Puder glänzte. –

Dann – wie ein Rauschen ging’s durch die Menge. Man reckte die Hälse lang.

James Gorbin, der englische Kammerdiener der Witwe, war plötzlich erschienen und hatte dem Geistlichen mit tiefer Verbeugung einen Brief überreicht. –

Pastor Triebel öffnete den Umschlag, zog den wappengeschmückten Briefbogen hervor, spürte den zarten Wohlgeruch, der auch diesem Papier, wie allem, was Frau Vera zu eigen, entströmte, und las:

Verehrter Freund!

Ich wünsche, daß die Beisetzungsfeier ohne mich stattfindet. Die Versenkung des Sarges in die Gruft soll eine halbe Stunde nachher in Ihrer und meiner Gegenwart erfolgen.

Ihre

Vera Perant-Saintville.

Dem Geistlichen kam diese Anordnung der Gutsherrin durchaus nicht überraschend. Er begriff vollkommen, daß sie sich hier nicht den Blicken dieser Menschen preisgeben wollte, die zum größten Teil mitgeholfen hatten, all die Gerüchte schleunigst weiterzuverbreiten, deren gemeine Niedertracht zuerst wohl aus dem Schoße der – lieben Verwandtschaft geboren worden war. –

Der Diener James, hager, bartlos, mit den undurchdringlichen Zügen eines Bedienten vornehmsten Hauses, stand noch immer vor dem greisen Pfarrer, verneigte sich abermals und sagte mit nur schwach gedämpfter Stimme:

„Frau Baronin bittet, daß Euer Ehrwürden den Brief vorlesen …“

Dann zog er sich zurück. –

Der Pastor überlegte. Es kostete ihn doch einige Überwindung, dieser Bitte zu entsprechen. Anderseits – gab es wohl eine bessere Gelegenheit, dieser Menge hier einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie ihre häßlichen Seelen und Seelchen unverhüllt sich anschauen konnten?!

Und langsam stieg er die drei Stufen zum Altar empor, langsam und feierlich begann er, während sein jugendlicher Falkenblick von Gesicht zu Gesicht schweifte:

„Gott ist die Liebe … Und die Liebe höret nimmer auf. Gott ist die Güte, die Nachsicht, die – Allwissenheit … Gott blickt in die Herzen hinein, Gott umschwebt uns, die wir hier am Sarge eines Toten stehen, dessen Weib in dieser Stunde allein geblieben ist dort drüben im alten Schlosse derer von Perant, – allein geblieben, weil die bösen Zungen der Welt den Unfall, der ihrem Gatten den Tod brachte, heimlich und feige umgemodelt haben zu etwas, das … nicht ist, nicht sein kann!“

Seine Stimme schwoll an …

„Ich kenne diese Frau jetzt fünf Jahre – fünf lange Jahre. Ich weiß, daß die Baronin Vera von Perant die treueste, aufopferndste Gattin, die gütigste Helferin, die Verkörperung aller Weibestugenden ist …! Und wenn sie jetzt mir, dem Seelsorger der Gemeinde und des Schlosses Loxten, in diesem Briefe ihren Entschluß mitteilt, der allgemeinen Trauerfeier fernzubleiben und nachher ohne Zeugen den Sarg in die Gruft versenken zu lassen, dann fühle ich mit dieser Frau und ihren feinsten Seelenregungen so innig mit, als wäre in meinem eigenen Innern dieser Entschluß entstanden …“

Seine Stimme ward milder …

Er begann von dem Toten zu sprechen. – –

Die Klänge des Harmoniums begleiteten die aus der Grabkapelle ins Freie flutende Menge mit den weichen Tönen eines Chorals …

Die acht Perants, eng geschart, schritten die Allee entlang dem Haupttor des Schloßparkes zu.

Sonne schien – lachende Junisonne.

Uralte Buchen rauschten …

Fontänen plätscherten inmitten weiter Rasenflächen …

Und durch das saftige Grün der Bäume und Büsche schimmerte dort der helle Bau des prächtigen Schlosses, des Erbsitzes derer von Perant-Saintville …

„Eine unglaubliche Brüskierung!“ sagte die Exzellenz Perant zu ihrem Neffen, der ihr den Arm gereicht hatte und die Greisin führte.

„Ein Skandal!“ pflichtete Gisbert von Perant bei.

Und sofort quäkte der kleine Oberregierungsrat, dessen Nußknackergesicht infolge der blauroten Nase noch komischer wirkte:

„Oho – die Geschichte ist noch lange nicht abgetan – noch lange nicht!! Wenn auch die Staatsanwaltschaft jede Einmischung wegen angeblicher Klarheit des Tatbestandes abgelehnt hat, – – ich, ich lasse nicht locker!“

Und die geschminkte Exzellenz nickte eifrig:

„Recht so, Udo-Karl, … recht so! Wir werden im Hotel in Swinemünde Familienrat halten … Ich bin dafür, daß ein tüchtiger Detektiv mit der Aufgabe betraut wird, dieser … dieser Person, dieser Varieteekünstlerin, die Maske vom Gesicht zu reißen …“

„Wird schwer werden,“ meinte der Oberleutnant a. D. Gisbert von Perant achselzuckend. „Ein Detektiv kostet Geld, und ich wüßte nicht, wer von uns anderen Perants auch nur ein paar Papierlappen übrig hätte! Heinz-Günther war der Krösus. Wir sind … Bettler.“

Die Sippe schwieg dazu.

Gisbert, nunmehr Angestellter der Germania-Bank in Berlin, hatte die Sachlage richtig beurteilt. –

Dann standen die acht Perants auf dem Bahnsteig des kleinen Bahnhofs des Ostseebades Bansin und warteten auf den Zug, der sie zunächst wieder nach Swinemünde zurückbringen sollte.

Man hatte um den Oberregierungsrat a. D. einen Kreis gebildet. Man erörterte abermals die Frage, ob es nicht doch möglich sei, die nötigen Geldmittel zu beschaffen, um einen Detektiv dieser … dieser Person an die Fersen zu heften.

Da tauchte plötzlich neben den flüsternden, eifrig überlegenden acht Perants ein geschniegelter kleiner Herr im hellen Sommeranzug auf …

Lüftete den Hut …

„Verzeihung … Scheibler ist mein Name, Egon Scheibler aus Berlin, Inhaber der Detektei Phylax …“

„Sie wünschen?“ fragte der Nußknacker hastig und weit liebenswürdiger, als es sonst seine Art war.

Scheibler redete … Er redete stets in kürzesten Sätzen. Sein Vortrag war klar und verständlich …

„… Die Baronin Vera scheidet also als Erbin aus, sobald festgestellt ist, daß die Sache stinkt …“ sagte er nun.

Und er lächelte kühn – trotz des entsetzlichen Gesichts Ihrer Exzellenz.

„Wenn das Honorar mir schriftlich für den Fall des Gelingens zugesichert wird, kostet den Herrschaften die Geschichte gar nichts – gar nichts, wenigstens vorläufig nicht …“

Herr Scheibler redete weiter …

Und die Sippe war erstaunt, war geradezu verblüfft.

„Kommen Sie mit nach Swinemünde ins Hotel,“ entschied Ihre Exzellenz. „Dort können wir in Ruhe überlegen …“

Scheibler verbeugte sich: „Wie Exzellenz wünschen!“

 

2. Kapitel.

Gerade da lief ein Personenzug aus der Richtung Swinemünde ein.

Es stiegen nur wenige Fahrgäste aus. Darunter zwei ältere Männer aus einem Abteil dritter Klasse, deren Äußeres ebenso bescheiden wie unauffällig war.

Sie trugen jeder einen mittelgroßen, schäbigen Handkoffer und schritten nun mit der schweren Gangart der an körperliche Arbeit Gewöhnten dem Ausgang des Bahnhofs zu.

Eine halbe Stunde später hatten sie in Bansin ein Zimmer mit zwei Betten gemietet und in die Anmeldung für die Badeverwaltung eingetragen:

Hermann Horwitz, Viehhändler, Berlin.
Michael Schnick, Viehhändler, Pankow.

Und wieder eine Stunde später ließen sie sich durch James Gorbin bei der Baronin melden.

James hatte die beiden prüfend gemustert und zunächst erklärt, die Frau Baronin empfange heute keine Geschäftsleute.

Worauf Horwitz gemeint hatte: „Jehn Se man, die Frau Baronin hat uns herbestellt – wejen der drei Ochsen … Sagen Se ihr man, Horwitz is da …“

James ließ die beiden in der Vorhalle allein und stieg in den ersten Stock empor.

Klopfte an eine Tür im rechten Seitenflügel und trat ein.

Frau Vera von Perant hatte in ihrem hastigen Auf und Ab mitten im Damensalon haltgemacht.

Die schwarze, schlichte Witwentracht ließ sie noch schlanker erscheinen. Das aschblonde Haar, am Hinterkopf zu einem vollen Knoten geschlungen, schimmerte im Lichte der durch die breiten, bunten Fenster einfallenden Sonnenstrahlen in seltsamen Farben.

Das blasse, schmale Gesicht wandte sich dem Diener zu. Unter dunklen, fein geschwungenen Brauen flammten ein Paar große, klare Augen mit langen Wimpern, – Augen, deren durchdringender, harter Blick der jungen Majoratsherrin mit zu jenem Namen verholfen hatte, der hier in der Gegend scheu von Mund zu Mund ging:

Die eiserne Frau!

– Wer diese Bezeichnung zuerst geprägt hatte, wußte niemand mehr …

Und daß diese Bezeichnung ihr beigelegt worden, wußte Frau Vera am allerwenigsten. Wer hätte es wohl auch gewagt, ihr hiervon Kenntnis zu geben?! Wer hätte es auf sich genommen, dem geringschätzigen, hochmütigen Blick dieser Augen standzuhalten?! –

James Gorbin verbeugte sich tief …

„Es sind zwei Herren da, Frau Baronin, – ein Herr Horwitz und ein Herr Schnick, Viehhändler …“

James sprach das Deutsche ein wenig gebrochen. Er hatte den Ton seiner Stimme etwas vertraulich gefärbt …

Fügte hinzu: „Ich soll die Leute wegschicken, Frau Baronin …“

Das war keine Frage, das war für den Diener etwas Selbstverständliches. Heute am Begräbnistage des Barons würde die Schloßherrin doch solche – solche Leute nicht empfangen – – Viehhändler!!

Veras Augen hatten für einen Moment den Ausdruck gewechselt.

Das harte Licht dieser Augensterne erlosch, und die Gesichtszüge entspannten sich.

All das nur einen Moment. –

„Horwitz – Horwitz,“ meinte sie mit ihrer dunkel getönten, jede Silbe klar hervorbringenden Stimme. „Der Herr hat an mich geschrieben, besinne ich mich. Nun er einmal die Reise hierher gemacht hat, soll er nicht unverrichteter Sache wieder umkehren. – James, führen Sie die Herren in meines Mannes Arbeitszimmer.“

Gorbin verbeugte sich und verschwand.

Dachte bei sich: „Andere würden ihr diese Rücksichtnahme falsch auslegen, würden zischeln, daß die geschäftstüchtige Witwe selbst heute mit Viehhändlern sich abgibt!“

Und der hagere Gorbin seufzte – seufzte über diese miserable Welt, die er besser kannte als manch anderer. Diener herrschaftlicher Häuser sind Menschenkenner und praktische Philosophen. – –

Horwitz und Schnick saßen nun im feudalen Herrenzimmer im Hochparterre in weichen Klubsesseln und warteten.

Erhoben sich, als die Baronin nach einer Weile eintrat, und machten ihr linkische, unbeholfene Verbeugungen.

Die Schloßherrin blieb stehen, nachdem sie die schwere geschnitzte Tür wieder geschlossen hatte, und musterte die beiden mit einigem Erstaunen.

Es war in diesem großen, dreifenstrigen Raume fast zu hell. Auch hier lag das Licht der Nachmittagssonne auf den hohen Bogenfenstern und zeichnete auf die kostbaren Perserteppiche verzerrte grelle Vierecke.

Horwitz, der einen Kopf größer als sein Freund Schnick war, hob jetzt die rechte Hand und deutete durch eine nicht mißzuverstehende Bewegung an, daß die Baronin den dunkelroten dicken Friesvorhang wieder vor die Tür ziehen möge.

Sie tat es, kam dann auf die Herren zu und … stutzte, da Horwitz zum zweiten Male ihr ein klares Zeichen gab.

Stutzte und setzte sich zögernd in einen der altdeutschen Sessel an die andere Seite des langen Tisches.

„Also die drei überjährigen Ochsen, Frau Baronin,“ begann Horwitz dann mit seiner rauhen Stimme. „Wie ist das nu damit, Frau Baronin? Könnten wir sie mal sehen?“

Frau Vera fand sich rasch in diese vorsichtige Anknüpfung der Bekanntschaft hinein.

„Ich werde den Oberinspektor nachher rufen lassen,“ meinte sie.

„Hm – wir könnten Ihnen dann noch ’n anderes Jeschäft vorschlagen, Frau Baronin … Ob man hier belauscht werden kann? Die Konkurrenz arbeitet mit allen Mitteln, Frau Baronin … Man jlaubt jar nich, wie leicht sich auch Schloßbedienstete bestechen lassen.“

„Beides ist hier unmöglich, Herr Horwitz. Gerade dieses Zimmer eignet sich für derartige Unterredungen am besten. Und meine Dienerschaft ist zuverlässig.“

„Hm – – zuverlässig?!“ Horwitz zuckte die Achseln. „Zuverlässig ist niemand. Für Jeld is jeder zu haben. Aber wenn die Wände hier nicht Ohren haben, dann …“

„Ausgeschlossen, Herr Horwitz …“

„… Dann“ und Hermann Horwitz nahm plötzlich eine andere Haltung ein, während auch sein rauhes Organ sich angenehm verwandelte –, „dann gestatten Sie, Frau Baronin, daß ich einige Fragen an Sie richte.“

Aus dem Viehhändler Horwitz war mit einem Schlage, das Äußere abgerechnet, ein gewandter Salonmensch, ein Weltmann von gewinnendsten Umgangsformen geworden.

Und auch sein kleiner, dicker Freund Schnick setzte sich anders in dem tiefen Klubsessel zurecht, – wie jemand, der gewohnt ist, Damen von der gesellschaftlichen Stellung einer Majoratsherrin als Gleichberechtigter gegenüberzusitzen. –

Horwitz dämpfte seine Stimme etwas …

„Frau Baronin, ich pflege mit allergrößter Vorsicht zu arbeiten,“ erklärte er nun. „Der Erfolg unserer Arbeit wird gerade hier davon abhängen, daß niemand außer Ihnen ahnt, wer sich hinter diesen Masken verbirgt …“

„… Die erstaunlich naturgetreu sind,“ warf die Schloßherrin ein.

„Ihren an mich gerichteten Brief haben Sie also in Swinemünde persönlich in den Kasten geworfen, wie Sie mir schrieben, Frau Baronin,“ fuhr Horwitz fort. „Meine Antwort kann ebenfalls nichts verraten haben. Trotzdem werden wir diese Unterredung recht kurz fassen müssen, da es sonst auffallen könnte, daß ein Viehhandel soviel Zeit in Anspruch nimmt. – Also einige Fragen, Frau Baronin. Zunächst: Hat die Staatsanwaltschaft auf die anonymen Anzeigen hin nichts unternommen?“

„Anscheinend nicht. Die Leiche meines Gatten wurde ohne weiteres zur Bestattung freigegeben, nachdem die Gerichtskommission den Tatbestand aufgenommen und die Zeugenaussagen gehört hatte.“

„Und Sie selbst sind überzeugt, daß ein Selbstmord vorliegt, – ein Selbstmord, um das qualvolle Rückenmarksleiden abzukürzen, das ja doch nur jahrelanges Siechtum weiterhin zur Folge gehabt hätte?“

Vera von Perant schaute Horwitz jetzt fest an …

Und ihre Stimme klang fest und ruhig, als sie erwiderte:

„Ich habe in dem Briefe an Sie, Herr H…“

„… Horwitz, bitte!“ fiel der schlanke Herr rasch ein.

„… absichtlich diesen Punkt nicht berührt und meine Bitte um Ihr Eingreifen hier anders begründet …“

Eine kleine Pause …

„Es war kein Selbstmord, Herr Horwitz …“

Der Freund des Schlanken ließ einen Laut der Überraschung hören, während Horwitz selbst nur den Kopf etwas vorneigte.

„Nein, kein Selbstmord,“ wiederholte die Baronin mit derselben Ruhe und Festigkeit. „Ich sah den Täter sogar noch in den Büschen verschwinden …“

Jetzt schien auch Horwitz außerordentlich überrascht zu sein …

„Und – weshalb haben Sie dies verheimlicht, Frau Baronin?“ fragte er noch leiser.

„Weil mir – niemand geglaubt hätte, wenn ich meine Beobachtungen dem Gericht mitgeteilt haben würde.“

Horwitz erhob sich, stellte sich an den Tisch dicht vor die Baronin …

Sein durch den falschen, graumelierten Vollbart und andere künstliche Mittel völlig verändertes Gesicht ließ jetzt doch deutlich den Ausdruck hoher Intelligenz erkennen, der ihm sonst eigen.

„Frau Baronin, der Fall scheint doch anders zu liegen, als ich, dachte,“ sagte er langsam. „Wir werden ohne eine eingehendere Aussprache kaum auskommen können. Deshalb nur noch eins für heute: Was war an dem Täter Besonderes?“

Vera von Perant-Saintville schaute zu Horwitz empor.

„Die Mörderin war – ein Kind, ein kleines, blondlockiges Mädchen von vielleicht sechs bis sieben Jahren im weißen Sommerkleidchen …“

Horwitz’ Augen weiteten sich etwas.

