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Der Zauberblick

 

 

Walther Kabel

 

Der Zauberblick

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1924.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

Der Sanitätsrat sagte zu Frau Ellen Grütner: „So, nun sind wir fertig. Ziehen Sie sich nur wieder an, gnädige Frau!“

Er legte das Hörrohr auf den Tisch und setzte sich.

Ellen Grütner stand am Diwan und hakte das Mieder zu. Ganz schüchtern fragte sie: „Und – und der Befund, Herr Sanitätsrat?“

„Oh – nichts Schlimmes, wirklich nicht. Hochgradige Blutarmut. Die linke Lunge nicht mehr so ganz taktfest. Sechs bis acht Wochen Höhenluft und dazu Stahlbrunnen, Kohlensäurebäder und gute Pflege, – und die Sache ist behoben!“ Er schrieb dabei etwas in sein Tagebuch.

Frau Ellen ließ die Arme hängen. Ihr bleiches Gesicht rötete sich etwas.

„Also – ein Kuraufenthalt?“ meinte sie mit leiser Bitterkeit.

„Nun ja. Ein schlesisches Trinkbad genügt, etwa“ – er überlegte –, „etwa Flinsberg. Kennen Sie es, gnädige Frau?“

„Nein –!“ Der müde, verzagte Ton veranlaßte den Arzt zu der mitfühlenden Frage: „Übersteigt es Ihre Verhältnisse, ein Bad aufzusuchen, gnädige Frau?“

Ellen Grütner streifte die billige Bluse über und erwiderte befangen: „Ja, Herr Sanitätsrat. Ich teilte Ihnen ja schon mit, daß ich Kriegswitwe bin. Das Vermögen, das meine Eltern mir hinterließen, ist völlig entwertet. Ich vermiete Zimmer.“ – Das letzte ward so leise gesprochen, daß der Arzt fühlte: die junge Frau hat einst glänzende Zeiten gekannt und sich an Armut und Selbstverdienen noch nicht gewöhnt.

Pause.

Dann fragte der alte freundliche Herr wieder:

„Gehören Sie einer Krankenkasse an, gnädige Frau?“

„Nein!“

„Schlimm – schlimm! Und Sie können es wirklich nicht möglich machen, einmal sechs Wochen völlig auszuspannen?“

„Wenn es unbedingt sein muß – ja! Ich besitze noch Familienschmuck, werde einiges davon verkaufen, wenn auch sehr schweren Herzens. Die wenigen Juwelen sollten für mein Alter bleiben!“

Sie war nun fertig angekleidet und nahm auf dem Sessel neben dem Schreibtisch Platz.

Der Arzt schaute sie an.

Jetzt mit anderen Augen – als Mensch.

Sah das blasse, vergrämte feine Gesichtchen, die dunklen Ringe um matte, seltsam erloschene Augen.

Sah all die Reizlosigkeit der verhärmten, früh gealterten Frau, die doch erst vierundzwanzig zählte.

Nickte ihr zu.

„Es darf Ihnen nicht leid tun, ein paar Schmuckstücke zu opfern, liebe Frau Grütner. Flinsberg ist für viele Frauen geradezu ein Jungbrunnen. Sie müssen etwas für sich tun. Wenn Sie nach vollendeter Kur nach Berlin zurückkehren, werden Sie die Welt, das Leben leichter bezwingen.“

Er riß von seinem Notizblock ein leeres Blatt ab.

„Ich kann Ihnen dort in Flinsberg ein sehr angenehmes, billiges Quartier empfehlen. Kein Pensionat. Nein, so ein behagliches Häuschen, nicht allzu weit vom Kurhaus entfernt. Einfachen Leuten gehört’s. Die Frau bereitet Ihnen auf Wunsch das Mittag zu. Alles aufs billigste. Milch, Eier, Butter beziehen Sie dort direkt vom Erzeuger. Ich werde Ihnen die Adresse aufschreiben und zugleich auch das, was Sie über den Kurgebrauch wissen müssen. Dann haben Sie es nicht mehr nötig, dort einen Arzt zu konsultieren.“

„Oh – zu liebenswürdig, Herr Sanitätsrat!“

„Geschieht gern, gnädige Frau. – Auch ich habe meinen einzigen Sohn im Kriege verloren!“ –

Ellen Grütner kehrte von dem Besuch bei dem Nervenarzt gegen ein Uhr heim. Ihre Aufwärterin, die sie täglich vormittags die groben Arbeiten besorgen ließ, fragte teilnehmend, wie die Konsultation ausgefallen sei. – Auch Frau Hubert, jetzt fünfundfünfzig Jahre, hatte einst bessere Tage gesehen. Sie war zuverlässig, ehrlich und fleißig, und sie hatte eine sehr liebe Art, die junge Witwe so etwas zu bemuttern.

Sie war denn auch sofort einverstanden, für die Zeit der Abwesenheit Frau Ellens das Hinterzimmer der Vierzimmerwohnung zu beziehen, das Frau Grütner als Wohn- und Schlafraum diente.

So wurde denn die Frage, wer die Hausfrau vertreten sollte, schnell und leicht gelöst. Ellen wußte, daß es ihren drei „möblierten Herren“ nun an nichts fehlen würde. Es waren ältere Junggesellen, die seit zwei Jahren sich hier bei Ellen äußerst wohl fühlten, aber mit pedantischer Strenge verlangten, daß ihre kleinen Eigentümlichkeiten genau berücksichtigt würden.

Nachmittags verkaufte Ellen bei einem ihr bekannten Juwelier eine Brillantbrosche und zwei Brillantohrringe.

Der Erlös von vierhundertachtzig Mark kam ihr wie ein bescheidenes Vermögen vor. Seit Monaten, seit dem Siege der Rentenmark über die erbärmliche Inflation, hatte sie so viel Geld nicht mehr gesehen.

Und als sie nun wieder durch den Berliner Tiergarten, der im frischen Frühlingsgrün prangte, hinwanderte, fühlte sie mit einem Male eine seltsame Unruhe, ein seltsames Hasten ihrer Gedanken.

„Reisefieber!“ dachte sie, und ein Lächeln umschwebte den farblosen Mund. „Wahrhaftig – Reisefieber!!“

Sie freute sich plötzlich dessen, was nun Wirklichkeit werden sollte.

Blieb dann in der Tauentzienstraße vor den Schaufenstern des Kaufhauses des Westens stehen und überlegte, rechnete.

Ja – fünfzig Mark durfte sie wohl für Neuanschaffungen ausgeben. Ihr fehlte ja so allerlei. Der Sanitätsrat hatte geraten: warme Sachen mitzunehmen! Und da wäre doch so eine moderne Wollweste ganz praktisch.

Auch Lodenrock und ein leichter Gummimantel würden vielleicht noch zu erschwingen sein. –

Ellen Grütner kehrte mit verschiedenen Paketen heim. Auch im Reisebureau des Kaufhauses war sie noch gewesen, hatte gleich für Montag die Fahrkarte und die Platzkarte für den D-Zug besorgt.

Nun waren die Würfel gefallen!

Reisen würde sie – – reisen!! Und Flinsberg sollte ein Jungbrunnen sein!

Oh – schon jetzt kam sie sich mit einem Male wieder so jung vor – so jung wie seit Jahren nicht.

* * *

Der alte freundliche Sanitätsrat hatte als nächsten Patienten nach Frau Ellen Grütner einen jüngeren Herrn untersucht, der ebenfalls zum ersten Male ihn konsultierte.

„Bevern,“ hatte der schlanke Lebemann sich vorgestellt.

Ein Lebemann war’s. Dafür hatte der Arzt einen Blick. Ihm war diese Sorte Mensch wenig sympathisch. Das nachlässig-sichere Auftreten Beverns, dazu das Monokel und die Selbstironie, mit der er von sich sprach, sagten dem Sanitätsrat wenig zu.

Bevern saß im Sessel und meinte: „Dja – worüber ich zu klagen habe?! – Herz – Herz, Herr Sanitätsrat! Scheint verbraucht zu sein – total! Schwindelanfälle, Atemnot, kein Schlaf! – Das verfluchte Jeu! – Pardon – das entfuhr mir so. Ist aber Tatsache!“

„Bitte – machen Sie den Oberkörper frei!“

Und der Arzt horchte, klopfte, horchte nochmals, schnallte Bevern die Binde des Blutdruckmessers um, – und sein Gesicht wurde noch ernster.

„Wann darf ich mir einen Sarg bestellen?“ meinte Bevern lächelnd. Er war als Spieler ein guter Beobachter. Des Arztes Miene verriet ihm, daß er seinen Gesundheitszustand richtig bewertet hatte.

Der alte Herr sagte kühl: „Bitte, ziehen Sie sich wieder an!“

Und Theo Bevern merkte nun doch eine gelinde Angst in allen Nervensträngen. – Sollte es tatsächlich so böse mit ihm aussehen?! Sterben – mit einunddreißig Jahren?! Kein Vergnügen! –

Eine Stunde später rief Bevern von seinem Junggesellenheim seinen Vater an.

Der Kommerzienrat Bevern aber hatte kaum die leicht näselnde Stimme seines Sohnes erkannt, als er grimmig in die Muschel hineinbrüllte:

„Wir sind fertig miteinander – für alle Zeit! Ich verbitte mir weitere Belästigungen. Wenn Du krank bist und ein Bad aufsuchen sollst, so wirst Du ja auch wohl wissen, wo und wie Du Deinen Körper ruiniert hast!“ – Und er warf den Hörer auf die Stützen zurück, daß es nur so knallte.

Bevern junior tat genau dasselbe.

„Ich Idiot!“ murmelte er. „Das hätte ich mir denken können!“

Dann überlegte er.

Flinsberg hatte der Sanitätsrat ihm empfohlen, hatte ihm auch gleich ein billiges Quartier aufgeschrieben.

Theo seufzte.

Billig?! – Für ihn war alles zu teuer – alles! Seit einem Monat hatte er für seine beiden möblierten Zimmer nicht einmal die Miete bezahlen können. Sein Pelz, sein Frack – vieles andere lagerte im Leihhaus. Ihm pumpte kein Mensch mehr etwas. Im Klub durfte er sich nicht mehr sehen lassen! –

Seine Hand zuckte zum Herzen.

Die verdammten Stiche! Und dann dies eklige Klopfen in den Schläfen!

Ganz heiß überlief es ihn mit einem Male.

Klingend rauschte das Blut in den Ohren. –

Er stand langsam auf.

„Krüppel!!“ verhöhnte er sich selbst.

Ging auf und ab.

Geld – Geld bedeutete jetzt für ihn Gesundheit, Lebensfrische.

Geld?! Woher nehmen und nicht stehlen …

Er hob die Linke. Ließ die Maisonne über die Ringe leuchten, über drei Brillantringe, von denen er sich nicht trennen mochte. Seine Mutter hatte sie getragen.

Er preßte die Lippen zusammen.

Es galt die Gesundheit! Und wenn er auch noch Uhr und Kette opferte, die lange schwere Damenkette, dann würde es vielleicht reichen – – vielleicht! Es mußte ja sein. Er fühlte selbst am besten, daß er dicht vor dem Zusammenklappen war!

Erbärmlich war das alles! Unglaublich erbärmlich! Er, Theo Bevern, Erbe der Bevern-Fabriken, – er, der noch vor sieben Monaten im eigenen Auto nach Baden-Baden gesaust war, – er würde dritter Klasse nach Flinsberg gondeln, würde jeden Pfennig sechsmal umdrehen müssen, ehe er ihn ausgab – – erbärmlich!!

Seine Fäuste ballten sich.

Und – wieder fuhr die Hand unwillkürlich zum Herzen.

Da lächelte er trübselig – ironisch.

„Abgewirtschaftet – – total!!“

Setzte sich an den Schreibtisch und teilte Mara Maretta, Chordame vom Metropol, in knappen Worten mit, daß er für längere Zeit verreise und daß er außerordentlich bedauere, ihre Schneider- und sonstigen Rechnungen nicht mehr bezahlen zu können.

* * *

Am 26. Mai nachmittags halb sechs lief das Zügle von Greiffenberg in den Flinsberger Bahnhof ein.

Herr Wilhelm Birt, Besitzer des Hauses Zur Kirchbachschlucht, stand im Sonntagsstaat an der Sperre und hatte sich an die Mütze einen dicken Lindenzweig gesteckt – als Erkennungszeichen für die beiden Sommergäste, die sich am Sonnabend „telegraphisch mit Rückantwort“ angemeldet hatten.

Neben dem hageren, biederen, sonngegerbten Besitzer der „Kirchbachschlucht“ lehnte am Zaune seine stattliche, frische Tochter.

Es regnete sacht.

Nicht allzu viele Fahrgäste verließen den Zug.

Ein Herr mit Tirolerhütchen, Monokel, Gummimantel, in jeder Hand einen Koffer, auf dem Rücken einen Rucksack mit daran festgebundenem Schirm und Bergstock, keuchte blaurot im Gesicht auf Wilhelm Birt zu.

Gleichzeitig näherte sich auch eine überschlanke, blasse Dame, deren Züge welk und reizlos waren.

Theo Bevern machte vor Birt halt.

„Herr Birt?“ Und er setzte die Koffer aufatmend zu Boden.

„Herr Birt?“ fragte Ellen Grütner ebenfalls.

Und da schaute Theo Bevern die Dame prüfend an, dachte: „Aha – Leidensgefährtin.“

Wilhelm Birt nahm die Mütze ab, lächelte freundlich, entfernte den Lindenzweig und meinte:

„Also dann können die Herrschaften ja hinter uns herkommen. Wir haben eine Karre mit. Dies hier ist meine Tochter Johanna.“

Bevern faßte an das Hütchen.

Sagte zu Ellen Grütner:

„Gnädigste gestatten: Theodor Bevern. – Als Hausgenossen, als Mieter des Herrn Birt müssen wir uns wohl dem schlichten Vorschlag unseres Wirtes fügen. Also – folgen wir der Karre, Gnädigste.“

Birt bat Ellen um den Gepäckschein. Dann hob er Beverns Koffer wie leere Pappkartons empor und winkte seiner Johanna. „Hol’ die Sachen von der Dame, Hannchen!“ –

Ellen Grütner und Theo Bevern schritten hinter der Karre her. Vater Birt schob, und Johanna zog vorn an einem Strick.

Als man nach einer halben Stunde das Birtsche Anwesen erreicht hatte, waren die beiden Sommergäste dank Beverns geschmeidigen Umgangsformen bereits recht vertraut miteinander. Besonders der Umstand, daß sie beide denselben Arzt am Sonnabend konsultiert hatten (was sich sehr bald herausstellte) und daß sie beide nicht zu den Raffkes gehörten, wie Bevern sich ausdrückte, schließlich auch der gemeinsame Wunsch, hier in Flinsberg gesund zu werden, hatte die Brücke zu zwanglosem kameradschaftlichen Ton geschlagen. –

„Nett!“ sagte Bevern jetzt und blieb stehen. „Sauber und nett, das Haus! Von den Veranden muß man eine tadellose Aussicht haben. Die linke Veranda ist also die meine.“

„Ich bin bescheidener,“ lächelte Ellen etwas verlegen. „Ich muß mich mit dem Mansardenstübchen begnügen. Aber das Fenster geht ja auch auf das Tal hinaus.“

„Stelle Ihnen meine Veranda gern zur Verfügung, gnädige Frau. Ich werde doch nicht viel daheim sein!“ –

Frau Birt nahte, an der Hand den Spätling, das fünfjährige Lieserl.

Begrüßte die Gäste freundlich, ohne Überschwang, führte dann Ellen nach oben in das Stübchen, während ihr Mann zu Bevern sagte: „Für Sie geht’s da ums Haus herum, Herr Bevern. Kommen Sie nur!“

Von der dem Heufuder-Berge[1] zugekehrten Seite hatte Beverns Zimmer und Veranda noch einen besonderen Eingang.

„Praktisch!“ nickte Bevern. – Sein Heim gefiel ihm. Auf der Veranda war der Tisch gedeckt. Blumen standen da neben der Kaffeekanne, dem großen Milchtopf und dem Teller mit der goldgelben Butter. –

Auch Ellen war mit ihrem Stübchen zufrieden. Die Verbindungstür nach Beverns Zimmer war durch einen Kleiderschrank verstellt. Trotzdem hörte sie jeden Ton des Bananenliedes[2], das ihr Nachbar jetzt beim Kofferauspacken pfiff.

Auch sie hatte bereits Kaffee getrunken, hatte zu ihrem Erstaunen mit größtem Appetit drei Brötchen gegessen.

Nahm nun die Kofferschlüssel aus dem Handtäschchen und öffnete den Rohrplattenkoffer, hängte ihre Sachen in den Schrank, legte die Wäsche in die Kommode und klappte den entleerten Koffer wieder zu.

Der andere war jetzt an der Reihe.

Und – jetzt stutzte Ellen.

Jetzt erst fiel ihr auf, daß dieser Coupeekoffer[3] so ganz neu aussah – zu neu, als daß es der ihre hätte sein können.

Trotzdem – ganz sicher war sie doch nicht, ob sie das Äußere ihres Coupeekoffers noch so genau im Gedächtnis hätte.

Sie probierte für alle Fälle den Schlüssel.

Der paßte wirklich. Sie schlug den Deckel hoch. –

Theo Bevern, der soeben mit seinem Gepäck fertig geworden, horchte plötzlich auf.

Nebenan hatte Frau Grütner leise aufgeschrien, und dann hatte er einen dumpfen Krach gehört – ganz so, als ob jemand umgesunken wäre.

Er lauschte.

Nichts regte sich mehr – nichts.

Er klopfte kräftig gegen die Verbindungstür.

„Gnädige Frau! Gnädige Frau!“

Keine Antwort. –

Da war doch fraglos irgend etwas geschehen.

Er klopfte nochmals. Niemand meldete sich.

Theo Bevern zögerte nicht länger, lief um das Haus herum zum Vordereingang, die Treppe empor und suchte sich hier im oberen Flur zurechtzufinden. Jene Glastür dort mußte die des Mansardenstübchens sein.

Er pochte an. Drückte auf die Klinke. Die Tür ging auf.

Dort ein offener Coupeekoffer auf zwei zusammengerückten Stühlen. Dort auf dem Teppich Frau Grütner – ohnmächtig – den Oberleib halb gegen die altehrwürdige Kommode gestützt. –

Bevern starrt in den offenen Koffer hinein. Kein Wunder, daß die arme Frau Grütner bei dem Anblick umgesunken ist! – Bevern hat die Sachlage im Moment begriffen. Als leidenschaftlicher Spieler ist er alles andere als geistig schwerfällig. Der Koffer ist natürlich auf der Gepäckausgabestelle vertauscht worden, und Frau Ellen hat ihn gutgläubig und ahnungslos aufgeschlossen, hat dann vor dem unheimlichen Inhalt – kapituliert!

Theo, der schöne Theo, wirft zunächst den Kofferdeckel zu. Dann hebt er die Bewußtlose empor und legt sie auf das große, alte Sofa mit den drei gestickten Deckchen, die mildtätig einige defekte Stellen des Bezuges verhüllen.

Frau Ellen kommt sehr bald wieder zu sich. Bevern hat da auf dem Waschtisch eine Flasche Kölnisches Wasser stehen sehen und ihr damit Stirn und Schläfen eingerieben.

