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Als Harst verschwand …

 

 

Walther Kabel

 

Als Harst verschwand …

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1926 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Ein Schuß aus dem Auto?

Diese wundervollen, nicht allzu heißen und dabei so herbstlich klaren ersten Augusttage des Jahres 1924 verlebten Harald Harst und ich in unserem Heim in Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10.

Es war gerade flaue Zeit für uns. Außer ein paar ganz nebensächlichen Aufträgen, die in ein paar Stunden erledigt waren, ereignete sich nichts von Bedeutung.

Harald experimentierte sehr viel in seinem im zweiten Stockwerk des alten Harstschen Familienhauses gelegenen Laboratorium, und ich beschäftigte mich mit Gartenarbeiten, da ich zu meinem Entsetzen festgestellt hatte, daß mein Körpergewicht um fünf Pfund gestiegen war, was ich mir bei meinem bereits vorhandenen Bäuchlein nicht leisten kann.

In unseren Gartenbeeten hauste[1] in diesem Jahre eine große Menge jener seltsamen, abschreckend häßlichen großen Grabkäfer, die man Maulwurfsgrillen benannt hat, weil sie gleich dem Maulwurf ein unterirdisches Dasein führen. Der Fang dieser schädlichen Tiere bot mir, da es an spannenden Kriminalfällen fehlte, wenigstens einige Anregung, zumal eine Maulwurfsgrille sehr schwer zu überlisten ist. –

Es war am frühen Morgen des 11. August. Ich hatte seit sechs Uhr eine große Treibjagd auf Maulwurfsgrillen veranstaltet, hatte viel Petroleum dabei verbraucht und glücklich drei „Nester“ ausgehoben, jene harten Erdklumpen, in deren Mitte diese Riesenkäfer ihre Behausung haben.

Ein einfach gekleideter, sonnengebräunter Mann hatte mir eine geraume Weile, auf den Staketenzaun nach dem nahen Laubengelände hin gelehnt, schweigend zugeschaut und rief nun herüber:

„Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht Herr Max Schraut, der Freund des berühmten Detektivs?“

„Mein Name ist Schraut … – Haben Sie ein Anliegen?“ – Und ich stellte den Spaten weg, wischte mir die petroleumfeuchten Hände an einem Lappen ab und näherte mich dem Manne, dessen ganzes Äußere bieder und harmlos wirkte. Ich schätzte ihn auf einen Landwirt ein. Daß er irgend etwas auf dem Herzen hatte, sich jedoch nicht recht zu uns getraute, war unschwer zu merken.

Er zog jetzt seine blaue Tuchmütze, an der vorn ein Messingschildchen mit einem Anker darin befestigt war, ähnlich dem Abzeichen eines Segelklubs …

„Karl Mischke,“ stellte er sich vor, und seine braunen Augen ruhten unsicher auf meinem Gesicht, als wollte er ergründen, ob ich eine zugängliche Natur sei.

„Morgen, Herr Mischke… – Haben Sie den Roggen schon eingefahren?“ fragte ich mehr auf gut Glück.

Er nickte eifrig. „Ja – alles schon drin, Herr Schraut …“ Dann stutzte er, dachte nach und meinte verlegen: „Woher wissen Sie, daß ich Bauer bin? Kennen Sie mich vielleicht von einem Ausfluge her? Ich verkaufe ja häufig Obst an Berliner …“

Aha, Ausflügler – Anker an der Mütze – Obst! Mischke mußte irgendwo in der Nähe von Berlin am Wasser wohnen …!

„Ich kannte Sie bisher nicht, Herr Mischke,“ lautete meine Antwort. „Sind Sie mit dem Dampfer nach Berlin gekommen?“

„Nein … Mit einem kleinen Motorboot. Ich habe Augustäpfel mitgebracht …“ – Er sagte das fast ängstlich, und ich fühlte geradezu, daß meine harmlosen Kombinationen ihn verwirrten. Das wollte ich nicht. Und deshalb erklärte ich nun noch freundlicher:

„Schießen Sie nur los, Herr Mischke, falls Sie irgend etwas bedrückt. Bei uns hier finden sich ja zumeist Leute ein, die Harald Harst was zu beichten haben, die bei ihm Rat und Hilfe suchen …“

Er schaute zu Boden, rüttelte verlegen an den Zaunstäben und meinte zögernd:

„Ich … ich habe schon so viel von Ihnen beiden gehört, Herr Schraut … Und da ich doch nun in meinem neuen Hause auch Zimmer an Sommergäste abgebe, wollte ich Sie beide einladen – so zur Erholung … Es soll Ihnen gar nichts kosten … Und der Wald bei uns in Ferch ist doch so schön, und … und auch angeln könnten Sie dort und mit meinem Motorboot fahren … Ich hab’ gerade noch das Zimmer mit der Veranda frei …“

Jetzt blickte er mich an. Und da gewahrte ich in den bisher so ehrlichen braunen Augen des vielleicht Dreißigjährigen einen Ausdruck von pfiffiger Verschlagenheit, etwas Hinterhältiges …

Oho – dieser Karl Mischke war ein Blender! Der Mann war anders, als er sich gab …!

Und so erwiderte ich denn, um rasch Klarheit zu gewinnen:

„Lieber Herr Mischke, hier bei uns spielt man am besten mit offenen Karten …! – Sagen Sie doch gerade heraus: Sie wollen uns gern in Ferch in Ihrem Hause haben, weil es dort für Detektive Arbeit gibt!“

Leider mußte ich nun erfahren, daß diese Taktik von mir grundfalsch gewesen.

Mischke war leicht zurückgeprallt – wie vor Schreck, warf mir jetzt einen giftigen Blick zu und lachte ärgerlich auf …

„Bei mir gibt es nichts zu spionieren! Bei mir herrscht Ordnung – in allem! Und wenn die Herren gleich mit solchen Gedanken zu mir kämen, dann … dann lassen wir’s lieber bleiben …! – Morgen, Herr Schraut …“

Er faßte an die Mütze und ging immer rascher den Weg am Laubengelände entlang … –

Ich kehrte an meine Arbeit zurück. Und da die Petroleumdünste eine mir bisher entwischte Maulwurfsgrille jetzt zu schleuniger Flucht getrieben hatten, da das Tier sich hierbei durch das Aufwerfen der Erde verriet und ich schleunigst zum Spaten griff und den geeigneten Moment abwartete, es ans Tageslicht zu befördern, vergaß ich Herrn Mischke sehr bald, und dies um so mehr, da eine Stunde später gegen acht Uhr Harald er[schien, der Erfolg hatte mit seinem verbesserten Ver]fahren[2] und mir mitteilte, daß[3] es ihm soeben mit seinem neuen Vierlampenempfänger geglückt sei, Radiodepeschen aus Malta klar abzuhören.

Er experimentierte seit Wochen schon, baute selbst Apparate und hatte als Amateur von vielseitiger Bildung gute Erfolge erzielt und auch selbst Schaltungen erfunden, die denen der neuesten Superrückkopplung[4] ähnlich waren.

Dann besichtigte er meine „Strecke“. Fünf Maulwurfsgrillen hatte ich erlegt, und er war überrascht über diese Anzahl, die wir bisher nie erreicht hatten.

Plötzlich tauchte Mathilde, die alte dicke Köchin auf.

„Herr Harald … Herr Harald …! Ein Herr ist da …,“ keuchte sie … „Ein feiner Herr – mit einem Auto, – – in Ihrem Arbeitszimmer …“

„Auch das Auto?!“ lachte Harst …

Mathilde war empfindlich. „Sie können wen anders aufziehn, nicht mir!!“ rief sie empört und eilte von dannen …

Fast vierzig Jahre diente sie den Harsts schon. Da konnte sie sich diesen Ton schon erlauben.

Sie hatte Harald eine Visitenkarte gegeben, und mein Freund las nun halblaut den Aufdruck vor:

Reginald Boston Chaak,
Chihuahua, Mexiko.

„Sehen wir, was Mr. Chaak wünscht,“ meinte Harald dann …

Und wir gingen ins Haus. Ich verschwand im Vorderflur rechts noch rasch in meinen Zimmern, um mich umzuziehen. In meinem Gartenhabit konnte ich Mr. Chaak nicht gegenübertreten.

In meinem Wohnzimmer standen die Fenster offen. Ich sah, daß vor unserem Vorgarten auf der stillen Blücherstraße kein Auto hielt. Wenn Mr. Chaak also im Kraftwagen gekommen war, dann mußte er diesen weggeschickt haben.

Ich hatte noch den Türgriff der Schlafstubentür in der Hand, als ich vom Flur her Haralds Stimme vernahm: „Rasch – hierher!! Rasch!“

Ich hörte eine Tür klappen … Ich ahnte, daß etwas geschehen. Und mit ein paar Sprüngen war ich in Haralds Arbeitszimmer …

Prallte zurück …

Auf dem Teppich vor dem linken offenen Fenster lag neben dem indischen Elfenbeintischchen ein jüngerer bartloser Mann auf dem Rücken:

Reginald Boston Chaak!

„Tot,“ sagte Harald … „Ermordet …! Schuß durch’s Fenster in den Hinterkopf …“

Ich war so entsetzt, daß ich nur flüstern konnte:

„Erschossen?! Das ist …“

„… Tatsache,“ ergänzte Harst …

Er kniete neben Chaak und fügte hinzu:

„Rufe die Polizei an … Melde Mord … Die Herren werden nicht schlecht erstaunt sein: Der erste Mord im Harstschen Hause!“

Eine halbe Stunde drauf arbeitete bei uns die Mordkommission.

Und – sie arbeitet schnell! Der Riesenapparat der Berliner Kriminalpolizei läuft wie eine gut geölte Maschine …

Ich will hier nur folgendes von den bereits nach anderthalb Stunden vorliegenden Feststellungen erwähnen:

Ein Reginald Boston Chaak war in keinem Hotel, keinem Pensionat gemeldet. Das geschlossene, dunkelgrüne Privatauto, das ihn zu uns gebracht hatte, war außer von Mathilde auch von drei Straßenreinigern gesehen worden. Diese sagten übereinstimmend aus, daß ein bärtiger Schofför den Wagen gelenkt habe und daß das Auto sehr bald wieder davongefahren sei. Es hatte vielleicht vier Minuten vor unserem Hause gehalten. Einen Schuß hatten die Leute bestimmt nicht gehört. Auf der Straße habe sich zu der fraglichen Zeit nur ein einzelner Mann mit Seglermütze befunden, der eine Weile neben dem Auto gestanden und nach dem Hause hingeschaut habe. –

Als die drei Straßenreiniger in Harsts und meiner Gegenwart das zu Protokoll gaben, dachte ich sofort an Karl Mischke aus Ferch. Kein Zweifel: er war dieser Mann gewesen! Die Beschreibung stimmte ganz genau.