Sein Freund Schnick aber stand mit einem Ruck gleichfalls auf. –

Schweigen im Zimmer …

Dann die Baronin – kühl, gelassen, im Blick den harten Glanz der … eisernen Frau:

„Sie zweifeln an meinen Worten, Herr Horwitz?“

„Ich habe vorläufig keinen Grund dazu, Frau Baronin. Leute wie Schnick und ich haben schon so merkwürdige Dinge erlebt, daß wir alles für möglich halten. Bevor wir uns verabschieden, Frau Baronin, noch eins: Haben Sie dem Gericht gegenüber die Wahrheit lediglich deshalb verschwiegen, weil Sie fürchteten, man würde diese Ihre Angaben noch nachteiliger beurteilen als den Selbstmord mit den der Öffentlichkeit bisher bekannten Begleitumständen?“

Auch die Schloßherrin erhob sich.

Ihre Antwort war diesmal ein ganz wenig unsicherer als bisher.

„Herr Horwitz, ich brauche Ihre Hilfe, um lediglich für mich selbst Klarheit zu gewinnen – lediglich für mich selbst! Was Sie ermitteln, soll Geheimnis zwischen uns dreien bleiben. Ich kenne Ihren Ruf. Ihnen beiden darf man vertrauen. Ich will wissen, wer meinen Gatten durch dieses Kind erschießen ließ. Die Welt geht das nichts an.“

Horwitz verneigte sich stumm.

Die Baronin schritt zum Schreibtisch und rief durch das Telephon den Oberinspektor herbei. Bevor dieser erschien, sagte Horwitz nur noch: „Wir werden Ihnen morgen in der Kapelle des Erbbegräbnisses vormittags elf Uhr weitere Nachricht geben, Frau Baronin.“

Aus dem Ochsenhandel wurde nichts. Der Preis war den Viehhändlern zu hoch. Der Oberinspektor Patzer war wütend auf die beiden frechen Kerle, die ein Schandgeld für die Tiere geboten hatten.

 

3. Kapitel.

Horwitz und Schnick wanderten den Waldweg entlang dem Seebade Bansin wieder zu, wanderten unter den uralten Buchen des Langen Berges bei Bansin wie in einem grünen Dome dahin und konnten hier in der Waldeinsamkeit ungestört und unbelauscht ihre Ansichten über den Fall Perant-Saintville austauschen.

„Ich muß Dir offen gestehen,“ hatte der jetzt etwas quecksilbrige Schnick das Gespräch begonnen, „– auf alles war ich vorbereitet, nur nicht auf die Überraschung! Wir bilden uns ein, die Baronin wünscht durch uns die ihr nachteiligen Gerüchte zum Schweigen zu bringen, und –“

Da hatte Horwitz ihn schon unterbrochen.

„Erlaube – das habe ich mir gedacht! Daß dieser Selbstmord seine recht unklaren Begleitumstände haben müßte, ging schon aus der einen Bemerkung im Briefe der Baronin hervor. Doch – halten wir uns nicht mit fruchtlosen Erörterungen auf! Stellen wir lieber in Gedanken nochmals zusammen, was wir über die Vorgeschichte und das Drama selbst wissen. Verfahren wir dabei recht sorgfältig, denn diese Vorgeschichte zum Beispiel bietet Punkte genug, die allerlei Schlüsse zulassen. Also: der Baron Heinz-Günther von Perant-Saintville, einziges Kind seiner Eltern, ist von Jugend an schwächlich und kränklich. 1913 verliert er mit noch nicht zwanzig Jahren seine Eltern und wird Alleinerbe eines Besitzes von 28 000 Morgen Land, eines Schlosses, dessen einer Flügel bereits Pommerns Schwedenzeit miterlebt hat, und eines Dorfes, in dem nur wenige Grundstücke nicht mit zum Majorat Loxten gehören. 1914 im Frühjahr schicken ihn die Ärzte nach Ägypten, weil seine Nieren nicht ganz intakt sind. Während des Krieges bleibt er in Ägypten und lernt in Kairo 1917 die Varieteekünstlerin Vera Marsetta, oder mit ihrem bürgerlichen Namen: Vera Marsel kennen und lieben und heiratet sie 1917 im Herbst – ebenfalls in Kairo, – zum Entsetzen seiner Verwandten, die längst damit gerechnet hatten, daß Loxten einmal der Seitenlinie der alten Hugenottenfamilie der Perant-Saintville zufallen würde.

Dieses Entsetzen“ – Horwitz wehrt mit dem Hut ein paar zudringliche Mücken ab – „ist insofern berechtigt, als die Trapezkünstlerin und Jongleurin Vera Marsel einer Berliner Familie entstammt, deren Mitglieder entweder bereits im Zuchthaus das Zeitliche gesegnet hatten oder noch dort Zwangspensionäre auf Staatskosten waren. Von dieser Familie leben zurzeit noch zwei Brüder der Baronin, die der Majoratsherr 1920 reich mit Geld versehen nach Australien abschob, wo sie als Farmer nunmehr wieder nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden sind.

Im Jahre 1919 kehrte der Baron mit seiner Gattin nach Deutschland zurück, lebte hier auf Schloß Loxten nur seinem Liebesglück, verkehrte mit niemandem und war ein zufriedener, arbeitsamer Gatte und Gutsherr. 1920 zeigen sich bei ihm die ersten Anzeichen eines Rückenmarkleidens. 1921 muß er, bereits an den Rollstuhl gefesselt, seiner Frau die Verwaltung seiner Besitzungen überlassen. Zum Erstaunen aller beweist die anfangs vielbelächelte Baronin, daß sie über Energie, Klugheit und manch andere Gabe in weit höherem Maße verfügt, als die Gutsbeamten und die Nachbarn je geahnt haben. Allmählich wird sie so mit der rasch zunehmenden Hilflosigkeit ihres Gatten die wahre Herrin des Majorats. Die Spötter schweigen. Das Gut wird unter ihrem Regime zur Musterwirtschaft. Irgend jemand prägt den Ausdruck: die eiserne Frau! – In dieser Bezeichnung liegt vieles, nicht alles. Diese Bezeichnung erschöpft den Charakter der Baronin Vera nicht völlig. Neben einem unbeugsamen Willen, neben persönlichem Mut und Geschäftsgewandtheit, weitem Blick und der wahren Vornehmheit der großen Dame besitzt sie ein mitfühlendes Herz, besitzt sie eine Engelsgeduld gegenüber den Anfällen schlechter Laune des von Tag zu Tag reizbareren Kranken …“

Horwitz bleibt plötzlich stehen.

„Und dann, mein lieber Alter“ – er schaut den Freund sinnend an –, „dann kommt der 16. Juni dieses Jahres, kommt die … Tragik. – Um dem Gatten eine Zerstreuung zu schaffen, hat Frau Vera für ihn an der Ostgrenze des Schloßparkes eine Krähenhütte errichten lassen, wo er harmlose Krähen, die auf eine an einem Pfahle festgebundene Eule herabschießen, niederknallen kann. In diese Hütte hat der Diener James Gorbin den Baron mit dem Rollstuhl auch am 16. Juni morgens hineingeschoben und ihm die Schrotflinte und Patronen zurechtgelegt. Dann verläßt er ihn. Eine halbe Stunde später gegen acht Uhr begibt sich die Baronin mit dem in einem Körbchen verpackten Frühstück für ihren Gatten nach der Krähenhütte …“

Der kleine dicke Schnick, der bisher aufmerksam zugehört hat, sagt jetzt:

„So – und nun müssen wir Dichtung und Wahrheit trennen …!“

„Allerdings. – Die Dichtung, also das, was die Öffentlichkeit bisher weiß, ist folgendes. Die Baronin nähert sich der Krähenhütte. Es fällt in der Hütte ein Schuß. Da diese Hütte nach dem Parke hin offen und nur durch eine verschiebbare dünne Strauchwand verdeckt ist, sieht die Baronin, wie ihr Gatte aus dem Rollstuhl vornübergleitet und zu Boden fällt. Er reißt dabei die Strauchwand mit um. – Frau von Perant läuft hin. Ein Blick genügt: der Baron schwimmt in seinem Blute. Die ganze Schrotladung des Schusses ist ihm in die linke Brustseite gedrungen. – Die Baronin benachrichtigt sofort die Swinemünder Polizei und den im Dorfe Loxten stationierten Landjäger. Die Untersuchung ergibt Selbstmord. Anscheinend hat der Baron sich die Flintenmündung auf die Brust gesetzt und den Abzug der Waffe mit seinem Krückstock niedergedrückt. Das Herz ist vielfach von Schrotkörnern getroffen. Der Tod muß augenblicklich eingetreten sein.“

Horwitz und Schnick stehen noch immer mitten auf dem Waldwege. Wer sie so sieht, muß annehmen, sie erörtern irgendeine wichtige geschäftliche Angelegenheit, diese beiden biederen, schlichten Viehhändler …

Wer aber nur ein wenig Beobachtungsgabe besitzt, muß es den Gesichtern, den Augen, der aus den Zügen dieser Gesichter hervorleuchtenden Intelligenz anmerken, daß es hier um anderes geht als nur um Viehpreise und dergleichen. Wer noch besser zu beobachten versteht, muß auch aus den Blicken der beiden – aus diesen rasch hin und her gleitenden und die Umgebung prüfenden Blicken erkennen, daß diese Männer gewöhnt sind, Gefahren zu wittern und niemals jene mißtrauische, wache Vorsicht außer acht zu lassen, die man kaum bei simplen Aufkäufern finden würde. –

Horwitz schweigt …

Und seine Augen kehren nach kurzem Abirren über die dicken Buchenstämme und über die buschartigen jungen Baumtriebe zu dem runden, frischen, bärtigen Gesicht seines Freundes zurück …

„Gehen wir weiter,“ sagt er in anderem Tone. „Der Wald gefällt mir nicht …“

Michael Schnick, dessen kleine Äuglein hinter den Gläsern einer biederen Nickelbrille funkeln, sieht, daß Horwitz bei den letzten Worten wie zufällig den einen Daumen abspreizt und so nach Norden zu in den Wald deutet.

Sie gehen weiter …

Schnick fragt leise:

„Glaubst Du wirklich …? Es kann doch nicht sein! Wer sollte uns hier beargwöhnen?!“

„James Gorbin, der Kammerdiener, der Engländer, den Baron Heinz-Günther schon in Ägypten zu sich nahm …“

Die beiden Männer sind wirklich verblüffend gut über alles unterrichtet, was mit Schloß Loxten zusammenhängt.

„Du weißt,“ fuhr Horwitz fort, „daß ich den Ausdruck ‚zu sich nahm‘ absichtlich wähle. Gorbin war nach Ägypten als Todeskandidat gekommen. Mit seinen letzten Ersparnissen wollte er in der gesunden Luft der Küste seine kaputte Lunge sich zu erhalten suchen. Der Baron lernt ihn kennen, und aus Mitleid mit dem intelligenten Menschen nimmt er ihn als Diener zu sich, gewährt ihm …“

Wieder schweigt Horwitz …

Und bleibt stehen, dreht den Kopf nach links …

„Hörtest Du, Michael?“ fragt er rasch …

„Ja – das klang dort wie – wie der Ton einer Violine, wie ein einziger Ton …“

Horwitz lächelt schwach …

„Jedenfalls wie der Ton einer Saite – irgendeines Instruments … Es gibt viele Instrumente mit Saiten …“

Sie stehen und suchen die grüne Wand der jungen Buchenschößlinge dort drüben mit den Blicken zu durchdringen.

„Es war Gorbin, der uns nachschlich,“ sagt Horwitz nochmals leise …

Und wieder lauschen sie … lauschen …

Ein Specht hämmert irgendwo in der Nähe …

Wildtauben gurren …

Und von rechts her das andauernde Rauschen des Meeres, das dort seine klaren Wellen gegen den sandigen Strand treibt …

Das andere Rauschen …

Denn auch der Wald singt sein wundervolles, eintöniges Lied mit den feinen Stimmchen unzähliger Blättchen … –

Michael Schnick ist halber Dichter.

Das, was sein Freund Horwitz und er erleben, bringt er später zu Papier. Und diese Waldesstimmung lullt seine Detektivnerven ein …

Da flüstert Horwitz:

„Nun weiß ich es: es war eine Bogensehne! Der Ton rührte von einer Bogensehne her, die gespannt wurde. Komm …!“

Er schreitet über den dicken Blätterteppich vieler Jahre – über tote Blätter – über die weiche Schicht des faulenden, dem Waldboden neue Kraft spendenden Laubes …

Er greift nach hinten in die Schlüsseltasche seiner schlecht sitzenden, billigen Beinkleider, der Viehhändler Horwitz …

Und holt ein kleines dunkles Etwas vor, das nur ein Auge hat – ein Auge, das Nickelmantelblitze schleudern kann – neun hintereinander …

Auch Michael Schnick hält es für ratsam, denselben Griff in die Tasche zu tun …

Sie gehen weiter … weiter …

Tauchen in das zarte Grün der Kulissen der jungen Buchentriebe ein …

Und stehen still …

„Ich dachte es mir!“ entschlüpft es Horwitz …

 

4. Kapitel.

Der Oberleutnant a. D. und Bankbeamte Gisbert von Perant lehnt am Fenster des Hotelzimmers, in dem die Sippe versammelt ist und mit Herrn Egon Scheibler den Pakt abschließt, der nichts anderes als ein Kesseltreiben wider die Frau bedeutet, die aus einer Zuchthäuslerfamilie stammt und jetzt Baronin von Perant-Saintville und Alleinerbin eines ungeheuren Vermögens ist.

Gisberts blonde Männlichkeit, sein hübsches, offenes Gesicht mit dem blonden Bärtchen ist das einzig Jugendliche in dieser Versammlung vertrockneter Figuren.

Ihn widert dieses ganze Geschäft unendlich an. Er muß schweigen. Er ist abhängig von der Gnade Ihrer Exzellenz, seiner Frau Tante, die ihm von ihrer Pension monatlich ein Viertel überläßt, da die schäbige Bezahlung bei der Germania-Bank ihn sonst zwingen würde, Emaillekragen und Brettchen zu tragen.

Emaillekragen sind Gummikragen, und Brettchen sind Vorhemden, die ein Oberhemd vortäuschen. Diese Bezeichnungen stammen noch aus Gisberts Leutnantszeit.

Der Oberregierungsrat a. D., sein Herr Vater, sagt jetzt, indem er Scheibler das Duplikat des schriftlich festgelegten Paktes zum Unterschreiben hinschiebt:

„Gisbert hat recht. Es wäre unvornehm, diese – diese Person darüber im Unklaren zu lassen, daß der hier tagende Familienrat den Tatbestand des Selbstmordes nicht für genügend geklärt ansieht und Schritte tun wird, diese Klärung herbeizuführen. Wir sind Perant-Saintvilles … Wir wollen den Wappenspruch unserer Familie hochhalten:

Die Ehre über alles!

Deshalb schlage ich vor, daß Gisbert die Mission übernimmt, persönlich der – der Dame dort im Schloß Loxten die – die Kriegserklärung zu überbringen.“

Gisbert erschrickt …

„Ich – der Jüngste?!“ wirft er ein.

Die Exzellenz meldet sich:

„Gerade Du, mein Junge, gerade Du!! Dir ist das Erbe Heinz-Günthers entgangen. Und Du – machst Figur, mein Junge!“

Scheibler hat unterschrieben, blickt auf …

„Gestatten Sie,“ sagt er barsch. „Diese Kriegserklärung ist eine ungeheure – Dummheit!“ Er legt sich in seinen Ausdrücken keinerlei Zwang auf. Er ist Demokrat, Republikaner. Die adlige Sippe imponiert ihm nicht. Außerdem ist ja der Vertrag abgeschlossen. Er hat die Herrschaften jetzt in der Hand.

„… Ungeheure Dummheit!“ betont er. „Niemand warnt seinen Gegner – niemand! Der Baronin stehen Millionen zur Verfügung. Sie ist uns schon deshalb überlegen. Sie kann –“

Da fällt ihm Gisbert eisig ins Wort:

„Herr Scheibler, über diesen Punkt haben wir zu entscheiden. Ich übernehme den Auftrag. Und da ich mit dem Abendzuge nach Berlin zurückkehren muß, werde ich mich sofort nach Schloß Loxten begeben.“

Niemals hätte er so rasch eingewilligt, Vera von Perant die Kriegserklärung zu übermitteln, wenn nicht Scheibler sich eingemischt hätte.

Er kennt Vera nicht. Er hat nur von ihr gehört – allerlei. Noch nie hat er sie gesehen. Auch nicht ein Bild von ihr. Woher wohl?! Seit Heinz-Günthers Heirat damals in Ägypten war ja jedes Band zwischen diesem und der Sippe zerschnitten.

Scheiblers quittegelbes Schauspielergesicht wird rot, empört …

„Dann verschweigen Sie wenigstens, Herr Baron, daß Sie mit mir einig sind,“ sagt er schroff und wütend.

„Das werde ich, Herr Scheibler. Diese Einzelheit darf ich meinem Gefühl nach verschweigen.“ Seine Stimme schnarrt ganz wenig. Er kann unendlich hochmütig aussehen, der große, schlanke Mensch.

Unter diesem Blick kriecht Herr Scheibler doch wie ein scheuer Igel in sich zusammen. –

Dann mengt sich Ihre Exzellenz wieder ein …

„Herr Scheibler, wir möchten nun wissen, was Sie bereits festgestellt haben. Ihre Andeutungen auf dem Bahnhof in Bansin haben uns neugierig gemacht.“

Scheibler, der Igel, rollt sich wieder auf …

Lächelt selbstbewußt …

„Ich weiß, Exzellenz, daß die Baronin Spuren vernichtet hat – am Tatort!“ flüstert er geheimnisvoll.