Sie sitzt nun aufrecht in der Sofaecke, schaut Bevern verständnislos an, bis er leise sagt:

„Dja, gnädige Frau, Ihr Coupeekoffer ist eben mit einem anderen verwechselt worden, – das ist die ganze Chose!“

Ellens Blick gleitet zu dem unheimlichen Koffer hin.

„Haben Sie’s gesehen, Herr Bevern?“ fragt sie scheu.

„Gewiß. Auch mir fuhr’s in die Knochen. Pardon: in die Nerven! Aber das war nur so im ersten Moment, gnädige Frau! Es ist ja nur ein Wachskopf und zwei Wachshände, dazu ein aus Rohr geflochtenes Gestell!“

Ellen erschaudert. „Es wirkte wie – wie ein Leichenschädel!“

„Bitte, denken Sie nicht mehr daran, gnädige Frau. Das ist am besten. Und – bringen wir die Geschichte sofort in Ordnung. Ich werde den Koffer wieder abschließen, und dann machen wir noch einen kleinen Spaziergang zum Bahnhof, melden die Sache an der Gepäckausgabestelle und ersuchen um Feststellung, wo Ihr Koffer geblieben.“

Sie nickte schwach. „Ja, die Bewegung in frischer Luft wird mir gut tun!“

Bevern verschloß den fremden Koffer wieder, in dem, halb eingehüllt in eine Reisedecke, die verfänglichen Gegenstände lagen. Als er den Schlüssel abzog und ihn Frau Grütner reichte, sagte er mit einem nervösen Auflachen, das er sich erst in letzter Zeit angewöhnt hatte:

„Natürlich werden wir den Bahnbeamten gegenüber die Wahrheit etwas korrigieren, gnädige Frau. Es braucht niemand zu erfahren, daß Sie den Koffer geöffnet haben. Sie lassen die Leute bei dem Glauben, daß schon das Äußere des fremden Koffers Sie auf die Verwechslung aufmerksam gemacht hat.“

Ellen Grütner schaute ihn daraufhin fragend an. „Muß das sein, Herr Bevern? – Kleine harmlose Unwahrheiten ziehen zuweilen ungeahnte Folgen nach sich.“

„Es muß sein,“ erwiderte er achselzuckend. „Kleine Unwahrheiten ersparen einem kleine und große Ungelegenheiten. – Einen Moment, gnädige Frau. Ich hole nur meinen Gummimantel. Wir treffen uns dann wohl vor der Haustür!“

„Gut. – Noch eins, Herr Bevern. Nennen Sie mich bitte nicht gnädige Frau. Ich lebe vom Zimmervermieten. Da genügt Frau Grütner!“

„Verzeihung!“ Er verneigte sich ernst. „Wovon Sie leben, gnädige Frau, ist gleichgültig. Sie sind Dame, gehören zu der Gesellschaftsschicht, der ich mich zurechne.“

Dann verließ er das Stübchen, schritt die Treppe hinab und umging das Haus, um zu dem besonderen Eingang seines Zimmers zu gelangen.

Der Weg war frisch mit Kies bestreut. Theo Bevern empfand das Knirschen der Steinchen bei seiner Nervosität wie körperliche Schmerzen. Er bog daher auf den Rasen ab und gelangte geräuschlos bis zu den zwei Steinstufen, die zu seiner Tür emporführten, stieß die nur angelehnte Tür auf und prallte leicht zurück.

Mitten im Zimmer stand ein blondes Mädchen mit koketter weißer Schürze.

Ein Mädchen, das Bevern nun genau so entsetzt anstierte wie er die alte Bekannte mit grenzenlosem Staunen musterte.

„Helga – – Du?! – Was treibst denn Du hier?!“ Er hatte sich schnell gefaßt, hatte mit gedämpfter Stimme gesprochen. Es war ihm sehr unangenehm, daß Helga hier als lebende Erinnerung an seine wildeste Zeit vor ihm auftauchte.

„Ich suche Frau Birt!“ Sie lächelte gezwungen. „Ich – ich bin nicht mehr, was ich war, Herr Bevern. Ich wußte nicht, daß Birts bereits Gäste hätten. Ich bin Hausdame bei einem alten, halb gelähmten Herrn drüben in der Villa Zauberblick!“

Sie hob den Arm und deutete den Abhang aufwärts.

„Verzeihen Sie also mein Eindringen hier, Herr Bevern. Und – nicht wahr – Sie – Sie vergessen völlig, daß Sie mich je gekannt haben –“

Er nickte nur.

Und gedankenvoll schaute er ihr nach, wie sie nun den steinigen Pfad emporeilte, der zu dem kaum zweihundert Meter entfernten großen Gartengrundstück emporführte, an dessen Westseite zwischen den Bäumen Teile des Giebels einer weißen Villa hervorlugten. –

Theo Bevern nahm den Gummimantel vom Stuhle und griff nach dem handfesten Spazierstock mit der starken Eisenzwinge.

„Ah bah!“ dachte er. „Was geht mich Helga noch an! Die Geschichte liegt ein Jahr zurück. War eine Episode mit scheußlichem Ausklang!“

Er schloß die Tür ab und traf dann mit Ellen Grütner vor dem Hause zusammen, wo auch Frau Birt und der fünfzehnjährige Fritz Birt, der Sohn des Kirchbachschlucht-Besitzers, standen.

Der langaufgeschossene, sonngebräunte Knabe trug noch Axt und Rucksack über der Schulter, war soeben von schwerer Waldarbeit heimgekehrt.

Bevern reichte nun auch ihm die Hand, als Frau Birt erklärte: „Hier der Fritz, Herr Bevern, – unser Junge!“

Frau Birt hatte ein sehr angenehmes Organ und dazu ein Paar freundliche, gute Augen von tiefem Braun. Genau denselben offenen, ehrlichen und frischen Blick besaß der Knabe, der in seinen hohen Stiefeln, seinem vertragenen Arbeitsanzug und den schwieligen Händen so recht ein Vertreter jenes fleißigen, anspruchslosen Menschenschlages war, der im altererbten Häuschen dort an den Abhängen des Isergebirges mühsam sein Leben fristet. –

Frau Grütner und Bevern stiegen nun an dem großen Pensionat Augusta vorüber ins Tal hinab, blieben vor dem weiten Bau der Villa des verstorbenen Kommerzienrates Pintsch stehen, blickten über die Dächer und Baumkronen von Flinsberg hinweg und erkannten dort in der Ferne den dunklen Bergkegel mit der Ruine Greiffenstein, die sie schon vorhin vom Zuge aus bemerkt hatten.

Schritten weiter, fragten einen Einheimischen nach dem nächsten Wege zum Bahnhof, erhielten freundlich Auskunft und gelangten an der katholischen Kirche vorbei in die Kurhausanlagen.

Der Regen hatte aufgehört. Im Westen über der Brandhöhe lagerten dünne Wolkenschichten, zwischen denen der Abglanz der sinkenden Sonne schimmerte.

Ellen Grütner machte an der Steinbrüstung der Kurhausterrasse halt.

„Wundervoll!“ sagte sie leise.

Die Wolken hatten sich soeben geteilt.

Eine breite Strahlenflut des Tagesgestirns lag dort fern auf den Häusern des Städtchens Friedeberg.

Das Panorama der Ebene dort unten mit den in grüne Saatenflächen und dunkle Tannenwälder eingestreuten Ortschaften entzückte selbst Theo Beverns bisher für Naturschönheiten so wenig empfängliches Herz.

„Sie haben recht, gnädige Frau,“ meinte er träumerisch. „Dieses Landschaftsbild ist weich und doch kraftvoll.“ Und sehr ernst: „Vielleicht muß einem Menschen wie mir wirklich erst der Tod im Nacken sitzen, damit man Augen für derartige Schönheiten bekommt. Gehen wir!“ –

Auf dem Bahnhofe richteten sie nicht viel aus. Sämtliche mit dem Nachmittagszuge eingetroffenen Gepäckstücke waren bereits abgeholt worden.

Der Vorsteher tröstete Ellen Grütner. „Wenn Ihr Koffer nur Kleidungsstücke und keine Wertsachen und kein Geld enthielt, wird man ihn sicherlich gegen den jetzt in Ihrem Besitz befindlichen wieder austauschen wollen. Sobald sich hier jemand meldet, schicke ich ihn zur Kirchbachschlucht nach oben.“ –

Ellen und Bevern kehrten gemächlich heim. Der Anstieg vom Bahnhof zum Birtschen Hause hatte ihnen Appetit gemacht.

„Einen Mordshunger habe ich!“ betonte Bevern nochmals und drückte Frau Grütner zum Abschied die Hand.

Auf seiner Veranda fand er den Abendbrottisch gedeckt, fand eine Schüssel mit Rührei, dazu Bratkartoffeln und ein halbes Liter Milch.

Es war kühl, und drüben auf dem Heufuder-Berge zogen Wolkenfetzen über die deutlich sichtbare Baude hin, während tiefer ziehendes Gewölk die Bergabhänge darunter verschwinden ließ. So schien denn die Baude zuweilen in der Luft zu schweben.

Theo Bevern hatte sich in seinen Lodenumhang gehüllt und aß mit dem träumerischen Behagen tiefer Ermüdung. Er merkte schon jetzt die Wirkung der leichteren Bergluft. Er gähnte immer wieder.

Dann schreckten ihn Stimmen und Geräusche auf.

Er wunderte sich. Birts hatten doch erklärt, daß die andere Seite der Veranda und das dazugehörige Zimmer noch nicht vermietet seien. War denn dort inzwischen jemand eingezogen? Die Stimmen kamen doch fraglos aus jenem Zimmer. Die Veranda war nur durch eine Rollwand geteilt, die nicht ganz bis zum Dache emporreichte, und infolgedessen war auch hin und wieder ein Satz zu verstehen.

Da sagte soeben eine tiefe Männerstimme: „Meine gute Therese, ich glaube, wir haben es hier mit dieser Wohnung nicht schlecht angetroffen. Es reut mich nicht, daß wir erst eine Weile gesucht haben, bevor wir hier endgültig zugriffen.“ –

„Also doch – neue Mieter!“ dachte Bevern enttäuscht. Er fürchtete, durch die Nachbarn gestört zu werden. Er sehnte sich nach Ruhe und Einsamkeit. Der zauberhafte Frieden dieses Gebirgstales hatte Theo Bevern bereits mit alledem ausgesöhnt, was er in Berlin noch als erbärmlich empfunden: die Fahrt dritter Klasse, das bescheidene Quartier und die Notwendigkeit, mit dem Pfennig rechnen zu müssen. –

Das Rührei und die Bratkartoffeln verschwanden restlos, ebenso das halbe Liter Milch.

Bevern gähnte, streckte die Beine von sich. Er saß in einem bequemen Korbsessel. Schaute er nach rechts, so sah er die dunklen Tannenmassen des Heufuder-Berges und oben die Heufuder-Baude[4]; nach links das Tal, den kleinen Bahnhof in der Tiefe und die Türmchen des Kurhauses.

Gähnend zündete er eine Zigarette an. Der Sanitätsrat hatte ihm fünf am Tage erlaubt.

Da kamen unterhalb der Veranda hastige Schritte den Kiesweg empor.

Verstummten.

Und Ellen Grütner rief leise:

„Herr Bevern – Herr Bevern!“

Er erhob sich schnell.

Die Rolljalousie, mit der sich die Vorderseite dieser Verandahälfte bei schlechtem Wetter abdichten ließ, war hochgezogen. Bevern beugte sich hinaus.

Unten stand Frau Grütner, blaß, erregt.

„Mein Koffer ist da,“ flüsterte sie atemlos.

„Gratuliere, gnädige Frau!“

„Aber der andere ist weg!“ stieß sie hervor.

Er wurde stutzig.

„Ich komme, gnädige Frau!“

Vor der Tür seines Heims breitete eine uralte Linde ihre Zweige schützend über Dach und Vorplatz aus. –

Ellen Grütner erklärte nun, indem sie angstvoll in Beverns hageres Sportgesicht blickte:

„Denken Sie, Herr Bevern, vor ein paar Minuten sehe ich mir den unheimlichen fremden Koffer, den Fräulein Johanna inzwischen beiseite gestellt hatte, flüchtig an. Und merke sofort, daß – es nicht mehr der fremde Koffer ist. Schließe ihn auf – sehr zögernd –, finde meine Annahme bestätigt: es war mein Koffer! – Ich eile zu Birts in die große Küche hinab, frage, ob denn jemand den anderen Koffer abgeholt und den meinen gebracht hat – Nein, davon wüßten sie nichts, erwiderte Frau Birt. Niemand sei hier gewesen, niemand. – Ich frage nochmals. Birts können mir nur dieselbe Auskunft geben. Auch sie wundern sich. Betonen, daß während unserer Abwesenheit lediglich der Herr Professor Benziehn und Gattin vorn das andere Verandazimmer bezogen hätten. Und die Herrschaften könnten doch die Koffer nicht ausgetauscht haben, da sie nur zwei Rohrplattenkoffer mitgebracht hätten. Außerdem, meinte Herr Birt noch, hätte auch niemand in mein Stübchen hinein können, da er gleich nach unserem Weggang abgeschlossen und den Schlüssel an sich genommen habe. – Begreifen Sie das, Herr Bevern? Wer in aller Welt kann nur so in aller Heimlichkeit die Koffer wieder ausgewechselt haben?!“

Theo Bevern blickte nachdenklich auf die beiden kleinen Fenster in der Hauswand. Sie lagen etwa zwei Meter über dem Erdboden und standen weit offen.

„Das sind Ihre Fenster, gnädige Frau,“ sagte er sinnend.

„Ja!“

„Und Sie hatten sie offen gelassen?“

„Ja. – Glauben Sie, daß jemand eingestiegen sein könnte?“

„Vielleicht. Warten Sie mal!“

Und er schritt über den Rasen bis zum ersten Fenster.

Die Hauswand war weißgetüncht. Es gehörte lediglich ein einigermaßen heller Kopf und ein Paar gute Augen dazu, um sofort an dieser Wand unterhalb des Fensters in der Tünche breite Kratzspuren zu bemerken – offenbar von Stiefelspitzen, die da entlanggeschrammt waren.

Bevern kehrte zu Ellen Grütner zurück.

„Gehen Sie jetzt wieder in Ihr Zimmer, gnädige Frau,“ meinte er kurz. „Ich komme nach. Ich will mal das Fensterbrett besichtigen. Allem Anschein nach ist da wirklich jemand eingestiegen!“

Ellen eilte um das Haus herum. Bevern schloß seine Tür ab und folgte Frau Grütner gemächlich, ging jedoch zunächst noch zu Birts in die bereits erleuchtete Küche. Das Haus hatte elektrische Beleuchtung wie das ganze Bad.

Bevern begrüßte seine Wirtsleute, die in dem Erdgeschoßzimmer neben der Küche beim Abendbrot saßen. Aber auch er konnte hier durch allerlei Fragen die merkwürdige Koffergeschichte nicht aufklären.

So stieg er denn die Treppe nach oben. Der breite Flur hatte verschiedene Türen, aber nur zwei mit Glasscheiben. Die eine Glastür war die des Stübchens Frau Grütners, die andere gehörte zu dem zweiten Verandazimmer, das nun der Gymnasialprofessor a. D. Franz Benziehn nebst Frau, aus Leipzig, bewohnte.

Ellen hatte gewartet, hatte die Tür nur angelehnt gehabt und ließ Bevern sofort ein. Sie war noch immer erregt, zeigte nun auf ihren geöffneten Coupeekoffer und flüsterte: „Ich werde kein Auge zutun können! Der Gedanke, daß hier jemand eingestiegen war, wird mich ständig beunruhigen. Ich habe schon unter das Sofa und unter das Bett geschaut.“

Bevern lächelte ein wenig. „Sie werden sehr gut schlafen, gnädige Frau. Vergessen Sie nicht, daß ich da nebenan jederzeit hilfsbereit bin. Wenn Sie zum Beispiel mit Ihrem Bergstock dort über dem Schrank an die Verbindungstür klopfen, erscheint unten vor Ihren Fenstern sofort ein bewaffneter Ritter. Ich habe nämlich meine kleine Mauser mit, und sieben Schuß sind ausreichend, sieben Banditen abzumurksen. – So, nun das Fensterbrett!“

Und auf dem weißlackierten Holze fand er einige Krümchen Sand und einige winzige, mit Glimmer durchsetzte Steinchen, die fraglos von der Kiesstreuung des Weges draußen herrührten.

„Erledigt!“ nickte er Ellen zu. „Wer hier eingestiegen war, werde ich festzustellen suchen. Ich habe ja nichts anderes zu tun, als mich zu pflegen, Brunnen zu trinken und Bäder zu nehmen. Da bietet dieses Kofferrätsel eine willkommene Zerstreuung. Natürlich hat der Besitzer des – unheimlichen Koffers allen Grund gehabt, unsichtbar zu bleiben. Er hat gefürchtet, Sie könnten seinen Koffer geöffnet und den seltsamen Inhalt besichtigt haben. Deshalb dieses kecke Eindringen hier. Und weil der Betreffende dabei doch immerhin riskierte, bemerkt zu werden und erklären zu müssen, ob er hier etwa stehlen wollte, dürfte sein Gewissen nicht so ganz reinlich sein, was den Kofferinhalt betrifft.“

Ellen Grütner schüttelte verwundert den Kopf. „Das klingt, als ob ein Staatsanwalt oder ein Detektiv spräche, Herr Bevern!“

„Gott soll mich bewahren! Ich und Detektiv!! Gewiß, ich habe mal in meiner Jugend schönen Tagen angeblich in Jena, München und Berlin fünf Semester Jurisprudenz studiert. Doch von diesem Studium profitierte ich nur eins: ich weiß noch heute, daß das gewerbsmäßige Glückspiel strafbar ist! – Für mich als Spieler immerhin wertvoll, gnädige Frau. Da ich jedoch am Jeutisch stets nur verlor, konnte bei mir nie die Rede davon sein, daß ich einen Erwerb daraus machte – im Gegenteil! Das Spiel hat mir den Zorn meines lieben Papas zugezogen, und der Papa entzog mir Wohlwollen und Zuschuß. – Gute Nacht, gnädige Frau!“

* * *

Als Theo Bevern kaum in sein Zimmer zurückgekehrt war, erschien Fräulein Johanna, die älteste Birt, und räumte den Abendbrottisch, ab. Bevern bezahlte sofort die Miete für drei Wochen voraus und vereinbarte mit dem kräftigen, stattlichen Mädchen, daß er alle Mahlzeiten daheim einnehmen würde. Der Preis war mäßig. Jedenfalls kam er so billig dabei weg, daß ihm nun auch Geld für Ausflüge und andere nicht unbedingt notwendige Ausgaben übrig blieb.

Inzwischen hatte es wieder sacht zu regnen begonnen. Bevern hüllte sich in seinen Lodenumhang und setzte sich dicht an das breite, offene Verandafenster. Dunkelheit, Regennebel lagerten über dem Tale. Zuweilen drangen aus der Tiefe abgerissene Takte der Kurmusik zu ihm empor. Die Kapelle spielte offenbar in der Wandelhalle. Vom nahen Kirchbache kam ein sanftes Murmeln und Rauschen herüber, vereinte sich mit dem Geräusch der auf die Blätter der uralten Linde niederfallenden Tropfen und wirkte einschläfernd und seltsam beruhigend.