Ich hätte ja nun eigentlich meine Bekanntschaft mit Mischke den Beamten gegenüber gleichfalls erwähnen müssen. Aber – etwas Besonderes hielt mich davon ab …!

In den Taschen des eleganten Sommeranzugs Chaaks hatte die Polizei lediglich dreihundert Dollar in Scheinen und ein neues Taschentuch gefunden, außerdem aber noch im Westenfutter die Hälfte einer Dampferfahrkarte Wannsee–Ferch …

Wannsee – – Ferch – – Ferch!!

Und diese Fahrkarte war’s, die eine lose Verbindung zwischen Karl Mischke und dem fraglos etwas geheimnisvollen Chaak herstellte!

Deshalb … schwieg ich! –

Um zehn Uhr vormittags war der Tote bereits abgeholt, und Harald und ich waren wieder allein im Arbeitszimmer, wo lediglich noch der kleine Blutfleck auf dem Teppich an das Kapitalverbrechen erinnerte.

Ich will nun hier in diesem Anfangskapitel auch gleich den dritten wichtigen Vorfall dieses Vormittags angeben: den Besuch Klara Rintels[5]!

Fräulein Klara Rintel, Korrespondentin bei der Deutsch-Amerikanischen Handelskompagnie, Berlin, Mauerstraße, erschien gegen halb elf und trug folgendes vor:

„Ich habe zur Zeit Urlaub. Ich bin zu meiner Erholung mit meiner Mutter nach Ferch am Schwielowsee gezogen, wo wir bei dem Bauern Emil Rohr wohnen. – In der verflossenen Nacht beobachtete ich von meinem Mansardenstübchen aus etwas sehr Merkwürdiges. Außerhalb des Grundstücks steht eine uralte Eiche. Von dem weit über den Zaun hinwegragenden mannsdicken Ast der Eiche schwebte an einem langen Strick ein Mann, der die Leine in pendelnde Bewegung gesetzt hatte. Der Mann schwebte so hin und her, bis die beiden großen Wolfshunde Rohrs ihn bemerkt hatten und laut anschlugen. Da kletterte der Mann an der Leine empor und tauchte im Dunkel der Baumkrone unter. Ich blieb noch zehn Minuten hinter den Vorhängen stehen, ging dann aber wieder zu Bett. Dies geschah um ein Uhr morgens. Um zwei schlugen die Hunde noch wütender an, und darüber erwachte ich aufs neue. Ich trat wieder ans Fenster und sah Rohr mit einer Flinte im Garten, wie er zu den Eichenästen emporblickte. Als ich seiner Frau heute morgen das Beobachtete erzählte – Rohr selbst war mit seinem Motorboot nach Berlin gefahren –, meinte Frau Rohr, ich müsse wohl all das nur geträumt haben. Sie tat es jedoch so verlegen und aufgeregt, daß ich annehmen muß, sie wollte mir etwas ausreden, was ihr selbst unangenehm sei. – Da ich hier in der Stadt heute Einkäufe zu erledigen habe, wollte ich Ihnen, Herr Harst, die Angelegenheit unterbreiten …“

Harald fragte noch einiges, und dann verabschiedete sich Fräulein Rintel wieder.

Als sie gegangen, berichtete ich nun meinerseits Harst, was ich mit Karl Mischke erlebt hatte und fügte hinzu:

„Dieser Emil Rohr ist nach Fräulein Rintels Beschreibung kein anderer als Karl Mischke, und Karl Mischke ist auch der Mann mit der Seglermütze, der sich draußen auf der Straße herumdrückte …“

„Also – – hat Mischke sich hier umgetauft. – Warte mal … Ich laufe mal hinten in den Garten und will zusehen, ob Mischke-Rohr vielleicht dort abermals unseren Zaun beehrt.“

Und – – von diesem eiligen Gang in den Gemüsegarten kehrte Freund Harald nicht zurück …

Er war aus dem Garten spurlos verschwunden.

So – – verschwand Harald Harst damals … –

Und nun will ich den Hauptpersonen dieses Dramas in den folgenden Kapiteln eingehendere Charakteristik zukommen lassen …

 

2. Kapitel.

Der Mann mit den sieben Visitenkarten …

Sie sind es wert, daß man ihnen bis in die Tiefen ihrer Seelen und Seelchen hinableuchtet. Alle sind sie es wert: sowohl der Herr Emil Rohr aus Ferch, als auch Fräulein Klara Rintel! Noch interessanter aber sind die anderen, die im Verlauf dieses unseres Abenteuers auftreten werden. Und wenn dann zum Schluß die Lösung all der Widersprüche und Rätsel sich nach harten geistigen und leider auch … körperlichen Kämpfen wie von selbst einstellt, wird der Leser sagend: Nein – das hätte ich nie gedacht!! –

Nunmehr also wieder zurück in Haralds Arbeitszimmer, am 11. August 1924 vormittags elf Uhr …

Ich sitze im Klubsessel und grüble. Harst ist im Garten …

Ich grüble und warte auf Harst. Rufe mir ins Gedächtnis zurück, was Harald mir vor dem Eintreffen der Kriminalpolizei über den Mord erklärt und was dann auch Kommissar Doktor Bloch angenommen hat. Der Schuß auf Reginald Boston Chaak kann nur durch das Fenster, das Türfenster des dunkelgrünen Autos abgegeben worden sein – aus einer Luftbüchse mit sehr starker Durchschlagskraft und sehr geringem Entladungsgeräusch! Die Kugel flog durch das offene Zimmerfenster dem ahnungslosen Chaak ins Hirn und streckte ihn wie vom Blitz gefällt nieder, als Mathilde ihn uns meldete.

Mithin: in dem Auto mußte noch jemand gesessen haben außer dem Schofför[6], und dieser Jemand mußte mit Einwilligung des Fahrers den Mord begangen haben, da ja der Kraftwagen sofort schleunigst davongefahren war!

Dies hatte auch Doktor Fritz Bloch betont.

Und ich nun, so allein mit meinen Gedanken am Tatort, ich zog Herrn Emil Rohr mit in den Kreis der Verdächtigen hinein.

Auch Rohr konnte der Mörder sein. Es gibt Luftbüchsen, deren Lauf und Schaft sich leicht trennen läßt. Beide Teile kann man leicht unter den Kleidern verbergen. Unserem Hause schräg gegenüber liegt ein Holzhof mit hohem Bretterzaun, dessen Einfahrt am Tage meist offen ist! Rohr konnte hinter dem Zaun hervor durch ein Astloch geschossen haben und war dann über die Straße gegangen und hatte eine Weile neben dem Auto gestanden, vielleicht um zu sehen, ob Chaak auch wirklich tot sei. Nachher war er verschwunden – eben harmlos tuend weitergeschlendert …

Ich saß da und wartete noch immer auf Harald …

Grübelte weiter …

Stellte mir Reginald Boston Chaaks junges, energisches Gesicht vor, in dem selbst der Tod die Linien von Willenskraft nicht hatte verwischen können …

Ein Mann von etwa achtundzwanzig bis dreißig, hatte auch Bloch geschätzt.

Und ein Mann, der nicht nur durch seinen Tod viel zu denken gab, sondern der auch dadurch äußerst geheimnisvoll erschien, daß er in seinen Taschen lediglich Banknoten und ein ganz neues Schnupftuch außer der ins Westenfutter durch eine aufgetrennte Naht gerutschten[7] Fahrkarte Wannsee–Ferch bei sich trug – nichts weiter, auch nicht die geringste Kleinigkeit!

Man beachte: ein Herr, der tadellos angezogen ist, der seidene Unterwäsche trägt, dessen Hände fein gepflegt sind, dessen Gebiß die Nachhilfe eines erstklassigen Zahnarztes zeigt: der Mann nur mit Taschentuch und genau dreihundert Dollars!! – Und – in der Wäsche, dem Anzuge nirgends ein Firmenschildchen – nirgends! – Und dazu noch das dunkelgrüne Auto mit dem schwarzbärtigen Schofför, von dem der eine Straßenreiniger erklärt hatte: „Wie’n bärtiger Japaner sah der Kerl aus – braungelb die Visage!“

Und da hatte Doktor Bloch nachher zu uns geäußert: „Vielleicht ein Mexikaner! Chaak stammt ja aus Mexiko …!“ –

Und ich – ich saß und wartete …

Dachte nun zur Abwechslung wieder an Fräulein Klara Rintel, die frische, schicke, etwas kokette Korrespondentin, die fraglos sich diebisch gefreut hatte, als sie nun mit gutem Grund einmal den berühmten Harst aufsuchen konnte, der ja noch weit mehr das Ziel heimlicher Sehnsucht für viele Mädchenherzen ist als irgendein Kinomime!

Dieses blonde Klärchen mit dem ganzen Charme der Berlinerin hatte mir gefallen. Das heißt: so wie einem Großpapa ein Balletteuschen gefällt! In allen Ehren – aus Not zur Tugend! – Über solche Dummheiten sind wir ja längst hinaus. Dazu haben wir einfach keine Zeit!

Klärchen Rintel war gegangen und hatte neben einem Händedruck die Zusicherung erhalten, wir würden mal nach Ferch kommen und dort nach dem Rechten sehen. Fräulein Klärchen möge aber keiner Seele gegenüber erwähnen, daß sie bei uns gewesen.

Nun kennt der Leser die Vorgeschichte schon genauer. Und nun wird er sofort erfahren, daß Maulwurfsgrillen – tote Maulwurfsgrillen auch ihre Bedeutung haben können!!