Die Sippe reckt die Hälse lang …

„Sie ist dabei beobachtet worden,“ fährt Scheibler fort. „Von einem Feldarbeiter, der zufällig vorüberkam …“

Er pustet sich auf vor Wichtigkeit …

„… Ich bin ja bereits zwei Tage hier in der Gegend – in den mannigfachsten Verkleidungen. Ich habe tausend Ohren und tausend Augen. Als ich in den Berliner Zeitungen von dem Selbstmord las, als ich dann auch in einem stets rasch bedienten Skandalblatt einiges über die Gerüchte fand, die hier umgehen, da witterte ich den fetten Happen …“

Gisbert von Perant hätte ausspeien mögen! Ekelhaft war dieser Bursche!

„… Der Feldarbeiter heißt Rank, und er könnte beschwören, daß die Baronin von der Krähenhütte an nach Osten hin – Spuren – zer…trampelt hat.“

Er dehnt die Worte.

„… Zertrampelt – – Spuren …!! Natürlich die des – Mörders, des gedungenen Mörders!“

Er schwelgt hier in Triumphen …

„Des Mörders, der den von Tag zu Tag infolge seiner Krankheit unleidlicheren Baron, der ja noch Jahre hätte leben können, beseitigen sollte …“

Gisbert tritt vor … Um seine Nasenflügel lagern weiße Flecke …

„Schweigen Sie!“ herrscht er Scheibler an. „Diese Ihre Kombinationen sind ein Wahnwitz!“

Ihre Exzellenz schaut den Neffen an … nickt zögernd. Auch die anderen Perants sind entsetzt …

Diese nüchterne Ungeheuerlichkeit solchen Verdachts stößt alle ab – alle … Sie haben anderes vermutet: eine eheliche Szene, ein Auflodern – einen schnellen Entschluß der … Person – eine Tat ohne Überlegung …

Aber – nicht dies – nicht dies!! –

Scheibler, der Igel, rührt die Stacheln …

Er kräht: „Wahnwitz?! Wahnwitz?! Haben Sie denn so viel Praxis in derlei Dingen wie ich, Herr Baron, – he – –?! Wollen Sie mir erklären, weshalb die Baronin Fußspuren … zertrampelte …? – Bitte …!!“

Alles schweigt …

Gisbert dreht sich schroff um und stellt sich ans Fenster, mit dem Rücken nach dem Zimmer hin …

Egon Scheibler spricht weiter:

„Es ist Tatsache, daß der kranke Baron Heinz-Günther in der letzten Zeit nur einen Gedanken hatte, eine Seelenqual – Selbstquälerei: daß seine Frau nach seinem Tode eine neue Ehe eingehen könnte! – Er hat wiederholt zu dem Dorfgeistlichen geäußert, er wolle sein Testament dahin ändern, daß seiner Frau eine zweite Heirat unmöglich gemacht würde. Die Kammerzofe der Baronin hat die beiden Herren zweimal belauscht und ihrem Verlobten, dem Sohne des Gastwirtes Herder in Loxten, davon erzählt …“

Alles schweigt …

Gisbert sagt dann laut – widerwillig:

„Ich werde jetzt nach Loxten fahren … Der Autoomnibus geht ja bis Bansin …“

Er verbeugt sich, verläßt das Zimmer …

Scheibler lächelt, als Ihre Exzellenz dem Neffen nachruft:

„Sieh sie Dir genau an, mein Junge …“

Die Tür fällt ins Schloß …

„Der Baron Gisbert wird von der eisernen Frau wohl kaum vorgelassen werden,“ triumphiert Scheibler und steckt das Duplikat des Vertrages zu sich …

 

5. Kapitel.

Horwitz und Schnick stehen vor der Leiche James Gorbins …

„Wirklich ein Pfeilschuß!“ sagt Schnick leise …

„Und ein Schuß mitten ins Herz,“ sagt Horwitz sinnend und beugt sich über den Toten, aus dessen linker Brustseite der gefiederte Schaft herausragt. „Er muß wie vom Blitz getroffen umgesunken sein. Er lehnte hier an der jungen Buche, glitt zu Boden – langsam, lautlos … – Der Fall Perant-Saintville wird immer verwickelter …“

Dann geht Horwitz fünf Schritt nach Osten zu …

Sieht im Moose am Fuße einer Eiche den Eindruck eines winzigen Schuhes …

Winkt Schnick herbei …

„Da – – eine Kinderspur …“

„Und da …“ – Schnick deutet auf eine Kratzspur an der Wurzel des Baumes –, „da wurde die Sehne des Bogens eingehakt, das eine Ende des langen Bogens aufgestützt …“

Horwitz nickt, kniet nieder …

„Schuhe mit sehr hohen Absätzen,“ meint er. „All das ist unbegreiflich … Eine Kinderspur! Und ich hatte die Baronin so etwas im Verdacht, das vom Tatort entfliehende weißgekleidete Mädchen nur erfunden zu haben …“

Langsam folgen sie der Fährte, die durch die Eindrücke der hohen Absätze kaum zu übersehen ist …

Bis diese Spuren plötzlich in eine Schonung, in einen schmalen, harten, nadelbestreuten Pfad einbiegen und – aufhören – – vollständig …

Eine halbe Stunde suchen die Freunde nach der Fortsetzung der Fährte.

Schließlich erklärt Horwitz: „Sie hat die Schuhe ausgezogen, die Bogenschützin. Das ist’s. Nun werden wir, um unser Inkognito zu wahren, von Bansin aus die Swinemünder Polizei telephonisch verständigen und den Herren empfehlen, einen Polizeihund mitzubringen, obwohl auch das kaum Erfolg haben dürfte. Dieses Kind, das nun bereits zwei Morde auf dem Gewissen hat, wird sich kaum fangen lassen.“

Horwitz hat das Wort „Kind“ scharf betont.

Schnick meint:

„Ein Mädchen von sechs bis sieben Jahren wäre gar nicht imstande, einen so großen Bogen zu spannen. Dazu gehört Kraft …“

Sie wenden sich dem Hauptwege wieder zu.

Horwitz erwidert auf des Freundes Bemerkung:

„Das ist richtig, mein Alter … Wie denkst Du also über dieses Kind?“

Schnick hebt die Schultern … bleibt stumm. –

Sie haben nun den Hauptweg erreicht, wandern weiter. Jeder spürt in Gedanken den Geheimnissen dieser Vorgänge nach. Sie überlegen, prüfen, kombinieren, sehen nichts mehr von der Waldesherrlichkeit ringsum. Ihre Blicke sind nach innen gerichtet.

In dem Hirn dieser Männer sind Erinnerungen aufgestapelt, wie nur wenige sie besitzen dürften, – Erinnerungen an alle Erdteile, an alle Menschenrassen, an alle Arten von Verbrechen und Verbrechern. Seit zehn Jahren führen sie dieses Leben, diesen Kampf gegen das Unrecht, das Schlechte, gegen dunkle Machenschaften. Ihre wirklichen Namen sind berühmt. Sie selbst sind bescheiden, sind ihrem Äußeren nach wandlungsfähig wie der Himmel, der immer wieder ein anderes Gesicht zeigt.

Gisbert von Perant-Saintville kommt denselben Weg entlang.

Früher einmal wußte er hier überall gut Bescheid. Da hatte er stets seine Ferien in Loxten zugebracht. Heute ist er ungewiß, ob er, nachdem er die Chaussee verlassen, sich nicht verlaufen hat.

Horwitz und Schnick sehen ihn schon von weitem.

„Die Familienähnlichkeit mit dem Bilde des Barons Heinz-Günther ist unverkennbar,“ meint Horwitz leise. „Es muß einer der feindlichen Verwandten sein … Schade, daß wir zur Beisetzungsfeier nicht mehr zurechtkamen. Ich hätte mir die Leute gern angesehen.“

Gisbert zieht den Hut …

„Verzeihung – ist dies der Waldweg nach Loxten?“

„Ja …“ nickt der hagere, sehnige Horwitz. „Det stimmt schon, Herr … Wir sind auch jrade dort jewesen. Sind Sie auch Händler?“

„Nein … was ähnliches: Bankmensch!“

Der Spaziergang hat Gisbert gutgetan. Er fühlt sich freier, frischer. All das Häßliche liegt hinter ihm. Und vor ihm … der Besuch bei Kusine Vera … Schön soll sie sein, pikant! – Er ist bei Laune …

„Bankmensch?! – Ach nee!“ meint Horwitz kopfschüttelnd. „So sehn Sie jar nich aus, Herr!“

„Danke! – Sie waren also in Loxten?“

„Ja – auf ’m Gut. Wollten Ochsen kaufen. Die Baronin war zu teuer …“

Gisbert ist unangenehm berührt. Vera von Perant, die am Beerdigungstage Viehhändler empfängt …!! Welche Taktlosigkeit, welcher Mangel an Rücksicht auf den Toten!! Allerdings – – Trapezkünstlerin! Von Heinz-Günther doch nur als Lustweibchen erkoren! Was will’s besagen, daß diese selbe Frau sich dann im Laufe von fünf Jahren zur tüchtigen Gutsherrin entwickelt hat?! Die Kinderstube fehlt eben, das wahre Taktgefühl …!

Und er faßt kurz an den Hut, dankt für die Auskunft und geht weiter …

Die freie, frische Stimmung ist wieder dahin …

Schwerer und schwerer lastet der Gedanke an seine Mission auf ihm.

Die beste, einfachste Lösung wäre ja, daß Vera es ablehnte, ihn zu empfangen. Dann würde die Kriegserklärung eben schriftlich erfolgen …

Doch nein – nur nicht schriftlich …! Er kennt seinen Vater. Das geschriebene Wort würde zu Peitschenhieben werden. Und die verdient eine Frau nicht, die vielleicht im Affekt getötet hat … vielleicht … –

Gisbert geht plötzlich langsamer …

Vielleicht …!!

Und er denkt an diesen Herrn Scheibler, diesen Menschen ohne Nerven und Gefühl, an dessen Schlußfolgerungen …

Noch langsamer geht er …

Möchte am liebsten umkehren … Glaubt, dieser Mission nicht gewachsen zu sein … Er wird sich blamieren, wird nach Worten suchen …

Sie soll ja so harte, geringschätzige Augen haben … Soll so unendlich eisig sein können …

Eisig – wie Eisen im kühlen Luftzug – – die eiserne Frau …!

Und – wieder erwacht die Neugier in ihm. Mit dreißig Jahren läßt man’s sich nicht gern entgehen, ein Weib kennen zu lernen, das die Sinne eines so kränklichen Menschen, wie Heinz-Günther es war, derart entflammt hat, daß er diese Akrobatin ins Ehebett nahm – gerade Heinz-Günther, dieser halbe Gelehrte …!

Es muß also wohl etwas Besonderes an diesem Weibe sein – doch etwas, das über Sinnenrausch sich erhebt: seelische Vorzüge!

Und so grübelt Gisbert Baron von Perant-Saintville noch eine halbe Stunde, ein Spielball wechselnder Gedanken, Befürchtungen …

Und biegt in die Seitenpforte der Parkmauer ein, die weit offen steht, von der sich durch Tulpenbeete und Taxushecken ein mit Muschelkies bestreuter weißer Pfad zum Schlosse windet, vorbei an dem sogenannten schwedischen Turm, der ein weiterer Überrest aus der Schwedenzeit ist, – ein dicker, plumper Wachtturm, von dessen flacher Spitze man am Langen Berge vorüber die Küste verfolgen kann – bis hinüber nach den hellen Ufersandbergen von Misdroy … –

Gisbert macht halt …

Erinnerungen kommen … Ferienerinnerungen!

Heinz-Günther und er waren ja fast gleich alt. Der Wachtturm da, von Eichen überschattet, die bereits viele Geschlechter ins Grab sinken sahen, hatte bei ihren wilden Spielen stets die Räuberburg abgegeben …

Ihm wird weich ums Herz …

Damals – damals war er Heinz-Günthers bester Freund. Und heute – heute naht er dem Erbsitze der Perant-Saintville als … Feind!

„Eine häßliche Welt!“ schießt’s ihm durch den Sinn. Häßlich – weil alles nach … Geld jagt … Die Sippe auch. Nur nach Geld, Besitz, Wohlleben … alle – alle! Was hier ausgefochten werden soll, ist kein Kampf gegen das Unrecht. Es ist – Besitzkampf … Um die Herrschaft Loxten handelt es sich …

Ein Geräusch … Muschelkies knistert …

Und um die nächste Taxushecke biegt Vera von Perant-Saintville, – – schlank, stolz, das blonde Haar leuchtend wie die seltsamen Augen mit den langen Wimpern …

 

6. Kapitel.

Horwitz und Schnick haben in der Strandkonditorei in Bansin Kaffee getrunken, haben dazu sehr gute Torte und auch jeder zwei Eier und ein Schinkenbrot gegessen, und Horwitz hat von hier aus nach Swinemünde telephoniert.

Nun kehrt er an den Tisch zurück, draußen unter breiten Linden, deren Geäst man so künstlich flach gehalten und lang gereckt hat, daß es von Baum zu Baum ineinandergreift.

Ein kühler Seewind streicht vom nahen Strande über die Sandburgen der noch spärlichen Badegäste. Bunte Wimpel flattern, Kinder mit nackten Beinen kreischen ihr Wohlbehagen in die Luft. Alles hier atmet Frieden, Ruhe … Der alte Kellner dort am Baume gähnt, und die Verkäuferin dort vor der Zigarrenbude häkelt eine endlose Spitze und schielt zuweilen nach Horwitz hin, – es ist ja noch so wenig Auswahl an Männern hier, und die Kleine ist Berlinerin.

Horwitz sieht alles – alles, jede Nichtigkeit. Augen wie die seinen vervielfachen sich mit der Zeit.

Auf der noch im Sonnenglast schillernden See ziehen Fischerboote mit gebauschten Segeln dahin …

Fischer kommen vorüber, mit Stiefeln, die von Tran blank sind und die fast bis an die Hüften reichen. –

Schnicks Gedanken dämmern wohlig … Er ist satt, er fühlt sich so behaglich. Er ist der phlegmatischere von beiden …

Horwitz flüstert: „Achtung …!!“

Und mit Schnicks Behagen ist’s vorbei.

Er schaut umher …

Ein neuer Gast hat sich vier Tische weiter niedergelassen …

Ein Mann, der überall auffallen würde: ein hagerer, verhungert aussehender Mensch, und doch ist das Totenkopfgesicht braun gebrannt von Luft und Sonne …

So hager ist er, daß man ihn für krank halten müßte, wenn nicht die Augen so scharf und unruhig, so voller steten Lebens wären.

Sein moderner Pfeffer-und-Salz-Anzug umschließt eng den dürren Oberkörper. Die Beinkleider lassen zwei Handbreit die lilaseidenen Strümpfe über den spitzen braunroten Halbschuhen sehen.

Der Kellner spricht mit ihm. Sie scheinen sich zu kennen. Bringt dem Gast Kaffee, ein Sherryglas voll Kognak und lehnt sich an einen Stuhl, plaudert weiter mit dem Fremden, in dessen übermoderner bunter Krawatte matt eine große Perle schimmert. –

Schnick beäugt den Gast unauffällig.

„Weshalb Achtung?!“ fragt er leise.

Horwitz, der Zigaretten raucht, die einen süßlichen, aber nicht unangenehmen Duft verbreiten, erwidert ebenso leise:

„Warte, bis er wieder geht …“

Schnick kennt den Freund. Schnick weiß: der Gang und die Bewegungen des Fremden müssen etwas Besonderes an sich haben.

Und wieder belauert er den Mann.

Das ist kein Deutscher. Der schwarze Spitzbart, die schwarzen Augen und der Gesichtsschnitt sind die eines Italieners, Spaniers oder Südamerikaners, der fremdes Blut in den Adern hat.

Horwitz nimmt eine neue Zigarette …

„Die Swinemünder Polizei wollte natürlich wissen, wer den Mord an James Gorbin meldete … Ich sagte Meier aus Stettin. Nun sind wir ganz aus dem Spiel geblieben, und – – unser Spiel geht weiter. Wie denkst Du darüber: hat die Baronin uns Gorbin nachgeschickt?“

Er schaut Schnick an. Beider Augen ruhen ineinander. Und diese Augen wissen in den Tiefen anderer Augen zu lesen.

„Sie hat ihn uns nachgeschickt,“ erwidert der kleine Dicke ohne Zögern. „Sie hätte nicht gerade uns Derartiges auftischen sollen.“

„Nein, das hätte sie nicht tun sollen. Wenn sie wirklich das Kind sah, das da den tödlichen Schrotschuß abgefeuert hat, – weshalb hielt sie es nicht fest, weshalb lief sie nicht hinterdrein?! Widersprüche sind’s, die doch geradezu …“

Der Fremde zahlt. Horwitz schweigt, flüstert rasch:

„Achtung!“

Der alte Kellner macht seinen Bückling. Das Trinkgeld muß sehr anständig gewesen sein.

Der Gast erhebt sich, schreitet davon …

Schnick beobachtet …

Dieses Aufstehen, dieser Gang, diese Bewegungen: ein Übermaß von Geschmeidigkeit ist darin!

Ein Übermaß …!

„Entweder Jongleur, Schlangenmensch oder dergleichen, jedenfalls Varietee,“ erklärt Michael Schnick.