Eine wohlige Schlaffheit überkam Theo Bevern. Im Hause war alles still. Seine Nachbarn, das Professorehepaar, hatten noch einen Spaziergang unternommen. Ellen Grütner schien bereits zu Bett gegangen zu sein.

Bevern überprüfte nochmals in Gedanken die letzten Geschehnisse. Der fremde Koffer mit dem seltsamen Inhalt wäre für ihn bedeutungslos gewesen, wenn der Besitzer das vertauschte Stück auf ordnungsmäßigem Wege wieder ausgewechselt hätte. Aber diese geradezu gesetzwidrige Art, durch Einsteigen in ein fremdes Zimmer den Koffer wieder an sich zu bringen, hatte nur allzu deutlich bewiesen, daß der Unbekannte auf jeden Fall seine Persönlichkeit in Dunkel hüllen wollte. Erst hierdurch war die Angelegenheit zweideutig und interessant geworden. –

Beverns bisherige Lebensführung hatte nur einen einzigen Zweck gehabt: die Zeit in möglichst angenehmer Weise totzuschlagen! – Seine geistigen Ansprüche waren äußerst gering gewesen: Theater, Varietee[5], Tageszeitungen, Sportblätter und allenfalls noch Kriminalromane.

Und doch hatte es bei ihm nur des heutigen geringen Anstoßes bedurft, um ihn aus dieser Trägheit und Gleichgültigkeit wachzurütteln. Er wunderte sich selbst darüber, daß sein Hirn jetzt so spielend leicht aus den wenigen Tatsachen eine ganze Reihe anderer ableitete, die den Besitzer des Coupeekoffers in noch zweifelhafterem Lichte erscheinen ließen.

Zum Beispiel: der Mann mußte doch schon auf dem Bahnhof gemerkt haben, daß der ihm an der Gepäckausgabestelle ausgehändigte Koffer nicht der seine war und mußte auch sofort herausgefunden haben, wohin sein Koffer geschafft wurde, denn wie hätte er sonst so schnell hier aus dem entlegenen Hause an der Kirchbachschlucht sein Eigentum heimlich zurückholen können?! Er war eben ihm, Bevern, und Frau Grütner gefolgt, hatte beobachtet, wo der Koffer blieb und dann die Abwesenheit Frau Ellens dazu benutzt, die beiden Koffer auszuwechseln. – Der Umstand aber, daß dieser Mensch es nicht gewagt hatte, das Versehen des Bahnbeamten sogleich auf dem Bahnhof richtigzustellen, bewies aufs eindringlichste sein schlechtes Gewissen.

Bevern war jedenfalls überzeugt, daß der Inhalt des Coupeekoffers niemals zu einem harmlosen Zweck mit nach Flinsberg genommen worden war.

Er fragte sich nun, noch immer im Dunkeln regungslos auf seiner Veranda sitzend: „Kein harmloser Zweck, vielleicht ein verbrecherischer, jedoch – – welcher, welcher?“

Was konnte man mit einem haarlosen glatten Wachskopf und mit einem aus Rohr geflochtenen Gestell und mit zwei Wachshänden anfangen? Wozu konnten diese Dinge dienen? Wozu – –?!

Er grübelte und grübelte.

Er wurde müde, noch müder über dieser ungewohnten Arbeit angestrengten Nachdenkens.

Und – schlief ein!

Erwachte erst nach einer Stunde.

Hörte nebenan auf der Veranda sprechen. Professor Benziehn sagte gerade: „Ja, ja, Herr Birt, wir hatten uns verirrt. Das wird uns eine Warnung sein. Entschuldigen Sie schon, daß Sie unsertwegen bis halb zwölf aufbleiben mußten.“

„Oh – das macht ja nichts, Herr Professor. – Gute Nacht. Ich wünsche den Herrschaften angenehme Ruhe.“

Frau Benziehn erwiderte: „Gleichfalls, Herr Birt, gleichfalls! – Ich wollte Sie nur bitten, mit meinem Manne recht laut zu sprechen, denn er ist sehr schwerhörig.“

Dieses Gespräch wurde bei offener Verandatür halb im Zimmer des Ehepaares geführt. Die Frau Professor befand sich auf der Veranda, ihr Gatte dagegen im Zimmer. Und Bevern sah, daß auf der Veranda drüben Licht brannte. Der grelle Schein der Lampe fiel auch hier in seine Verandahälfte über den Rand der Rollwand hinweg gegen die Decke, ließ ihn selbst jedoch im Dunkeln.

Er hörte weiter, daß der Professor nun die Zimmertür verschloß.

Und dann – geschah etwas recht Auffälliges.

Die Frau Professor beugte sich über die Brüstung hinaus, reckte den Kopf vor und versuchte, in Beverns Hälfte hineinzuschauen.

Minutenlang stand sie so in der Haltung eines aufmerksam Lauschenden weit übergebeugt da, bis schleichende, kaum vernehmbare Schritte vom Zimmer her nahten, das elektrische Licht mit leisem Knacken des Schalters erlosch und eine Stimme flüsterte:

„Er schläft längst, Maxel. Birt sagte ja, daß er schon um zehn zu Bett gegangen sei!“

Eine Frauenstimme erwiderte noch gedämpfter: „Sicher ist sicher! – Der Anfang hier mahnt zu doppelter Vorsicht. – Wir ziehen am besten die Schuhe aus. Nach zehn Minuten kannst Du das Zeichen geben!“ –

Bevern saß wie eine Marmorstatue.

Heiße Wellen gingen ihm über den Leib hin. Wahrhaftig – da war er hier mitten in ein Abenteuer hineingeraten, das schon jetzt sein ganzes Denken erfüllte!

Und mit angespannten Sinnen verfolgte er nun die weitere Entwicklung der Dinge.

Ganz schwache Geräusche nebenan belehrten ihn, daß das Ehepaar gar nicht daran dachte, schlafen zu gehen.

Die zehn Minuten verstrichen schnell, denn für Beverns erregtes Hirn gab’s übergenug zu erwägen, zu kombinieren.

Dann – blitzte plötzlich drüben vor der Veranda ein Lichtschein auf.

Erlosch – blitzte wieder auf.

Ein Arm streckte dort eine kleine Taschenlampe zur Veranda hinaus, schaltete die Lampe ein, schaltete sie aus.

Bevern merkte es sich: es waren zwei kurze und zwei lange Lichtsignale, die der Herr Professor in die regnerische, finstere Nacht hinaussandte.

Wohin aber? Wem konnten sie gelten?

Das nächste Haus war das von Bäumen halb umgebene Pensionat Augusta. Es lag etwa hundertfünfzig Meter nach Süden zu etwas höher als das Haus Zur Kirchbachschlucht. Vielleicht wohnte in der Augusta derjenige, der auf das Signal wartete.

Und – was sollte dieses Signal?! – Bevern kam nicht mehr dazu, diese Frage noch näher zu prüfen, denn – die Antwort erhielt er von draußen.

Er hörte Schritte – sehr vorsichtige Schritte, die von unten sich näherten, von dorther, wo der Pfad zur Kirchbachschlucht sich von dem breiteren steinigen Wege abzweigte.

Sehen konnte er nichts. Wenigstens zunächst nichts. Dann unterschied er jedoch vor der Veranda des Ehepaars auf dem Rasen die Umrisse einer Gestalt, eines Mannes, der jetzt mit langem Schritt über den kiesbestreuten Steig hinüberstelzte und die Arme emporreckte.

Geräusche auf der Veranda.

Ein großes Paket reichte man dem Menschen da unten zu.

„Wiedersehen!“ hauchte der Professor, und der Mann eilte davon. –

Fünf Minuten später war das seltsame Ehepaar zu Bett gegangen. Das Zimmer wurde dunkel. Trotzdem verhielt sich Bevern nach wie vor mäuschenstill. Er wollte seine Beobachtungen, wollte den Erfolg dieser Stunde nicht aufs Spiel setzen. Die beiden angeblichen Benziehns sollten auf keinen Fall gewarnt werden. War er doch jetzt bereits fest überzeugt, daß folgendes nicht stimmte:

Erstens – hießen die beiden nicht Benziehn und waren auch kein braves pensioniertes Professorenehepaar.

Zweitens – war der „Professor“ nicht schwerhörig.

Drittens – hatten die beiden sich heute abend nicht verirrt, sondern waren mit dem Manne zusammen gewesen, der nun auf das Lichtsignal hin das Paket abgeholt hatte.

Viertens – konnte der „Professor“ kein alter Herr sein, denn nur er war’s nach Beverns Ansicht gewesen, der – die Koffer ausgetauscht, also sich auch in Frau Grütners Zimmer hineingeschwungen hatte, wozu immerhin Kraft und Gewandtheit erforderlich gewesen.

Fünftens – die angeblichen Benziehns hatten anscheinend nur zwei Rohrplattenkoffer mit ins Haus Zur Kirchbachschlucht gebracht – anscheinend! In dem einen Rohrplattenkoffer war eben Frau Ellens Coupeekoffer verborgen gewesen, und derselbe Rohrplattenkoffer hatte dann als Versteck für den „unheimlichen“ Coupeekoffer gedient – und diente noch dazu! –

Bevern begann zu frieren.

Jetzt, wo die leise Erregung, die mit diesen nächtlichen Geschehnissen immerhin verknüpft gewesen, langsam sich legte, merkte er erst, wie kühl diese Mainacht war.

Und doch: er blieb sitzen! Er wollte geduldig warten, bis die Benziehns fest eingeschlafen waren und bis ein stärkerer Regenguß mit seinen lauteren Geräuschen das Knarren des Rohrsessels, das beim Aufstehen kaum zu vermeiden war, übertönte.

Er hörte unten im Dorfe eine Turmuhr schlagen.

Zählte die Schläge mit: zwölf, – also Mitternacht!

Der 27. Mai hatte begonnen, der Dienstag. –

Theo Bevern gähnte und rieb sich die kalten Hände. Gähnte nochmals, dachte nach, war plötzlich recht unzufrieden mit sich.

Er sah jetzt ein, daß er einen Fehler begangen hatte. Wenn er, bevor der Herr Professor das Lichtsignal gab, sich aus der Veranda entfernt und sich draußen auf die Lauer gelegt hätte, wäre es ihm fraglos geglückt, dem Manne zu folgen, der das Paket in Empfang genommen hatte. Dann hätte er jetzt bereits gewußt, ob dieser Mann tatsächlich drüben im Pensionat Augusta wohnte. –

Bevern lächelte.

„Ein feiner Detektiv bin ich! Ich hätte mir doch sofort sagen müssen, daß auf das Signal hin hier jemand auftauchen würde. Was für einen Zweck sollte das Signal sonst gehabt haben?! Und – das hätte ich mir gleich zusammenreimen können. – Nun, der Fehler wird sich ausgleichen lassen!“

Gegen halb eins schlich er lautlos in sein Zimmer, entkleidete sich ebenso lautlos und schlief dann fest und traumlos bis neun Uhr.

* * *

Bevern und Ellen Grütner wanderten zwei Tage später morgens acht Uhr gemeinsam zur Brunnenpromenade.

Sie stiegen den am Pensionat Augusta entlangführenden Weg hinan und bogen dann links in den Julius-Pintsch-Weg ein.

An dieser Kreuzung der beiden Wege lag die Villa Zauberblick, die dem früheren Schiffskapitän Peter Mallison gehörte, einem siebzigjährigen, halb gelähmten Junggesellen, der den größten Teil des Tages auf dem großen Balkon im Lehnstuhl zubrachte, – auf dem nördlichen Balkon, von wo aus er das Tal bis weit hinaus, bis Friedeberg und bis zur Ruine Greiffenstein überblicken konnte.

Der alte Herr hatte Bevern nur deshalb interessiert, weil ja in der Villa Zauberblick Helga Markert als Hausdame wirkte, – nur deshalb hatte er bisher stets zu dem Balkon emporgeschaut, wenn er am Zauberblick vorüberkam, und den zusammengesunken dasitzenden, sonngebräunten, knebelbärtigen alten Seemann ehrlich bedauert.

Auch jetzt schauten Ellen und er verstohlen nach oben. Der Kapitän hatte auf einem Lesegestell, das an dem Krankenstuhl festgeschraubt war, ein aufgeschlagenes Buch liegen und blätterte gerade schwerfällig eine Seite um. Er trug eine blaue Seemannsmütze mit breiter goldener Borte, und unter den buschigen Brauen lagen ein Paar noch jugendlich lebhafte Augen, denen offenbar nichts ringsum entging. –

Auf dem Pintsch-Weg, von dem aus man so bequem auf die breite Waldpromenade und diese abwärts zum Kurhause gelangt, kam Bevern und Ellen eine schlanke blonde Frau entgegen – Helga Markert!

Zum ersten Male begegnete Bevern ihr nun wieder hier im Freien, überlegte, ob er grüßen solle, ging dann doch vorüber, ohne sie zu beachten.

Ellen sagte dann leise, gerade an dem Denkmal, das man hier dem Kommerzienrat Pintsch errichtet hat:

„Das war des Kapitäns Haushälterin, Herr Bevern. Ein für solchen Posten noch recht junges Geschöpf. Sie soll aber äußerst tüchtig sein, wußte mir Frau Birt mitzuteilen.“

Bevern blieb stumm und sprach nachher von anderen Dingen.

Bisher hatte er Ellen von seinen nächtlichen Beobachtungen nichts mitgeteilt, hatte lediglich erklärt, daß er tatsächlich beabsichtige, die Koffergeschichte weiter zu verfolgen.

In diesen zwei Tagen – heute war Donnerstag – war er jedoch keinen Schritt in der Angelegenheit vorwärtsgekommen. Er hatte seine Verandanachbarn, die Benziehns, unauffällig beobachtet, hatte auch mit dem Professor bereits ein paar Worte gewechselt und war dadurch doch wieder unsicher geworden, ob dieser ehrbare Graubart mit der goldenen Brille wirklich eine Verkleidung trüge und seinen unsicheren Gang und das ganze Benehmen eines an der Schwelle des Greisenalters stehenden alten Herrn nur vortäusche.

Auch die Frau Professor verriet durch nichts, daß sie irgendwie eine zweifelhafte Persönlichkeit sei. Das Ehepaar gab sich sehr bescheiden, hielt sich ganz für sich, machte Spaziergänge, trank Brunnen, nahm Bäder und hatte schon jetzt bei Frau Birt einen Stein im Brett.

Und doch: die beiden Leute konnten ja nicht harmlos sein!

Dies sagte sich Theo Bevern nun abermals, als der Professor neben ihm am Gitter des Oberbrunnenausschanks stand und dem Brunnenfräulein das Glas zum Füllen reichte.

Bevern schaute scharf hin. Lächelte mit einem Male kaum merklich. Die Hand Franz Benziehns, die er heute hier genau betrachtet hatte, war niemals die eines Fünfundsechzigjährigen! Das war die muskulöse, breite Hand mit faltenloser Haut, die einem Manne gehörte, der vielleicht dreißig, fünfunddreißig zählte! –

Bevern nahm sein Glas und schritt nun draußen auf der Terrasse neben Ellen Grütner her, sog mit dem Röhrchen das angenehm säuerlich schmeckende kohlensäurereiche Wasser ein und plauderte mit seiner Begleiterin, lauschte der Musik, musterte die anderen Badegäste und grüßte dann die Benziehns sehr höflich, die auf einer der Bänke im Sonnenschein Platz genommen hatten. –

Frau Ellen war hier in diesen zwei Tagen bereits merklich aufgelebt. Der kameradschaftliche Ton zwischen ihr und Bevern hatte sich noch vertieft. Sie waren beide froh, daß sie nicht allein wie so viele andere hier auf und ab schlenderten, sondern in harmlosem Zwiegespräch sich gegenseitig immer mehr ihren wahren Wesenskern enthüllen durften.

Beverns oft so zynische Art wurde jetzt von Ellen ohne Scheu stets gerügt.

„Lassen Sie doch diese kläglichen Versuche, sich als blasierten Lebemann aufzuspielen,“ meinte sie dann stets mit denselben Worten. „Sie sind ja gar nicht so, wie Sie scheinen wollen!“

Zuerst hatte ihn diese aufrichtige Zurechtweisung geärgert. Aber es war sehr schwer, Ellen irgend etwas zu verargen, da bei ihr immer bei solchen Anlässen ein Ton warmer Anteilnahme mitklang. –

Bevern blieb jetzt an der Steinbrüstung der Terrasse stehen.

„Hier standen wir damals, gnädige Frau, als wir Ihrem Koffer nachjagten und zum Bahnhof gingen.“ Er dämpfte seine Stimme. „Und hier will ich Ihnen nun beim zweiten Glase Oberbrunnen etwas anvertrauen. Ich weiß, wer der Besitzer des unheimlichen Coupeekoffers ist. Raten Sie – Sie kennen den Mann.“

Ellen schaute ihn überrascht und zweifelnd an. Dachte eine Weile nach und erklärte: „Wenn ich den Mann kenne, so ist’s der – Professor!“

„Bravo! Er ist’s!“ –

Frau Grütner erfuhr nun auch alles übrige, – von dem Signal, von dem Menschen, der das Paket von der Veranda zugereicht bekam und von der sehr verdächtigen Äußerung der Professorin: „Der Anfang hier mahnt zu doppelter Vorsicht!“

Ellen war von alledem im ersten Augenblick so benommen, daß sie Bevern ungewiß anstarrte und einen Moment lang sogar argwöhnte, er könnte sie hier zum besten halten und ihr lediglich Ersonnenes so geheimnisvoll mitteilen.

Dann fühlte sie jedoch, wie stark ihn diese Dinge im Geiste beschäftigt hatten, wie klar er ihr seine an die fragwürdigen Geschehnisse geknüpften Mutmaßungen vortrug und wie sehr das von ihm Erlauschte und Beobachtete zu dem Beginn der ganzen bisher so undurchsichtigen Angelegenheit paßte.

„Das Paket ist vielleicht der Inhalt des Koffers gewesen,“ sagte sie nun eifrig und ebenfalls mit gedämpfter Stimme, obwohl niemand in der Nähe war.

„Dasselbe vermute ich,“ nickte Bevern sinnend. „Und ich beabsichtige, mir hierüber noch heute vormittag Klarheit zu verschaffen, wobei Sie mir helfen sollen, gnädige Frau!“ –

Eine halbe Stunde später waren Frau Grütner und Bevern wieder oben im Kirchbachschlucht-Häusli angelangt.

Vater und Mutter Birt arbeiteten droben am Waldessaum auf dem Felde. Zu dem idyllischen Häuschen, dessen ältesten Teil der Urgroßvater Birt erbaut hatte, gehörten auch einige Morgen Land, die sich die Berglehne hinanzogen und deren einzelne Abschnitte durch Gräben und Steindämme vor den Frühjahrswassern geschützt waren. Die Tochter Johanna schälte in der Küche Kartoffeln, und Lieserl, das Nesthäkchen, spielte vor dem Hause im frisch gemähten Heu.

„Wir frühstücken also erst nachher,“ sagte Bevern vor der Haustür zu Ellen Grütner. „Ihre Aufgabe besteht lediglich darin, sich hier draußen mit Lieserl zu beschäftigen und achtzugeben, ob Benziehns vorzeitig zurückkehren.“

Dann ging er die Treppe empor und bog nach links ab, auf die Glastür des Zimmers des fragwürdigen Ehepaars zu.