Kurz: ich fühlte mich durch Haralds Ausbleiben beunruhigt und ging in den Gemüsegarten …

Kein Mensch zu sehen …

Nur in den Lauben drüben war’s lebhaft wie immer. Es war ja heute der letzte Ferientag, und deshalb lärmte die liebe Jugend doppelt kräftig … –

Kein Mensch zu sehen …

Und ich stand neben den Gartenbeeten und sagte mir:

„Du siehst hier nichts mehr! Aber Harald hat fraglos etwas bemerkt, und diesem Etwas ist er nachgeschlichen!“

Dann fiel mein Blick nach links – auf meine „Strecke“ – auf die fünf gemordeten Maulwurfsgrillen …

Hm – die lagen jetzt fein sauber ausgerichtet in einer Reihe, und dort, wo die Grabklauen der dem Zaune am nächsten Befindlichen den Sand berührten, ragte ein weißer Fidibus aus der Erde.

„Aha – schriftliche Meldung!“ schoß es mir durch den Kopf.

So war es auch …!

Ein Zettel – ein aus Haralds Notizbuch herausgerissenes Blatt …

Bleistiftzeilen:

Ich verschwinde! Große Sache!!!

H.

Das – war alles!

Aber es war übergenug.

Wenn ein Harald Harst hinter „Große Sache“ drei dicke Ausrufungszeichen malt, dann ist es sicherlich eine Riesensache – ein Problem 1a, ein Kriminalfall ganz nach unserem Geschmack …

Und ich kehrte nun gedankenvoll ins Haus zurück …

Frau Auguste Harst, Haralds lieb Mütterlein, meine mütterliche Freundin, saß auf der schattigen Veranda und stopfte unsere Sommersocken mit Kunstfertigkeit und Geduld. Die „Stopfel“ waren nie zu bemerken und taten unserer … Vornehmheit keinen Abbruch.

„Wo ist Harald, lieber Schraut?“ rief sie mir zu …

„Arbeit – – weg – für unbestimmte Zeit, Mutter Harst … Und auch ich verreise … Ich komme mich noch verabschieden.“

Sie seufzte sehr vernehmlich. „Ach – diese Aufregung heute …!! Schrecklich …!! Ich habe Ihre grauseidenen aus Versehen mit Grün gestopft, lieber Schraut … So was ist mir noch nie passiert!“

Wieder ein Seufzer. Sie blickte mich durch die auf die Nasenspitze gerutschte Brille traurig an …

„Bei dem schönen Wetter Verbrecherjagd! Da hättet Ihr lieber einen Ausflug machen sollen. Aber Mathilde meint ja auch, daß dieser Mörder des netten Amerikaners gefunden werden muß … Nicht wahr, es muß doch ein Amerikaner gewesen sein …“

„Oder Engländer. Reginald Boston als Vornamen deutet freilich auf Amerika hin …“

Da meldete Mathilde sich aus dem offenen Küchenfenster …

„Er sprach aber deutsch mit mir, der Ärmste … Und er sprach’s ganz fließend, gar nicht so wie’n Ausländer, Herr Schraut … – Haben Sie jetzt eigentlich seine Aktentasche gefunden?“

Aktentasche – –?! Das war ja ganz etwas Neues!

„Hatte er denn eine Aktentasche bei sich …?!“ Und ich blickte zu Mathildens kleiner überrunder Gestalt empor, die nun weit aus dem Küchenfenster lehnte …

„Jott – schauen Sie mich nich so wütend an, Herr Schraut!“ verteidigte sie sich eifrig. „Der Mensch kann doch was vergessen … und noch, wenn man so aufgeregt ist! Ja – er hatte ne dunkelbraune Aktentasche mit – ganz bestimmt, und aus der nahm er doch die Visitenkarte heraus … Es war noch mehr in der Tasche drin … Aber er hielt sie so, daß ich nicht reinkucken konnte …“

Ich eilte schon die wenigen Stufen zum Hausflur empor …

Die Aktentasche – die mußte Reginald Boston Chaak bei uns im Zimmer irgendwo versteckt haben, bevor wir eintraten, bevor ihn die tödliche Kugel erreichte …!!

Ich also hinein in Haralds Arbeitszimmer.

Stand nun unter dem Kronleuchter – überlegte …

Dort vor dem Fenster, das am weitesten von der Flurtür entfernt war, hatte Boston Chaak der Tod ereilt …

Wo konnte er die Tasche versteckt haben – wo …?!

Am Fensterpfeiler die uralte Standuhr … Ein Kunstwerk … Der Nürnberger Meister Tobias Krummacher hatte sie hergestellt, auch das Gehäuse mit der Schnitzerei …

Hm – die Glastür der Uhr war nur angelehnt …

Ich wußte: das Schloß funktionierte nicht mehr recht. Wer den Kniff nicht kannte, konnte den dicken Schlüssel nicht wieder herumdrehen …!

Und – unten im Uhrgehäuse lag auch wirklich die Aktentasche.

Mit einem Griff holte ich sie hervor …

Ganz neu offenbar …

Roch noch nach Lederappretur …

Ich ging zum Sofatisch, setzte mich …

Mit einer gewissen Heimlichkeit öffnete ich das Schloß und schlug die Klappe zurück.

Hm – ein flaches Paket, in Zeitungspapier gehüllt …

Und – – daneben fünf, sechs Visitenkarten …

Zuerst die Karten – auch ganz neu, ganz sauber:

Allan Eward Smith,
Chikago.

––––––

Robert Harris Goddorp,
New York.

––––––

Walter v. d. Recke,
Triebsand bei Stralsund.

––––––

Charles Francois Mamillon,
Paris.

––––––

Gustav Normann,
Hamburg.

––––––

Conte Cesare di Ramiglia,
Neapel.

Ich war platt …

Sechs verschiedene Karten! Und zu diesen sechs hatte die siebente gehört:

Reginald Boston Chaak!!

Was bedeutete das in aller Welt?!

Etwas nervös zog ich das flache Paket heraus.

Zeitungspapier …

Und ein Blick sagte mir: es war die Sonntagmorgenausgabe der Berliner Nachrichten von gestern, Sonntag, dem 10ten August!

Aber – ich entdeckte noch mehr auf der Umhüllung: rechts oben auf dem Titelblatt der Zeitung einen Namen:

„Neumann“ …

Nichts als Neumann – mit Bleistift flüchtig gekritzelt, wie es die Briefträger auf kleinen Postämtern mit den Zeitungen der Postbezieher tun!

Jedenfalls: einem Neumann hatte diese Zeitung gehört, und da die Berliner Nachrichten gerade kein Blatt mit einer Riesenauflage sind, konnte man diesem Neumann vielleicht ermitteln. Die Zeitung, das wußte ich, war so etwas wie das zweite Fachblatt des Gastwirtgewerbes. –

Jetzt öffnete ich die Umhüllung …

Und – war noch starrer als bei Durchsicht der Visitenkarten: eine feine Hanfleine war der Inhalt, eine Leine von gut zwölf Meter Länge, sauber aufgewickelt, leicht bräunlich und grünlich gefärbt, immer ein Stück braun, ein Stück grün – und so fort!

Gehörte wirklich viel Kombinationstalent dazu, um auf den Gedanken zu kommen, daß die Leine gestern nacht an einem Eichenast befestigt gewesen war – in Ferch – über dem Grundstück Emil Rohrs alias Karl Mischkes?!

Und – daraufhin beschaute ich mir die Leine genauer.

Traf meine Vermutung zu, so mußten Teilchen der Rinde des Astes noch an den Hanfsträngen zu finden sein!

Nun – sie waren vorhanden! Man konnte ganz genau feststellen, welches Ende der Leine um den Ast geknotet gewesen.

Ich nickte befriedigt.

Ich war wieder einen Schritt weiter! Der Mann mit den sieben Visitenkarten, der natürlich niemals Reginald Boston Chaak hieß, war also der pendelnde Mann gewesen, den Klärchen Rintel beobachtet hatte, was ihr wieder Frau Rohr hatte ausreden wollen!

Einen Schritt weiter! So glaubte ich! Leider war das eine Täuschung, wie sich sehr bald herausstellte.

Ich hörte nämlich die eiserne Tür des Vorgartengitters klirren und … ein schneller Schritt ans Fenster zeigte mir Fräulein Klara Rintels weißgekleidete, füllige Schlankheit, die mit elastischen Schritten auf das Haus zuschwebte …

 

3. Kapitel.

Die eine von den sechs …

Klara Rintel war etwas außer Atem. Saß im Sessel und frage hastig:

„Wo ist Herr Harst …?“

„Nach Hamburg gereist. Eine eilige Depesche rief ihn dorthin,“ log ich kühn …

„Schade …“

„Ich bin ja auch noch da, Fräulein …“

„Ach – Sie …!!“ Und ein taxierender Blick traf mich. „Sie… Sie, Herr Schraut, sehen so würdig aus … da wird es einem schwer, frisch von der Leber weg zu reden. – Für schöne Phrasen bin ich nicht, Herr Schraut. Seit meinem fünfzehnten Jahr ernähre ich meine Mutter und mich ganz allein. Ich kenne den Daseinskampf …“

„Sie stehen mit beiden Füßchen auf der nüchternen Erde …! Das ist nur gut. – Was bringen Sie Neues, Fräulein Rintel?“

„Etwas, was ich bei meinem ersten Besuch zu erwähnen vergaß …“

Weiß Gott – sie gefiel mir immer mehr. Das war ein seltenes Mädel, eine überaus glückliche Mischung von Lebenshunger, Lebensernst, Eitelkeit und kühlem Verstand.

„Ich habe nämlich noch etwas beobachtet, Herr Schraut … Schon seit Tagen … Eine Kleinigkeit, die aber fraglos mit Frau Anna Rohrs Bemühen, mir als Träume hinzustellen, was doch Wirklichkeit gewesen, zusammenhängt …“

„Bitte – erzählen Sie … – Halt, vorher noch eine Frage … War der Mann, den Sie nachts am Seile schweben sahen, schlank und bartlos?“

„Beides nicht, Herr Schraut. Er war klein und breitschultrig und hatte einen runden Vollbart …“

Oh – das war eine böse Enttäuschung für mich!