Horwitz lächelt schwach …

„Varietee – unverkennbar …!“ – Und ruft: „Kellner!“

Der alte Mann kommt. Es ist ein Bansiner Bürger. Es ist einer von denen, die mit siebzig Jahren noch rüstig sind und fünf Berufe haben: Gaskassierer, Musiker, Schuhmacher, Glaser und Kellner – je nach der Jahreszeit. –

Horwitz beginnt ein Gespräch. Der Alte ist viel zu harmlos, um gegenüber dieser erprobten Kunst, Leute auszufragen, irgendwie stutzig zu werden.

Horwitz zahlt inzwischen, streut ein, daß er und sein Freund nun jeden Nachmittag hier Kaffee trinken würden, gibt ein Trinkgeld, daß dem Alten die Augen leuchten … Sagt, daß sie Händler seien, die sich auch mal erholen wollten, – daß sie heute in Loxten gewesen seien …

Spricht von der Baronin, dem toten Baron, von den umherschwirrenden Gerüchten …

Der alte Mann ereifert sich, tritt für Vera von Perant ein, verteidigt sie …

„… Einsperren sollte man solche Schwätzer wie den Rank!“ entfährt es ihm. „Solch ein Trunkenbold! Einsperren …!!“

Horwitz weiß noch nichts von Rank. Sagt trotzdem: „Der Rank hat vielleicht recht …“

„So?! So?! War der Rank denn so in der Nähe, daß er beschwören könnte, die Baronin hätte tatsächlich Fußspuren zer…zertrampelt …?! Sechzig Schritt ab war er …“

„Von der Krähenhütte …“

„Ja … Und der Rank ist immer besoffen …“

„Er wohnt in Loxten?“

„Auf einem Ausbau …“

Horwitz lenkt ab …

„Es wird viel geredet. – Sagen Sie mal, war das ein Ausländer, der da an dem Tische saß, – der Dürre?“

„Ja – ein italienischer Maler … Er wohnt oben auf dem Langen Berg im Restaurant. – Waren Sie schon oben? – Nein?! Oh – die Aussicht dürfen Sie sich nicht entgehen lassen …“

Horwitz nickt. „Wir bleiben ja noch eine Woche hier. – Wohnt der Maler allein da?“

„Ja … Seit – seit zehn Tagen. – Ein netter Herr ist’s. Er hat alle drei Zimmer oben im Restaurant gemietet … Eins als Atelier, eins als Schlafzimmer und eins als Wohnzimmer … Geld muß er haben … Vier Riesenkoffer brachte er mit – solche Ungetüme …“

Horwitz raucht gleichmütig …

Fragt dann: „Kann man hier Fahrräder leihen?“

Der Alte nickt. „Ich kann Ihnen gegen Sicherheitsleistung zwei ganz neue besorgen.“

„Gut. Tun Sie’s. Wir wohnen dort in der Seestraße in der Villa Strandluft – letztes Haus, am Walde.“

„Weiß Bescheid, Herr …“

„Kann’s noch heute sein? Auch Laternen?“

„Ja, natürlich … Um sieben Uhr bringe ich die Räder.“ –

Horwitz und Schnick schlendern weiter …

 

7. Kapitel.

Egon Scheibler hat drüben am Herrenbad im Sande gelegen …

Egon Scheibler trägt jetzt blonden Spitzbart, Hornbrille und einen Anzug unauffälliger Machart. Neben ihm liegt ein Fernglas, mit dem er nun auch Horwitz und Schnick nachschaut. Ihm sind alle Bansiner Badegäste interessant, sei es, wer es sei.

Er kennt auch den alten Kellner bereits, weiß dessen Geschwätzigkeit zu schätzen.

Er kennt ebenso den Maler, den Italiener, von Ansehen und hat sich über den Mann schon so seine Gedanken gemacht.

Scheibler sucht eben den gedungenen Mörder. Und – er arbeitet anders als Horwitz und Schnick, von denen er bisher nichts ahnt – jedenfalls nicht ahnt, daß diese beiden, denen gegenüber er nur ein erbärmlicher Zwerg ist, hier in Bansin weilen wie er.

Er arbeitet anders. Er ist in Swinemünde bei dem Kriminalinspektor Deichen gewesen, hat sich legitimiert und hat um Unterstützung für den Notfall gebeten. Inspektor Deichen zeigte sich zugeknöpft, zurückhaltend, ironisch. Er hat sein Lebtag nichts von einem Egon Scheibler gehört. Und sagt kühl: „Ich kann Sie nicht hindern, Nachforschungen anzustellen. Ich weiß, daß dabei nichts herauskommen wird. Die Baronin ist über jeden Verdacht erhaben.“ – Scheibler verzieht den Mund, schweigt und verabschiedet sich. Fährt herum, als der Inspektor ihm noch nachruft: „Sollten Sie auf das Geschwätz des Säufers Rank etwas geben, so möchte ich Ihnen nur mitteilen, daß der Kerl schon wegen Meineids gesessen hat und daß er vor vier Monaten wegen Trunksucht entmündigt ist.“ – Egon Scheibler ist einen Moment wie aus allen Himmeln gestürzt. Aber er erholt sich rasch. Meineid hin, Meineid her …! Rank kann sich seine Angaben doch nicht aus den Fingern gesogen haben!

Immerhin: diese Rücksprache mit dem Inspektor wirkt nach. Scheibler merkt, daß das Geschäft doch nicht so mühelos sein wird. Die Pflaumen hängen noch ziemlich hoch … –

Er wandert jetzt die Chaussee entlang. Um diese Zeit muß Baron Gisbert aus Loxten zurückkehren. Den will er abfassen. Der muß ihm mitteilen, wie die Baronin sich benommen hat …

Scheibler wandert langsam …

Scheibler schaut in sein Inneres. Es ist nicht mehr derselbe Scheibler, der im Hotelzimmer vor dem Familienrat der Perants so siegesgewiß auftrat. Der Igel hat die Hälfte seiner Stacheln verloren.

Egon Scheibler wandert …

Bis zum Walde … Setzt sich auf einen Stein am Wegrand.

Merkwürdig, daß der Baron Gisbert noch immer nicht auftaucht …!

Es gibt doch keinen anderen Weg von Loxten nach Bansin! Dieses Stück Chaussee muß der Baron passieren – muß …! –

Die Sonne verschwindet hinter den prachtvollen Baumwipfeln des Langen Berges …

Der Seewind wird noch frischer …

Scheibler fröstelt, – – fröstelt und niest … niest nochmals …

„Ein Schnupfen – das könnte mir grad’ noch fehlen!“ denkt er wütend.

Die Igelborsten sträuben sich. Er ist wütend. Wo bleibt der Baron?! – Zwei Radler kommen vorüber, von Bansin her.

Scheibler erkennt die beiden. Die saßen vor dem Strandcafee. –

Scheibler flucht …

Der Baron muß einen anderen Weg gewählt haben. Muß längst in Swinemünde sein.

Und er rennt im Sturmschritt nach Bansin zurück, ruft das Hotel Stettiner Hof an, bittet den Oberregierungsrat an den Apparat.

„Ist Baron Gisbert schon zurück?“

„Nein!“

Die Stimme des Nußknackers klingt wie Löwenbrüllen. „Aber er hat soeben telephoniert …“

„Was denn?“ – Scheibler fiebert … Scheibler lauscht …

Und wird grüngelb vor Wut … Grüngelb …

* * *

Gisbert von Perant steht der Baronin Vera gegenüber … Einen Augenblick mustern sich beide.

Gisbert zieht den Hut. – Was in diesem Moment, als er die schlanke Gestalt in der dunklen, ernsten Tracht zum ersten Male vor sich sieht, in ihm vorgeht, hat er nie recht begriffen. Er, der gesellschaftlich so Gewandte, so Sichere, – er, der sich so leicht nicht verblüffen läßt, ist wie benommen von der eigenartigen, herben Schönheit dieser Frau …

Seine Verbeugung fällt linkisch aus. Er sucht nach Worten. Nicht einmal die landläufigsten Redensarten findet er …

Und ihm gegenüber die Witwe seines Vetters und Jugendfreundes Heinz-Günther – einen rätselvollen Blick in den Augen, einen Zug kalter Abwehr um den vollen Mund, dessen Lippen Seligkeiten verheißen …

Sie hat Gisbert sofort an der Familienähnlichkeit erkannt. Heinz-Günther bewahrte ja auch noch Bilder aus Gisberts Leutnantszeit auf …

Und – sie wartet … Sie läßt ihn die Demütigung dieser Minuten auskosten … Sie ist Weib – und sie ahnt, weshalb Gisbert von Perant noch immer schweigt, noch immer mit gezogenem Hut vor ihr steht …

„Frau Baronin entschuldigen mein Eindringen hier,“ sagt er endlich mit einer Stimme, die leise schwankt …

Er nimmt sich zusammen. Er schämt sich vor sich selbst. Seine Haltung wird straffer.

„Ich bin Gisbert von Perant-Saintville,“ fügt er hinzu.

Sie schweigt. Eisiger Hochmut, eisige Ablehnung dunkelt ihr bleiches Gesicht.

Gisbert findet sich immer mehr wieder. Sie soll nicht denken, daß ein Perant vor einer gewesenen Akrobatin die Flagge streicht.

Kaum gedacht, reut ihn bereits dieser klägliche Versuch, Vera für seine Befangenheit verantwortlich zu machen.

„Frau Baronin, dürfte ich um eine kurze Unterredung bitten,“ sagt er wieder, und jetzt erst hat seine Stimme ihren natürlichen Klang. Eine gewisse vornehme Ritterlichkeit prägt sich in seiner Haltung und seinem Gesicht aus …

„Ich komme im Auftrage des Familienrates derer von Perant, Frau Baronin … Darf ich hier sprechen, oder wünschen Sie –“

Sie nickt hastig. „Bitte, was wünscht der Familienrat von mir?“ fragt sie mit einer Gleichgültigkeit, die deutlich beweist, was sie von dieser Institution hält.

Erst in diesem Moment wird Gisbert so recht klar, wie schwer das in Worte zu kleiden ist, was dieser Frau angedroht werden soll.

Und abermals denkt er: „Besitzgier – nichts anderes! Und Du – Du hier als Unterhändler!!“

Es würgt ihn etwas in der Kehle. Das Blut schießt ihm zu Kopfe. Und – nur getrieben von dem einen Gedanken, diese Mission zu beenden, sagt er überstürzt:

„Frau Baronin, der Familienrat ist der Ansicht, daß die Begleitumstände des Todes Heinz-Günthers noch nicht genügend geklärt sind.“

Ihr Gesicht bleibt starr, kalt. Ihr Blick wandert seitwärts. Dort spielen zwei Zitronenfalter im Sonnenschein – graziös, zierlich, unschuldsvoll, wie Kinder, die sich haschen.

Gisbert folgt unwillkürlich der Richtung ihrer Blicke. Er fragt sich: „Hat es denn überhaupt einen Zweck, dieser Frau das alles mitzuteilen?! Sie steht ja so unendlich hoch über allem Niedrigen, das fühle ich! Kein Verdacht reicht an ihre Seele heran, nichts wird diese Seele erschüttern – nichts!“

Und noch hastiger fährt er fort: „Der Familienrat wird den – den Todesfall daher weiter verfolgen, Frau Baronin. – Hiermit habe ich mich meines Auftrags entledigt, den ich nur übernahm, um zu verhüten, daß das geschriebene Wort nicht noch verletzender wirkte.“

Sie dreht den Kopf, schaut ihn wieder an … Lange, durchdringend. Sagt dann – kühl, selbstbewußt, und doch ohne jede Anmaßung:

„Der Familienrat existiert für mich nicht. Ich verstehe nicht recht, was Ihre Mission für einen Zweck hat, Baron Gisbert …“

„Den, mit offenen Waffen zu kämpfen …“

„Gegen mich, die – Mörderin?! – In der Tat, sehr viel Rücksichtnahme, Baron!“

Und dann deutet sie auf eine Bank in einer der Ausbuchtungen der Taxushecke.

„Setzen wir uns. – Ich würde Ihnen, Baron, hier auf meinem Grund und Boden keinen Platz anbieten, wenn ich nicht bereits erkannt hätte, daß Sie – mehr Mensch als – ein Perant-Saintville sind!“

Sie geht vor ihm her der Bank zu.

Nun sitzen sie nebeneinander, getrennt durch einen Zwischenraum, der Vera von Perant gerade gestattet, den rechten Arm auf die Banklehne zu stützen und Gisbert durch eine halbe Drehung des Körpers zu zwingen, dasselbe zu tun und ihr voll ins Gesicht zu schauen.

„Ich möchte meine Stellung zu dem Familienrat hier ganz kurz beleuchten,“ beginnt sie zwanglos und abermals mit einer unendlichen Gleichgültigkeit. „Ich kann es den Perants nicht verargen, daß sie mich nie als Familienmitglied anerkannt haben. Selbst eine bürgerliche, schlichte Familie würde sich dagegen wehren, die Tochter eines Zuchthäuslerpaares in ihre Mitte aufzunehmen …“

Gisbert starrt die Baronin an. – Treibt sie hier etwa ein höhnisches Spiel mit ihm?! Ist das Komödie?!

„… Ich habe Heinz-Günther damals in Kairo auf die Folgen einer Eheschließung warnend aufmerksam gemacht,“ fährt sie schon fort. „Ich habe ihm auch nichts verschwiegen – nichts! Er wußte, wen er heiratete: ein Weib aus den untersten Volksschichten, aus einer Verbrechersippe, – ein Weib, das eine Vergangenheit hatte, freilich nicht der Art, daß dieses Weib – Dirne genannt werden könnte. Meine Vergangenheit war ein einziger Mann, einer von jenen Varieteekünstlern, die infolge überragender Intelligenz zur Hälfte auch Hochstapler sind. – All das hat Heinz-Günther gewußt. Trotzdem heiratete er mich. Und wenn ein Ehrenmann wie er eine Frau wie mich, die schonungslos offen gewesen, zum Weibe nimmt, so löscht er damit – das ist mein Standpunkt! – Herkunft und Vergangenheit der Frau völlig aus. Mithin habe ich auch niemals weder den Perants noch sonst jemandem gegenüber als Baronin Perant-Saintville das Gefühl gehabt, unter diesen Leuten zu stehen! Meine Ehrlichkeit ist mein Ehrenschild. Ich habe keine Ehe erschlichen, sondern bin umworben worden wie jedes keusche, junge Mädchen. Und – was dann als Baronin Perant aus mir geworden, das – das ist wieder eine andere Frau. Heute erst, vor kaum einer halben Stunde, hat mir Pfarrer Triebel, mein treuer Freund, mitgeteilt, wie man mich hier in der Umgegend nennt: die eiserne Frau! Darauf bin ich … stolz!“

Sie schweigt …

Gisbert sinnt … sinnt. – Er möchte irgendeine Bemerkung einwerfen. Er bleibt stumm. Jedes, selbst das bestgewählte Wort hätte hier banal geklungen …

„Und dann – Heinz-Günthers Tod,“ beginnt sie wieder. Nicht mehr ganz so kalt und leblos ist die Stimme. „Ein Tod, der ihn erlöste. Er lebte ja nur noch sich selbst zur Qual – und anderen. – Gerüchte entstanden – Gerüchte, die mich – als Mörderin bezeichneten …“

Gisbert macht eine kurze Handbewegung.

„Nein, Baron,“ sagt sie hastig, „nein – auch das muß besprochen werden …“

Stimmen irgendwoher …

Da verstummt sie …

Den Hauptweg entlang kommt der Swinemünder Kriminalinspektor Deichen mit noch einem Beamten in Zivil, der einen kräftigen Schäferhund an der Leine führt …

Deichen grüßt … Die Baronin erhebt sich. Auch Gisbert von Perant steht auf.

„Vermissen Sie vielleicht Ihren Kammerdiener, Frau Baronin?“ fragt der Inspektor dienstlich.

„James? – Ja … Allerdings …“ – Sie wird unruhig … „Ist James etwas zugestoßen?“ meint sie trotzdem mit kühler Stimme.

„Vielleicht …“ – Deichen fixiert sie scharf. – „Frau Baronin,“ fragt er nach kurzer Pause, „Sie sind Bogenschützin …? Sie haben sich einen Schießstand zum Bogenschießen eingerichtet …“

„Ja … – Wie hängt das mit James Gorbin zusammen?“

„Gorbin ist tot – erschossen – durch einen gefiederten Pfeil mit eiserner Spitze …“

Vera schüttelt den Kopf …

„Ist das denn wahr, Herr Kriminalinspektor?“

„Leider … – Und leider haben drei Ihrer Bedienten den Pfeil bereits als einen der Ihrigen wiedererkannt, Frau Baronin …“

Da – lächelt sie … Ein Lächeln unendlicher Menschenverachtung …

Sagt trotzdem mit ihrer unerschütterlichen Ruhe: „Und nun soll ich auch noch Gorbin erschossen haben, nicht wahr …?!“

Deichen antwortet durch eine neue Frage: „Sie waren vor etwa zwei Stunden allein im Walde, Frau Baronin?“

„Ja …“

„Und Ihr Bogen ist aus dem Schranke verschwunden, Frau Baronin …“

„Ich nahm ihn nicht mit in den Wald!“ Ihre Stimme wird scharf. „Ich vermisse den Bogen seit gestern …“

„Wir haben ihn in einer hohlen Buche gefunden …“

„Wo ich ihn nicht verbarg!“ Sie richtet sich höher auf. „Weshalb wohl sollte ich James Gorbin beseitigen, den treuesten Menschen, der je …“

Deichen hat einen Brief aus der Tasche gezogen …

„Wir haben Gorbins Zimmer durchsucht. In seinem Koffer lag dieser Brief. Der Umschlag trägt Ihre Anschrift, Frau Baronin. – Ich habe ihn geöffnet und werde Ihnen den Inhalt vorlesen:

Frau Baronin!