Es war hier Brauch im Hause, daß die Mieter die Schlüssel, sofern sie ausgingen, unten an der Treppe auf einem Wandbrett niederlegten, damit Birts jederzeit die Zimmer säubern könnten.

Bevern hatte den Benziehnschen Schlüssel mit keckem Griff an sich gebracht. Ebenso unverfroren öffnete er nun das Zimmer und trat ein, drückte die Tür hinter sich ins Schloß und sah sofort dort links in der Ecke die beiden Rohrplattenkoffer stehen.

Der obere war unverschlossen und leer. Den unteren, dessen Schlösser erst nachträglich eingesetzt zu sein schienen, weil die ursprünglichen den Benziehns wohl nicht genügt hatten, hätte selbst ein Einbrecher von Beruf nur mit Gewalt aufsprengen können, da diese neuen Schlösser erstklassige Arbeit waren.

Bevern schüttelte den Koffer, der nicht allzu schwer war, recht kräftig und stellte lediglich aus den polternden Geräuschen im Innern fest, daß dort drinnen ein zweiter leerer Koffer stecken müßte.

Er war mit diesem halben Erfolg nicht ganz zufrieden, sah sich nun noch weiter im Zimmer um und gab sich die größte Mühe, noch irgend etwas Auffälliges zu entdecken.

Das Zimmer war bereits aufgeräumt. Die Tür der Veranda stand offen, und ein Stuhl war gegen die Tür gelehnt worden, damit die Zugluft die Glastür nicht zuschlagen könnte. Auf diesem Stuhle lag des Professors brauner Gummimantel.

Bevern nahm den Mantel und faßte in die Taschen hinein. Er tat es mehr auf gut Glück. In der einen Tasche fühlte er mehrere Zettel, die zusammengefaltet waren.

Er besichtigte sie. Es waren vier Postquittungen über eingeschriebene Pakete. Zwei der Pakete waren am 27., zwei am 28. abgeschickt worden. Empfänger war dieselbe Person: G. Raschke, Berlin N. 21.

Bevern schob die Zettel in die Tasche zurück. Sie erschienen ihm bedeutungslos. Gewiß, er wunderte sich, daß Benziehns schon am Tage nach ihrer Ankunft Pakete abgesandt hatten, und daß dieser G. Raschke in zwei Tagen mit vier Sendungen beglückt worden war.

Enttäuscht und etwas ärgerlich, weil er mit der Sache nicht weiterkam, ließ Theo Bevern nochmals die Augen durch das Zimmer gleiten. Oben auf dem Schranke sah er da ein halbes Dutzend neuer Pappkartons stehen, wie sie oft zur Versendung von Butter benutzt werden.

Der Kleiderschrank selbst war verschlossen, ebenso die Kommodenschubladen. Nur die des Waschtisches war ein wenig herausgezogen.

Bevern zog sie noch mehr auf. Kämme, Bürsten und allerlei Toilettesachen lagen da unordentlich durcheinander.

Plötzlich beugte Bevern sich tiefer.

Da war auch ein vernickeltes Rasierbecken, da war ein Rasierpinsel und ein Kästchen mit einem Rasierapparat!

Und – der Pinsel war noch feucht, das Becken noch naß –!

Bevern lächelte.

Rasierte sich etwa die hagere Professorin? Oder der vollbärtige Herr Gemahl?!

„Verbrecherdummheit!“ dachte Bevern. „Nun weiß ich wenigstens genau, daß Benziehns grauer Vollbart nur angeklebt ist.“

Er schob die Schieblade wieder zu.

Und hielt plötzlich wieder inne. –

Als er den Zimmerschlüssel flink auf das Brett zurückgelegt hatte, winkte er Frau Grütner verstohlen zu und schritt um das Haus herum.

Auf seiner Veranda fand er wieder den Frühstückstisch sauber wie immer gedeckt. Das Kaffeekännchen stand unter dem dick gefütterten Wärmer, und die goldbraunen Brötchen lockten genau so appetitlich wie die beiden weich gekochten Eier.

Bevern hatte Hunger. Der Stahlbrunnen auf nüchternen Magen getrunken, dazu die reine Bergluft regten zum Essen an, und Bevern futterte denn auch mit einem frohen Eifer, mit wahrem Genuß.

Seine Gedanken aber weilten drüben im Zimmer der Benziehns.

Da war in der Waschtischschieblade noch ein flaches unscheinbares Kästchen gewesen, mit allerlei fettigen Farbflecken auf der Oberseite. Er hatte es geöffnet und hatte gefunden, was er vermutet: Schminken in Stangenform, acht Stangen, acht verschiedene Farben!

Er köpfte jetzt das zweite Ei und lächelte wieder.

„Ich werde schon hinter Eure Schliche kommen. Ich werde jetzt mit allem Nachdruck die Sache betreiben. Ihr seid nicht harmlos, Ihr beide, die Ihr hier ein Alter vortäuscht, das Ihr nicht habt!“ –

Gegen elf Uhr hatte Bevern sein Erholungsschläfchen beendet, machte sich zum Ausgehen fertig und pochte dann an die Verbindungstür nach Ellen Grütners Stübchen hin.

„Ich komme!“ rief Ellen munter.

Vor Beverns Tür trafen sie sich, stiegen nun gemächlich den rauhen Pfad hinan, der an der Grenze der Birtschen Äcker entlang in den Wald hineinführte, in den köstlichen Tannenforst, der die Abhänge des Heufuder-Berges und den ganzen Hohen-Iser-Kamm dicht bedeckte.

Bevern erstattete Frau Ellen Bericht. Und dann erörterten sie ruhig und sachlich nochmals all die Einzelheiten, die gegen die Benziehns sprachen.

„Es bleibt mir nichts anderes übrig,“ meinte Bevern, „als nun ein paar Nächte zu opfern und mich vor den Veranden auf die Lauer zu legen. Ich muß zunächst mal feststellen, wer der Mann ist, dem die Benziehns damals am ersten Abend das Paket hinausreichten. Dieser Mann ist ihr Verbündeter. Ich bin überzeugt, daß sie mit ihm nachts sich in Verbindung setzen. Am Tage jedenfalls geschieht dies nicht. Vorgestern und gestern bin ich dem – Ehepaare getreulich gefolgt.“

Ellen blieb stehen. Auch Beverns Herz jagte infolge der Anstrengung des Aufstiegs. Gerade hier im Walde war der schmale, mit Geröll bedeckte Weg recht steil.

„Ich möchte Sie warnen,“ sagte Frau Grütner nach einer Weile. „Sie setzen sich fraglos Gefahren aus, Herr Bevern, falls Sie nachts mal mit den Leuten zusammengeraten.“

Ihre braunen Augen, die jetzt Glanz und Leben hatten, ruhten ernst auf seinem Gesicht. Und Theo Bevern fand da zum ersten Male, daß diese Augen dem verblühten Antlitz eigentlich einen besonderen Reiz verliehen, immer noch!

Er nickte ihr zu. „Liebe gnädige Frau, Unkraut verdirbt nicht! Seien Sie ohne Sorge, ich wehre mich schon meiner Haut!“ Und dabei erschienen um seinen Mund ein paar Linien, die sehr wenig zu dem blasierten, müden Ausdruck seiner Züge paßten.

Sie gingen weiter, Schritt für Schritt. Im Dickicht schimmerten graue Felsblöcke, gurrten Wildtauben, raschelten flinke Eidechsen. Zur Rechten, unsichtbar, aber bis hierher Kühlung spendend, rauschte in der Schlucht der Kirchbach.

Ellen Grütner blieb wieder stehen.

„Sie müssen sich schonen, Herr Bevern. Mein Herz ist gesund. Aber –“

Sie verstummte. Er hatte ihr einen listigen, übermütigen Blick zugeworfen.

„Gesund ist mein Herz auch, gnädige Frau!“

„Ach – mit Ihnen kann man ja gar nicht vernünftig reden!“ Sie war rot geworden, und der Zauber der Jugend blühte plötzlich auf ihren Wangen.

Hastig stieg sie wieder voran.

Machte erst halt, als sie den breiten bequemen Promenadenweg erreicht hatte, der hier am Berghang hergestellt war.

Pfeifend nahte von der Kirchbachschlucht her ein kräftiger, schlanker Junge, die Holzfälleraxt auf dem Rücken, hinter sich her einen Berg Tannenzweige ziehend, die er auf ein paar starken Tannenästen als Schlitten aufgeschichtet hatte: Fritz Birt!

Und oben auf dem grünen, duftenden Haufen lag ein nasses Bündel, ein triefender alter Sack, in den irgend etwas eingehüllt war – etwas, das seine Umrisse doch unter der feuchten Leinwand ziemlich scharf abzeichnete.

Fritz hatte Frau Grütner erkannt, grüßte vergnügt und meinte:

„So allein im Wald, die Dame? No, hier bei uns hat’s ja keine Gefohr!“

Keuchend, pustend nahte nun auch Bevern.

„Aha – – der Fritz! ’n Tag, Fritz! Braver Kerl bist, schleppst Dich da wieder mit ner gehörigen Ladung.“

Und – brach mitten im Satz ab.

Starrte auf den nassen, schmutzigen Sack.

Bis Ellen hüstelte und ihn bedeutungsvoll ansah.

Da nickte er. Sie verstanden sich.

„Was bringst Du denn da außerdem noch heim?“ wandte er sich an den Jungen. „Das sieht ja wie ’n Menschenkopf aus!“

Fritz lachte harmlos. „Hab’s im Kirchbach gefunden, Herr Bevern, unter Steinen. Ich sah, daß der eine Zipfel vom Sack im Wasser auf und ab tauchte. Da – oben jenseits der Brücke war’s, Herr Bevern. Dacht’ mir, man müßt’ doch mal nachschauen, was ’s mit dem Sack haben mag! Hab’ ihn herausgeholt und fand ’n Wachskopf drin und zwei Wachshände. Das war alles.“

„Seltsamer Fund!“ meinte Bevern scheinbar gleichgültig. „Zeig’ uns mal die Sachen, Fritz!“

Der Junge öffnete den Sack.

„Die Nase von dem Kopf ist leider zerquetscht. Da – ganz graulich schaut das Ding aus!“

„Gut, pack’ ihn nur wieder ein, Fritz. – So, und nun hör’ mal zu. Ich kaufe Dir den Kopf und die Hände samt dem Sack ab. Hier hast Du zwanzig Rentenmark. Aber – versprechen mußt Du mir, daß keine Seele etwas von Deinem Fund erfährt – keine Seele, auch Deine Eltern nicht. Du bist ja ein kleiner pfiffiger Kerl, Fritz. Ich will Dir nur sagen, daß ich diese Wachsdinger da kenne und daß sie Leuten gehört haben, die hier in Flinsberg wahrscheinlich Schlimmes planen. Du wirst also schweigen, Fritz!“

Des Jungen ehrliche, offene Augen schauten Bevern fest an.

„Ich schweig’ schon, Herr Bevern. Schönen Dank auch für das viele Geld. Nun könnt’ ich mir ’n Hut und ’n Paar Hosen dafür kaufen. Aber – woher hab ich’s, wenn die Eltern fragen?“

„Von mir, Fritz, von mir! Weil Du so brav fleißig bist! Und nun verstecke den Sack unter den Zweigen, und wenn wir unten am Waldsaum sind, wo das viele Felsgeröll liegt, verbergen wir ihn gut. – Vorwärts, Junge! Der Sack muß erst in Sicherheit gebracht werden!“

* * *

Ellen Grütner und Bevern setzten sich auf einen Felsblock und beobachteten, wie der Fritz mit seinem merkwürdigen Schlitten dem Häusli zustrebte.

„Was sagen Sie nun?!“ fragte Ellen dann und rückte etwas von Bevern ab. Sie wollte um jeden Preis auch den allergeringsten Eindruck von Koketterie vermeiden, obwohl ihr dieser Typ Mensch, wie Theo Bevern ihn darstellte, vollkommen neu und daher recht interessant und dieser einzelne Vertreter der Gattung Lebemann sogar recht sympathisch war.

Frau Ellen hatte ja überhaupt als Tochter eines Gutsbesitzers nur wenige Männer kennen gelernt, und ihre Kriegsehe mit dem Oberleutnant und späteren Hauptmann Grütner war auf ebenso romantische wie vorschnelle Art zustande gekommen. Jedenfalls hatte ihr Gatte, der bereits anderthalb Jahre nach der Hochzeit gefallen war, so etwa genau das Gegenstück zu Bevern dargestellt, war pedantisch, vorurteilsvoll und geradezu weltunerfahren gewesen. –

Bevern zuckte zu Frau Ellens Frage leicht die Achseln.

„Dja – was soll man dazu sagen!“ meinte er. „Was der Fritz da gefunden hat, ist eine teilweise Pleite meiner schönen Kombinationen. Mein ganzer Verdacht gegen die Benziehns baute sich auf einem Wachsschädel auf. Jetzt haben die Herrschaften den Wachskopf und die Wachspfoten durch den Unbekannten den eisigen Sturzwassern des Kirchbaches übergeben lassen, natürlich, um diese Gegenstände für immer zu beseitigen –“

Er nahm sein Zigarettenetui hervor.

„Bitte – rauchen Sie, gnädige Frau?“

„Danke!“

„Hm – mir sind fünf Zigaretten pro Tag erlaubt worden. Bisher habe ich diese Diät auch befolgt.“ Er rieb ein Zündholz an, sog den Rauch ein, stieß ihn von sich. Und fügte hinzu: „Die Benziehns haben sich also der Wachsdinge entäußert, vielleicht deshalb, weil sie fürchten, daß Sie, Frau Ellen, den Koffer doch geöffnet und den sonderbaren Inhalt sich angesehen haben könnten, vielleicht also – aus Vorsicht!“

Zum ersten Male hatte er soeben seine Hausgenossin mit dem Vornamen angeredet. Ihm war dieses „Frau Ellen“ ganz unwillkürlich über die Lippen gekommen. Nun schaute er sie blinzelnd von der Seite an, fragte:

„Böse?“

„Weshalb denn?!“

„Gnädige Frau, – das klingt so unheimlich fremd, nicht wahr?! Wir sind nun doch Bundesgenossen. In Gegenwart Fremder bleibt’s natürlich bei der – Gnädigen, damit böse Mäuler nicht gleich Romane konstruieren. Unter uns aber – – Frau Ellen!! – Hand her! Auf gute Kameradschaft!“

Sie war wieder errötet. Und hastig entzog sie ihm nun ihre Hand, sagte verwirrt:

„Wenn die Benziehns aus Vorsicht den Kofferinhalt beseitigt haben würden, dann hätten sie doch auch den Coupeekoffer mit beseitigen müssen, denn der ist doch genau so belastend für sie. Nein, ich nehme weit eher an, daß Benziehns die Wachsgegenstände nicht brauchten – nicht mehr brauchten, und daß sie sich deshalb ihrer entäußert haben, weil diese Dinge doch immerhin auffällig waren.“

„Ganz recht,“ nickte Bevern. „Ganz recht! Es mag auch so sein, Frau Ellen.“

Er hatte sein Fernglas für den Spaziergang mitgenommen, wie er dies stets tat, und halb spielend zog er es nun aus dem Futteral heraus und richtete es, gemächlich die Stellschraube drehend, unten auf das Birtsche Haus.

„Immerhin,“ sagte er, „bleiben noch genug Verdachtsgründe gegen die Benziehns bestehen. Ich werde daher auch meine Absicht –“

Er schwieg. Er hatte das Glas mehr nach rechts gewendet, hatte so die Villa Zauberblick jetzt deutlich und nahe im Sehfelde des scharfen Fernglases. Erkannte auf dem nach Norden gerichteten kleinen Balkon Helga Markert, die auf eine quer über den Balkon gespannten Leine Wäschestücke aufhängte, offenbar Taschentücher.

„Was gibt’s?“ fragte Ellen hastig, da Bevern jetzt mit einem „Na so was!!“ das Glas sinken ließ.

„Was gibt’s?“ wiederholte sie nochmals, als er nicht sofort antwortete.

„Oh – sehr Interessantes, Frau Ellen,“ erklärte er nun. „Die Benziehns haben in der Villa Zauberblick eine Freundin, die dem Herrn Professor soeben mit einem Taschentuch Zeichen gab. Der würdige Jugendbildner a. D. stand auf der Veranda und schnäuzte sich, wobei man bekanntlich ebenfalls ein Taschentuch gebraucht. Die Freundin ist die Hausdame und Wirtschafterin des alten Kapitän Mallison namens Helga Markert.“

„Ja – und es ist dieselbe Frau, die Sie, Herr Bevern, damals nachmittags gleich nach unserer Ankunft in Ihrem Zimmer antrafen,“ sagte Frau Grütner scheinbar gleichmütig. „Sie dürfen nicht vergessen, daß die Verbindungstür unserer beiden Räume nicht gerade schallsicher ist. Ich hörte Ihren erstaunten Ausruf, als Sie jenem Mädchen so plötzlich gegenüberstanden. Die Markert holt am Tage dreimal von Birts frische Milch, und daher kenne ich sie sehr gut von Ansehen. Wir begegneten ihr ja auch morgens auf dem Pintsch-Wege.“

Theo[6] Bevern seufzte kläglich. „Ja, ja, – so bringt die Sonne alles an den Tag! – Um nun auch diesen dunklen Punkt zu erledigen: die blonde Helga war noch vor zwei Jahren ein sehr leichtlebiges Persönchen, auch ein sehr leichtfüßiges, denn – sie war Tänzerin und hat auch in meinem damals noch sehr feudalen Junggesellenheim manchen Tanz aufgeführt. – Schwamm drüber! – Mein Erstaunen, sie nun hier mit weißer Schürze in so ehrbarer Stellung vorzufinden, war deshalb auch durchaus berechtigt. Und nun – nun hat sie da soeben mit unserem maskierten Freunde Benziehn Zeichen ausgetauscht, die unsere Angelegenheit –“

Und wieder schwieg er da. Sekundenlang.

„Himmel – – der Professor!“ stieß er hervor. „Er kommt den Pfad empor! Drücken wir uns, Frau Ellen! Verbergen wir uns! Das hat etwas zu bedeuten!“ –

Der alte Herr stapfte mit seinem derben Eichenstock langsam dem Waldsaum zu, blieb immer wieder stehen und schöpfte Atem, näherte sich so den ersten Bäumen und schwenkte hier nach links in einen kaum sichtbaren Steig ab, der zwischen den Tannen sich emporschlängelte.

Hier nahm er seinen Rucksack vom Rücken und begann Knüppelholz zu sammeln, brach es in kurze Stücke und steckte es in seinen Rucksack.

Bevern und Ellen knieten keine zwanzig Schritt entfernt hinter einem Felsstück.

„Er besorgt Brennholz,“ flüsterte Ellen enttäuscht. „Das Ehepaar kocht ja aus Sparsamkeit selbst und läßt Birts nur für Küchenbenutzung etwas verdienen.“

„Abwarten – – Schwindel!“ sagte Bevern ebenso leise.

Benziehn schaute sich jetzt nach allen Seiten um, horchte auch eine Weile, schritt dann auf eine der hier so zahlreichen Stellen zu, wo das Urgestein des Isergebirges, Granit, in Gestalt eines Haufens mächtiger Blöcke zutage trat.