Ich verbarg dies, indem ich gleichgültig meinte:

„So, Fräulein Rintel, nun bitte … Was haben Sie also nachzuholen?“

„Nicht viel, Herr Schraut … Vielleicht ist es sogar sehr unwichtig … – Frau Rohr leidet an Gespensterfurcht …“

Ich lachte. „Gespensterfurcht?! Das ist allerdings reichlich unmodern … – Wie äußert sich das denn?“

„Sie ist dreimal nachts in meine Stube gekommen – halb irr vor Angst, und hat mich flehentlich gebeten, ich sollte sie doch bis zum Morgen bei mir behalten. Und als dies vor acht Tagen zum zweiten Male geschah, hat sie in ihrer Verstörtheit, wohl ohne es zu wissen, immer wieder gemurmelt: „Er ist da – er ist da! Oh – wie ich mich graule!!“ – Ich fragte, was sie denn so in Angst versetzt habe. Sie antwortete jedoch nicht …“

„Hm – war ihr Mann in den betreffenden drei Nächten denn nicht zu Hause?“

„Nein, – er wachte auf dem Obstgrundstück, das den Rohrs noch gehört und das ganz am Dorfende liegt.“

„So … so. – Und wie erklären Sie sich diese Gespensterfurcht, Fräulein Rintel? Sie sind doch eine junge Dame, die nicht gerade blind ist. Vielleicht haben Sie irgendeine Vermutung?“

Sie … antwortete nicht …

Sie blickte starr auf den Tisch – auf die kostbare goldgestickte Bucharadecke, auf der die sechs Visitenkarten lagen …

Nebeneinander – leicht zu übersehen …

So starr waren ihre Augen auf die eine Karte gerichtet, daß ich notwendig aufmerksam werden mußte.

Ich beugte mich vor … Und erkannte, daß es die Karte mit dem Aufdruck

Gustav Normann,
Hamburg.

war, die Fräulein Rintels ganzes Denken nun gefangen nahm …

Fragte scharfen Tones, um sie aufzurütteln:

„Kennen Sie etwa einen Herrn Gustav Normann?“

Sie errötete …

Und das stand ihr ganz allerliebst. All ihre holde Mädchenhaftigkeit trat gleichsam in diesem Erröten deutlicher zu Tage.

„Ja,“ hauchte sie verlegen. „Ich kenne Herrn Gustav Normann aus Hamburg …“

Ich zuckte doch leicht zusammen. Ich ahnte hier zarte Beziehungen. Und – Klara Rintel wieder ahnte noch nichts von dem Morde, nichts davon, daß dort auf dem Teppich vor anderthalb Stunden noch ein frischer Blutfleck in der Vormittagssonne geleuchtet hatte.

Nein, wir hatten ihr ja bei ihrem ersten Besuch nichts von dem Verbrechen mitgeteilt. Wozu wohl auch?!

Und jetzt – jetzt saß ich hier diesem frischen netten Mädel mitleidig gegenüber und wußte nicht, wie ich vorsichtig weiteres über Gustav Normann erfahren könnte, ohne Fräulein Klara den Schmerz anzutun, ihr die Wahrheit offenbaren zu müssen.

Zum Glück schien sie ihr Erröten nun recht harmlos erklären zu wollen und sagte ohne Scheu:

„Herr Normann wohnt im Wirtshaus „Willkommen“ in Ferch bei Herrn Alex Neumann. Ich habe ihn zufällig kennengelernt – durch Frau Neumann … – Kennen Sie ihn auch, Herr Schraut? Ich sehe da eine Visitenkarte, die …“

„Oh – es dürfte in Hamburg viele Gustav Normanns geben, Fräulein Rintel,“ lehnte ich ab. „Der Name ist nicht gerade selten …“

Sie schaute mich an. „Herr Schraut, Sie weichen mir aus … Kennen Sie einen Gustav Normann, der schlank und bartlos ist und dunkelblonden Scheitel trägt?“

Ich mußte mich zusammennehmen, um mich nicht zu verraten. Ich wußte jetzt: Der Ermordete hatte in Ferch als Normann gewohnt!

Und ich lächelte und meinte:

„Was war denn Herr Normann, Fräulein Rintel?“

„Ingenieur …“

„So … so! Dann ist’s nicht mein … Bekannter.“

Aber [ich][8] hatte Klara Rintel unterschätzt.

[„Herr Sch]raut, was ist denn Ihr Bekannter?“ [fragte sie mißtra]uisch.

[„Na, ein Dete]ktiv natürlich … Bei uns hier verkehr[en auch K]ollegen …“

„[War] Ihr Herr Normann denn heute hier?“

„Ja …“ – Man kann sich leicht vorstellen, wie schwer mir das Lügen wurde.

„Und – wann?“

„Morgens schon!“

„Ah – dann war’s doch der Ingenieur Normann, Herr Schraut, denn er ist heute ganz früh zu Fuß durch den Wald nach der Eisenbahnstation Linewitz gewandert und nach Berlin gefahren, weil er hier etwas sehr Wichtiges zu erledigen hätte, wie er mir gestern abend sagte. „Ich will einen Herrn aufsuchen,“ fügte er noch wörtlich hinzu, „dessen Name in der ganzen Welt bekannt ist …“ – Und als ich ihn fragte, wer das denn sei, meinte er scherzend, es sei ein Arzt für ganz schwere, bedenkliche Fälle. – Da habe ich denn nichts weiter dazu geäußert, weil ich nicht neugierig erscheinen mochte …“

Wahrhaftig – ich befand mich hier in einer bösen Lage. Falls Klara Rintels Herz etwa an der Person dieses Normann beteiligt war, durfte ich ihr die traurige Tatsache niemals mitteilen, wenn ich hier nicht eine Szene heraufbeschwören wollte, der ich niemals gewachsen sein würde. Frauentränen und Mädchenjammer sind für mich schlimmer als ein Dutzend auf mich gerichtete Pistolenmündungen!

Wie atmete ich daher auf, als Klara Rintel jetzt erklärte:

„Sie müssen nicht denken, Herr Schraut, daß zwischen mir und Herrn Normann irgendwelche vertrauteren Beziehungen bestehen. Nein, er ist mir ein guter Freund. Wir kennen uns jetzt vierzehn Tage. Ich bin nämlich heimlich verlobt, Herr Schraut, und ich gehöre nicht zu jenen Mädchen, denen es auch als Bräuten auf einen Flirt mehr oder weniger nicht ankommt …“

Oh – mir fiel ein Stein vom Herzen!

Ich rückte rasch näher zu Fräulein Klara heran, nahm ihre Hand …

„Jetzt seien Sie mal recht tapfer,“ begann ich leise. „Recht tapfer…! – Ihrem Freunde ist hier etwas zugestoßen …“

Sie starrte mich an …

„Er … er ist tot, Fräulein Rintel …“

Sie erblaßte …

„Mein Gott – – der Ärmste – – tot, tot …!!“

Das war nur inniges Mitleid, nichts weiter. Da sprachen andere Empfindungen nicht mit.

Und jetzt erzählte ich ihr alles …

Nichts verschwieg ich. Betonte aber, daß sie unbedingt nichts von alledem einem anderen mitteilen dürfe, weder ihrer Mutter, noch ihrem Verlobten …

Sie drückte meine Hand.

„Ich bin kein unreifes Mädel, Herr Schraut. Auf mich ist Verlaß. – Vertrauen gegen Vertrauen auch, Herr Schraut: gestern abend am Waldrande händigte mir Normann ein versiegeltes Paket aus, etwa von Zigarrenkistengröße, und sagte dazu, ich möge es doch für ihn aufbewahren und in meinen Koffer einschließen. Er würde es nach seiner Rückkehr wieder an sich nehmen. Er wolle nur einige ihm gehörige Sachen nicht in seinem Zimmer bei Herrn Alex Neumann im Willkommen lassen, da dieses Zimmer zu leicht für jeden zugänglich sei.“

Und seufzend fügte sie hinzu: „Was soll ich nun mit dem Paket tun?“

„Sie werden es mir abends geben, Fräulein Rintel. Es wird eine alte Dame sich noch heute bei Emil Rohr einmieten, und diese alte Dame werde ich sein. Dann werden wir beide versuchen, all diesen Geheimnissen auf die Spur zu kommen.“

Sie musterte mich … So recht, als ob sie sagen wollte: „Du – eine alte Dame?“

„Oh – mein Spitzbärtchen verschwindet, und eine Verkleidung als Matrone habe ich schon so oft getragen, daß ich mich in diese Rolle ganz eingelebt habe,“ erklärte ich ernst. „Die Hauptsache ist: wenn ich das Verandazimmer als alte Dame beziehe, können Sie mich jeder Zeit besuchen, Fräulein Rintel, und das wird nötig sein. Denken Sie daran, was ich Ihnen von Harst erzählte, von dem Zettel vor der Maulwurfsgrille:

Große Sache!!!

Seien Sie überzeugt: auch Harst ist in Ferch! Wir drei werden all diesen Rätseln auf den Leib rücken! Wir drei!“

Wieder ein Händedruck …

„Ich halte mit, Herr Schraut!“

Gleich darauf war ich allein … –

Und hiermit schließt der erste Teil dieses Abenteuers, der „piano Teil“, könnte man sagen, denn von nun an nehmen die Geschehnisse ein fortissimo Tempo an, wie der Leser bald merken wird.

 

4. Kapitel.

Ein Brief – zwei Steine!

Am selben Tage nachmittags gegen halb zwei stieg eine ältere grauhaarige Dame, in jeder Hand einen leichten Koffer tragend, in Wannsee den schmalen Weg zur Anlegestelle der Stern-Dampfer hinab, löste am Fahrkartenhäuschen eine Karte bis Ferch und fand dann auf dem weißen Dampfschiff ganz vorn ein gutes Plätzchen.

Die Fahrt durch die Havelseen – vorüber an so mancher historischen Erinnerungsstätte, an der berühmten Pfaueninsel und den Türmen und Häusermassen Potsdams, – all das schien diese alte Dame wenig zu interessieren. Sie hatte einen Roman in der Hand, und wenn sie nicht las, schrieb sie auf einen zwischen den Buchseiten liegenden Zettel kurze Notizen, so daß es fast den Eindruck machte, als ob sie dichtete …

Ja – sie dichtete auch …

Nur war’s ein Gedicht besonderer Art. Man hätte als Titel darübersetzen können:

Als Harst verschwand …

Das Gedicht war nichts anderes als eine kurze Übersicht über die einleitenden Vorgänge dieses Kriminalfalles …

Und die Dichterin hieß Max Schraut …

Und zwei Bänke weiter saß … die ahnungslose Klara Rintel Hand in Hand mit einem Herrn, der für meinen Geschmack zu geschniegelt und gebügelt war. Aber das Gesicht war nicht unübel.

Das also war Klaras heimlich Verlobter.

Weshalb wohl … heimlich Verlobter?! Weshalb?!