Ich habe beschlossen, Ihnen diesen Brief erst zu übergeben, wenn ich meine Stellung hier gekündigt und mich verabschiedet habe. Ich kann hier nicht länger bleiben. Es könnten Umstände eintreten, die mich zu einem Meineid zwingen würden, denn – ich habe ebenfalls wie der Trunkenbold Rank mit beobachtet, wie Sie, Frau Baronin, mit den Füßen eine Spur im Grase offenbar unkenntlich machten, – eine Spur, die in die Büsche führte und die ich später doch noch als die eines winzigen Damenschuhes mit sehr hohem Absatz erkannte. –

Ich bleibe treu, Frau Baronin. Daher … verschwinde ich.

Ihr ergebenster, dankbarer

James Gorbin.“

 

8. Kapitel.

Inspektor Deichen faltete den Brief zusammen.

Gisbert von Perant stiert Vera an[1] … Wartet … Sagt flehend: „So reden Sie doch, Frau Baronin.“

Sie wendet den Kopf …

„Noch nicht, Baron … Noch nicht,“ erwidert sie leise. „Vielleicht kommt die Zeit überhaupt nicht, wo ich mich – verteidigen darf …“

Ihr Mund zuckt plötzlich in verhaltener Qual.

Und mit einer jähen Bewegung tritt sie dann näher an Deichen heran …

„Sie wollen mich verhaften?“

„Ich muß, Frau Baronin …“

Sie senkt den Kopf … Scheint zu überlegen …

„Reden Sie doch!“ fleht Gisbert von Perant.

Wieder blickt sie ihn an.

In seinen Augen sieht sie Mitleid, Teilnahme, Vertrauen – Vertrauen in sie, die Gehetzte …

Und plötzlich nimmt sie seine Hand, zieht Gisbert beiseite, flüstert:

„Helfen Sie mir! Helfen Sie mir! Versperren Sie den Beamten den Weg. Ich muß in den Wachtturm, denn –“

Deichen ruft streng: „Ich verbiete diese –“

Da hat Gisbert Frau Vera bereits einen kräftigen Stoß versetzt. Er handelt wie ein Automat – ohne eigenen Willen. Er gehorcht … er hört noch ihre Worte in seinem Ohr klingen …

Einen Stoß versetzte er ihr …

Und halb stolpernd fliegt sie um die Biegung der Hecke … Verschwindet …

Deichen brüllt … läuft …

Der andere Beamte stürmt ebenfalls hinterdrein.

Und beiden vor der Nase schlägt die schwere, eisenbeschlagene, uralte Eichentür des dicken Gemäuers zu.

Riegel werden von innen vorgeschoben. –

Deichen rüttelt an der Tür.

„Öffnen Sie – im Namen des Gesetzes!“

Gisbert von Perant tritt neben ihn …

„Gestatten Sie, Herr Inspektor: Baron Gisbert von Perant. – Ich bin ein Vetter des verstorbenen Majoratsherrn …“

Deichen schnaubt ihn an: „Herr Baron, Sie haben diese Flucht begünstigt!“

„Allerdings,“ nickt Gisbert. „Das habe ich …!“

Deichen beruhigt sich. „Das war sehr töricht von der Baronin. Wenn jemand trotz allem von ihrer Schuldlosigkeit überzeugt ist, dann bin ich’s, Herr Baron. Ich konnte aber als Beamter nicht anders handeln.“

„Was ich durchaus einsehe, Herr[2] Inspektor …“

„Und ich muß jetzt auch die Tür erbrechen lassen, Herr Baron. Hoffentlich tut sich die Baronin kein Leid an …“

„Die Baronin? Niemals! Das würde so wenig zu ihr passen …“ – Er lächelt … Er denkt an die Vergangenheit, an die Ferien – an die Ritter-und-Räuber-Spiele … „Sie brauchen die Tür nicht zu erbrechen,“ fügt er hinzu. „Eine Leiter genügt … Sie sehen dort oben das unvergitterte Fenster …“

Deichen mustert ihn mißtrauisch …

Und wieder lächelt der Baron. „Sie werden meine Kusine doch nicht finden – bestimmt nicht. – Lassen Sie nur die Leiter holen …“

„Dann hat der Turm einen geheimen Ausgang …!“ ruft Deichen.

„Ja. Aber ob man diesen Ausgang als geheim bezeichnen darf, weiß ich nicht …“

Er lauscht nach dem Gutshofe hinüber …

Das Knattern eines Automotors hämmert vielsagend.

„Ich glaube, die Baronin fährt Ihnen davon, Herr Inspektor. – Kommen Sie …“

Und er geht um den Turm herum zur Westseite, wo der Efeu mit dichtem Blätterschmuck bis zur Erde reicht.

„Bitte – hier hinter dem Efeu – – die kleine eiserne Tür … steht offen, Herr Inspektor …“

Das Autogeräusch entfernt sich … –

Und ein paar Minuten später weiß Deichen, daß die Baronin mit dem großen Tourenwagen ohne Chauffeur, ohne Hut davongefahren ist – ganz wie Gisbert angenommen hatte. –

Der Inspektor tut wütend, – tut nur so …

Und telephoniert vom Schlosse aus an die Landjäger der nächsten Ortschaften …

Läßt die Übergänge von der Insel Usedom sperren. Und weiß doch, daß die Baronin nicht gefaßt werden wird. Er kennt sie ja. Die eiserne Frau! Die trotzt allen polizeilichen Maßnahmen. –

Auch Gisbert telephoniert – nach Swinemünde – mit seinem Vater:

„Ich bleibe vorläufig hier, Papa … Den Herrn Scheibler schmeiße raus, wenn er sich wieder blicken läßt. Ich – – bin zur Gegenpartei übergegangen … Schluß … Wiedersehen!“

Dann hängt er ab …

* * *

Horwitz und Schnick radeln auf der Chaussee nebeneinander her …

Sehen Herrn Egon Scheibler auf dem Chausseestein sitzen, und Horwitz sagt, als sie vorüber sind:

„Alterchen, die Gaunervisage kam mir bekannt vor.“

„Mir auch …“

„Das muß irgendeiner von der Gilde sein …“ Und Hermann Horwitz blättert in seinem Gedächtnis.

Ruft dann: „Du – das war Scheibler!! Und nun weiß ich auch, weshalb mir heute mittag bei der Ankunft hier in Bansin die Kehrseite des einen Geschniegelten, der da mitten im Kreise der Herrschaften in Trauer Vortrag hielt, so bekannt vorkam: auch Scheibler!!“

Michael Schnick pfeift durch die Zähne …

„Du – die traurigen Herrschaften – das waren doch die Perants. Und wenn Scheibler mit denen eine Entente geschlossen hat, dann … dann geht’s gegen die Baronin!“

„Zweifellos!“ – Horwitz lacht. „Scheibler wird hier keine Rosen ernten! Wir werden ihm den Geschmack für dieses Gericht verderben …“

Weit vor ihnen eine Staubwolke auf der Chaussee … Autogeräusch … Näher und näher … –

Die Baronin sitzt zusammengeduckt am Steuer … Zwei Radler da vor ihr … Und – ihre Augen leuchten auf … Das Auto hält … –

Horwitz und Schnick sind von den Rädern gesprungen, grüßen … Die Baronin schaut sich um. Die Chaussee ist leer. Und – – diese Unterredung darf auch keinen Zeugen haben, denkt Frau Vera mit kühlem Abwägen dessen, was geschehen muß.

„Herr Horwitz,“ sagt sie mit einem bittenden Blick, „verbergen Sie mich …“ – Sie berichtet ganz kurz, was sich soeben im Schloßpark von Loxten zugetragen hat. –

„Ich darf nicht verhaftet werden,“ schließt sie ihre Angaben. „Ich bin weder meines Mannes noch James Gorbins Mörderin. Ich habe eine Pflicht zu erfüllen. Ich muß frei sein …“

Horwitz nickt. „Sie sollen frei bleiben, Frau Baronin …“

Er wendet sich an den Freund …

„Unsere Räder ins Auto! Dann fährst Du mit dem Auto in den Wald hinein, – ich werde die Baronin tragen, damit der Polizeihund keine Witterung nehmen kann. Auto und Räder läßt Du stehen. Wir treffen uns vor der Schonung, wo wir heute die Spur der Bogenschützin verloren …“

Er späht den Weg entlang – wie vorhin Frau Vera es tat …

„Vorwärts!“ – Die Baronin schlingt ihm ohne Scheu die Arme um den Hals, und beide tauchen, nur eine Spur, die eines Mannes, im Staube der Chaussee zurücklassend, im Walde unter. –

Michael Schnick sitzt jetzt vorn im Kraftwagen, saust davon, – überlegt, ob er den Plan des Freundes nicht noch zuverlässiger gestalten könnte. Er biegt von der Chaussee in einen schmalen Waldweg ein, und als er eine Stelle erreicht hat, wo dicht am Wege ein Buschwerk sich hinzieht, wirft er die Räder vorsichtig vom Auto aus in das Gestrüpp hinein.

Fünf Minuten drauf holt er sie, den Weg vermeidend, von dieser Stelle ab und radelt rasch, das zweite Rad neben sich herführend, nach Bansin, wo er die Maschinen dem Verleiher wieder übergibt.

Schnick ist sehr zufrieden mit dieser Lösung. Nun soll die Polizei einmal feststellen, wo die Baronin geblieben! Wird den Herrschaften wohl sehr schwerfallen!! –

Michael Schnick hat recht: Deichen und der andere Beamte, auch der Polizeihund – alle drei stehen hier vor einem Rätsel. Inzwischen ist auch die Abenddämmerung angebrochen. Man findet das Auto – sonst nichts. Von dem Auto führt eine Männerspur durch den Wald bis zu einem Gestrüpp, wo zwei Fahrräder versteckt gewesen sein müssen. Diese Radspuren verlieren sich in den Straßen Bansins …

Deichen begreift das alles nicht. – Wo ist nun die Baronin hingeraten?! Das Auto hat sie nicht verlassen – anscheinend nicht! – Nein, er wird aus der Geschichte nicht klug, sagt zu seinem Wachtmeister:

„Na, Hennig, nun wollen wir uns erst mal stärken. Wir sind jetzt fünf Stunden auf den Beinen – und die Aufregungen hatten wir noch gratis dazu!“

Hennig schmunzelt …

„Ja, ja, Herr Inspektor, … eiserne Frau! Die hat schon manchem etwas zu raten aufgegeben! Schneid hat sie, weiß Gott! Aber – als Frau möcht’ ich sie doch nicht haben. Die Augen!! Donnerwetter – der Blick geht einem ja durch und durch!“

Sie betreten eine Kneipe …

Und kurz nach ihnen setzt sich an den Nebentisch ein Mann, den Deichen gar nicht beachtet, auch infolge der Verkleidung nicht wiedererkennt: Herr Egon Scheibler, der Igel, der nun abermals eine Anzahl Stacheln eingebüßt hat, als er mit dem Oberregierungsrat von Perant telephoniert hatte …

Baron Gisbert hatte sich ja auf die Gegenseite geschlagen. Und dessen Vater war am Telephon so scheußlich unliebenswürdig gewesen …!

Trotzdem: Scheibler spitzt die Ohren …

Manches fängt er auf, was der Inspektor und Hennig miteinander sprechen …

 

9. Kapitel.

Horwitz und die Baronin sitzen am Rande der Schonung auf einem moosgepolsterten kleinen Abhang …

Ringsum das feierliche Rauschen des Waldes – ringsum das Dämmern der nahenden Nacht.

Horwitz fragt nichts, sagt nichts. Seine Gedanken umspielen den neuen Mord …

Frau Vera hat den Arm auf das Knie und den Kopf in die Hand gestützt. Zusammengekauert sitzt sie da, wartet, daß Horwitz irgend etwas zu wissen verlangt. Er hat ein Anrecht auf ihre Offenheit. Und bleibt doch stumm.

Hin und wieder streift ihn ein prüfender Blick aus den ernsten, tiefen Frauenaugen …

Vera hat bereits so viel von den Eigentümlichkeiten des berühmten Mannes gehört, dessen wahrer Name hier nicht über ihre Lippen darf. Als sie ihn vorhin mit diesem Namen angeredet hatte, sagte er kurz:

„Einen solchen Herrn kenne ich nicht – hier nicht!“

Die Dunkelheit nimmt zu. Die beiden haben sich bereits geeinigt, wo sie die Nacht verbringen wollen. Nordwärts im Hochwalde liegt eine kleine Jagdhütte, die zu der Herrschaft Loxten gehört. Sie liegt auf einer Insel eines langgestreckten Schilfbruches, der den Forst durchzieht. Vera findet den Weg dorthin auch bei Nacht.

Mit einem Male meint dann Horwitz:

„Schnick wird hoffentlich für etwas Eßbares und Trinkbares sorgen …“

Die Baronin ist froh, daß der Mann neben ihr aus seiner Versunkenheit erwacht ist. Dieses Schweigen quälte sie.

Links von ihnen tritt ein Reh aus der Schonung – langsam, mißtrauisch …

Horwitz freut sich über den schlanken Bau des Tierkörpers, hat nur Augen für das Wild, das nun in den Hochwald hinüberwechselt …

Plötzlich geht es in flüchtigen Sätzen ab.

Michael Schnick erscheint, einen Rucksack auf dem Rücken, winkt, grüßt …

„Da bin ich!“ Der kleine dicke Mann strahlt … Berichtet rasch, wie er die Polizei noch gründlicher in die Irre geführt hat.

Dann brechen die drei auf, durchqueren die Schonung, durchqueren Felder, kommen wieder in einen Hochwald. Frau Vera stets zwei Schritt voraus …

Horwitz und Schnick ist der Gang durch den nächtlichen Wald eine Erquickung. Für sie ist alles ein Labsal, was sich vom Alltäglichen abkehrt.

Die Baronin schreitet rüstig aus … Ihre schlanke, biegsame Gestalt hebt sich wenig von dem unter dem Baumdome lastenden Dunkel ab. Nur ihr feines Parfüm zieht hinter ihr her, umweht Horwitz und Schnick, die zuweilen ein paar leise Worte tauschen.

Vera wendet den Kopf …

„Jetzt bitte Vorsicht,“ sagt sie und deutet nach rechts.

Ein mattes Schillern lagert da zwischen grünen Moosflecken und Heidekraut: Bruchwasser …!

Der Pfad windet sich hierhin, dorthin …

Überall die schillernden Stellen – überall …

Bis das Gelände wieder hüglig wird.

„Die Bruchinsel und die Hütte,“ meldet die Baronin.

Noch ist von der Jagdhütte nichts zu sehen. Haselnußsträucher drängen sich bis dicht an die rohen Balkenwände heran …

Dann die Tür – das kleine Fenster …

Da – legt Horwitz plötzlich seine Hand auf der Baronin Arm, der sich bereits nach dem Türgriff ausgestreckt hat …

„Vorsicht!“ haucht er …

Die drei stehen vor der Hütte – regungslos …

Schnick flüstert: „Was gibt’s?“

In dieser Finsternis sind die Gesichter nicht zu erkennen …

Horwitz hebt die Hand – deutet nach oben … Nach oben zum dicken Schilfdach …

Durch die Lücke der Baumkronen gleitet Sternenschein herab, gleitet entlang an zwei blanken Drähten, die sich vom Dache nach oben zu verlieren.

Die Baronin begreift nicht sofort …

„Telephondrähte?“ meint sie leise.

Horwitz winkt, zieht Frau Vera rückwärts …

Und da – da spürt sie ebenfalls den Zigarettenrauch, der aus den Türfugen hervorquillt.

Die drei machen kehrt. Zurück den schmalen Bruchpfad bis in den Hochwald, schweigend, – drei lautlos schreitende Gestalten.

Horwitz bleibt stehen …

„Frau Baronin, es sind – Antennendrähte …“

„Ah … Radio …!“

Viel weiß sie nicht von dieser modernsten Erfindung. Schloß Loxten besitzt keine Empfangsstation. Baron Heinz-Günther hatte kein Interesse für den Rundfunk, nur für seine Krähenhütte und seine verzehrende Eifersucht, daß sein Weib nach seinem Tode noch einem anderen Manne angehören könnte.

„Ein geheimer Bewohner der Jagdhütte hat dort die Antennen gespannt,“ fügt Horwitz nachdenklich hinzu. „Und wir – wo bleiben wir nun, Frau Baronin?“

Sie antwortet nicht …

Horwitz sieht ihre Gesichtszüge nicht. Eine jähe Veränderung ist in diesem Antlitz vor sich gegangen.

Vera von Perant-Saintville atmet schwer …

Ein – geheimer Bewohner!! – Endlich – endlich gefunden! Er muß es sein – – muß!!

„Und wo bleiben wir nun?“ fragt Horwitz abermals.

Vera erwidert jetzt: „Drüben im Tale liegt die alte Ziegelei des Majorats … Sie ist seit Jahren nicht mehr im Betrieb. Kommen Sie …“

Eine auffallende Lebendigkeit zeigt ihre Sprache, zeigen ihre Bewegungen.

Fünf Minuten später tauchen aus den Feldern der dicke Schornstein und die Mauern der Ziegelei auf.

In einem Winkel machen die drei es sich bequem.

Schnick packt den Rucksack aus, zündet eine Karbidlaterne an. Weißer Lichtschein umspielt die Gesichter.

Horwitz setzt den Spirituskocher zusammen.

„Ich werde Wasser holen. Hier in nächster Nähe ist eine Quelle,“ erklärt die Baronin hastig.

Sie nimmt den Aluminiumkessel und verläßt das Gemäuer.