Schaute nochmals in die Runde, hob zum Schein ein paar Äste auf und – kniete plötzlich nieder, entnahm hastig einem Loche zwischen dem Geröll drei in dunkles Packpapier eingeschlagene Gegenstände von mäßiger Größe, brachte sie ebenso hastig im Rucksack unter, begann wieder Holz zu sammeln und entfernte sich langsam, kehrte auf den Geröllpfad zurück, schulterte den Rucksack und trat den Heimweg an.

„Schlauer Hund!“ meinte Bevern schmunzelnd. „Doch – nicht schlau genug!“

Ellen Grütner begriff noch nicht recht den Zusammenhang.

„Was bedeutete das?“ fragte sie grüblerisch.

„Nun – sehr einfach: Helga Markert bestiehlt den Kapitän, der ja nach Birts Behauptung sehr reich und dessen Villa mit Andenken aller Art aus fremden Ländern vollgestopft sein soll. Die gestohlenen Sachen versteckt sie dort im Geröll, gibt dann Benziehn ein Zeichen, daß wieder etwas abzuholen ist, und der edle Herr Professor – sammelt dann Holz, macht nachher ein Paket fertig und schickt die Beute eingeschrieben nach Berlin.“

Ellen nickte. „Unglaublich! Aber es wird wohl so sein! – Was nun?! Sie müssen doch eigentlich der hiesigen Polizei die Angelegenheit melden, Herr Bevern.“

„Ja, eigentlich! Uneigentlich jedoch werde ich mich schwer hüten, diesen feinen Kriminalfall aus den Händen zu geben, bei dem ja alles nur auf Vermutungen beruht. – Nein, Frau Ellen, jetzt werde ich mich an zwei Stellen auf die Lauer legen: unten am Häusli vor den Veranden und hier in der Nähe der Geröllhalde! – Jetzt aber wollen wir auf einem Umwege ebenfalls heimkehren. Ich habe einen Mordshunger.“

So kletterten sie denn wieder den steinigen Pfad weiter empor, gelangten mit Hilfe der Bohlenbrücke über den rauschenden, schäumenden Kirchbach und verließen erst in der Nähe des Restaurants Waldessaum die schützenden Tannen. Als sie nun von Westen her dem Häusli sich näherten, sagte Bevern plötzlich:

„Helga Markert war damals also nicht „zufällig“ bei mir eingedrungen, das steht jetzt fest. Sie schlich in mein Zimmer als Abgesandte der Benziehns des Koffers wegen – als Spionin! Na, warte, Helgachen, ich werde Dir die infame Schwindelei anstreichen!“

* * *

Nachmittags halb fünf verließ Herr Franz Benziehn mit dem Rucksack das Häusli und wanderte zur Post, wo er ein Paket nach Berlin aufgab.

Theo Bevern war ihm vorangeeilt und begnügte sich mit der Feststellung, daß der Professor dem Rucksack im Schalterraum einen der Pappkartons entnahm.

„Die Beute geht nach Berlin – es stimmt!“ dachte er und wanderte wieder die Brunnenstraße empor zum Kurhause, traf auf der Terrasse mit Ellen zusammen und erstattete kurz Bericht, erklärte weiter: „Ich werde jetzt nach Berlin an einen Bekannten schreiben und ihn bitten, in aller Stille über diesen Herrn G. Raschke, Berlin N 21, Erkundigungen einzuziehen. Mein Bekannter ist Oberleutnant bei der Schupo und heißt Gardhofen. In gewisser Beziehung weihen wir also doch die hohe Polizei ein, Frau Ellen.“ –

Die Kurmusik spielte, und Männlein und Weiblein wandelten mit Trinkgläsern hin und her, sogen an den Röhrchen und musterten die Neuerscheinungen.

Flinsberg war noch nicht allzu stark besucht. Daher kannten die Badegäste sehr bald einer den andern, konnten gegenseitig feststellen, wie die Bergluft und die liebe Sonne die Gesichter schnell bräunte und wie auf bläßlichen Wangen und zarten Frauennacken ein kräftiges Naturkolorit sich einfand.

Wenn dann die Sonne hinter der Ostecke des Iserkammes verschwunden war, wenn auch der Hasenberg bereits im Schatten lag und nur noch drüben die Ortschaften nach Friedeberg zu im Sonnenglanz dalagen, dann sammelten sich am Rande der oberen Terrasse die Naturschwärmer und genossen das liebliche, weiche Bild der Berglandschaft, verfolgten das Vorrücken der Schattenfelder und schauten zum Schluß noch fragend zum Hasenberge auf, ob sich dort nicht regenverkündende Wolkenfetzen zeigten.

* * *

Theo Bevern saß fünf Tage später in der schwarzen Breitunke des Moorbades und war mit sich und aller Welt unzufrieden.

Drei Nächte hatte er ganz umsonst geopfert, hatte auf dem Wiesenhang zwischen dem Häusli und der Villa Augusta gelegen und trotz Wollwesten und Gummimantel und Lodenumhang im nassen Grase stundenlang jämmerlich gefroren, während die verd… Benziehns und ganz Flinsberg den Schlaf der Gerechten und Ungerechten schlief.

Und an drei Tagen hatte er auch seit sieben Uhr morgens das Versteck im Geröll im Auge behalten, hatte sich die Knochen auf dem Stein wundgedrückt, den er als Sitz erkoren.

Die Geschichte war total auf dem toten Punkt angelangt. Sicher passierte gar nichts. Benziehn schickte keine Pakete mehr ab und Helga und Benziehn mieden die bewußte Stelle, eben das Versteck, tauschten auch keinerlei Zeichen mehr aus. Es war einfach zum Platzen!!

Und dazu hatte noch Freund Gardhofen aus Berlin geschrieben, daß G. Raschke ein äußerst harmloser Photograph sei, der in der Linienstraße Brautpaare, Ehepaare, Kinder und Studenten billig vervielfältige[7] und im übrigen keinem Floh etwas zuleide tue.

Kurz – es war tatsächlich zum Platzen!!

Vorläufig ließ sich eben in der Sache gar nichts unternehmen. Man mußte abwarten und die Augen offenhalten. –

Bevern entstieg wie ein Nigger dem zähen Brei, wurde vom Badediener abgespritzt und kletterte ins Reinigungsbad.

Zehn Minuten drauf schlenderte er nach oben zum Häusli. Vor der Pintsch-Villa traf er mit Frau Birt zusammen, die Einkäufe gemacht hatte. Gemeinsam gingen sie weiter. Frau Birt hatte stets einige Neuigkeiten auf Lager. Heute wußte sie zu berichten, daß der Herr Professor nachmittags um ein halb drei abreise, da seine verheiratete Tochter schwer erkrankt sei. Er hoffe jedoch, in ein paar Tagen wieder zurückkehren zu können.

Bevern entschloß sich sofort Herrn Benziehn heimlich zu begleiten.

Und Frau Birt plauderte von diesem und jenem, erwähnte, daß Herr Kapitän Mallison nun seinen Diener plötzlich rausgeschmissen habe und daß der Diener überall erzählte, nur die Hausdame sei an allem schuld. Das sei ein heimtückischer Satan, und er hätte es ihr auch noch eingetränkt, wenn der Kapitän ihm nicht anständigerweise noch für drei Monate den Lohn ausgezahlt hätte.

Bevern spitzte die Ohren, fragte da und dort und erfuhr zu seinem Bedauern, daß der Diener bereits morgens nach Breslau abgereist sei.

Aber – er erfuhr auch gleichzeitig, daß Kapitän Mallison nun in der Villa Zauberblick mit der Hausdame allein sei und daß diese Frau Birt gebeten habe, ihr doch bei der Hausarbeit so lange etwas zu helfen, bis ein neuer Diener käme. –

Mittags saßen Bevern und Frau Ellen auf der Bank neben der Haustür und berieten, wie man am unverfänglichsten Beverns Reise verheimlichen könnte. Schließlich kamen sie überein, daß Bevern angeblich einen Ausflug ins Riesengebirge nach Schreiberhau unternehmen solle, wohin man per Wagen in drei bis vier Stunden gelangen konnte.

Dies wurde denn auch Birts mitgeteilt, und gleich nach Tisch verließ Bevern mit vollgepacktem Rucksack das Häusli und stieg ins Dorf hinab.

Schon um ein Viertel drei verschwand er dann in einem Abteil zweiter Klasse des Zuges nach Friedeberg. Fünf Minuten später kletterte der Professor mit einer Handtasche in ein Abteil dritter Klasse hinein.

Und – in Friedeberg kam dann für Bevern der neue Erfolg: der Professor ging mit seiner Handtasche ins Städtchen, mietete einen Wagen und ließ sich nach Ullersdorf fahren, von wo er Flinsberg in zwanzig Minuten zu Fuß erreichen konnte.

Es bedurfte Beverns ganzer Geriebenheit, Benziehns Fahrtziel zu erkunden, und es war nicht ganz einfach, in Friedeberg rasch ein Fahrrad zu borgen, um dem Wagen in vorsichtiger Entfernung folgen zu können.

Immerhin, es klappte alles, und Theo Bevern strampelte nun auf dem alt ehrwürdigen Zweirade hinter dem Wagen drein.

Ullersdorf, das langgestreckte Dorf am Queis, hatte für den Herrn Professor wenig Anziehungskraft. Er bezahlte den Kutscher schon vor dem Dorfe und wanderte nun gen Westen dem Hasenberge zu.

Bevern bewies abermals Geschick, gab dem Kutscher das Rad mit und machte sich hinter Benziehn her. Da er jedoch nicht allzu nahe aufrücken durfte, verlor er den alten Herrn im Walde aus den Augen und mußte sich nun sehr genau überlegen, was er unter diesen Umständen weiter tun solle.

Im Häusli an der Kirchbachschlucht durfte er sich heute nicht sehen lassen. Er war ja … im Riesengebirge und wollte erst morgen abend zurückkehren. Er mußte[8] also anderswo übernachten, vielleicht im nördlichsten Dorfteile von Flinsberg, in der sogenannten Scholtisei (am Schulzenamt). Dorthin würde sich die Frau Professor Benziehn oder einer der Familie Birt kaum verirren, zumal er ja erst nach Dunkelwerden als Tourist von auswärts dort eintreffen wollte.

Kaum hatte er dies beschlossen, als er auch schon daran dachte, daß der Professor doch gleichfalls genötigt sei, sich in Flinsberg nicht sehen zu lassen und doch irgendwo die Nacht zuzubringen.

„Keinen Detektiv!!“ brummte Theo Bevern. „Das Wichtigste fällt mir natürlich zuletzt ein! Es ist ja klar: Benziehn will doch fraglos in der Nacht sich mit Helga Markert in Verbindung setzen! Helga ist ja die einzige Person, zu der er in Flinsberg geheime Beziehungen unterhält. Mithin: legen wir uns vor der Gartenpforte der Villa Zauberblick auf die Lauer!“

Nun, wo er zu einem endgültigen Entschluß gekommen, wo der Anfang eines festen Programms entworfen war, flogen ihm alle weiteren Gedanken gleichsam von selbst zu.

Er erklomm den Hasenberg außerhalb der gebahnten Wege, suchte sich an der Südseite einen guten Aussichtspunkt, streckte sich ganz hinter ein paar Büsche und legte sein Fernglas neben sich.

Während er nun etwas von dem mitgenommenen Proviant aus seinem Rucksack zu verzehren begann, während er hin und wieder mit dem Glase die ins Flinsbergtal hinabführenden Wege absuchte, überprüfte er nochmals in aller Ruhe und mit größter Sorgfalt die sämtlichen Ereignisse, soweit sie mit dem fragwürdigen Ehepaare Benziehn zusammenhingen. Und da ward ihm jetzt eins zur unumstößlichen Gewißheit: Helga Markert hatte ohne Zweifel aus dem Zauberblick wertvolle Raritäten Kapitäns Mallisons gestohlen, und Benziehn hatte diese Stücke nach Berlin verschoben! – So mußte es sein! Das war eine Erklärung für die eingeschriebenen Pakete, die durchaus zwanglos sich den ganzen Umständen anpaßte! –

Abermals griff Bevern jetzt nach dem Fernglase.

Der Abend nahte. Kurgäste strömten auf den hellen Pfaden dem Orte wieder zu. Weiße Kleider leuchteten über grünen Wiesen und an dunklen Waldrändern. Froher Gesang schallte verschwommen herüber.

Rötlicher feiner Glanz lag über den in sattem Baumgrün eingebetteten Villen und Häusern des langgestreckten Dorfes. Wie ein grauer Strich zog sich die Fahrstraße am Ufer des Queis das Tal hinan, verlor sich in der Ferne, wo hinter dem hohen Iserkamm die Bergzüge des Riesengebirges begannen.

In dieser abendlichen Stille fühlte Theo Bevern wiederum mit einer beglückenden Klarheit einen neuen Fortschritt des Läuterungsprozesses, der in seiner Seele, in seines Wesens innerstem Kern sich abspielte.

Und – seltsam: in diesem Augenblick eilten seine Gedanken zum Häusli hinüber, das dort drüben am Berghang träumte, – zum Häusli und zu der ernsten Frau, die ihm die Achtung vor dem anderen Geschlecht wieder aufgezwungen hatte.

Ellen Grütner! – Ein neues Kapitel seines tollen, zwecklosen Daseins.

Ein herbes[9] und doch in seiner Art frohes Kapitel.

Und – das Fernglas schwenkte herum, suchte das Häusli, fand es.

Dort das schiefergedeckte Dach, der weiße, angekleckste Stall, die gelben stumpfen Kegel des aufgeschichteten Spaltholzes. Und vor der Haustür auf der Bank am rotgedeckten Tisch eine Frauengestalt: Ellen!

Wenn sie wüßte, daß er sie vom Gipfel des Hasenberges beobachtete! Wenn Frau Birt, die soeben mit mächtigen Teebrett aus der Tür trat, ahnen würde, daß Herr Bevern genau erkannte, wie sie nun Frau Ellen das Glas mit Milch füllte.

Er lächelte.

Aber – das Lächeln erstarb jäh.

Nur eine ganz schwache Wendung des Glases nach rechts hatte ihm die weißliche Linie des Kirchbaches nahe gebracht – die Brücke aus Steinplatten, die unweit des Häuslis über das Berggewässer führte.

Hatte ihm dort an der Brücke eine Gestalt mit einer Reisetasche gezeigt, mit grauem Filzhut und Lodenmantel: Professor Franz Benziehn! – Und – doch nicht der Professor, denn – – Bart und Brille fehlten! Und doch Benziehn! So sicher Benziehn, daß Theo Bevern jetzt leise durch die Zähne pfiff!

Benziehn wanderte nun am linken Ufer des Baches aufwärts, verschwand im Walde.

Und Bevern schulterte schleunigst den Rucksack, griff nach dem derben Stock und eilte den Berg hinab.

Eine halbe Stunde später befand er sich oberhalb des Häuslis am Waldessaum. Schlich der Geröllhalde zu, wo der Professor damals die drei Päckchen aus dem Versteck hervorgeholt hatte.

Es dunkelte bereits. Der Wind hatte gedreht, war nach Westen herumgegangen, trieb dichtes Gewölk herbei, hüllte drüben den Haumberg in graue Schleier, ließ den Bergwald aufbrausen und erfüllte die Abenddämmerung mit einer Symphonie rätselvoller Laute. –

Bevern fühlte sich allem – allem gewachsen, was die nächsten Stunden bringen würden. Eine Kraft, ein Unternehmungsgeist lebten in ihm auf, so frisch, so ursprünglich, daß er sich jung und gesund vorkam wie in jenen Tagen, als er, ein junger Student das Isartal bei München durchstreift und zwei Nächte im Freien geschlafen hatte – unter den dichten Zweigen einer windschiefen Tanne. Schön war das damals gewesen, so wunderschön, so harmlos, so reinigend nach dem Bierdunst der Münchener Kneipen.

Und jetzt hier nach fast vierzehn Jahren derselbe Theo Bevern – und doch nicht derselbe! Einer, der das Leben mit all seinen Genüssen bis zur Neige ausgekostet hatte und der nun siech und halb verfehmt … dem Verbrechen nachspürte!

Siech – – siech?! Wirklich noch siech?!

Und Bevern reckte und streckte sich.

Gewiß – das Herz in der Brust hämmerte noch immer über Gebühr. Aber das, was diese Brust schwellte, war … Genesung, neue Kraft, war … die Wiedergeburt! –

Bevern stand regungslos hinter dem grauschwarzen Stamm einer mächtigen Tanne.

Reckte sich nicht mehr. Schmiegte sich dichter an den Baum, starrte geradeaus.

Dort zehn Schritt vor ihm am Endpunkt der Geröllhalde saß mit dem Rücken nach ihm hin der Professor Benziehn auf einem Felsblock, hatte neben sich die Handtasche gestellt, rauchte behaglich eine Zigarre.

Bevern triumphierte.

Der Wald rauschte Triumph.

Denn dort näher dem Waldsaume zu, wo die Felsblöcke zur Mauer aufgeschichtet waren, erschien jetzt eine zweite Gestalt.

Ein Weib im langen Regenmantel, mit tief ins Gesicht gedrücktem Lodenhut: Helga Markert!

Kam hastig näher.

Benziehn begrüßte sie durch Händedruck.

Sie flüsterten miteinander.

Benziehn sprang auf. Seine Armbewegungen verrieten seine Erregung. –

Theo Bevern hakte den Rucksack los, ließ ihn zu Boden gleiten – ganz sacht.

Kräftiger fauchte der Regenwind über die Berghänge hin. Das Moos, der tannennadelbestreute Boden atmeten stärker den Odem des Forstes aus.

Bevern sank in die Knie, kroch vorwärts, lautlos, auf allen Vieren.

Im Bogen auf die Geröllhalde zu, dann abwärts, sich duckend hinter bemooste Blöcke, hinter Unkrautstauden und niederes Gestrüpp.

Und hoffte zuversichtlich, die beiden dort endlich belauschen zu können.

Aber – kam zu spät, sah nur noch im Grauschwarz herabpeitschender Regenschnüre drüben auf der Wiese Helga Markert enteilen.

Sah nichts mehr von Benziehn – nichts mehr.

Finsternis erfüllte im Nu den Dom des Waldes, verwandelte die schlanken Stämme in verschwommene Striche … Durch die Nadelwälder turmhoher Äste tropfte das Regennaß, tropfte immer lebhafter, ward zum Guß.

Bevern stand da und … fluchte leise. Schämte sich der Kraftworte inmitten dieser heiligen Natur. Und stapfte weiter – auf gut Glück – talabwärts.

Stapfte durch die Sintflut des Regens, bis er mit vorsichtigem Fuße harten Boden spürte und rechts von ihm ein fahles Licht schimmerte.

Schlich näher, erkannte nun, daß das Licht die elektrische Lampe in Ellen Grütners Zimmer war, daß Ellen bei offenem Fenster am Tische saß und schrieb.

Nun wußte er, daß er zu weit links abgebogen war, schwenkte nach rechts, warf noch einen Blick auf den über das Papier gebeugten[10] Frauenkopf, und – hinter ihm fielen die Regenvorhänge wieder zu.

Gleich darauf lag er auf der anderen Seite des Weges gegenüber der Gartenpforte des Zauberblicks hinter den Randsteinen.

Lag und ließ die nasse Flut über sich hinweggehen. Der unter dem Gummimantel den Körper wärmende Lodenumhang würde ihn schon vor Erkältung schützen.