Das schoß mir immer wieder durch den Kopf, wenn ich die beiden betrachtete. –

Nun lag auch der Eingang zum Schwielowsee hinter uns. Nun glänzte die weite, waldumgebene Wasserfläche wie flüssiges Silber im klaren Sonnenschein …

Ein frischer Wind milderte hier angenehm die Hitze, und wie ein erfrischender Odem durchwehte mich es hier in Gottes freier Natur …

Da legte ich Buch und Bleistift weg und wollte genießen – wollte nur Ausflügler sein wie all die anderen Menschen ringsum …

Und – konnte doch nicht wie diese sorglos mich der Freude an all der Schönheit des Sommertages hingeben …

Hatte ja … Detektivaugen im Kopf, und die … sehen mehr als andere, weit mehr.

So fiel mir denn bald ein kleiner Herr auf, den ich nach Gesicht und Anzug für einen Pferdetrainer oder dergleichen hielt.

Der Mann war hager und mumienhaft vertrocknet, kahlhäuptig und so dunkelbraun von Gesichtsfarbe, als hätte er in den Tropen das Licht der Welt erblickt.

Er saß und beobachtete zumeist … das Brautpaar …

Er tat das so heimlich und doch so anhaltend, da diese Aufmerksamkeit niemals nur etwa Klara Rintels frischer Schönheit gelten konnte.

Und noch jemand fiel mir auf …: ein älterer, vornehmer Herr mit Hornbrille, deren Gläser einen bläulichen Schimmer hatten. Der graue Vollbart dieses Herrn kam mir ein wenig unnatürlich vor. Ich wurde mir nicht klar darüber, ob ich hier etwa Freund Harald vor mir hätte. Jedenfalls beobachtete dieser Herr das Brautpaar und den gelbbraunen Trainer mit den großkarierten Kniehosen.

So wurde denn der Rest der Dampferfahrt insofern recht ergiebig, als ich für Ferch neue Überwachungsobjekte gefunden hatte, denn daß der Trainer und der Vornehme dort bleiben würden, verrieten ihre Handkoffer.

Kurz nach halb fünf legte der Stern-Dampfer in Ferch an. Und bereits um fünf stand ich, Frau verwitwete Rechnungsrat Müller aus Berlin, in dem Verandazimmer des neuen Rohr’schen Hauses und bot dem Ehepaar einen so anständigen Preis, daß sie mich mit Freuden willkommen hießen. –

Das Haus lag an jenem schmalen Fußgängerweg, der von der Straße zum Walde emporläuft. Das Grundstück war schmal, aber sehr tief. Nach Westen zu stieß ein anderes daran, während ostwärts ein Stück Feld, teilweise noch von Bäumen bestanden, angrenzte.

Die Veranda ging nach vorn, nach der schmalen Gasse, hinaus. Ein kleiner Vorgarten mit ländlichen Blumen und eine alte Linde wirkten anheimelnd wie der ganze blitzsaubere Besitz.

Das einstöckige Haus, im bescheidenen Villenstil erbaut, roch noch etwas neu … Mein Zimmer gefiel mir. Es hätte mir noch besser gefallen, wenn Harst das zweite Bett belegt hätte. –

Und nun die Wirtsleute, das Ehepaar Rohr …

Ihn, der sich mir am Hinterzaune des Harstschen Gemüsegartens als Karl Mischke vorgestellt hatte, habe ich bereits beschrieben.

Seine Frau, Anna mit Vornamen, war eine reizlose Erscheinung, hager, früh verblüht, mit einem Leidenszug um den Mund und ein Paar hellen Augen, die etwas Unsicheres, Lauerndes hatten.

Kinder waren nicht vorhanden, dafür aber zwei mächtige Wolfshunde, vor denen Rohr mich warnte, indem er betonte, sie würden abends stets freigelassen, und dann dürfe man den Hof und den Obstgarten nicht mehr betreten. In den Vorgarten könnten sie nicht hinein, beruhigte er mich gleichzeitig. Der Zaun an den Seiten des Hauses sei fest und sicher. –

Nachdem ich so dem Leser das Notwendigste über die Örtlichkeit angegeben habe, will ich noch erwähnen, daß sich die Frau Rat Müller schon eine halbe Stunde nach ihrem Einzug mit den Rintels, Mutter und Tochter, und mit Herrn Zahntechniker Fritz Gerhardi [bestens bekannt gemacht hatte. Mutter Rintel war ein][9] Weiblein ohne ausgesprochene Eigenart. Fritz Gerhardi aber zeigte sich als ziemlich unleidlicher Phrasendrescher, so daß ich nicht recht begriff, wie Klara an ihm hatte Gefallen finden können. Mir schien’s, als ob sie ihn doch wohl mehr als … spätere Versorgung liebte. Ich nehme das keinem Mädchen übel. Alte Jungfer zu bleiben, ist ein trauriges Los.

Wir vier aßen dann gemeinsam in meiner großen Glasveranda auf meine Einladung hin Abendbrot.

Klara benahm sich sehr verständig. Sie verriet durch nichts, daß sie Frau Rat Müller heute vormittag in Männerhosen kennengelernt hatte. Nur ihre Augen ruhten zuweilen wie in ungläubigem Staunen auf meinem Gesicht und der tadellosen grauen Perücke und dem fülligen Busen, der nun mal zu der untersetzten Rätin gehörte.

Nach dem Abendbrot, gegen acht Uhr, begleitete Klara ihren Verlobten noch bis zum Walde, da er zu Fuß bis Linewitz wandern und dort den Zug nach Wildpark–Berlin besteigen wollte … –

Ich wanderte nun allein die staubige Dorfstraße entlang …

Ich hoffte, den vornehmen alten Herrn irgendwo zu treffen …

Und stand mit einem Male vor einer Treppe, die den Abhang emporführte, wo eine große Holztafel den Ausflügler freundlichst einlud, im „Willkommen“ des Herrn Alex Neumann sich zu stärken.

Die Frau Rat Müller kletterte die Treppe empor und saß dann unter schattigen Kastanien am gedeckten Gartentisch, trank eine Tasse Kaffee und aß dazu ein belegtes Brot.

Es waren im Garten nur noch die Sommergäste des Wirtshauses anwesend, und so fand denn der Besitzer des Willkommen Zeit, mich zu begrüßen und nach alter guter Gewohnheit mich ein wenig zu unterhalten.

Ein Detektiv, der es nicht versteht, ein Gespräch dahin zu lenken, wohin er es haben will, soll sich sein Lehrgeld zurückzahlen lassen und Nachtwächter werden.

Jedenfalls: Herr Neumann ahnte nicht, weshalb mich seine Sommergäste interessierten! Und ohne Schwierigkeiten erfuhr ich, daß ein Freund des Herrn Ingenieurs Normann heute eingetroffen sei und Herrn Normanns Zimmer bis zu dessen Rückkehr bewohnen würde …

Der Herr heiße Karlos Pinnavarra und sei Mexikaner …

„Da ist er übrigens,“ – und Herr Neumann deutete auf den … gelbbraunen Trainer, der gerade aus dem Hause trat.

Das war immerhin eine Überraschung!

„Kannten Sie den Mexikaner schon?“ fragte die Frau Rat jetzt leicht gähnend …

„Nein, der Sennor Karlos brachte mir eine Visitenkarte Normanns mit ein paar aufklärenden Zeilen mit …“

Kaum hatte ich dies erfahren, was mir sehr wichtig vorkam, als hinter dem Mexikaner … der Vornehme das Haus verließ – der mit der bläulichen Brille …

„Auch ein neuer Gast, Sanitätsrat Doktor Koch aus Berlin,“ teilte mir Herr Neumann mit.

Ich bezahlte schnell …

War hinter dem Sanitätsrat her …

Es mußte ja Harald sein!!

Und oben im Dorfe neben dem Denkmal für die Gefallenen des Weltkrieges sprach ich den Herrn an …

„Verzeihung …“

Er blieb stehen …

Grinste …

„Na, Herr Schraut, auch schon da …?!“

Es war nicht Harst …!!

„Wer… wer sind Sie?!“ stammelte ich entgeistert, denn ich war meiner Sache ganz sicher gewesen …

„Mein Geheimnis!“

Und er ging weiter hinter dem Trainer drein … dem Mexikaner …

Ich stand da – man sagt wohl: wie ein begossener Pudel!

Ich war entsetzt, verstört! Wer in aller Welt war dieser Mensch, der mich erkannt hatte?!

Mich – mich erkannt hatte …!!

Und – als ich etwas zu mir kam, waren der Mexikaner und der Vornehme verschwunden.

Etwas bedrückt ging ich heim …

Und – fand in der Veranda Klara Rintel vor – – mit dem Paket Gustav Normanns!

Sie sagte hastig:

„Vorhin, vor fünf Minuten war ein Landstreicher hier … ein ganz abgerissener Mensch … Der gab mir diesen Brief für Sie, Herr Schraut … – Gute Nacht … Ich muß nach oben …“

„Halt – einen Augenblick… – Etwas Neues, Fräulein Klara?“ – Ich flüsterte nur …

„Nein – nichts … – Gute Nacht …“

„Wo sind Rohrs?“

„Auf ihrem anderen Grundstück …“

Dann ging sie. –

Ich riegelte mich im Zimmer ein, drehte das elektrische Licht an und legte die Läden vor …

Zuerst der Brief … – Haralds Handschrift, Adresse:

Frau Rechnungsrat Müller,

bei Rohr, Ferch.

Inhalt – auch mit Bleistift:

Heute nacht elf Uhr am Denkmal oben. In Verkleidung. Sei vorsichtig.

H.

Also war Harald doch in Ferch!! Er selbst war der Landstreicher gewesen! –

Dann das Paket …

Ein Pappkarton, in graues Papier eingesiegelt …

Und in dem Karton?!

Ja – in dem Karton … zwei faustgroße Steine, die in alte Zeitungen eingewickelt waren!

Das – – war alles …!

Ich stierte die Steine an …

Begriff nichts davon – gar nichts …! –

Um elf Uhr aber verließ ich als Mann das Rohrsche Haus …

 

5. Kapitel.

Wie man uns ersäufte …

Ich verließ es nicht etwa durch die Tür. Nein, neben der Veranda lag noch ein Fenster, und das gestattete mir ein ebenso geräuschloses wie rasches Verschwinden.