Horwitz wartet zwei Minuten, folgt ihr …

Draußen jetzt Mondschein, milde Dämmerung. Die Baronin läuft dort drüben auf dem Feldweg dem Walde zu. Horwitz hat sie sehr bald eingeholt.

„Frau Baronin, es ist besser, Sie bleiben bei uns,“ sagt er freundlich …

Ihr Blick irrt zur Seite. Sie sieht sich durchschaut. Den Aluminiumkessel hat sie nicht mehr bei sich. Der steht dicht an der Ziegelei mitten auf dem Wege.

Horwitz geht neben ihr …

„Wo ist die Quelle, Frau Baronin …?“

Sie biegt nach rechts ab. Der Kessel wird gefüllt. Sie bleibt stumm. Stumm nimmt sie wieder neben Schnick Platz. Horwitz öffnet das Päckchen Tee, öffnet eine Konservenbüchse. – Eine seltsame Stimmung hier zwischen den drei Menschen in einer noch seltsameren Lage …

Michael Schnick merkt, daß eine harmlose Unterhaltung hier nicht angebracht ist und bezähmt sein munteres Mitteilungsbedürfnis. Die Baronin ißt wenig, trinkt Tee, den sie durch Kognak gewürzt hat.

Horwitz hält ihr nachher sein goldenes Zigarettenetui hin …

„Bitte, Frau Baronin … Meine Spezialmarke …“

Sie dankt, starrt geradeaus. Horwitz raucht bedächtig. Rauchringe formt er …

Und sagt unvermittelt, wie stets: „Der Mann in der Jagdhütte kommt als zweiter heran. In dem Restaurant oben auf dem Langen Berge wohnt ein italienischer Maler. Den möchte ich zuerst – besuchen …“

Vera von Perant-Saintville neigt den Kopf mehr nach vorn. Es ist eine Bewegung, die deutlich ausdrückt, daß der Maler ihr gleichgültig ist …

Horwitz fährt fort: „Weshalb haben Sie das blonde, weißgekleidete Kind nicht verfolgt, Frau Baronin? Weshalb vernichteten Sie die Spuren dieses Kindes, das Ihren Gatten erschossen haben soll?“

Schnick schaut den Freund an, dann die Baronin. Endlich also die Aussprache – endlich! Nun muß es ja Klarheit geben!

Frau Vera starrt geradeaus …

„Das war kein Kind,“ erklärt Horwitz weiter. „Ein Kind hätte den Bogen nicht spannen können. Dazu gehört Kraft.“

Die Baronin blickt auf. Dieser Blick verrät das Interesse eines Menschen, der über diese Einzelheit bereits fruchtlos nachgegrübelt hat.

Auch Schnick beugt sich etwas vor …

„Es muß – ein Zwerg sein, den jemand in Mädchenkleider gesteckt hat,“ erläutert Horwitz. „Eine andere Lösung gibt es nicht.“

Vera nickt eifrig. Ihre Züge entspannen sich. Nun weiß sie endlich, was sie bisher nicht begriff.

Horwitz lächelt unmerklich. „Sie haben mir soeben schweigend eingestanden, daß Sie von dem Zwerge noch nichts ahnten, Frau Baronin …“

„Nein,“ sagt sie ehrlich. „Dieser Punkt war mir völlig unverständlich. Ein Kind, das ein Schrotgewehr vom Schoße eines im Rollstuhl Eingeschlafenen nimmt und dann … abdrückt, – das begriff ich nicht …“

„Das sahen Sie also …“

„Ja. Ich rief – ich wollte die Tat verhindern … Es war zu spät. Das Kind entfloh. Ich sah nur von der Seite die blonden Locken und das zarte Gesicht …“

„Perücke und Schminke, Frau Baronin …!“ Er raucht ein paar Züge. „Und dann verwischten Sie die Spuren …!“

Sie senkt den Kopf wieder, schweigt …

„Weshalb nicht die volle Wahrheit, Baronin?“ meint Horwitz eindringlich. „Sie wußten den Feind doch in der Nähe, den Feind von früher …“

Vera schweigt …

„Ich behaupte, der Mord sollte Ihnen zur Last gelegt werden,“ erklärt Horwitz wieder. „Die Schurken da haben wahrlich Mittel gewählt, die ungewöhnlich sind … Diese Schurken sind das, was Sie einst waren, Baronin: Leute vom Varietee!!“

Er nimmt eine neue Zigarette …

„Der Feind hat sich vorher gemeldet, Baronin … Vielleicht an Sie geschrieben. Vielleicht haben Sie ihn gesprochen. Doch – ich glaube, er wird Ihnen wohl nur schriftlich eine Botschaft geschickt haben. Er hat Sie nicht derart in der Hand, daß Sie ihn zu fürchten brauchten. Er wollte sich rächen, Sie ins Unglück stürzen …“ –

Michael Schnick hört zu. Es ist, als ob sein Freund durch langsame Messerschnitte den Kern einer giftigen Frucht freilegt, – sein Freund, sein Lehrer, der berühmte – Horwitz!

Und dieser Horwitz spricht weiter: „Mir ist nun auch klar geworden, weshalb Sie uns beide hierher riefen, Baronin … Wir sollten das Versteck des Mannes erkunden. Und dann wollten Sie – Ihre Pflicht erfüllen!! – Bitte, geben Sie mir Ihren Revolver …“

Frau Veras Hand zuckt in unwillkürlicher Bewegung nach den Falten des schwarzen Trauergewandes.

„Geben Sie mir die Waffe,“ sagt Horwitz nochmals. „Ein Zufall hat uns das Versteck des Mannes finden lassen. Und Sie – Sie waren vorhin im Begriff, eine große Torheit zu begehen. Sie wollten den Mann erschießen …“

Er spricht so nüchtern und leidenschaftslos, als ob es sich hier um Nichtigkeiten handelte. Und doch ist in seiner Stimme jener warme Ton, der die stille Anteilnahme des großen Menschenkenners verrät.

Ein paar Minuten folgt diesen Worten eine fast beängstigende Stille.

Michael Schnick vernimmt draußen im wilden Graswuchs des Hofes der Ziegelei das Zirpen der Heimchen und das an- und abschwellende Quaken der Frösche in irgendeinem Tümpel. Er merkt sich diese nächtlichen Laute als Begleitmusik dieser denkwürdigen Szene für den Fall, daß er die … eiserne Frau einmal schriftstellerisch verwerten sollte …

Und dann in diese Stille hinein das selbstbewußte, klare Organ der Baronin, – einer der seltsamsten Frauen, die Horwitz je begegnet sind. Und er – er kennt doch genug Weiber aller Schattierungen, die um irgendein dunkles Geheimnis ihrer Vergangenheit gekämpft haben, die dieses Geheimnis nicht wieder ans Licht lassen wollten und deshalb taten, was sie sonst nie getan hätten …

So muß es auch hier sein, bei Vera von Perant-Saintville: Varieteevergangenheit!!

… In diese Stille also Frau Veras klare, unumstößliche Worte:

„Die Waffe gebe ich nicht heraus, Herr Horwitz, und jener Schurke wird sterben, so wahr meine Hände bisher rein von Blut sind! Es ist meine Pflicht, ihn auszulöschen, nicht – meinetwegen! Nein: der Ehrenschild der Perant-Saintville soll rein bleiben!“

Horwitz schüttelt ernst den Kopf.

„Das ist Frauenlogik, Baronin! Bleibt der Ehrenschild rein, wenn die Gattin des letzten Vertreters der Hauptlinie des alten Geschlechts wegen Totschlags vor Gericht kommt?!“

„Das wird nie geschehen – nie! Ihm die erste, mir die zweite Kugel! Dann … bin ich als eine Perant-Saintville für die Familie gestorben.“

Horwitz sieht sie unverwandt an …

Wenn er doch die Gedanken hinter dieser hohen klugen Stirn lesen könnte!! Er merkt ja: seine Vermutung von einer – bloßen Varieteevergangenheit kann nicht zutreffen. Es muß noch anderes hier mitspielen. Das Geheimnis ist keines jener Art, wie es so häufig von dem wechselvollen Leben heißblütiger Frauen aufgezwungen wird. Und – diese eiserne Frau da besitzt Temperament. In deren Augen glüht der verborgene Funke des reinen Sinnenrausches, wie der Schöpfer ihn in seine Kreaturen als etwas Naturgemäßes eingepflanzt hat. –

Horwitz sieht die Baronin unverwandt an und schweigt – sinnt – läßt seine Gedanken dieses Geheimnis umspielen …

 

10. Kapitel.

Michael Schnick aber fröstelt. Es ist ihm, als streiche ihm immer wieder ein kalter Hauch den Rücken entlang, wenn er die Baronin anschaut, deren blasses Gesicht in dem weißen Lichtschein der Karbidlaterne noch fahler und versteinerter wirkt …

Auch er kennt Frauen. Auch er sagt sich: „Dies hier, diese Tochter eines Zuchthäuslerpaares, ist ein ganz besonderer Schlag von Weib – die eiserne Frau!“

Ihn fröstelt … –

Dann streckt Horwitz den leeren Teebecher ihm hin und sagt:

„Bitte … Wir wollen getrost noch dem Kognak, der nicht schlecht ist, etwas zusprechen. Dann werden wir den Langen Berg besuchen.“

Und zu Vera: „Gestatten Sie, Baronin …“ Er nimmt auch ihren Becher.

Schnick hat gute Augen – für alles. Horwitz hat da vorhin in der Westentasche nach dem Feuerzeug gesucht. Horwitz hat mit der Gewandtheit eines Taschenspielers aus einem kleinen Röhrchen ein kleines Kügelchen in die Hand gleiten lassen.

Das Kügelchen ist in Veras Becher gefallen – mit ganz feinem, leisem Klang, den die Baronin nicht beachtet.

Schnick mischt Tee mit Kognak, tut Zucker hinein.

Horwitz hebt seinen Becher:

„Gestatten, Baronin. – Ihr Wohl …“

Sie trinkt … trinkt in kleinen Schlucken … –

Horwitz wird plötzlich gesprächig. Erzählt von Indien – von den Wunderstätten des Märchenlandes, von den braunen Menschen dort …

Seine Stimme hat etwas Singendes, Einlullendes, – und Vera schließt die Augen und lauscht … lauscht …

Eine wohlige Müdigkeit befällt sie, ein Gefühl des Losgelöstseins von aller Erdenschwere …

Horwitz’ Stimme sinkt zum Flüstern herab …

In diesem sanften Gemurmel liegt’s wie suggestive Kraft …

Die Baronin schläft ein – schläft ein mit jenem röchelnden Laut, der bei so vielen Menschen das Hinübergleiten vom Wachsein zu festem Schlummer ankündet. –

Michael Schnick sagt leise:

„Wir werden sie so nicht hierlassen können. Es ist zu kühl …“

„Der Rucksack als Decke und eine Schicht Gras darüber genügen,“ meint Horwitz versonnen und blickt dem Freunde nach, der in den Hof geht und dann mit einem Arm Gras zurückkehrt.

Sie bereiten der Schläferin ein weiches Lager, löschen die Laterne und treten ins Freie.

Im Mondenschein türmt sich dunkel und wuchtig dort nach der Küste zu der Lange Berg auf.

Die beiden Herren, diese beiden Männer, deren Leben eine Kette von Absonderlichkeiten ist, wandern raschen Schrittes dem Walde zu.

Horwitz raucht … Seine Mirakulum-Zigarette feuert seinen Geist an.

„Es ist wohl klar, mein Alter,“ meint er, „daß der Mann in der Jagdhütte die Antennen zwecks raschester Verständigung mit einem anderen angelegt hat. Seine Sende- und Empfangsstation in der Jagdhütte dürfte mit der des Italieners auf dem Langen Berge auf dieselbe Wellenlänge abgestimmt sein. Die Schurken sind großzügig. Sie telephonieren drahtlos.“

Schnick fragt nur: „Und der Zwerg?“

„Ja – der Zwerg …! – Man erlebt doch immer noch etwas, woran die Phantasie kaum heranreicht. Wer hätte wohl gedacht, daß Leute auf die Idee kommen, ein Verbrechen derart mit den Tatbestand verdunkelnden Begleitumständen zu umgeben! Ein Mädchen – ein kleines, weißgekleidetes Mädchen, blondlockig … Wer die an der Krähenhütte sah, würde doch nie auch nur im entferntesten angenommen haben, sie könnte den Schuß abgefeuert haben! Nein – niemand hätte dies angenommen …“

Michael Schnick wirft ein: „Vielleicht nur James Gorbin! Und deshalb mußte er sterben …“

„Ganz recht – nur deshalb! Ich behaupte, er war diesen Schurken da auf der Spur. Er hat auf eigene Faust ihnen nachgespürt. Und diese Verbrecher stahlen dann Bogen und Pfeil aus dem Schlosse und – fälschten den Brief Gorbins, den der Inspektor finden sollte.“

Schnick dreht den Kopf …

„Wirklich – gefälscht?!“ – Er hält diese Annahme doch für etwas kühn.

„Wird der treue Gorbin einen solchen Brief solange vorher schreiben und so offen in seinen Koffer legen?!“ sagt Horwitz achselzuckend. „Nein, mein Alter! Ausgeschlossen! Ein Mann wie er, der uns nachschlich, nicht weil seine Herrin es ihm befahl, sondern weil er diese Herrin schützen wollte und uns mißtraute, – ein solcher Mann mußte wissen, daß der Brief eine ständige Gefahr für die Baronin war. Der Brief ist gefälscht und in Gorbins Koffer geschmuggelt worden. Wir werden auch das feststellen.“

Michael Schnick ist bekehrt. „Es wird schon so sein,“ meint er …

Sie haben den Wald erreicht. Es geht bergan durch Buchendome, durch säuselnde Schonungen …

Sie spüren die Salzluft des nahen Meeres … Hin und wieder geht vor ihnen ein Reh, ein Hase flüchtig ab.

Schnick keucht. Sein Bäuchlein rächt sich.

Horwitz’ Lungen und Herz arbeiten ohne wesentliche Beschleunigung.

Sie meiden lichte Stellen, wo das Mondlicht unbehindert den Boden trifft …

Hören die Nachtvögel sich melden, den Schrei der Eulen, des Uhus …

Bis sie beide wie angewurzelt stehenbleiben …

Ein anderer Laut hat ihr Ohr erreicht – ein dumpfes Knurren – die grollenden, verhaltenen Töne grimmer Wut eines großen Hundes …

Horwitz und Schnick rühren sich nicht …

Beugen die Oberkörper vor und suchen in dem wechselnden Licht des Waldes da vor sich das Tier zu erspähen, das ihnen den Zugang zur Kuppe des Berges verwehrt.

Wieder das Knurren …

Nun haben sie die Richtung, aus der die grollenden Laute kommen. Nun – sehen sie …

Ein Mann liegt dort vielleicht fünfzehn Schritt vor ihnen in einer mit welken Blättern ausgefüllten Vertiefung auf dem Rücken. Und über ihm, die Vordertatzen auf seine Brust gesetzt, steht ein riesiger Wolfshund …

Der Mann ist tief in das Laub hineingedrückt worden. Er regt sich nicht – wagt keine Bewegung.

„Scheibler!!“ haucht Horwitz dem Freunde ins Ohr.

Sie brauchen nicht zu fürchten, daß der Hund sie wittert. Der Wind kommt von der See, kommt ihnen entgegen. –

Horwitz sieht noch mehr … Zwischen den Bäumen weiter oberhalb regt es sich. Ein anderer Mann kommt.

Und Horwitz schiebt den Freund enger an die Eiche heran, flüstert: „Der Italiener – der Schlangenmensch.“

Der Mann gleitet näher – gleitet, als ob seine Füße kaum den Boden berühren. Die Gewandtheit seiner Bewegungen tritt wieder deutlich hervor, ein Übermaß an Gewandtheit, etwas, das an graziöse Tanzschritte erinnert.

„Hierher, Hasso!“ ruft er befehlend.

Der Hund gehorcht nicht …

„Oho – warte, Bestie!“

Und der Mann packt zu, packt den Hals des mächtigen Tieres, reckt es empor …

Ungeheure Kräfte müssen in den Muskeln dieses dürren Leibes aufgespeichert sein.

Er schleudert den Hund beiseite. Und mit eingekniffenem Schwanz kauert das Tier am Boden – sieht stieren Blickes, wie der Liegende sich aufrichtet.

„Wer sind Sie?“ fragt der angebliche Italiener in seinem fließenden Deutsch. „Belügen Sie mich aber nicht – ich warne Sie! Ich kenne Sie bereits. Ihr falscher Schnurrbart hat sich gelöst. Ich bin diese Nacht allein hier oben auf dem Langen Berge. Der Wirt und seine Frau sind verreist. Ich warne Sie. – Also, wer sind Sie?!“

Scheibler zittert. Der Überfall des Hundes ist so plötzlich gekommen, daß er sich nicht wehren, nicht auf einen Baum flüchten konnte.

Er zögert mit der Antwort, der arme – Igel, der hier die letzten Stacheln einbüßt.

In des anderen Hand blinkt eine Waffe …

Ein heftiger Windstoß fährt über den Wald hin. Die Bäume rauschen auf – die See brandet dort ostwärts.

„Gehen Sie mir voran!“ befiehlt der angebliche Maler kurz. „Vorwärts!! Ich weiß, daß Sie hier allein herumspionieren. Ich weiß alles!“

Er lacht ironisch …

Die Repetierpistole droht, und Egon Scheibler gehorcht … Der Hund schleicht hinter den beiden drein.