Dunkel und baumumrauscht dort des Kapitäns zierliche Villa.

Nicht ein Fenster auf dieser Seite hell.

Und ringsum die Musik des Regens, ein Plätschern und Rieseln von schnell entstandenen Bächlein, die hurtig zu Tale eilten.

Ringsum kein lebendes Wesen in dieser trostlosen Nacht. –

Bevern fühlte bald, daß seine Füße in den durchweichten Bergschuhen erstarrten, daß die Kälte höher und höher kroch.

Eisige Hände tasteten nach dem Rucksack, suchten die Kognakflasche.

Eisige Finger schraubten den Aluminiumdeckel ab.

Glucksend rann belebender Trank die Kehle hinunter.

Und – – mit leisem Klirren zerschellte da die schmale Flasche auf harter Steinkante.

Ein Schrei war urplötzlich an Beverns Ohr gedrungen – ein gellender, schriller Schrei.

Und ein Ruck hatte da seinen Körper hochgeworfen, die Flasche den feuchten Fingern entgleiten[11] lassen.

Halb aufgerichtet lauschte er.

Nichts mehr … Nur Regengemurmel, Rieseln und Plätschern.

Nichts mehr.

Und doch war der Schrei aus der Villa heraus in die finstere Nacht gestoßen wie ein Raubvogel, der aus schwarzer Wolke den fröhlich kreisenden Taubenschwarm aufscheucht.

Nichts mehr.

Bis … bis andere Töne ihren Weg zum gierigen Ohr des Lauschenden fanden.

Klavierspiel – ein heiteres Lied. Und bald eine Stimme, die dasselbe Lied anstimmte. Helga Markert – bestimmt Helga Markert! Bevern kannte ihre Art des Vortrags, ihre Stimme, doch in der Stille mußten Fenster, Türen offenstehen, durch die die Klänge sich hinausstahlen in die lastende Dunkelheit.

Beverns Gestalt glitt wieder zu Boden.

Gesang, – – und er, er hier bei diesem Wetter im Freien, durchnäßt, frierend, ohne Obdach, vielleicht einem Phantom nachjagend, vielleicht Dingen nachspürend, deren Harmlosigkeit eines Tages sein eifriges Detektivspiel albern und kindisch erscheinen ließ!

Er erhob sich rasch. Nahm den Rucksack, betrat den Weg, stolperte abwärts.

Hinter ihm her schallte der Gassenhauer, das Bananenlied. –

Um halb zwölf lag Theo Bevern im Bett eines Zimmers des Touristenheims in der Nähe der Scholtisei und schwor sich zu, daß er sich weder um den Professor noch um die Bewohner der Villa Zauberblick auch nur im geringsten weiter bekümmern würde.

Morgens sieben Uhr entführte ihn ein Einspänner die Queißstraße entlang zur Ludwigsbaude, und mittags war er im Riesengebirge in Schreiberhau.

Drei Tage logierte er dann auf der Schneekoppe, besuchte Krummhübel, wanderte über Brückenberg zum Kamm zurück, schrieb jeden Tag drei Ansichtskarten an Ellen Grütner und fand sich erst am siebenten Juni ganz überraschend im Häusli wieder ein, braungebrannt, vergnügt, – – noch mehr geläutert!

Nachmittags sechs Uhr hatte er Mutter Birt vor der Haustür begrüßt. Da war Frau Ellen noch drunten auf der Kurterrasse. Da sah er nur die Frau Professor Benziehn auf der Veranda sitzen, die seinen Gruß ernst erwiderte.

Schnell zog er sich in seinem Zimmer um, rasierte sich, schwatzte mit Frau Birt, die ihm noch rasch Kaffee aufgebrüht hatte.

Und doch war eine geheime Unruhe in ihm, die ständig wuchs.

Mutter Birt erzählte von dem neuen Mieter, der das andere Mansardenstübchen nun bewohnte.

„Am Abend, als Sie uns verlassen hatten, ist der Herr zugezogen, Herr Bevern. Ein Maler aus Breslau, Herr Bevern. Ein lustiger Herr. Und schnell bekannt ist er mit Frau Grütner geworden, der Herr Korwinna, sehr schnell. Mein Lieserl hat er schon gemalt, und unser Häuserl.“

Bevern trank zerstreut, aß zerstreut.

Ärgerte sich.

Ellen Grütner – das war doch seine Kameradin, seine Badebekanntschaft!

„Und zweimal sind [die][12] beiden schon auf dem Heufuder droben gewesen, Herr Bevern. Photographiert hat der Herr Korwinna die neue Heufuder-Baude, und auch die Frau Grütner, und geschenkt hat er uns zwei von den feinen Bildern.“

„Das interessiert mich wenig“, brummte Bevern.

Er hatte vorhin gesehen, daß die Frau Professor das Haus verlassen hatte.

Und fragte nun, die Stimme dämpfend:

„Ist denn Herr Benziehn schon zurück?“

„Nein, nein. Seiner Tochter geht’s sehr schlecht. Er ist mit ihr nach Berlin gereist in ein Sanatorium zu einem berühmten Arzt. Auch an uns hat er schon zwei Ansichtskarten geschickt, – richtig, aus dem Grunewaldsanatorium. So heißt es: Grunewaldsanatorium!“

Bevern stand mit einem Mal auf und trat rasch von der Veranda ins Zimmer.

Er hatte da soeben Frau Grütner in Begleitung eines Herrn um die Ecke des Gartens des Pensionats Augusta biegen sehen.

„Räumen Sie den Tisch nur ab, liebe Frau Birt“, sagte er gleichgültig. „Ich bin satt. Ich gehe nachher ins Wirtshaus. Will mal wieder Kulturmensch sein. Ich werde auch unten zu Abend essen.“

Frau Birts gute Augen ruhten still auf Theo Bevern, der vor dem Spiegel den Scheitel bürstete.

Dann stellte sie Kännchen, Tasse, Teller, Milchtopf auf das Teebrett, beugte sich zur Veranda hinaus.

Rief:

„Frau Grütner, unser Herr Bevern ist wieder da!“

Theo Bevern krauste vor dem Spiegel die Stirn.

„Sie irren, liebe Frau Birt: er ist schon wieder weg!“ rief er leise, nahm den derben Stock und ging davon, ging rasch an der Hinterseite des Hauses entlang zu dem Pfade, der zur Steinbrücke des Kirchbaches führte.

Und unten in der großen Birtschen Küche stand Ellen Grütner und fragte Frau Birt:

„Hat Herr Bevern denn gar nicht nach mir gefragt?“

„Nein. Er war überhaupt so komisch, der Herr Bevern. Ich erzählte ihm von Herrn Korwinna, aber da meinte er, das interessiere ihn nicht.“

Und Mutter Birts gute Augen ruhten auf Frau Ellens leicht gebräuntem, schmalen, feinen Gesichtchen, dem Jungbrunnen bereits wieder den zarten Reiz holder Weiblichkeit verliehen hatte.

Ellen Grütner ging da still in ihr Stübchen nach oben, ganz langsam, ganz so wie jemand, der eine herbe Enttäuschung erfahren hat, mit der er nie, nie gerechnet hatte.

Und setzte sich in die Sofaecke, nahm Beverns Karten zur Hand, diese zwanzig Ansichtskarten, die alle so eng beschrieben waren.

Und – schüttelte den Kopf, die schlanke Ellen, die jetzt zuweilen schon wieder im Herzen ein Drängen und Zerren verspürte wie von neuerwachtem Lebenshunger.

Las die letzte Karte, die Bevern erst gestern noch ihr gesandt hatte.

„… Nun sehen wir uns bald wieder, chere amie, und dann will ich, der Bergfex, Sie hinaufführen auf unser Heufuder, an dessen Fuß unser Häusli meiner wartet. – Ihr Theo Bevern.“

Gestern dies – – und heute wich er ihr aus!

Weshalb – – weshalb?! Hatte er es ihr etwa verargt, daß sie mit Korwinna gut Freund geworden?!

Und – – da lächelte Frau Ellen mit einem Male ganz glücklich.

Streichelte sanft mit der Fingerspitze die eine Stelle der Karte, wo „Ihr Theo Bevern“ zu lesen war.

* * *

Bevern saß auf der schmalen Terrasse vor dem Speisesaale des Kurhauses und studierte Berliner Zeitungen.

Der Kellner hatte soeben das Geschirr weggeräumt, eine zweite halbe Flasche Deidesheimer in den Kühler gestellt.

Bevern las von Straßenunfällen, Diebstählen, Mordanschlägen, Schwindeleien, Unterschlagungen, Selbstmorden.

Der Giftbrodem der Weltstadt schlug ihm aus der Druckerschwärze entgegen.

Er warf die Zeitung auf den leeren Stuhl neben sich.

All das widerte ihn an!

Und – plötzlich griff seine Hand doch abermals nach dem Zeitungsblatt. In seinem Hirn hatte sich blitzschnell ein besonderer Vorgang abgespielt: der Name Gerhard Raschke, den er da soeben achtlos überflogen hatte, war wieder aufgelebt, und vor Beverns Augen war eine Postquittung über ein eingeschriebenes Paket wie ein Bild aufgetaucht!

Nun las er sorgfältiger:

„Der wegen Herstellung und Verbreitung unzüchtiger Bilder und wegen Verführung Minderjähriger steckbrieflich verfolgte Photograph Gerhard Raschke scheint außer den genannten Straftaten noch andere auf dem Kerbholz zu haben. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei haben ergeben, daß Raschke vor kurzem fünf aus gediegenem Golde bestehende echt indische Opferbecken an einen bekannten Händler verkauft hat. Diese Opferschalen rühren fraglos aus einem Einbruchsdiebstahl und dürften einem ausländischen Museum gehört haben. Ferner wurden in Raschkes Atelier noch zwei überaus seltene antike Elfenbeinschnitzereien gefunden, die gleichfalls irgendwo gestohlen sein müssen. – Wir weisen unsere Leser auf den im Anzeigenteil abgedruckten Steckbrief noch besonders hin.“

Bevern war jetzt mit einem Male sehr lebhaft geworden. All seine Vorsätze, den Professor Benziehn nicht mehr irgendwie zu belästigen, waren beim Lesen dieser Zeilen dahingeschwunden.

Er fand den Steckbrief. Und merkte sich: Schleppender Gang, helles Organ, vorn drei Goldplomben in den Oberzähnen.

Dachte, schon wieder Detektiv voll glühendem Eifer: „Dieser Korwinna hat die Heufuder-Baude photographiert, ist angeblich Maler! Vielleicht ist er Raschke!“ –

Und als er gegen halb elf zum Häusli heimkehrte, als er auf dem Rasen entlangschritt, um lautlos an das Haus heranzukommen, strahlte ihm aus den Fenstern der Wohnstube der Birts unter der Veranda heller Lichtschein entgegen.

Da saßen um den Tisch Familie Birt, Ellen Grütner und ein Herr mit blondem Spitzbart und blonder Künstlermähne.

Und dieser Blonde hatte eine Gitarre im Arm und sang mit halber Stimme:

„… Bananen, ausgerechnet Bananen verlangt sie von mir …“

Seine weißen Zähne leuchteten unter dem blonden Bart, und an den Oberzähnen blinkte es golden … von großen verräterischen Goldplomben.

Bevern stand draußen im Dunkeln und lächelte rachsüchtig.

Schlich ganz leise in sein Zimmer, zog die Schuhe aus, schlich auf die Veranda und setzte sich im Finstern in den Korbsessel, legte das Fernglas in den Schoß.

Eine Stunde darauf beobachtete er, wie jemand offenbar auf Strümpfen vom Häusli den Weg zur Augusta hinabeilte und dann rechts abbog – zum Zauberblick!

„Genügt mir für heute!“ dachte Bevern und ging wieder ganz leise zu Bett.

Lauschte, ob sich nebenan bei Ellen Grütner noch etwas regte. Schlief ein und … würgte im Traum den Maler Korwinna zu Tode, der jedoch vier Köpfe hatte: seinen eigenen, den des Professors, der Professorin und Helga Markerts!

So grausig war der Traum, daß Bevern darüber erwachte und sich langsam aufrichtete.

Im Moment war er völlig munter.

Hörte, daß … bei Ellen Grütner ein Fenster knarrte, ein Fensterriegel klappernd herabfiel.

Und vernahm flüsternde Stimmen, die jedoch plötzlich verstummten, als die Stahlmatratze seines Bettes kreischend sich dagegen empörte, daß Herr Theo Bevern nachts sein Bett verließ.

Bevern hörte nichts mehr.

Er tat bis zum Morgengrauen kein Auge zu. Und als die Dämmerung in sein Zimmer kroch, als draußen das gefiederte Birtsche Eigentum gackernd das Haus umkreiste, dachte er wütend: „Theo, du bist verrückt! Bist du etwa wirklich … eifersüchtig?!“

Und dann schlief er bis gegen zehn Uhr vormittags, bis die ängstlich gewordene Mutter Birt sehr energisch gegen die Tür pochte. –

Um elf Uhr hatte er sein Frühstück auf der Veranda[13] beendet.

„Frau Grütner ist[14] heute zu Hause geblieben“, hatte Mutter Birt geplaudert. „Sie sitzt vorn in der Laube und liest. Sie werden ihr nun doch guten Tag sagen, Herr Bevern.“

Und die offenen Augen der braven Kirchbachhäuslerin hatten Bevern dabei so seltsam angeschaut.

Bevern war stumm geblieben.

Aber nachher überlegte er sich’s anders.

Sollte Ellen etwa merken, wie es um ihn stand?! Noch besser!! Reinen Tisch wollte er zwischen ihnen beiden machen! Und dann – wollte er dem Herrn Korwinna so ganz behutsam an den Kragen! –

Die Sonne stach heute vormittag sehr verdächtig. Vater Birt, der neben dem Hause ein Stück Wiese mähte, begrüßte Bevern durch Zuruf und fügte nach Westen deutend hinzu: „Da hat’s heut’ was, Herr Bevern! Das gibt ein Wetter!“

„Gewitter reinigen die Luft, Herr Birt!“ Und er schritt der altersschwachen, schiefen Holzlaube zu, die da vor dem Häusli unter dem knorrigen dicken Kirschenbaum mit der Öffnung nach dem Tale hin schon so manches Jährchen überdauert hatte. –

Ellen ruhte im Birtschen Liegestuhl vor der Laube, hatte das Buch in den Schoß gelegt, als sie hinter sich Schritte vernahm, und genoß mit fast seligem Erschauern das wonnige, längst nicht mehr gekannte Gefühl einer freudigen Erwartung, die einzig und allein dem Manne galt, der in ihre Frauenseele das Jungsein wieder hineingezaubert hatte.

Helle Röte schoß ihr ins Gesicht, und in leicht begreiflicher Scheu senkte sie nun rasch die Lider über die strahlenden Augen, tat, als wäre sie hier mitten im Sonnenglanz der frühen Stunde eingenickt.

Bevern stand vor dem Liegestuhl.

Stand und … glaubte eine Fremde vor sich zu haben.

Die wenigen Tage seines Fernseins hatten Frau Ellens Wiederaufblühen überraschend gefördert.

Das schmale, feine, aber so gesund-bräunliche Antlitz da erinnerte in nichts mehr an Theo Beverns müde, welke Begleiterin, mit der er am 26. Mai hinter der Birtschen Gepäckkarre die Anhöhen emporgeklommen war.

Das war nicht mehr ein reizloses Geschöpf mit toten Sinnen! Nein – unter dieser frischen Haut pulste Leben und Wünschen, und unter der weißen halsfreien Bluse zeichnete sich dank Mutter Birts vorzüglicher Pflege, dank Butter, Milch und Eiern die knospende Fülle in lieblichen Wellenlinien verheißungsvoll ab.

Dieser Anblick übte jedoch auf Theo Bevern eine Wirkung aus, die lediglich seiner … Eifersucht entsprang.

Ellen Grütner war sein gewesen, als er die Tour ins Riesengebirge antrat – seine liebe, verständige Kameradin! Und nun – nun hatte ein Fremder sie ihm geraubt, hatte ihm bewiesen, daß diese scheinbar so herbe, so vornehm-kühle Ellen einem pikanten Abenteuer durchaus nicht abgeneigt war.

Er preßte die Lippen zusammen.

Und – kraftvoll, wie jetzt seine Seele und sein Körper in neuer Stärke genesen, ballte er unwillkürlich die Fäuste.

Ein Teil Naturburschentum war’s, das jetzt in des Lebemannes und Spielers verwandeltem Wesen sich kundtat.

Einen Moment schwankte er, ob’s nicht besser sei wieder kehrtzumachen und Ellen mit Nichtachtung zu strafen.

Doch nein! So billigen Kaufes sollte diese Frau Grütner doch nicht davonkommen!

Und laut und scharf sagte er da:

„Guten Tag, gnädige Frau!“

Die Augenlider flogen empor. Ellen richtete sich auf, schaute Theo Bevern in das finstere Gesicht und – lächelte ihn freundlich an.

In diesem Lächeln lag so viel Offenheit, versteckte Zärtlichkeit und ein so freies, reines Gewissen, daß Bevern vollständig entwaffnet wurde.

Er, dem es seit Jahren niemals mehr zugestoßen, von einer Frau sich verwirren zu lassen, legte nun zögernd seine Hand in die sich ihm entgegenstreckende Ellen Grütners.

Und geriet noch in ärgere Verlegenheit, als Ellen nun sagte: „Herr Bevern, was haben Sie gegen mich? Heraus damit! Und – ganz ehrlich sein!“

Antworten mußte er. Aber was nur, was?!

Und so erwiderte er dann überstürzt: „Wissen Sie auch, daß dieser angebliche Maler Korwinna wahrscheinlich ein steckbrieflich verfolgter Verbrecher ist?!“

Ellens Augen weiteten sich ein wenig. Doch nicht vor Schreck.

Und dann lachte sie klingend.

„Aber – aber Herr Theo Bevern, Perle aller Amateurdetektive! Wie sind Sie denn auf diese unglaubliche Vermutung …“

Er unterbrach sie. Er hielt ihre[15] harmlose Heiterkeit für raffinierteste Komödie.

„Gestatten Sie, gnädige Frau! Ich pflege niemals leichtfertig einen Verdacht zu äußern! Ich habe Beweise, daß dieser Korwinna mit einem polizeilich verfolgten Menschen identisch sein dürfte. Aber – vielleicht liegt Ihnen nichts daran, diese Beweise zu hören. Nach den merkwürdigen Dingen, die ich in der verflossenen Nacht bemerkt habe, wird es auch wohl ratsamer sein, Sie nicht allzu sehr in meine geheimsten Gedanken einzuweihen, schon deshalb nicht, damit Herr Korwinna nicht plötzlich verduftet.“

Das letzte war brutal, beleidigend gewesen. Es war ihm über die Zunge geglitten in einem Übermaß von Bitterkeit, Eifersucht, verletzter Eigenliebe.

Ellen Grütners Mienen erstarrten in eisiger Zurückweisung dieser versteckten Verdächtigungen.

„Ich glaube, wir haben uns nichts mehr zu sagen,“ erklärte sie mit leicht vibrierender Stimme.

Und erhob sich rasch, rückte den Liegestuhl bei Seite und schritt über den Rasen dem Häusli zu.