Der Mond stand bereits hoch am Himmel. Immerhin befand sich die eine Seite der Dorfstraße noch im Schatten, so daß ich kaum auffallen konnte. Ich hütete mich auch, etwa möglichst leise aufzutreten, ging gemächlich dahin wie einer, der sich nicht zu verbergen braucht.

Auf dem Lande kriechen die Leute früh in die Federn, denn früh müssen sie wieder hinaus. Ich begegnete nur einem einzigen Menschen: dem Nachtwächter! Ich erkannte ihn an dem Feuerhorn, das er am Riemen um die Schulter trug. Er mochte mich für einen Sommergast halten, wünschte mir einen guten Abend und schritt weiter.

Bis zum Denkmal gegenüber der alten Schule waren’s kaum fünf Minuten. Da das Denkmal ganz freiliegt, zögerte ich unwillkürlich, mich in den hellen Mondschein hinauszuwagen. Seit der kurzen vielsagenden Begrüßung mit dem Sanitätsrat Koch, dem Vornehmen, der mich so vergnügt angegrinst hatte, fühlte ich mich etwas unsicher, wenn ich auch nicht gerade annahm, daß dieser Koch zur Gegenpartei gehörte.

Ich blieb also dem Denkmal gegenüber an dem verwitterten Zaun im Baumschatten stehen und wollte auf Harald warten. Für den Fall, daß er etwa hinter dem Denkmalstein steckte, pfiff ich unser altes Signal.

Und – es kam auch eine Antwort. Nur nicht von Denkmal her!

Nein – hinter mir flüsterte es – und es war des Freundes Stimme:

„Geh’ zur Dampferanlegestelle hinab. Dort wirst Du ein Boot vertäut finden. Zwei Ruder sind darin angekettet. Hier hast Du den Schlüssel zum Schloß der Kette. Rudere langsam nach Osten zu am Ufer entlang, bis ich Dich anrufe …“

Ich drehte mich nicht um, streckte nur den Arm nach hinten und empfing so den kleinen Schlüssel.

„Sei vorsichtig, mein Alter!“ warnte Harald mich noch leiser. „Wir haben es hier mit Leuten zu tun, denen ein Menschenleben nichts gilt – gar nichts! Eine Kugel aus einer Luftbüchse ist heimtückisch wie Gift. Sei vorsichtig!“

Ich ging davon. – Noch nie hatte eine Warnung Haralds so eindringlich geklungen wie diese. Noch nie hatte er selbst die Vorsicht so weit getrieben, daß er sich nicht einmal zeigte.

Ich mied jetzt die Schattenseite. Mir erschien es sicherer, im hellen Mondlicht dahin zu wandern. Ich beeilte mich auch, und wo die Dorfstraße mir irgendwie allzu gute Verstecke für finstere Gesellen zu bieten schien, schritt ich mitten in dem staubigen Wege dahin.

Etwas erleichtert atmete ich auf, als ich den freien Platz vor der Anlegestelle erreicht hatte. Ein Blick über den See zeigte mir das große Gewässer in all der zauberhaften Schönheit einer sommerlichen Mondnacht. Und doch – meine Freude an der Natur wurde hier nur allzusehr beeinträchtigt durch die Gedanken an diesen merkwürdigen, scheinbar so vielverzweigten Kriminalfall, dessen Kern noch tief verborgen in der dichten Hülle unerklärlicher und widerspruchsvoller Ereignisse lag.

Ich fand das Boot, kletterte rasch hinein, löste die Kette und ruderte mit stillen Schlägen ostwärts, hielt mich immer etwa fünfzig Meter von den bewaldeten Ufern entfernt.

Zuweilen ließ ich das Boot auch treiben … Und wartete … wartete auf Haralds Zuruf … Ruderte wieder – noch langsamer …

Glühwürmchen leuchteten im Dunkel des Waldes und zogen wie kleine Lichtlein hierhin und dorthin – schwebten empor, senkten sich, verschwanden im Gebüsch …

Fische schnellen aus dem Wasser hoch, und lautlos streichen ein paar Möwen mit scheinbar so schwerem Flügelschlag durch den Mondesglanz …

Ich drückte das Boot näher ans Ufer, ließ die Ruder schleppen, saß still und suchte die Finsternis des Ufers mit den Blicken zu durchdringen …

Und – schreckte hoch …

Ein dumpfer, jäh abbrechender Schrei war dort vor mir dicht am Wasser erklungen …

Und – erklang nicht wieder …

Wald und See versanken abermals in unheimliche Lautlosigkeit …

Mein Herz hämmerte …

Die Angst erwachte – die Sorge um Harald …

Ich überlegte …

Durfte ich mich ans Ufer wagen?! War ich nicht schon hier eine nur zu deutliche Zielscheibe für jeden frechen Feind?!

Und da – wie eine unendliche Erleichterung ein Pfiff – – leise, vorsichtig – unser Pfiff … die drei ersten Takte des Carmen-Liedes[10]!!

Mein Boot glitt den Bäumen zu, dorthin, wo eine kleine Bucht geheimnisvoll in tiefster Finsternis im Baumschatten dämmerte …

Aus dem Mondlicht strebte das Boot ins Halbdunkel, bald in eine völlige Finsternis …

Wieder das Signal, gerade aus einem einzelnen großen Busch, der mit unterspülten Wurzeln halb über dem Wasser hing …

Mit sanftem Stoß landete mein Fahrzeug. Ich zog die Ruder ein. Ich erhob mich, verließ das Boot. Unklar zeichnete sich neben dem Busche die Gestalt eines Mannes ab …

Noch drei Schritt …

„Guten Abend, Harald,“ sagte ich freudig und streckte ihm die Hand hin …

Er ergriff sie …

Griff aber auch mit der anderen zu …

Nach … meiner Kehle …

Und im selben Augenblick ein Schlag von hinten …

Bewußtlos lag ich im Grase … Mein letzter Gedanke, bevor mir das Bewußtsein völlig schwand, war … „Eine Falle – – eine Falle! Und auch Harald muß niedergeschlagen worden sein, – der Schrei – der Schrei …!!“ –

Die Betäubung war nicht tief.

Ich kam sehr bald wieder zu mir.

Im … Boote …! In demselben Boote …!

Lag vorn auf den Bodenbrettern, zum Bündel zusammengeschnürt …

Nicht … allein …

Hatte einen Nachbar …

Glotzte aus matten, flimmernden Augen diesen Mann an …

Und war im Moment völlig munter: mein Leidensgefährte war der Vornehme, der alte Herr, der angebliche Sanitätsrat Doktor Koch …!!

Nicht … Harst!! Nicht Harst!! –

Ich war munter, war klar im Kopf trotz der Schmerzen, die mein Hirn durchschnitten …

Fühlte die Stricke an Händen und Füßen, fühlte den im Munde festgebundenen Knebel …

Sah vor mir einen Kerl mit einem Zeugfetzen als Maske vor dem Gesicht uns bewachen, dahinter einen zweiten rudern … Auch mit grauem Zeugfetzen …

Sah, daß der, der auf uns aufpaßte, ein Landstreicher von verwegener Abgerissenheit war, einen Filzhut mit Häherstutz schief auf dem struppigen Schädel …

Jetzt wandte der Strolch sich nach dem anderen um, der einen dunklen Lodenmantel trug, dessen Kapuze er über den Kopf gezogen hatte …

Sie flüsterten …

Dann drehte der Bandit sich wieder um, hob mich spielend leicht empor … Und da erst merkte ich, daß an meine Füße ein schwerer Stein gebunden war …

Hob mich empor …

Und Eisesschauer gingen mir über den Leib …

Ich sah den Tod vor Augen …

Wußte nun, daß wir ersäuft werden sollten …

Wir – der Unbekannte und ich …!!

Wehrte mich, stieß mit den Füßen aus …

Und … hörte plötzlich wie ein Raunen nur eine Stimme …

„Der See ist hier nur ein Meter tief … Duck’ Dich unter Wasser, halte den Atem an, so lange es geht …!“

Ich erstarrte förmlich …

Ich glitt ins Wasser …

Fühlte wirklich Grund …

Und … hielt den Atem an, duckte mich ganz tief …

Wartete so, bis ich wieder empor mußte …

Tat’s mit Vorsicht, brachte nur das Gesicht über Wasser …

Atmete … atmete …

Und erblickte dort in der Ferne das enteilende Boot … –

Neben mir plötzlich ein zweiter Kopf … Ein Gesicht mit halb losgelöstem grauen Vollbart …: der Sanitätsrat!!

Wir stierten uns an … Reckten die Köpfe höher …

Standen nur noch bis zum Halse im Wasser …

Ringsum die großen Blätter und dicken Blütenknollen von Wasserrosen…

Ringsum Stille, Einsamkeit …

Dann brachte der Fremde seinen Mund ganz dicht an mein Gesicht, riß mit den Zähnen die Schnur entzwei, die meinen Knebel festhielt …

Ich stieß den Knebel mit der Zunge heraus, und gleich darauf war auch mein Leidensgefährte den Knebel los.

„Wer sind Sie?“ fragte ich den Verkleideten mit ungeheurer Spannung …

„Kriminalassistent Röber[11] vom Berliner Polizeipräsidium, Herr Schraut …“

Oh – ich hatte es dunkel geahnt! Also wirklich ein Beamter!!

„Die linke Hand habe ich schon frei, Herr Schraut,“ fügte er hinzu … „So – nun auch die Rechte … – Warten Sie – ich löse Ihre Handfesseln!“ –

Und auch die Stricke an den Füßen knoteten wir auf, standen nun im lauen Wasser, richteten uns vollends auf.

Es stimmte: die Seetiefe betrug hier nur etwa ein Meter dreißig Zentimeter!

Und Röber, der vormittags mit der Mordkommission bei uns im Hause gewesen, fragte nun:

„Begreifen Sie das, Herr Schraut …?! Der Stromer war doch Herr Harst …!“

„Allerdings! Aber begreifen kann ich’s ebensowenig wie Sie, Herr Röber. Harst scheint sich mit einer Mörderbande assoziiert zu haben!“

Ich war wieder bei bester Laune. – Mein Gefährte lachte …

„Toll – – toll! Nein, was man so alles erlebt!! Als ich mit dem Stein an den Füßen im Boote lag, da gab ich für mein Leben keinen Pfifferling mehr …!“

„Ich auch nicht …! – Was tun wir nun?! An Land schwimmen? – Ich denke, nein. Ich nehme an, Harst wird uns holen …“

„Das glaube ich auch …“

„Und dann?! Was wird dann werden?!“

„Keine Ahnung, Herr Schraut. Harst wird’s uns schon sagen …“

Röber riß sich jetzt den falschen Bart vollends ab …

„Weshalb sind Sie eigentlich nach Ferch gekommen?“ begann ich nach einer Weile.