Und – – hinter dem Hunde schlüpft Horwitz her …

Bis auf die Kuppe, bis zu den Gebäuden, die hier auf der Lichtung stehen: das Restaurant Langer Berg und der Stall daneben – schlichte Bauten, die nur in der warmen Jahreszeit bewohnt werden. –

Horwitz liegt lang hinter einer leeren Teertonne. Er beobachtet, wie der Italiener den Hund in einen Verschlag des Stalles jagt und die Tür verriegelt.

Scheibler steht dabei …

Scheibler wagt nicht zu fliehen. Wagt nicht in die Tasche zu greifen, wo die eigene Waffe steckt. Er ist kalkweiß im Gesicht. Er fürchtet alles …

„Vorwärts – ins Haus!“ befiehlt der Maler ebenso selbstbewußt. „Wir werden uns oben bei mir aussprechen, Herr – Scheibler!“ –

Horwitz sieht die beiden im Hause verschwinden. Dann wird’s im Oberstock hell – zwei Fenster …

Ein Schatten huscht über die zugezogenen Vorhänge.

Michael Schnick naht kriechend, duckt sich neben den Freund.

„Der Hund ist eingesperrt,“ flüstert Horwitz. „Der angebliche Italiener hat mit Scheiblers Besuch gerechnet. Die Schufte ahnen jedoch offenbar nichts von unserer Anwesenheit hier in Bansin, sonst würde der Kerl den Wolfshund im Freien gelassen haben.“

„Und nun?“

„Werden wir auch hinein, mein Alter … Ich bin neugierig, was die beiden da miteinander verhandeln werden.“

Ein neuer Sturmstoß saust um die Bergkuppe. Der Mond verkriecht sich hinter schwarzem Gewölk.

„Gewitterneigung,“ meint Horwitz leise. „Die Luft ist gesättigt mit Elektrizität. Ich spüre es in allen Nerven …“

Die Lichtung liegt nun in Dunkel da.

Zwei Gestalten richten sich neben dem Haupteingang des Restaurationsgebäudes auf.

Ein Patentdietrich gleitet ins Türschloß …

 

11. Kapitel.

Gisbert von Perant-Saintville sitzt im Arbeitszimmer seines verstorbenen Vetters Heinz-Günther und spricht mit dem alten Oberinspektor Patzer über die Flucht der Baronin.

Patzer, der Hüne, lehnt am Fenster und saugt an seiner Pfeife. Er kennt den Baron Gisbert schon seit vielen, vielen Jahren. Er ist nun bereits zwei volle Jahrzehnt Oberinspektor der Herrschaft Loxten und als solcher ein mächtiger Mann.

„Herr Baron,“ sagt er grollend, „wer diesen Verdacht gegen die Baronin ausgestreut hat, verdient gehenkt zu werden.“

Gisbert fühlt sich in diesem Augenblick unbehaglich. Er denkt an seine Sippe …

Und erklärt dann ehrlich: „Lieber Patzer, auch ich muß leider zugeben, daß ich mit zu denen gehörte, die der Baronin alles Schlechte zutrauten. Ich bin jetzt gründlich geheilt worden … Sonst – wäre ich ja nicht hier, als Kusine Veras Stellvertreter.“

Der Hüne bläst beizenden Rauch in die Luft. Sein Knaster muß kräftig sein. Zigarren, Zigaretten – das ist für Schwächlinge! Patzer ist noch einer vom alten Schlage.

„Wer wie ich mit ihr zusammenarbeiten darf, muß sie verehren, Herr Baron,“ sagt er so recht begeistert. „Sie wissen wohl nicht, daß man sie hier die eiserne Frau nennt …“

„Doch – ich weiß es …“

„Aber Sie kennen sie nicht, Herr Baron. An der Frau ist nichts Falsches, nichts Halbes. Das ist alles Vollnatur. Weiß Gott: leicht hat sie’s mit dem Herrn in der letzten Zeit nicht gehabt! Aber eine Engelsgeduld hat sie bewiesen. Wir hier auf Loxten gehen für sie durchs Feuer!“

Gisbert nickt …

Gisbert sieht Vera wieder vor sich …

Denkt an den Augenblick, wo er ihr zum ersten Male gegenüberstand …

An die glühende Welle, die vom Hirn zum Herzen flutete …

Und sagt leise zu dem Hünen:

„Auch ich gehe für sie durchs Feuer, Patzer. – Wenn wir ihr nur helfen könnten!“

„Oh – die Baronin hilft sich schon selbst,“ meint der Hüne plötzlich ganz leise.

Gisbert wird aufmerksam …

„Wissen Sie etwas, Patzer? – Ihre Stimme klang soeben so – so geheimnisvoll.“

Der Oberinspektor verläßt den Fensterplatz und setzt sich neben Gisbert in einen der hochlehnigen Eichenstühle.

„Herr Baron – jetzt weiß ich etwas für Sie,“ beginnt er leise. „Jetzt, wo Sie nicht mehr zum – Familienrat gehören …“

Er schaut Gisbert an. „Sie verstehen mich: lieber bisse ich mir die Zunge ab, als daß ich einem der Perant-Saintvilles etwas mitgeteilt hätte … Denn die haben sich schändlich benommen …“

Seine Stimme schwillt …

„Die ganze Nachbarschaft hat den Herrn Baron Heinz-Günther … geschnitten – dieser Heirat wegen! Und daran war nur die alte Exzellenz Perant-Saintville schuld, Ihre Frau Tante. Baron Heinz-Günther hat ihre Tochter heiraten sollen, die nun vor zwei Jahren doch noch unter die Haube gekommen ist. An alle Adligen hier auf Usedom hat Ihre Exzellenz Briefe geschrieben. – Ich weiß das …“

Er schlägt mit der Faust auf die Sessellehne …

„Baron – das war eine Gemeinheit!!“

„Allerdings – das war’s!“ – Gisbert würgt wieder der Ekel in der Kehle.

Der Hüne beruhigt sich. Es gilt hier anderes, als die alte geschminkte Exzellenz bloßzustellen. Hier geht’s um die Herrin, die er verehrt.

Er legt Gisbert plötzlich die große braune Hand auf den Schenkel …

„Baron, Ihre Frau Kusine hat vor acht Tagen zwei Briefe erhalten, einen morgens, den andern abends, beide aus Swinemünde. Und beide Male, als der Postbote kam, war ich mit der gnädigen Frau zusammen, konnte beobachten, wie die Briefe wirkten …“

„Wie?! Wie – –?“ Gisbert lehnt sich vor.

„Wie … wie Todesurteile, Baron. Ich finde keinen treffenderen Ausdruck …“

„Erzählen Sie!“

Der Hüne schaut den Baron an. Dieses hastige, halb angstvolle „Erzählen Sie!“ verrät manches. Er beginnt zu begreifen, weshalb Gisbert von Perant-Saintville – abgeschwenkt ist …

„Da ist nicht viel zu erzählen, Baron. Sie wurde, nachdem sie den ersten Brief gelesen, und das war im Schweinestall, wie der Kalk an der Wand – so sagt man wohl. – Und ihre Augen, Baron, – diese herrischen Augen flackerten vor Angst …“

Er zieht seine Hand vom Schenkel Gisberts zurück.

„Nachher hat sie den Brief verbrannt und die Asche zerrieben.“

„Und abends …?“

„Abends – da standen wir an der Fohlenhürde, als der Briefträger kam. Und da wurde sie schon blaß, als sie nur die Adresse sah. Ich mußte ihr ein Streichholz geben. Auch der Brief flog als Asche in alle Winde!“

„Sie las ihn ebenfalls?“

„Ja – nur ganz flüchtig!“ –

Patzers Pfeife ist ausgegangen. Er klopft die Asche in den Aschbecher, reibt ein Zündholz an, raucht …

„Und – weiter?“ fragt Gisbert scheu.

Der Oberinspektor kneift die Augen etwas zu.

„Sie kennen doch die Jagdhütte im Bruch, Baron?“

„Natürlich …“

„Vorgestern abend bin ich mal wieder seit Monaten dort vorübergekommen …“

Er flüstert nur noch …

„Und – da hab’ ich festgestellt, daß jetzt dort jemand wohnt – heimlich …“

Gisbert beugt sich noch weiter vor.

„Ich bin, da ich Licht in der Hütte sah, nähergeschlichen – hörte sprechen …“

„Die Baronin?“

„Nein, nein – eine Männerstimme nur … sehr laut. Aber – der Name der Baronin wurde genannt, der Vorname: Vera!“

Gisbert von Perant brennt das Gesicht

„Und was sagte der Mann?“

„Etwa folgendes[3]: „Sie wird schon kirre werden, die schöne Vera. Nur Geduld, Viktor. Wir werden ihr noch einen Knüppel zwischen die Beine schmeißen. Wir haben ja noch mehrere bereit.“ – Dann hörte ich nichts mehr. Und – schlich davon, habe geschwiegen, Baron! Denn – hätte ich den Kerl dort beim Kragen genommen, dann wäre alles vielleicht noch schlimmer geworden, als es ohnedies geworden.“

Gisbert springt auf.

„Patzer – dann finden wir die Baronin … dort in der Jagdhütte!“

Die elektrische Krone aus Hirschgeweihen mit ihren Flammen bescheint sein verstörtes Gesicht.

„Ich will Gewißheit haben, Patzer. Unbedingt Gewißheit!“

Der Hüne bleibt sitzen.

„Wir haben Zeit, Baron. – Das ist noch nicht alles. Die gnädige Frau war beim Varietee, das wissen Sie doch. Und hier in diesem Zimmer hat sie etwa vor einem Jahr mal zu mir gesagt, als wir gerade vom Pferdemarkt aus Anklam zurückgekehrt waren, wo der Graf Schlöwitz unsere Baronin im Hotel geradezu frech und höhnisch fixiert hatte. Da hat sie hier zu mir gesagt: „Patzer, daß ich nicht als Engel Baronin Perant wurde, weiß mein Mann. Ich wünschte, jede Braut hätte so ehrlich gebeichtet wie ich!“ – Ja – so ist sie, Baron. Sie sagt, was sie denkt. Sie wollte sich mal Luft machen.“

Gisbert steht vor des Alten Sessel.

„Hm – und doch – doch. Sie hat doch etwas verschwiegen, Baron!“

Eine Pause …

Der Hüne flüstert: „Sie hat – ihr Kind verschwiegenen.“

Der Alte räuspert sich …

„Ich weiß, daß sie in ihrem Schreibtisch im Damensalon ein Geheimfach hat. Dreimal traf ich sie spät abends vor dem Schreibtisch im Sessel schlafend. Sie hat ja fast die ganze Buchführung hier allein erledigt. Und – diese drei Male war das Geheimfach aufgezogen. Und da lagen – Kinderbilder darin – Bilder eines kleinen Jungen!“

Gisbert setzt sich wieder.

Seine Stimme klingt hart. „Und Sie meinen, Patzer, daß sie Heinz-Günther dieses Kind … unterschlagen hat?“

„Ja – zuerst. Dann muß sie’s aber doch dem Herrn Baron gebeichtet haben. Der Herr Baron trug ein Bild des Kindes bei sich in der Brieftasche. Als er damals tot aufgefunden wurde, habe ich … das Bild an mich genommen, damit die Polizei es nicht fände. Er hat es oft angeschaut, das Bild – sehr oft … Ich weiß das. Heimlich hat er’s angeschaut …“

„Aus – Eifersucht – auf den Vater …“

„Hm … Das möchte ich nicht behaupten, Baron. Ich habe wie gesagt den Herrn Baron häufiger im Rollstuhl mit dem Bilde in der Hand überrascht. Er verbarg es dann schnell. Sein Gesicht – sein Gesicht sah aber nicht so aus, als ob …“

„Das begreife ich nicht!“ Gisbert legt dem Alten die Hand auf die Schulter. „Patzer – Sie denken, der Mann, der die Briefe schickte, ist der, der in der Jagdhütte haust, ist – der Vater des Kindes?“

„Man reimt sich so allerlei zusammen.“

Er seufzt schwer, der Hüne.

„Es wird ja wohl viel Falsches bei dem Reim sein, Baron. Eins ist aber gewiß: die Baronin trägt seit den Briefen stets einen Revolver bei sich – stets … Die Zofe hat ihr auch in das Trauerkleid eine besondere Tasche einnähen müssen …“

Gisbert beißt die Lippen zusammen.

Die Blicke der beiden Männer treffen sich.

„Wenn die Baronin den Kerl da vor die Mündung bekommt, ist er geliefert, fürchte ich,“ sagt Patzer dumpf. „Deshalb teile ich Ihnen das alles mit, Baron. Wir beide wollen den Kerl uns mal vorbinden, bevor ein Unglück geschieht …“

Er schaut auf die Standuhr.

„Halb elf ist’s. Wir können aufbrechen, Baron!“

Er seufzt wieder.

„Vielleicht – – ist’s schon zu spät … Vielleicht finden wir dort im Bruch zwei Tote …“

Gisbert schweigt. Er hat genau dasselbe gedacht.

 

12. Kapitel.

In dem dürftig möblierten Giebelzimmer des Restaurants auf dem Langen Berg saß Herr Egon Scheibler in der einen Ecke des Glanzledersofas und leckte verzweifelt die trockenen Lippen.

Sein Peiniger ihm gegenüber auf dem Rohrstuhl hatte die rechte Hand mit der Mehrladepistole auf den Schenkel gestützt.

„Es ist Tatsache, Herr Scheibler. Wir sind hier im Hause allein,“ sagte er lächelnd. „Schießen Sie also los – beichten Sie! Sonst – schieße ich!“

Scheibler sah ein, daß es hier nur eine Möglichkeit gäbe, seine Haut zu schützen: Ehrlichkeit!

Ihm fiel’s schwer, ehrlich zu sein. Er wußte, daß er hier nichts mehr verdienen würde, daß die erträumten goldenen Berge zu Asche geworden …

„Also – bitte!“ mahnte der Italiener nochmals. „Übrigens heiße ich Viktor Emanuel Rizarro, Verehrtester …“

Scheibler schielte nach der Pistole.

„Was wollen Sie wissen, Herr Rizarro?“

„In wessen Auftrag Sie hier spionieren.“

„Ich kam aus eigenem Antrieb her. Weil ich annahm, daß der Baron ermordet sei …“

„So?! Aus eigenem Antrieb?!“

„Ja … Dann fand ich Gelegenheit, mich den Verwandten der Witwe Vera von Perant-Saintville zu nähern. Ich schloß mit ihnen einen Vertrag ab. Hier ist er …“

Er wollte in die Brusttasche greifen.

„Halt!“ rief Rizarro. „Es könnte dort auch eine Waffe stecken …“

Er stand auf und faßte mit der Linken in die innere Jackentasche Scheiblers, brachte die Brieftasche zum Vorschein und setzte sich wieder.

„So – nun nehmen Sie den Vertrag heraus, Herr Scheibler, und lesen Sie vor …“

Scheibler tat’s.

Viktor Rizarro lächelte wiederholt.

„Gut,“ meinte er dann. „Bisher waren Sie ehrlich. Nun weiter. – Sie glauben, daß der Baron ermordet wurde – durch einen von der Baronin gedungenen Mörder?“

„Ja.“

„Und Sie glauben, daß ich der Mörder bin?“

„Nein, durchaus nicht.“

Scheibler bekam wieder Mut …

„Durchaus nicht, Herr Rizarro. Es steht fest, daß ein Kind den tödlichen Schuß abgefeuert hat. Ein Zeuge hat dieses Kind gesehen.“

„So?! Wer denn?!“

„Ein Arbeiter Rank. Und der sah auch, daß die Baronin die Spuren des Kindes auslöschte – mit den eigenen Füßen.“

„So … so. – Und ich?! Weshalb umschleichen Sie heute hier die Gebäude?“

Scheibler überlegte blitzschnell.

„Weil ich gestern nachmittag hier in der Nähe ein Mädelchen durch den Wald laufen sah. Es schien von hier oben zu kommen.“

Rizarros Totenkopf grinste.

„Die erste Lüge, Herr Scheibler. Sehr, sehr schade!! Wirklich! Auf Sie ist kein Verlaß. Wenn Sie Vertrauen verdienten, könnten wir gemeinsame Sache machen …“

Er grinste noch stärker.

„Sie scheinen ja genau so ein Lump zu sein wie ich! Und Sie wissen: unter dunklen Ehrenmännern gibt es einen bestimmten Ehrenkodex: sich nicht gegenseitig zu betrügen, sondern nur andere.“

Scheibler machte ein sehr offizielles Gesicht …

„Ich bin Detektiv, Herr Rizarro.“

„Na wenn schon – – Detektiv!! Mein Lieber, wir könnten tatsächlich hier unser Schäfchen ins Trockene bringen …“

Scheibler merkte: der log nicht! Der brauchte wirklich einen Verbündeten!

„Gut,“ erklärte er, „also ganz ehrlich, Herr Rizarro: ich hoffte hier den Beweis zu finden, daß das Kind zu Ihnen gehört und daß Sie wieder von der Baronin beauftragt waren. Wozu, das wissen Sie.“

„Total auf dem Holzwege, mein Lieber! Total!“

Er schaute Scheibler scharf an.

„Wenn man Ihnen vertrauen dürfte,“ meinte er bedächtig. „Wenn!! Ich – ich bin ja auch nur Handlanger sozusagen.“

Er senkte den Kopf, überlegte. Seine Wachsamkeit ließ nach.

Scheibler führte ganz allmählich die rechte Hand nach hinten – – ganz – allmählich …

Bis er die Schlüsseltasche erreichte.

Und plötzlich sagte er dann: „Herr Rizarro, ich könnte jetzt abdrücken!“

Der schaute auf … Schaute in das schwarze Mündungsloch …

„Und dann wären Sie erledigt, Herr Rizarro,“ fügte Scheibler hinzu. „Sitzen Sie still! Sobald Sie den Arm heben, knallt’s, mein Lieber!“

Jetzt grinste er. Aber es war ein vertrauliches Grinsen.