Theo Bevern stand da und … murmelte:

„Esel! Flegel!! Warst du denn ganz des Teufels!!“

Und rannte in sein Zimmer, griff nach dem derben Bergstock, rief Fräulein Johanna zu, die gerade die Veranda fegte:

„Ich … ich gehe auf das Heufuder! Mein Mittagessen nehme ich abends ein!“

Und – hinaus war er.

Stieg den Weg am Pensionat Augusta empor, kam am Zauberblick vorüber, sah den greisen Kapitän Mallison wieder wie stets im Krankenstuhl auf dem großen Balkon sitzen, sah, wie Helga Markert ihm gerade eine Zeitung an dem Lesegestell befestigte.

„Der Henker hole die Villa Zauberblick!“, dachte Bevern in seinem unsinnigen Groll gegen die ganze Welt und gegen sich selbst.

Bald hatte er die am Steinbach entlang führende Fahrstraße erreicht, deren sanfte Steigung auch nicht ganz gesunden Herzen kaum etwas antun dürfte.

Langsam wanderte er aufwärts, kam über die Brücke über den Steinbach, öffnete das Wildgatter und klomm nun den steilen Fußpfad hinan.

Mußte des öfteren ausruhen, da sein Herz sich meldete.

Auch das ärgerte ihn.

„Krüppel!!“, lachte er bitter. „Ein Krüppel bin ich, nichts weiter!“

Und bog jetzt in das Waldstück ein, das unterhalb des Heufudergipfels nach Osten sich hinzieht.

Kühlere Luft umwehte ihn. Dort im tiefen Graben des Weges schimmerte es weißlich: Schnee – Schnee lag hier oben noch in großer Menge, vor der Sonne geschützt durch die schattenden Zweige der immergrünen Tannen.

Da wurde Theo Bevern ruhiger.

Blieb stehen … Überlegte, was vor zwei Stunden geschehen. Ging nochmals mit sich streng ins Gericht.

Zwei Stunden Aufstieg! Und immer nur waren seine grollenden Gedanken dort unten bei Ellen Grütner gewesen! – Weshalb war er ihr nicht nachgeeilt?! Weshalb hatte er sie nicht um Verzeihung gebeten?!

„Flegel!!“ murmelte er und starrte in den Schnee.

„Verzeihung – wie meinten Sie?!“, erklang da neben ihm eine angenehme, freundliche Stimme.

Bevern fuhr herum.

Vor ihm ein alter Herr mit grauem Spitzbart und biederer Nickelbrille.

So der rechte Typ der wenig begüterten, aber leidenschaftlichen Bergkraxler, – Rucksack, Lodenanzug und derbe, altgediente Schuhe.

Bevern lächelte, obwohl er soeben noch ein sehr finsteres Gesicht gemacht hatte.

Denn das Männlein hier wiederholte ebenso bescheiden – liebenswürdig: „Ich glaubte, Sie wollten mich auf den Schnee aufmerksam machen. Oder – – sagten Sie etwas anderes?!“

„Allerdings! Und um der Wahrheit die Ehre zu geben: ich habe mich selbst Flegel tituliert!“

„So … so! – Das schadet nichts, mein Herr. Denn wer irgend eine Unhöflichkeit einsieht und bereut, beweist doch, daß er kein Flegel ist, – nicht wahr?“

Bevern nickte lachend. „Vielleicht, vielleicht stimmt das! – Sie sind Lehrer, mein Herr?“

„Nein, Privatgelehrter, nur Privatgelehrter. Gottlieb Anniwrok ist mein Name, aus Dresden. Aber kein geborener Sachse.“

„Bevern,“ stellte der „Flegel“ sich vor. „Daß Sie nicht Sachse sind, Herr Anniwrok, hört man. Ich würde Sie für einen Berliner halten.“

„Ganz recht … ganz recht. Meine Wiege schaukelte auf der Spree, Herr Bevern. Mein Vater war Kapitän eines Schleppdampfers.“

„Ach so! – Gehen wir weiter, Herr Anniwrok. Sie gefallen mir.“

„Freut mich, freut mich! Ich habe ja immer Glück bei den Menschen. Feinde habe ich nicht, es sei denn, daß es sich um eine besondere Spezies von homo sapiens handelt, eben um jene Unglücklichen, die infolge Vererbung schlechter Eigenschaften Verbrecher geworden sind.“

Sie schritten nun nebeneinander her. Die Baude kam in Sicht.

Bevern blickte den Privatgelehrten erstaunt an.

„Hm – die Verbrecher sind also Ihre Feinde, Ihre einzigen Feinde, Herr Anniwrok?! Das klingt ja fast so, als ob Sie diesen Leuten nachstellen?!“

„Nachstellen? – Nein, das tue ich nicht. Ich studiere sie nur, Herr Bevern. Ich arbeite seit zehn Jahren an einem zweibändigen Werke über diese Stiefkinder des Schicksals. Wenn ich nun bei dieser Suche nach neuem Material für mein Werk zufällig einem Verbrechen auf die Spur komme, so muß ich doch als Bürger eines Kulturstaates der Polizei von den Zufallserfolgen meiner rein wissenschaftlichen Tätigkeit notwendig Mitteilung machen. Ich bin mithin so eine Art Detektiv wider Willen.“

„Sehr interessant!“ Bevern meinte das mehr scherzhaft, aber der alte Herr erklärte genau so ernst und würdevoll weiter: „O ja, zuweilen stoße ich da wirklich auf recht interessante Verwicklungen. Die Polizei weiß meine Tätigkeit zu schätzen. Oft genug lädt man mich ein, dunklen Ehrenmännern die Maske vom Gesicht zu reißen. Das heißt: ich selbst bleibe nach Möglichkeit im Hintergrunde. Ich bin ein höchst friedfertiger Mensch. Trotzdem –: Die armen Opfer ererbter Verbrechergelüste hassen mich, was ich außerordentlich bedauere.“

Bevern schüttelte den Kopf. „Herr Anniwrok, Sie sind, scheint’s, ein Original!“

„Ich?! Ich?! – Oh – bewahre! – – Aber nun bleiben Sie mal stehen, Herr Bevern. So, und nun sehen Sie sich mal um. Bitte, ist das nicht eine Aussicht, wie sie kaum schöner sein kann! – Dort drüben, Herr Bevern, – die beiden Bergkuppen: Schneekoppe und Grüne Kappe – also Riesengebirge! Wie ein Katzensprung bis dorthin – scheinbar, scheinbar! So vieles täuscht ja im Leben, leider – leider!“

Der alte Herr redete und redete, schwärmte, deklamierte ein Gedicht.

Und Theo Bevern richtete sein Fernglas nun dort hinab ins Flinsbergtal – dort auf das Häusli.

Und – da sagte Herr Anniwrok plötzlich sehr ernst:

„Ja – ja, wenn Sie wüßten, Herr Bevern, was dort im Gange ist!“

„Wo?!“ – Bevern starrte den alten Herrn an.

„Nun, Sie schauten doch soeben zum Kirchbach hinab, nicht wahr?“

„Ja.“

„Und dort in der Nähe dieses lieblichen Bächleins spinnt sich etwas an.“

„Ein … ein Verbrechen?!“

„Vielleicht, Herr Bevern … vielleicht! Ich weiß es noch nicht genau.“

„Oh – das müssen Sie mir näher auseinandersetzen! Kehren wir in die Hilfsbaude ein. Die eigentliche Baude ist ja leider noch immer nicht fertig. Schade drum, das wird eine Sehenswürdigkeit!“

Und dann saßen sie in der großen Bretterhütte hinter dem schlichten Fichtentisch und bestellten bei dem Wirt jeder eine große Portion Rührei mit Speck, dazu eine Tasse Kaffee, denn Herr Anniwrok betonte, daß er nie einen Tropfen Alkohol über die Lippen bringe, und Theo Bevern nickte ernsthaft und meinte, das sei ein beneidenswerter Grundsatz.

Ganz von selbst begann das Männlein nun von seiner Erholungsreise nach Flinsberg und von seinem kleinen Abenteuer auf dem Bahnhof vor drei Tagen zu sprechen.

„Ja, denken Sie, Herr Bevern, – auf dem Flinsberger Bahnhof begann die Sache. – Ich habe wie viele andere Leute eine Vorliebe dafür, Neuankömmlinge mir anzusehen. Die Gesichter verraten so viel. Ganze Romane erlebt man da, wenn … Doch ich will mich kürzer fassen. Sie werden ungeduldig, Herr Bevern. – Vor drei Tagen bemerkte ich nun unter den Reisenden einen Menschen, den ich trotz seiner Verkleidung sofort als einen alten lieben Feind wiedererkannte.“

„Hübsch gesagt: alten lieben Feind!!“

„Ach bitte, Herr Bevern! Der Mann ist einer der gefährlichsten Verbrecher Europas. Seit fünf Jahren sucht man ihn, und vor sechs Jahren hat er als Chef der Juwelenmardervereinigung Bozak viel von sich reden gemacht. Außerdem hatte er damals schon fünf Morde auf dem Gewissen. Aber er entschlüpfte mir, und lediglich seine Helfershelfer kamen ins Zuchthaus. – Nun stellen Sie sich meinen freudigen Schreck vor, als dieser Bozak plötzlich vor mir auftauchte und ich ihm dann bis zur Villa Zauberblick folgen konnte, die ja in der Nähe der Kirchbachschlucht liegt. – Hm – was fehlt Ihnen denn, Herr Bevern? Sie machen ja so merkwürdige Augen?!“

„Weiter – – weiter!“ drängte Bevern fast keuchend. „Was … was wollte dieser unheimliche Mensch in der Villa Zauberblick? – Ich wohne dort nämlich ganz in der Nähe – in dem Hause zur Kirchbachschlucht.“

Herr Anniwrok schmunzelte. „Das weiß ich, Herr Bevern! Ich bin ja so häufig dort oben und beobachte den Zauberblick, wo Joseph Bozak nun als Diener Kapitän Mallisons bieder und verwegen seine Arbeit versieht.“

„Wie?! Wie?! Bozak … Diener … bei …“

„Gewiß, Herr Bevern, – Diener mit falschen Papieren, dort eingeschmuggelt durch seine letzte Geliebte, eine Berliner Halbweltdame, die fraglos nicht viel besser als Karl Böhmer ist – so nennt Bozak sich hier. In Berlin – das stand in den Zeitungen, in einem Steckbrief – hat er jahrelang als Gerhard Raschke, als Photograph …“

Bevern hatte des alten Herrn Hand gepackt.

„Himmel – ist das Tatsache?! Dieser Raschke ist jetzt Diener bei Kapitän Mallison?“

„Freilich, freilich! – Haben Sie den Steckbrief etwa gelesen?“

„Ja, ja. Und ich … ich … Nashorn habe einen anderen Menschen im Verdacht gehabt, Raschke zu sein, – einen neuen Mitbewohner der Kirchbachschlucht.“

„Oho – spielen Sie denn ebenfalls Detektiv, Herr Bevern?! Das würde mich freuen. Dann könnten wir ja gemeinsam weiterarbeiten! – Im übrigen: in der Kirchbachschlucht ist letztens ein Maler eingezogen. Der ist jedoch harmlos.“

„Ja – und gerade den hielt ich für Raschke!!“

„Den?! – Nein, Herr Bevern. Das ist ein solider, verheirateter Mann, Vater von vier Kindern.“

„Verheiratet?! Oh – – der … Lump!!“ entfuhr es Bevern.

„Lump?! – Nicht doch, nicht doch! – Wirklich kein Lump, mein lieber Herr Bevern! Ein bescheidener Künstler ist’s, der hier Geld verdienen will – auf ehrliche Weise.“

„Durch Liebesabenteuer!!“, lachte Bevern ironisch.

„Nicht doch!! – Ich weiß schon, worauf Sie anspielen! Nicht wahr – auf die vergangene Nacht?! Stimmt das? – da lag ich nämlich wieder mal dort oben auf der Lauer, Herr Bevern. Und da haben Frau Grütner und der Maler sich so gegen Mitternacht durch das Fenster unterhalten. Er stand draußen unter dem Fenster, und die Dame reichte ihm nachher einen Zettel hinaus … das war alles. Ich hörte noch, wie er ihr zuflüsterte: „Vielen Dank, gnädige Frau.“ – Mithin ist an dieser Unterredung, die Sie vielleicht falsch einschätzten, nichts Anstößiges gewesen.“

Der Wirt brachte jetzt das Essen, und Herr Anniwrok fiel mit Heißhunger über die Riesenportion Rührei her.

Nicht so Theo Bevern. Nein, ihm war der Appetit gründlich vergangen. Der Maler also ein harmloses Gemüt, und die Unterredung am Fenster irgend eine unbedenkliche Zufallssache!! – Unangenehm war das für ihn, scheußlich unangenehm!! Das kam aber alles daher, weil man sich anmaßte, Detektiv spielen zu wollen!!

„So essen Sie doch, Herr Bevern,“ mahnte der gemütliche Herr Anniwrok. „Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie giftsaure Gurken vor sich stehen! Und dabei ist das Rührei vorzüglich. Der Speck noch besser! Speck ist überhaupt eine Wohltat. Die Menschen sollten viel mehr Speck essen, viel mehr.“

Bevern hörte gar nicht hin. Seine ganze Wut richtete sich jetzt gegen die beiden Benziehns. Die waren an alledem schuld, die hatten den Koffer heimlich umgetauscht, die hatten den blöden Wachskopf mit sich herumgeschleppt!

Und aus diesem Grimm heraus begann Theo nun wirklich zu essen und sagte dabei in abgebrochenen Sätzen:

„Bin einverstanden, Herr Anniwrok. Schließen wir einen Bund gegen die Villa Zauberblick. Ich kann Ihnen eine[16] ganze Menge mitteilen. Habe da … dämlicher Weise selbst so etwas mich als Detektiv versucht.“

„Ah – wirklich?! – Ich bin gespannt!“ Und über das freundliche Gesicht des alten Herrn huschte ein Lächeln.

Bevern berichtete. Beim Reden kam er bald in eine gewisse Begeisterung hinein, fühlte nun wieder, daß ihm die Detektivspielerei doch vielen Spaß gemacht hatte.

In der Baude erschienen neue Gäste. Ein Zitherspieler begann zu klimpern. Der Lärm nahm zu.

Bevern rückte näher an den alten Herrn heran.

Und hatte nun längst sein Mittagessen verzehrt. Redete noch immer.

„Leiser,“ sagte Herr Anniwrok flüsternd. „Hier sind zwei Ohren zuviel, Herr Bevern! Und – lachen Sie mal zwischenein, als ob Sie mir eine sehr scherzhafte Geschichte erzählen. Schauen Sie sich nun aber nicht etwa die anderen Gäste mißtrauisch an! – Weiter!“

Und als Bevern plötzlich losprustete, stimmte er in das Gelächter mit ein, warf dem Zitherspieler eine Rentenmark zu und rief: „Einen Ländler – bitte!“

Nun war Bevern bei Professor Benziehns Reise angelangt.

Da spitzte Anniwrok mehr als bisher die Ohren.

Da flüsterte er dann: „Ja – Sie haben ganz recht, Herr Bevern: wo steckt der Bursche nun, wo?! Doch fraglos noch hier in Flinsberg! Denn, um nun auch meinerseits Neuigkeiten auszukramen: die hagere Frau Benziehn tauscht noch immer Zeichen mit Helga Markert und neuerdings auch mit Joseph Bozak aus.“

„Ah – die Geschichte geht also weiter!“

„Natürlich, Herr Bevern.“ – Er trank einen Schluck Kaffee und hielt Bevern seine Zigarrentasche hin. „Der Zweck der Übung ist ja klar. Der Kapitän soll ausgeplündert werden. Erst hat sich die Helga Markert dort im Zauberblick eingenistet, ekelte den früheren Diener hinaus und stahl so einiges, das Benziehn an Raschke schickte, vielleicht, damit die Bande Betriebskapital hätte. Dann tauchte Raschke – Bozak hier auf, als neuer Diener. Und nun sind die beiden mit dem armen halb gelähmten Mallison im Zauberblick allein! Und doch – und doch: ich habe noch nie bemerkt, daß sie irgend etwas aus der Villa wegschaffen! Noch nie! – Was planen sie also?!“

Und er blickte Bevern an und – – lachte heiter, schlug leicht mit der Faust auf den Tisch und rief dem Zitherspieler zu: „Jetzt einen Walzer!“

Bevern hatte sich eine Zigarre angezündet.

„Hm – die Sorte kenne ich, Herr Anniwrok. Die raucht auch mein alter Herr, der von seinem Filius nun nichts mehr wissen will. – Jetzt sagen Sie mir aber auch: wo sind die zwei Ohren, die Ihnen verdächtig vorkommen?“

„Ja – erschrecken Sie nicht: Bozak ist hier! Er kam hinter Ihnen drein den Berg empor, und ich … ich war der Dritte, der raufkraxelte! Bozak sitzt dort am Nebentisch zwischen den beiden jungen Leuten.“ – Er flüsterte wieder und lächelte vergnügt, als handelte es sich um Witze … nur für Herren! – „Und nun bezahlen Sie Ihre Zeche und verabschieden Sie sich von mir. Dann gehen Sie zur Tafelfichte hinüber. Ich wette, der verkleidete Bozak wird sich an Sie heranmachen. Die Bande traut Ihnen nicht, das ist klar.“

„Gut – soll geschehen. – Und wie verhalte ich mich, wenn er mich aushorchen will?“

„Ich traue Ihnen zu, daß Sie von selbst das Richtige herausfinden. Jedenfalls: nehmen Sie sich vor Bozak in acht! Stecken Sie Ihre Pistole entspannt und gesichert in die Jackentasche. Es kann sein, daß Bozak Sie beseitigen will.“

Bevern zuckte nun doch leicht zusammen.

„Die Leute haben nämlich das Versteck der Wachsrequisiten entdeckt, Herr Bevern,“ nickte Herr Anniwrok schmunzelnd. „Das Versteck, das Sie für sehr sicher hielten und das doch gerade in einer Baumlücke liegt, so daß man vom Zauberblick aus mit einem Fernglase beobachten kann, wenn dort jemand sich an dem Felshaufen etwas zu schaffen macht. Kurz: Der Wachskopf ist verschwunden!“

Bevern war erstaunt, war plötzlich mißtrauisch geworden.

„Hm – ich habe Ihnen doch eben erst etwas von den Wachsdingern erzählt, Herr Anniwrok! Wie konnten Sie also von dem Versteck und von …“

Der alte Herr lachte munter.

„Sie unterschätzen mich, Herr Bevern. Ich habe mich ja auch an Frau Grütner herangeschlängelt, verehrter, junger Freund. Und hier – bitte, hier ist der Zettel, den Frau Ellen mir in der verflossenen Nacht durch das Fenster zureichte. Ich heiße nämlich nur … von hinten Anniwrok – von vorn dagegen Korwinna, und auch das ist nicht einmal mein richtiger Name. – So, nun gehen Sie … gehen Sie, und machen Sie ein anderes Gesicht! Und – – nehmen Sie sich in acht!“

Bevern drückte Korwinna die Hand. Er schauspielerte wirklich tadellos. Verabschiedete sich von dem Detektiv wie von einer Zufallsbekanntschaft, die einem recht sympathisch geworden ist. Zahlte am Schanktisch seine Zeche, kaufte noch ein Dutzend Nägel, um den Namen Heufuder-Baude an der Längswand zu vervollständigen, trieb die Nägel eigenhändig mit dem Hammer auf den vorgezeichneten Strichen ins Holz und warf dem Zitherspieler eine Mark zu.