„Hinter Ihnen drein, Herr Schraut …“

„Ah – nicht möglich!“

„Doch! Herr Kommissar Doktor Bloch meinte, Harst arbeite fraglos wieder nach seiner alten Methode und verschweige der Polizei die Hälfte … Daher sei es nur angebracht, wenn wir[12] Sie beide im Auge behielten. Herr Harst ging uns nun ja leider durch die Lappen. Aber als Sie durch den Gemüsegarten als Dame das Haus verließen, da bin ich Ihr getreuer Begleiter geblieben, Herr Schraut …“

„Ach so, – nun ist dies ja geklärt!“

„Herr Kommissar Doktor Bloch wollte ohnedies einen von uns nach Ferch schicken, weil der Ermordete doch die Dampferfahrkarte in der Weste bei sich getragen hatte. Dieser Kollege fuhr mit uns zusammen, Herr Schraut. Er heißt Albrecht und wohnt im Häuschen Ihnen gegenüber bei dem Büdner Zennig …“

Ich war neugierig, ob Röber bereits wüßte, daß der Ermordete als Gustav Normann im Willkommen gewohnt hatte, fragte daher:

„Wie gefällt es Ihnen in Ihrem Quartier?“

„Sehr gut …“

Wir standen im vollen Mondschein in diesem Dauerbad, und ich sah, daß der Kriminalbeamte überlegen schmunzelte.

Sagte nun: „Sie lächeln so eigen, Herr Röber … Sie haben wohl auch schon herausbekommen, daß das Opfer des heimtückischen Schusses im Willkommen abgestiegen war?“

„Ah – – Sie auch, Herr Schraut?!“

„Und ob!! – Wie behagt Ihnen der Sennor Pinnavarra, dem Sie ja abends nachschlichen, als Sie mich so scherzhaft begrüßten?!“

„So – auch das wissen Sie?! – Nun, dieser angebliche Freund des ermordeten Gustav Normann oder Reginald Boston Chaak …“

„… oder Smith oder Goddorp – und so weiter!! Der Mann hatte nämlich sieben Namen und Visitenkarten auf Lager …“

„Nicht möglich!! – Da sind Sie doch besser im Bilde als ich, Herr Schraut.“

„Durchaus nicht! Die ganze Geschichte ist absolut undurchsichtig. – Was haben Sie also erreicht, als Sie dem Kleinen, dem Braunhäutigen folgten?“

„Gar nichts – leider! Er entwischte mir im Walde. Ich durfte ja auch nicht zu nahe heran …“

„So … so …! – Na, Vertrauen gegen Vertrauen, Herr Röber … Ich will Ihnen jetzt alles berichten – alles. – Ist Ihnen bekannt, daß der Bauer, bei dem ich wohne, in die Geschichte irgendwie mit hinein verwickelt ist und daß ein Fräulein Rintel gleichfalls beachtenswert erscheint?“

„Nein …! – Das ist ja sehr interessant …!“

„Gewiß! Hören Sie nur …!“ – Und ich begann mit meiner Morgenjagd, sprach von „Karl Mischke“, von Klara Rintels beiden Besuchen, von der im Uhrgehäuse versteckten Aktentasche und von dem Paket mit den beiden Steinen …

Röber sagte gar nichts … Er war wie erschlagen von dieser Fülle unerwarteter Einzelheiten …

Meinte nur: „Das ist ja ein ganz unglaubliches Knäuel von ungereimten Dingen! Ob wohl Herr Harst schon tiefer sieht als wir beide?“

Mich fror etwas …

„Weiß ich nicht …!“ Meine gute Laune schwand. „Frieren Sie auch, Herr Röber?“

„Etwas … ’n Schnupfen wird das wohl geben, falls Herr Harst nicht bald erscheint. Meine Beine sind schon wie Eis …“

Sehnsüchtig blickte ich gen Westen …

Wir befanden uns hier so ziemlich in der Mitte des Sees. Links von uns zog sich ein ausgedehntes Feld von Wasserrosen hin, neben denen überall die weißen Punkte ruhender Möwen schimmerten …

„Ein Boot!!“ rief ich leise …

Und Röber atmete erleichtert auf …

„Ja – ein Boot!! Harst!!“

 

6. Kapitel.

Der Dorffriedhof.

Das Boot näherte sich rasch.

Es war dasselbe Boot, das ich benutzt hatte, – dasselbe, das auch Röber und mich hierher gebracht hatte …

Der Mann, der da mit dem Rücken nach uns zu emsig ruderte und sich nur zuweilen umschaute, damit er die Richtung nicht verfehle, war nicht der Strolch …

Es war ein blondbärtiger einfacher Mann mit Schlappmütze …

Und doch Harald Harst …

„Los – rein ins Boot!“ befahl er kurz. „Und nichts fragen bitte …! Wir haben es eilig …“

Nichts fragen!!

Natürlich nicht!! Altes Rezept! Harstsches Rezept, wenig angenehm für die, denen er so etwas vorschreibt.

Röber und ich, pudelnaß, frierend, mißmutig, saßen da und schwiegen.

Das Boot flog nur so dahin, landete weit östlich von Ferch, nachdem wir eine ganze Strecke dicht am Ufer im Baumschatten dahingefahren waren. Die Landung erfolgte im übrigen unter recht ungewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln. Wir, Röber und ich, mußten uns lang im Boote niederlegen. Harst stieg sechs Meter vom Ufer aus. Das Wasser reichte ihm bis an die Hüften. Indem er die lange dünne Bootskette lautlos mit sich zog, watete er aufs Trockene und warf sich hier, wie ich behutsam den Kopf hebend beobachtete, lang zu Boden, kroch weiter in die Finsternis hinein. Erst nach fünf Minuten merkten wir, daß durch die Kette mit kräftigem Ruck das Boot an Land befördert wurde.

Es stieß plätschernd und mit dumpfem Laut auf den Uferstreifen …

Über uns – von einer schräg gewachsenen Kiefer herab eine Stimme:

„Aussteigen! Es ist alles sicher!“

Harst sprach leise, aber doch so, daß er kaum mehr eine ernste Gefahr befürchten konnte, sonst hätte er die Stimme noch mehr gedämpft.

Er kletterte von dem Baume herab, und wir beförderten das Boot vollends an Land.

„Ihr geht jetzt nach dem Dorffriedhof,“ befahl er. „Dort verbergt Ihr Euch neben dem Eingang. Es ist jetzt ein Uhr morgens. Gegen halb zwei werden drei Männer erscheinen. Ihr beobachtet sie, ohne irgendwie einzugreifen, was auch geschehen mag. Ich spiele hier zwei Rollen …“

Und im Nu war er in der Finsternis verschwunden – er, der Blondbärtige mit der Schlappmütze … –

Der Beamte Röber flüsterte:

„Vorwärts denn, Herr Schraut …! Laufen wir uns warm … – Ich finde schon zurecht.“

Und etwa zwanzig Minuten später lagen wir innerhalb des Friedhofs linker Hand hinter ein paar Büschen. In der warmen Nacht waren unsere Kleider bereits leidlich trocken geworden.

Nicht lange brauchten wir hier zu warten. Durch die offene Pforte des Friedhofs huschten plötzlich zwei Gestalten, traten rasch in den Schatten einiger Bäume …

Und – doch nicht rasch genug …

Den einen hatte ich erkannt …

Und auch Röber raunte mir zu:

„Der kleine Sennor Karlos Pinnavarra …!!“

Ja – er war’s, wenn er jetzt auch eine Mütze ganz tief ins Gesicht gezogen und den Kragen seiner Lodenjoppe hochgeschlagen hatte.

Der andere …?! – Ich wußte nicht wer es war. Röber auch nicht. Er hauchte mir ins Ohr: „Der Zweite?!“

„Keine Ahnung!“

Und abermals lag nun der kleine Friedhof in seiner stillen Einsamkeit verlassen und öde im hellen Mondscheine da …

Die hellen Grabsteine leuchteten …

Ein paar frische Gräber zeigten noch die weißen Schleifen der verdorrten Kränze …

„Stimmung!!“ flüsterte Röber etwas gepreßt …

„Die Stimmung vor … einer Hinrichtung,“ kennzeichnete ich den Zustand meiner Nerven.

„Ja, so ähnlich, Herr Schraut …“

Da trat auch schon ein Dritter durch die Pforte ein …

Der … Strolch … Harst als Strolch …

Mit drei Spaten über der Schulter …

Blieb stehen …

„Hallo – seid Ihr zur Stelle?“ rief er leise und schaute sich um …

Seine Stimme klang wie eine Türangel, die mit Schnaps geschmiert ist.

Der kleine Mexikaner und der andere tauchten aus dem Mondschatten auf …

Ich musterte diesen anderen …

Aber auch der trug die Mütze bis zur Nasenspitze, und der Rockkragen verdeckte den unteren Teil des Gesichts.

Sie flüsterten …

Gingen weiter … Harst voran … Als letzter der Schlanke, den ich nicht kannte.

Gingen seitwärts zum Zaune, zu einem ebenfalls noch frischen Hügel …

Wir beide hatten uns mehr seitwärts gehalten, hatten mit aller Schlauheit jede nur mögliche Deckung benutzt …

Und lagen nun fünf Schritt entfernt hinter einem umgitterten Doppelhügel, hinter der grünen Wand des Efeus, der auch die Eisenstäbe überwuchert hatte.