„Ich habe Sie in der Gewalt. Ich liefere Ihnen jetzt aber auch den Beweis, daß wir Verbündete sind!“

Und er legte seine Mauserpistole auf den Tisch.

„So – genügt Ihnen das?“

Rizarro nickte. „Es genügt mir.“ Auch er legte die Waffe auf den Tisch und streckte Scheibler die Hand hin. „Auf treue Genossenschaft!“

„An mir soll’s nicht liegen.“ –

Rizarro holte Zigarren, eine Flasche Kirschwasser und zwei Likörgläser.

„Bitte, bedienen Sie sich, Scheibler. So – prosit –auf ein gutes Geschäft! – – So, und nun hören Sie mal zu. Ich bin natürlich ebensowenig Maler wie Italiener. Ich heiße Viktor Rieger und bin Jongleur, Schlangenmensch und Damenimitator. Vor zwei Monaten erkrankte ich sehr schwer an Lungenentzündung. Im Krankenhaus Westend in Berlin lag neben mir ein Kollege, ein Spanier. Mit dem freundete ich mich an. Der Spanier hieß Sancho Castoro. Er hatte Pech gehabt und jahrelang im Zuchthaus in Madrid gesessen. Was er berissen hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls war er nach Deutschland gekommen, um hier einer Frau, die er früher mal gut gekannt hatte, Daumenschrauben anzusetzen.“

„Verstehe – der Baronin!“

„Stimmt. Der Baronin von Perant-Saintville. – Als wir aus dem Krankenhause entlassen worden, schrieb er an sie. Sie schickte ihm dreitausend Mark – Rentenmark. Er fluchte: er hatte – dreißigtausend verlangt. Merkwürdig war nun, daß er nicht mehr an sie zu schreiben wagte. Er – telephonierte mit ihr von Berlin aus – nur einmal … Und – erhielt fünftausend Mark, fluchte wieder und machte Redensarten, aus denen ich nicht klug wurde. Es schien, als ob er vor der Baronin doch so etwas Angst hätte …“

„Allerdings merkwürdig!“

„Ja … – Er war mir gegenüber sehr verschlossen, bis er dann eines Tages mir den Vorschlag machte, für ihn hier in Bansin und Loxten den Spion zu spielen. Nur den Spion …“

Scheibler wurde immer neugieriger. Die Geschichte war tatsächlich merkwürdig.

„Sancho Castoro staffierte mich also neu aus, kaufte mir Reisekoffer, kaufte eine tadellose Radioeinrichtung, mit der wir dann zunächst in der Nähe Berlins uns einübten, bis wir die Technik beherrschten. Dann mußte ich mich hier auf dem Langen Berg als Maler niederlassen und meine Beobachtungen beginnen, und zwar sollte ich Castoro jeden Abend elf Uhr radiotelephonisch mit Welle 610 melden, was ich über das Leben und Treiben der Baronin, ihres Gatten und auf dem Gute ermittelt hätte. In den mannigfachsten Verkleidungen habe ich mich in Loxten herumgedrückt. Und abends vor elf baute ich dann hier auf dem Dache in aller Stille meine Antennen auf und funkte Castoro meinen Bericht zu, ohne zu wissen, wo er steckte, wo er seine Station insgeheim angelegt hat. Ich habe ihn jedenfalls seit zehn Tagen nicht zu Gesicht bekommen – nur gehört habe ich ihn.“

„Unglaublich!“ meinte Scheibler kopfschüttelnd.

„Aber wahr, mein Lieber. Wort für Wort wahr, – daher weiß ich über den Tod des Barons auch nur das, was Sie wissen. Vielleicht wissen Sie sogar noch mehr.“

„Und – das Kind, das Mädchen?“ fragte Scheibler.

Der andere zuckte die Achseln. „Keine Ahnung!“

Wieder schüttelte Scheibler den Kopf. „Haben Sie denn schon erfahren, daß der Diener Gorbin erschossen worden ist?“

„Leider, leider! Denn ich war’s ja, der den Bogen der Baronin und zwei Pfeile aus dem Schlosse stehlen mußte. Castoro hatte mir den Befehl durch die Funkapparate übermittelt. Ich mußte den Bogen und die Pfeile im Walde verstecken.“

„Unglaublich! – Und unser Geschäft?“

„Nun – wir werden die Baronin gleichfalls schröpfen, nachdem wir Castoro gezwungen haben, uns mitzuteilen, was er mit ihr einst vorgehabt hat. Hierzu ist nötig, daß wir Castoros Versteck finden. Und das müssen Sie besorgen.“

„Hm …!“ machte Scheibler sehr gedehnt.

„Sie halten nichts von dem Plane?“

„Nein!“ Scheibler rief es ganz laut.

Und Scheibler griff im selben Moment wieder nach seiner Waffe.

So blitzschnell, daß er wieder Herr der Situation war. Zielte auf den völlig Überraschten, drohte:

„Sitzen Sie still, Verehrtester! Sie haben sich überlisten lassen! Ein Lump Ihres Kalibers bin ich denn doch nicht! Ich bin kein Erpresser! Ich halte die Baronin noch heute für die Mörderin ihres Mannes. Und wenn ich das beweisen kann, tue ich nichts Unrechtes. Es ist ein reinliches Geschäft, das ich mit den Perant-Saintvilles vorhabe.“

Egon Scheibler war ehrlich empört.

Der andere funkelte ihn in ohnmächtiger Wut aus tückischen Augen an.

„Sie Schuft! Sie Schuft!! Ich –“

Die Flurtür flog auf.

„Guten Abend,“ sagte Horwitz, und hinter ihm stand Michael Schnick.

„Guten Abend, Herr Scheibler. Es freut mich, daß Sie unsere Gilde hier würdig vertreten haben. Es freut mich wirklich …“

Scheibler glotzte die beiden an.

„Wie – – Sie sind’s Herr H…“

„… Horwitz, bitte – – Horwitz! So, nun wollen wir erst mal diesen Herrn da sicherstellen. Recken Sie mal die Arme vor …“

Viktor Rieger erhob sich.

Und Horwitz fügte hinzu: „Machen Sie keine Dummheiten, Mann! Ich bin …“ Und er nannte seinen wahren Namen.

Einen Namen, der Weltruf hatte …

Rieger senkte mutlos den Kopf.

„Ich habe ja schließlich nichts verbrochen,“ meinte er leise.

Und er ließ sich die Hände auf den Rücken zusammenbinden, blieb dann unter Scheiblers Aufsicht vorläufig hier oben auf dem Langen Berg.

 

13. Kapitel.

Der von Horwitz für die Baronin bestimmte Schlaftrunk hätte noch Stunden gewirkt, wenn nicht die Anhänglichkeit und die feine Witterung eines der Jagdhunde des Schlosses Loxten, der nach Hundeart einen Liebesausflug ins nächste Dorf unternommen hatte und bei der Rückkehr an der Ziegelei vorüberkam, Frau Vera nur zu bald wieder geweckt hätten.

Der Jagdhund stutzte plötzlich, brachte die Nase näher an den Boden heran, winselte und trabte den alten Baulichkeiten zu, wo er seine Herrin dann durch immer unsanftere Stöße mit der Nase und lautes Blaffen allmählich munter machte.

Die Baronin richtete sich auf.

Durch ein Loch im Dache fiel ein breiter Streifen Mondlichts auf ihr Lager und den seine Freude in überaus stürmischer Weise verratenden Hund.

Eine Frau wie sie, die morgens um sechs spätestens aufstand und dann bis zum Abend ununterbrochen tätig war, – eine Frau mit so gesundem Körper und so widerstandsfähigen Nerven besaß auch genügend Energie, die künstliche Schlafsucht zu bekämpfen und darüber klar zu werden, was mit ihr geschehen.

Horwitz hatte sie betäubt – hatte irgend etwas in den Tee getan! Nur so konnte es sein! Und Horwitz und Schnick hatten sie dann hier allein gelassen, um dem Langen Berg zunächst den beabsichtigten Besuch abzustatten. –

Die Baronin streichelte den Kopf des Hundes, sprach leise zu dem langhaarigen Hektor, beruhigte ihn.

Und überlegte …

Der Mondschein lag voll auf ihrem blassen Gesicht. Dieses Gesicht nahm langsam die herben Linien eines unerschütterlichen Entschlusses an.

Sie erhob sich. Sie schickte den Hund heim. Das kluge Tier gehorchte.

Dann – ein leiser Schreck. Ein tastender Griff nach dem Kleiderrock – – ein Aufatmen …

Der Revolver war noch vorhanden!

Sie zog ihn hervor, prüfte die Waffe. Die Patronen steckten noch in der Trommel.

Es war ein flacher amerikanischer Cold-Revolver, den Vera schon als Mädchen besessen hatte.

Eilig schritt sie nun dem Walde zu …

Wolkenfetzen jagten über den Himmel weg, verhüllten den Mond, gaben ihn wieder frei.

Von Osten her nahte eine schwarze Wolkenwand. Hin und wieder lief ein fahles Leuchten über den Horizont hin. Gewitterstimmung – – Wetterleuchten. –

Vera schritt weiter – weiter dem Bruche zu, der Bruchinsel …

Den Kopf trug sie hoch wie stets. Und ihr Gesicht blieb wie eine Maske eines unheilvollen Entschlusses.

Ihre Gedanken eilten rückwärts – in die Jugendjahre,– rückwärts zu jenen Monaten, als Sancho Castoro sie – geschändet hatte, – als sie noch nicht den Mut, die Willenskraft besaß, sich von ihm loszureißen, wo er sie mit sich schleppte von Land zu Land, scheinbar nur ein vielbegehrter, berühmter Artist, in Wahrheit – Hoteldieb, Juwelendieb …

Nichts – nichts hatte sie davon geahnt.

Und – war dann zusammen mit ihm damals in Kairo verhaftet worden.

Wäre gleich ihm verurteilt worden, wenn nicht Heinz-Günther von Perant-Saintville durch eine Verkettung besonderer Umstände hätte beweisen können, daß sie keinen Teil gehabt an den Verbrechen des rohen, gewalttätigen Hochstaplers.

Im selben Hotel hatten sie gewohnt.

Schicksalsfügung! Eine seltene Schicksalsfügung, da der stille, ernste Baron von Perant kurz darauf Vera seine Liebe gestand – eine Liebe, die in ihm aufgeflammt war mit einer alle Bedenken wegfegenden Macht.

An all das dachte die eiserne Frau, als sie nun durch den feierlichen Hochwald schritt, um Sancho Castoro zu – erschießen, damit der Name Perant-Saintville unbefleckt bliebe …

Erst ihn – dann sich …

War er ausgelöscht, so war das Geheimnis tot. Sie kannte ihn ja: ein Mann wie er vertraute niemandem etwas an, nein, der nutzte andere nur aus …

War er tot, war die Zukunft licht und rein für das Geschlecht der Perant-Saintville!

Und sie selbst – sie selbst?! Wenn man sie dort fände, dann – dann würde es so aussehen, als ob der Mann sie getötet … Das wollte sie schon so einrichten. Horwitz und Schnick würden schweigen. Das wußte sie. Das waren Männer, die nie verrieten, was sie wußten, jedenfalls niemals Dinge wie diese hier. –

Als Vera den schmalen Bruchpfad erreicht hatte, neben dem die unergründlichen braungrünen Mooraugen schillerten, nahm sie den Revolver zur Hand …

Für alle Fälle!! – Spannte ihn …

Ein Windstoß sauste durch die Wipfel – ein zweiter – dritter …

Die gewaltige Musik des deutschen Forstes und das ferne Grollen des Gewitters begleiteten die einsame Frau auf ihrem letzten Wege …

An anderes noch dachte die Baronin.

An die allerjüngste Vergangenheit – an den heutigen Nachmittag.

Gisbert von Perant-Saintvilles frische Männlichkeit war nicht ohne Eindruck auf sie geblieben. Das war ein Perant-Saintville, wie Heinz-Günther es gewesen: vornehm im innersten Wesen! Nur insofern kein Heinz-Günther, als ihres Gatten schwächlicher Körper für ihre heißen Sinne nie genügt hatte …

Gisbert war Mann – Mann in allem! –

Frau Veras Mund umzuckt ein wehes Lächeln … Sie ist Weib, sie ist klug … Sie ahnt, daß in Gisberts Herzen genau so plötzlich das Feuer der Leidenschaft aufgeloht ist, wie damals – damals in Kairo Heinz-Günther sie umwarb – und erhört wurde, bevor noch die Ehe geschlossen … – erhört wurde halb aus Dankbarkeit, weil er sie vor dem Gefängnis bewahrt hatte. –

Sie lächelt weh. Sie weiß: Gisbert wird sie betrauern, wird ihr Ritter bleiben, auch wenn sie tot ist.

Ihr Ritter! Und – das ist ihre letzte Freude, dieser Gedanke, daß sie wenigstens den einen der Sippe bekehrt hat …! – –

Der Bruchpfad wird breiter, geht bergan. Die Bruchinsel ist erreicht.

Zwischen den Haselbüschen schimmert ein dünner, verlorener Lichtstrahl. Er kommt aus dem kleinen Fenster der Jagdhütte …

Vera bleibt stehen … Schaut empor zum Himmel. Sieht wieder die blanken Antennendrähte nach oben laufen – hoch, hoch hinein in die Baumwipfel … Darüber hinaus … Tiefe Finsternis ringsum …

Ein neuer, schwacher Blitz …

Wieder sieht sie die Antennen bei dem fahlen Lichtschein … Nimmt Abschied vom Leben – vom deutschen Walde – von ihrem Grund und Boden – sie, die Herrin des Majorates Loxten …

Geht weiter – schleichend, lautlos … Späht durch das Fenster. Der Vorhang, eine Decke, läßt ein Stückchen der Scheibe frei …

Das sitzt an dem plumpen Holztisch vor den Radioapparaten Sancho Castoro …

Da hockt neben ihm wie ein häßlicher Affe mit faltigem Gesicht ein Zwerg …

Ein tückisches, satanisches Gesicht …

Ein würdiger Genosse Sanchos. –

Frau Vera zögert …

Der Zwerg – – der Zwerg!! An den – an den hat sie nicht gedacht …

Ein Schauer geht ihr über den Leib.

Zwei Morde – – Zwei Menschen erschießen …?! Und – matt sinkt ihr der Kopf auf die Brust – matt – müde, verzweifelt …

Eine Hand berührt ihre Schulter …

Sie fährt herum …

„Horwitz!“ flüstert die Stimme des berühmten Mannes.

Und seine Hand greift zu – nimmt den Revolver an sich, zieht sie dann hinter die Büsche.

Schnick grüßt … noch zwei Gestalten: Gisbert und der Hüne, der Oberinspektor.

„Baronin,“ sagt Horwitz leise, „ich werde die Sache mit Sancho Castoro in Ordnung bringen …“

Er will noch mehr hinzufügen … Taumelt zurück.

Und – zurück taumeln auch die anderen – geblendet von der Feuergarbe, die vom Himmel an der Antenne hinabschießt – – in die Jagdhütte hinein …: ein Blitz, der – die Sache anders in Ordnung brachte – ein sogenannter kalter Schlag, der die Hütte nicht auflohen ließ, der nur Sancho Castoro und den Zwerg hinmähte.

Horwitz ist als erster in die Hütte eingedrungen. Auf dem Boden liegen, die Gesichter geschwärzt vom Rachestrahl des Himmels, die beiden Verbrecher.

Die anderen treten ein … Die große Laterne an der Wand bescheint die Zeugen des jähen Endes der Mörder des Barons, des treuen James …

Horwitz wendet sich an Vera:

„Baronin, der Herr Oberinspektor hat mir vorhin erzählt, was er über die Kinderbilder weiß … – Baronin, wir alle hier halten zu Ihnen, werden schweigen! Dieses Kind ist ein Perant-Saintville …“

Vera richtet sich auf …

„Ja – ein Perant-Saintville,“ sagt sie stolz und ohne Scheu. „Mein und Heinz-Günthers Kind, aber – geboren fünf Monate nach unserer Hochzeit, also empfangen vor der Eheschließung! Und das – das sollte geheim bleiben! Deshalb wird das Kind in der Schweiz in einem Pensionat erzogen. So wollte es Heinz-Günther – der Welt, der Verwandten wegen! Und das – – hatte Sancho Castoro irgendwie ermittelt! Das war’s, wodurch er Geld von mir zu erpressen suchte! Und als ich mich sträubte, als ich ihm drohte, da hat er mich vernichten wollen!“

Horwitz nickt nur … Genau so hat er sich jetzt den Sachverhalt zusammengereimt gehabt – genau so!

Dann sagt er abermals in seiner ruhigen Art:

„Baronin, die Polizei werde ich aufklären. Man wird Sie außer Verfolgung setzen!“ – –

Und so geschah’s …

Zwei Tage drauf fuhren Horwitz und Schnick heim nach Berlin – fuhren nach Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, zum Harstschen Familienhause …

Waren nun wieder Harald Harst und Max Schraut …

Die eiserne Frau aber ist später Gisbert von Perant-Saintvilles – glückliche Frau geworden, und in dem schwedischen Wachtturm spielt der Erbe des Majorats Loxten mit seinen Stiefgeschwistern Ritter und Räuber, wie sein Vater und sein Stiefvater es einst in ihrer Jugend taten. – –

Hiermit schließe ich, Max Schraut, die Geschichte der eisernen Frau …

 

Ende.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „ein“.
  2. In der Vorlage steht: „Her“.
  3. In der Vorlage steht: „folgends“.