* * *

Korwinnas Vermutung traf jedoch nicht zu. Erst auf dem Rückwege von der Tafelfichte, dem bereits auf böhmischem Gebiet liegenden Nachbarberge des Heufuder, erspähte er ganz zufällig abseits vom Wege denselben Menschen, den Korwinna ihm als Joseph Bozak bezeichnet hatte.

Dieser Bozak in dieser Maskierung glich allerdings in keiner Weise einem herrschaftlichen Diener. Nein, das ganze Aussehen bis zu dem borstigen strohgelben Kopfhaar und dem Teerquastschnurrbart von derselben Farbe wies auf einen biederen Provinzler mittleren Standes hin.

Theo Bevern schritt vorüber, warf nur einen scheinbar gleichgültigen Blick über den verkappten Verbrecher hin und begann nun den etwas anstrengenden Abstieg auf der Westseite des Heufuder, ging nachher am Rande des Schwarzbachtals weiter und war gegen fünf Uhr nachmittags am Birtschen Häusli.

Hier hackte Vater Birt draußen zwischen den Spaltholzkegeln gerade Tannenäste in kurze Stücke, begrüßte seinen Mieter mit gleichbleibender Freundlichkeit und sagte dann plötzlich ohne jeden Übergang:

„Ja, ja, nun ist Frau Grütner also auch abgereist.“

Und dabei schaute er Bevern vorwurfsvoll und sehr ernst an.

Den traf diese Nachricht wie ein Fausthieb.

Er starrte ins Leere – wie betäubt.

Er nickte nur, und wie im Traume schritt er weiter, um das Haus herum, zu seinem Zimmereingang.

Da waren Ellens beide Fenster – weit geöffnet.

Da wirtschaftete im Stübchen Frau Birt umher, rief Bevern zu:

„Soll ich noch Kaffee aufbrühen, Herr Bevern?“

„Nein – danke.“

Und er setzte sich in den Korbsessel auf seine Veranda.

Stierte hinab auf den kleinen Flinsberger Bahnhof.

Dort – dort war Ellen Grütner heute allein in den Zug gestiegen, hatte sich ihm entzogen, war im Groll von ihm geschieden. Nicht einmal einen letzten Gruß hatte sie durch Birts an ihn ausrichten lassen! –

Theo Bevern saß noch um sieben Uhr in derselben Haltung so einsam, so innerlich zermürbt auf seiner Veranda.

Bis Fräulein Johanna kam und fragte, was er zum Abendbrot wünsche.

Er schaute das junge Mädchen fast verstört an.

„Kennen Sie Frau Grütners genaue Adresse?“ fragte er beklommen.

„Nein.“

Da bestellte er … irgend etwas … „Mir ist’s gleichgültig, Fräulein Johanna! Hunger habe ich nicht.“

Wieder waren zwei Stunden vergangen. Es regnete sacht. Die Heufuder-Baude war in Wolken verschwunden. Wolkenfetzen zogen an den bewaldeten Berghängen entlang. Von der uralten Linde tropfte es unaufhörlich auf das Dach der Veranda.

Bevern hatte den Kopf nach rechts gedreht. Dort lag die Villa Zauberblick. Dort … wohnte das Verhängnis. „Nicht die Menschen – dieses Haus da ist an allem schuld!“, dachte der einsame Bevern tiefsinnig. „Wie kann man auch eine Villa „Zauberblick“ taufen!! Das heißt ja geradezu das Schicksal herausfordern! Zauberblick!! Nicht viel anders wie … böser Blick!!“

Er befand sich in einer seltsamen Gemütsverfassung. Er fühlte mit aller Klarheit, daß Ellen Grütner ihm weit mehr gewesen, als er je geglaubt hatte. Er fühlte, daß er zum ersten Male in seinem Leben … aufrichtig liebte.

Und seufzte: „Zu spät … zu spät!!“

Merkte gar nicht, daß der Regen immer stärker herabströmte, daß von Westen her über den Heufuder-Berg ein orkanartiger Sturm ungeheure Regenmengen gegen das Häusli warf, daß die Wege um das Häusli herum zu Bächen wurden.

Nein – er dachte jetzt mit stumpfsinniger Eintönigkeit stets dasselbe: „Heute ist ja der dreizehnte – der dreizehnte Juni! Der dreizehnte!! Ist’s da ein Wunder, daß dieser Tag mir so viel Unheil gebracht hat!!“

Der Regen wurde zur Sintflut.

Das war jene Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten Juni, in der das Unwetter in den Bergen so unendlichen Schaden anrichtete. Das war jene Nacht, wo Bäche zu reißenden Unholden wurden, wo jedes Rinnsal zum Bach anschwoll und tiefe Furchen in die Erde grub.

Wo der Steinbach an der Südostseite des Heufuder die Balkenbrücke wegspülte und die Bergstraße verwüstete, Löcher bis zu drei Meter Tiefe ausschaufelte und die Wasserleitung auf Hunderte von Metern freilegte, Felsstücke auf die Röhren schleuderte und Baumstämme und Geröll zu Barrikaden aufhäufte. –

Bevern war gegen elf Uhr zu Bett gegangen. Er konnte nicht einschlafen. Gegen halb elf war der besorge Vater Birt noch im Ölmantel zu Bevern gekommen und hatte gefragt, ob er nicht wüßte, wo Herr Korwinna sei. Herr Korwinna hatte doch um sieben zum Abendessen von seinem Ausflug nach der Ludwigsbaude wieder zurück sein wollen. Nun sei es fast elf Uhr, und der Maler sei noch immer nicht da.

Bevern hatte erwidert, er wüßte nichts von Korwinna. Aber Herr Birt solle sich nur keine unnötigen Gedanken machen. –

Nein – einschlafen konnte er nicht. Der Orkan fauchte gegen die Außentür, als wollte er sie einreißen. Die Verandafenster klirrten, und das Rauschen des Dorfbaches war längst zu einem Brausen geworden, das in den Pausen zwischen den Sturmstößen unheimlich drohend erklang.

Bevern lag im Dunkeln da und rauchte Zigaretten.

Stunden schlichen.

Bevern war noch immer wach.

Der neue Tag zog herauf.

Durch die Scheiben der Außentür, durch den weißen Vorhang grinste der Morgen.

Bevern schlief nicht.

Sah den Schatten draußen an der Tür, hörte das leise Pochen. War im Moment aus dem Bett, öffnete. Und Fritz Birt stand vor ihm, eingewickelt in ein geteertes Stück Leinen.

„Herr Bevern … Herr Bevern …“, flüsterte der schlanke junge Bursche atemlos und mit flatternder Kinnlade … „Ich … war soeben unten an der Brücke über den Kirchbach, wollte sehen, ob das Wasser sehr hoch gestiegen. Es geht über die beiden Steinplatten hinweg, und … rechts daneben liegt im Strauche festgeklemmt eine … Leiche …“

Er schauderte zusammen.

„Eine völlig nackte Leiche mit ganz zerschmettertem Kopf … Und … sie … sie … stinkt schon, die Leiche, Herr Bevern. – Wollen Sie nicht mal mit mir kommen? Es ist zwar erst drei Uhr morgens, aber … aber – – ich glaube: es ist Kapitän Mallison! Ich weiß, daß er in den Ohrläppchen nach Matrosenart kleine goldene Ringe trägt und daß er an der linken Hand einen Anker und eine Fahne eingraviert hat.“

Theo Bevern schüttelte den Kopf. „Lieber Fritz, Kapitän Mallison kann es nicht sein. Den sah ich noch heute vormittag auf seiner Veranda sitzen, und deshalb ist es ausgeschlossen, daß jener bereits in Verwesung übergegangene Leichnam der des Kapitäns sein kann.“

„Aber – – aber die Ohrringe – – und die Tätowierung, dann noch der … der verkrümmte linke Fuß mit den vielen Narben. Dem Kapitän hat doch ein stürzender Mast das linke Bein zerschlagen.“

Da wurde Bevern doch stutzig.

Und – – da betrat plötzlich eine zweite triefende Gestalt das Zimmer: Korwinna!!

Flüsterte hastig: „Was gibt’s hier? Ich sah Fritz hier Einlaß begehren. Ich lag drüben auf der Wiese auf der Lauer.“

Bevern erwiderte – ebenso leise:

„Fritz behauptet, daß Kapitän Mallisons Leiche unten an der Brücke des Kirchbaches im Gesträuch hängt.“

Korwinna stand einen Moment reglos.

Dann lebte er auf.

„Herr im Himmel, – das wäre eine Lösung! Vorwärts – – gehen wir!! Eilen wir! Ziehen Sie sich an, Herr Bevern. Folgen Sie uns.“

Und er packte Fritz Birt am Arm und drängte ihn zur Tür hinaus – hinaus ins das Unwetter – zum Kirchbach hin.

Lief voran.

Und sah im Regennebel und Zwielicht des unheimlichen Morgens den nackten Toten.

Sah die Wasser des Baches breite Streifen Wiese mit fortnehmen.

Dachte: „Es ist Mallison!! Die Schurken hatten die Leiche irgendwo oberhalb am Bachufer vergraben. Die Wassermassen haben sie wieder zu Tage gefördert.“

Auch Bevern kam nun herbei im langen Gummimantel, nur notdürftig angekleidet.

„Schnell! Geben Sie Ihre Leinwand her, Fritz,“ befahl Korwinna energisch. „Wir müssen die Leiche bergen … verbergen, bis wir … dort im Zauberblick aufgeräumt haben.“

Bevern überwand die Scheu vor dem Toten, faßte mit an.

Und gleich darauf lagen Kapitän Mallisons sterbliche Überreste in der Birtschen Scheune. Niemand hatte den Transport der Leiche mit angesehen. Und Fritz versprach zu schweigen. –

Bevern und Korwinna saßen nun in der Birtschen Küche am flackernden Herdfeuer. Knisternd und knallend brannten die Tannenäste.

Fritz Birt brühte für die Herren Kaffee auf. Im Hause schlief noch alles.

„Bis zehn Uhr warten wir,“ sagte Korwinna finster. „Dann gehen wir hinüber, Herr Bevern. Fritz benachrichtigt inzwischen den Amtsvorsteher. Der Landjäger muß in Zivil uns begleiten. Ich bin ja nur Privatdetektiv, und mein wahrer Name ist Werner Korwing, Herr Bevern. – Bitte, noch eine von Ihres Herrn Vaters Zigarren gefällig?“

Da … ruckte Theo Bevern hoch.

„Was … heißt das?! Von … meines Vaters Zigarren?!“

„Später – später, – und nicht zu Ihrem Schaden, Herr Bevern! – Nein, nein, – nichts fragen! Es wird sich alles finden.“

* * *

Der Sturm hatte ausgetobt. Aber es sprühte noch immer in feinen Strahlen vom Himmel, und die Berge ringsum schwammen in einem Nebelmeer.

Werner Korwing und Theo Bevern klommen den Weg zum Zauberblick empor. Der Landjäger hatte noch telephonisch zwei Kollegen herbeigerufen, und diese drei Beamten hatten sich so um die Villa verteilt, daß niemand[17] entschlüpfen konnte.

Korwing öffnete die Gartentür, und die beiden Herren schritten auf den Haupteingang zu.

Helga Markert erschien erst nach mehrmaligem Läuten, ließ aber die Sicherheitskette der Haustür vorgelegt. Sie stutzte, als sie Bevern erkannte.

Bevern nickte ihr zu.

„Wir möchten Herrn Kapitän Mallison sprechen,“ erklärte er freundlich.

Und der angebliche Maler Korwinna fügte ebenso harmlos hinzu: „Das heißt, wir möchten gern Herrn Mallisons exotische Sammlungen uns ansehen, Fräulein. Ich bin Maler. Mein Name ist Korwinna.“

Helga Markerts mißtrauische Blicke wurden argloser.

„Herr Mallison ist leider beschäftigt, meine Herren,“ entgegnete sie mit einem koketten Lächeln, das dem Maler hauptsächlich galt. „Der Notar aus Greiffenberg und ein anderer Herr sind bei dem Kapitän. Vielleicht bemühen sich die Herren eine Stunde später nochmals her.“

„Schade!“ seufzte Korwinna kläglich. „Fräulein, ich reise ja bereits nachmittags ab. Wollen Sie nicht doch wenigstens den Versuch machen, ob …“

„Ja, – bitte treten Sie ein. So – vielleicht nehmen Sie hier in der Halle erst mal Platz.“

Werner Korwing schaute sich in dieser hohen, seltsam ausgeschmückten Vorhalle wie bewundernd um.

„Ah – die Schiffsflaggen sämtlicher Länder!“ sagte er leise. „Was ist denn das, Fräulein?“

Und er deutete auf zwei überlebensgroße Holzgötzen malaiischen Ursprungs, zwang Helga Markert so, sich umzudrehen.

Und – kaum hatte sie ihm den Rücken zugekehrt, als er auch schon ihre Handgelenke packte.

„Keinen Laut!“, drohte er.

Stahlfesseln schnappten zu.

Und aus einem vor Schreck und Entsetzen grüngelben Gesicht stierte das Mädchen nun die beiden Herren entgeistert an.

„Wo ist Bozak?“ fragte Korwing energisch. „Antworten Sie!! Bedenken Sie – es geht hier um Mord!!“

Helga Markert zitterte … „Oben – oben in des Kapitäns Herrenzimmer – als … Zeuge …“ – Man merkte, daß sie völlig verstört war.

„Führen Sie uns dann nach oben – aber leise!“ befahl Korwing. –

In des Kapitäns Zimmer saßen um den Mitteltisch herum der Notar, der Berliner Kunsthändler Gorten, der Kapitän Mallison und etwas abseits der neue Diener.

Gorten wollte die Villa Mallisons mitsamt der Einrichtung und allen Raritäten für 125 000 Goldmark kaufen, wovon 80 000 sofort ausgezahlt werden sollten. Der Kaufvertrag war bereits aufgesetzt und soeben von Gorten und Mallison unterzeichnet worden. Der Notar hatte den Kapitän heute erst kennengelernt, während Gorten bereits drei Tage in Flinsberg weilte und den Wert der im Zauberblick aufgestapelten exotischen Andenken abgeschätzt hatte.

Nun begann der bekannte Kunsthändler die Anzahlung auf den Tisch zu zählen.

„21 000 – 22 000 – – 23 000.“

Da flog die Flurtür auf.

Korwing, Bevern, hinter ihnen zwei Landjäger in Zivil drangen rasch ein.

Im Nu war der völlig überraschte Bozak gefesselt. Im Nu hatte der Detektiv auch dem im Krankenstuhl sitzenden Mallison Bart und Perücke herabgerissen.

„Herr Professor Benziehn, wir feiern hier ein für Sie unfrohes Wiedersehen,“ sagte er ironisch. „In Wahrheit heißen Sie etwas anders und sind längst Gast im Verbrecheralbum!“

Der Notar und der Kunsthändler begriffen zunächst gar nicht, was hier eigentlich vorging.

„Sehr einfach,“ erklärte der Detektiv kurz, „der echte Kapitän ist von diesen Schurken ermordet worden, und Sie, Herr Gorten, sollten um die 80 000 Mark Anzahlung auf diese Weise geprellt werden. Mit dem Gelde wäre die Bande dann noch heute spurlos verschwunden!“

Zehn Minuten später war die Villa Zauberblick polizeilich versiegelt. Werner Korwing und Theo Bevern standen draußen auf dem steinigen Pfade und schauten den Verhafteten nach, die von den Beamten hinab ins Dorf geführt wurden. Auch Frau Professor Benziehn hatte jetzt ihre Rolle ausgespielt und schritt neben ihrem angeblichen Gatten gesenkten Hauptes durch den Sprühregen dem … Zuchthause zu.

„So, das wäre erledigt,“ sagte der Detektiv. „Nun wird Ihnen, Herr Bevern, ja auch klar sein, weshalb Benziehns den Wachskopf, die Wachshände und das Rohrgestell in Form eines menschlichen Rumpfes mit hierher gebracht hatten. Sie beabsichtigten anfänglich, einen künstlichen Kapitän Mallison zur Täuschung der Nachbarschaft auf den Balkon zu setzen und lediglich die Villa auszuplündern. Dann erweiterten sie ihren Plan, und Benziehn trat als Mallison in die Erscheinung. – Um nun auch noch von uns beiden zu sprechen, Herr Bevern: Ihr Herr Vater, der Ihrer Gesundheit wegen doch recht besorgt war, hat mich hier nach Flinsberg geschickt. Ich sollte sehen, was Sie hier trieben, und ich habe“ – er lächelte fein – „sehr günstig nach Berlin berichten können. Die Brunnenkur hat außerordentlich gut gewirkt, Herr Bevern, – auch auf Ihr Herz, nicht wahr? – Und nun das letzte: Frau Ellen Grütner hat Flinsberg nicht verlassen. Sie wohnt im Pensionat Glückauf, und – auch Ihr Herr Vater ist heute morgen im Auto dort eingetroffen.“

Bevern verstand.

Bevern drückte Korwings Hände, stürmte davon – den Pintsch-Weg entlang.

„Langsam – langsam!“ rief der Detektiv ihm schmunzelnd nach.

Und im Glückauf im Zimmer Nr. 18 fand Theo Bevern seinen Vater und die Geliebte vor.

Fand bei beiden Verzeihung, fand hier seines Lebens wahren Inhalt: die Frau, die wieder so jung und frisch geworden, deren Lippen in tiefer Zärtlichkeit ihm entgegenblühten. –

Die Villa Zauberblick gehört jetzt dem jungen Ehepaare Bevern.

Oft, so oft stehen sie eng umschlungen auf dem Balkon und schauen hinweg über das liebliche Tal – über ihren Garten Eden.

 

Ende!

 

 

Anmerkungen:

  1. „Heufuder-Berg(es)“ / „Heufuderberge“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Heufuder-Berg(es)“ geändert.
  2. Ausgerechnet Bananen / Bananen verlangt sie von mir!“: Refrain eines überaus erfolgreichen Schlagers der 20er Jahre. Es ist der deutsche Titel des US-amerikanischen Schlagers „Yes! We Have No Bananas“, den Frank Silver und Irving Cohn 1922 veröffentlicht hatten. Der österreichische Librettist und Schlagerdichter Fritz Löhner schrieb unter seinem Künstlernamen Beda 1923 darauf einen deutschen Text, unter dem das Stück wohl bekannter geworden ist als sein englisches Original.
  3. „Coupeekoffer(s)“ / „Koupeekoffer(s)“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Coupeekoffer(s)“ geändert.
  4. „Heufuder-Baude“ / „Heufuderbaude“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Heufuder-Baude“ geändert.
  5. In der Vorlage steht: „Varitee“.
  6. In der Vorlage steht: „Teo“.
  7. In der Vorlage steht: „vervielfältigen“.
  8. In der Vorlage steht: „mußten“.
  9. In der Vorlage steht: „herber“.
  10. In der Vorlage steht: „gebeugtn“.
  11. In der Vorlage steht: „engleiten“.
  12. Fehlendes Wort „die“ ergänzt.
  13. In der Vorlage steht: „Verranda“.
  14. In der Vorlage steht: „ich“.
  15. In der Vorlage steht: „ihr“.
  16. In der Vorlage steht: „ein“.
  17. In der Vorlage steht: „nieman“.