Ein frischer Morgenwind kam vom See herüber …

Die Bäume und Büsche des Gottesackers schienen zu erschauern ob des Frevels, der dort vor sich ging …

Die Spaten fraßen tiefer und tiefer in den Hügel ein …

Drei Spaten …

Drei Männer, die keuchend arbeiteten …

Keuchend – schweigend …

Mit all der Hast des schlechten Gewissens …

Und – Harst, der Strolch arbeitete mit … –

Röber raunte: „Was soll das alles?!“

„Weiß nicht!“

Ich wußte ja in der Tat nichts … Ich hatte auch nicht die leiseste Ahnung, was dieses neue Glied einer Kette dunkler Geschehnisse vorstellte …

Und flüsterte nach einer Weile:

„Ich wage mich weiter vor … Links am Zaun Buschwerk …“

Wir krochen … auf allen Vieren …

Brauchten uns nicht sonderlich inachtzunehmen … die drei schaufelten – gruben … gruben den Sarg frei …

Und dann sprang der Mexikaner … mit einem großen Zentrumsbohrer in der Hand in das trichterförmige Loch, bückte sich …

Zuweilen hörten wir das Knirschen des Bohrers im Sargdeckel.

Pinnavarra richtete sich auf. Der Schlanke reichte ihm einen Leuchtstab …

Einen Leuchtstab, der an eine Schnur festgebunden war.

Ich begriff: der Mexikaner hatte zwei Löcher in den Sargdeckel gebohrt, wollte hineinleuchten, wollte den Leuchtstab eingeschaltet durch das eine Loch in den Sarg hinabsenken und durch das andere hineinschauen …

Pinnavarra hatte sich wieder gebückt. Nach drei Minuten erhob er sich …

Ich verstand ganz deutlich: „Leer!! Nur Steine!!“

Ähnliches hatte ich erwartet … –

Und dann Haralds der Rolle angepaßte Säuferstimme:

„So, nu man her mit’n Zaster …! Det Loch schmeiß’ ick schon alleene wieder zu!“

Der Schlanke faßte in die Tasche und zählte dem Strolch Geldscheine in die Hand.

Dann … gingen der Mexikaner und der Unbekannte eilends von dannen … –

„Ich werde ihnen folgen,“ flüsterte Röber hastig, und ehe ich noch Einspruch erheben konnte, war er auch schon im Bogen um den als Totengräber tätigen Harst davongeschlüpft.

Eine ungewisse Ahnung sagte mir, daß der Beamte irgend etwas verderben würde. Es war jedoch nichts mehr zu ändern, und mit einigem Unbehagen schob ich mich nun dem bereits zugeschütteten Grabe vorsichtig näher, um meine Anwesenheit dem Freunde irgendwie kundzutun. –

Das Zirpen einer Grille mit Hilfe eines Grashalms nachzuahmen, soll angeblich sehr leicht sein. Ich habe diese Kunstfertigkeit seit Jahren geübt, und doch bin ich darin ein kläglicher Stümper geworden. Auch heute glichen die Töne mehr dem Kratzen eines Messers auf einem Teller als tierischen Lauten.

Der Totengräber sagte denn auch halblaut, indem er den Kopf nur ganz wenig drehte:

„Diese Grille kann auch ein in den letzten Zügen liegendes Ferkel sein, mein Alter. Zum Glück besteht das Auditorium für Dein Virtuosentum als Tierstimmenimitator nur aus mir allein, denn der brave Röber ist ja in seinem Übereifer davongeschlichen … – Bleib’ nur liegen, wo Du liegst. Ich bin hier gleich fertig. Dann kannst Du mit in mein Quartier kommen …“

Er begann den Hügel herzustellen.

Es wurde jetzt immer heller, und Harald beeilte sich nach Kräften. Zuletzt legte er die vertrockneten Kränze auf den Hügel und lehnte die Tannenzweige wieder gegen die hellen Sandseiten …

Und meinte halblaut:

„Wenn einer der Angehörigen des alten Mannes, der hier angeblich beerdigt ist, heute herkommen würde, müßte er merken, daß hier Spione tätig gewesen sind. Aber es wird niemand kommen. – So, nun schleunigst in den Wald …“

Ich folgte Harald in einiger Entfernung. Wir schlugen die Richtung nach der unweit Ferch gelegenen Dampferbrücke „Neue Scheune“ ein, schauten uns am Seeufer vorsichtig um und wateten dann zu einer größeren Segeljacht hinüber, die unweit des Ufers vor Anker lag.

Harald öffnete die Schiebetür des Achterdeckaufbaus mit einem Nachschlüssel.

„Bitte,“ sagte er mit einladender Handbewegung zu mir. „Hier wohne ich … Und zwar nicht etwa als ungeladener Gast. Nein, der Besitzer der Jacht ist der Berliner Rechtsanwalt Gutknecht, und er hat mir ein Schreiben ausgestellt, durch das ich mich dem Gemeindevorsteher von Ferch gegenüber als Bürovorsteher Hans Hirzer ausgewiesen habe, der die Erlaubnis[13] hat, in der Jacht seinen Sommerurlaub zu verleben. Hans Hirzer ist der Blondbärtige, der Euch beide aus dem Wasser holte …“

Wir hatten die elegante Kajüte betreten.

Ich war über diese Angaben Haralds nicht weiter überrascht. Wer mit einem Harald Harst seit Jahren zusammen Verbrecher jagt, gewöhnt sich Vieles an und Vieles ab. Das Sichwundern hatte ich längst verlernt.

„Setz Dich,“ meinte er nun. „Ich werde mich wieder in Hans Hirzer verwandeln. Dort im Wandschrank findest Du trockene Unterwäsche und auch einen Segleranzug. Gutknecht hat Deine Figur … – Frühstück sollst Du auch bald bekommen. Ich bin gut verproviantiert. Nachher werden wir Dich so maskieren, daß niemand Dich erkennt. Die Frau Rat Müller ist nun ja tot, genau wie der Herr Sanitätsrat Doktor Koch alias Kriminalbeamter Röber …“

In der Kajüte war’s bereits dämmerig. Der neue Tag zog herauf. Die Vögel in den nahen Uferbäumen meldeten sich …

Ich hatte mich an den Klapptisch gelehnt …

Schaute den Freund bittend an …

„Harald, was bedeutet das alles nun eigentlich?!“ fragte ich. „Um was handelt es sich hier? Ich tappe völlig im Dunkeln …“

Er legte mir beide Hände leicht auf die Schultern …

„Mein lieber Alter, – auch ich tappe im Dunkeln, ob Du’s mir glaubst oder nicht! Ich bin als Stromer mitten im Spiel gewesen, das weißt Du ja, und trotzdem ahne ich nicht, was dieser Mexikaner, denn er ist tatsächlich ein Ausländer, und der Herr … Zahntechniker Fritz Gerhardi hier vorhaben …“

Ich ruckte zusammen …

„Gerhardi, der Verlobte Klara Rintels, war der andere?“

„Ja … – Nun ziehe Dich aber erst mal um. Und auch ich muß ja wieder Hans Hirzer werden …“

 

7. Kapitel.

Vom alten Rohr …

Eine halbe Stunde später saßen wir in der Kajüte beim Frühstück.

Ich war jetzt weder Max Schraut noch Frau Rat Müller. Ich war ein blasser Mensch mit struppigem fuchsigen Schnurrbart, dito Kopfhaar und einem biederen Nickelkneifer auf der Nase, deren Röte scheinbar nicht von Sonnenbrand herrührte. Ich war ein Freund des Herrn Bureauvorstehers namens Manfred Mix, morgens zu Fuß in Ferch eingetroffen, um ebenfalls hier die Urlaubstage als arme Schreiberseele zuzubringen.

So hatten wir’s vereinbart. –

Wir saßen und ließen uns das Frühstück schmecken. Harald berichtete – in aller Kürze …

Als er in den Gemüsegarten geeilt war, um dort nach Karl Mischke alias Emil Rohr Umschau zu halten, hatte ihn einer unserer Freunde aus der Laubenkolonie angerufen, der Schlossermeister Huber, ein alter Herr, der für Harald genau so schwärmte, wie alle Welt.

Huber hatte ihm rasch mitgeteilt, daß soeben ein kleiner brauner Kerl (Sennor Karlos Pinnavarra) auf dem Wege zwischen Gemüsegarten und Laubenkolonie längere Zeit auf und ab geschlendert sei und ihn schließlich gefragt habe, ob der Detektiv Harst wohl zu Hause wäre.

Da der Fremde infolge seines scheuen Wesens dem Schlossermeister verdächtig vorkam, erwiderte Huber ausweichend und meinte, der Fremde solle sich doch vorn in die Blücherstraße bemühen. Daraufhin war der Mann davongeschlendert.

Harald lieh sich nun von Herrn Huber dessen Mütze und eilte den Feldweg entlang, da er hoffte, den Fremden vielleicht noch in der Blücherstraße in der Nähe unseres Hauses anzutreffen.

Er hatte Glück. Der kleine Braungesichtige kam gerade aus der Richtung von Nr. 10 die Straße hinab. Harst stellte sich in einen Hausflur, ließ den Mann vorüber und folgte ihm. Jener begab sich nun in eine Stehbierhalle an der Schmargendorfer Brücke. Es gelang Harald, den Fremden hier im Gespräch mit einem andern, der ihn offenbar erwartet hatte, zu belauschen. Viel hörte er nicht. Immerhin: Der Kleine hieß Pinnavarra, und sein Freund wurde von ihm Gerhardi angeredet. Die Unterhaltung der beiden drehte sich um Klara Rintel, Ferch und um die Notwendigkeit, einmal … „das Grab zu öffnen“ und zu diesem Zweck noch einen dritten zu gewinnen, der über die nötigen körperlichen Kräfte verfügte …

„Wenn ich nun auch nicht viel schlauer als bisher war,“ fuhr Harald fort, „so konnte ich doch einen Feldzugsplan entwerfen. Um keine Zeit zu verlieren, blieb ich nur bis zur Innenstadt hinter den beiden her, die sich in der Friedrichstraße trennten. Ich begab mich zu Freund Bechert (den Kriminalkommissar Fritz Bechert dürfte der Leser von früheren Abenteuern her kennen) und lieh mir von ihm die nötige Ausrüstung. Er war’s auch, der mir von Rechtsanwalt Gutknecht den Ausweis hier für Ferch und die Jacht besorgte. Als Hans Hirzer langte ich schon nachmittags um zwei Uhr im Auto in der Nähe von Ferch, in Linewitz, an und ging zu Fuß mit meinem Koffer hierher. Der Gemeindevorsteher, den ich hintenherum ausfragte, erklärte, daß ein Herr, auf den die Personalbeschreibung Chaaks paßte, im „Willkommen“ als Sommergast wohne. Ich aß also in dem gemütlichen Wirtshaus Mittag und forschte hier den blonden Kellner aus. So erfuhr ich Näheres über Chaak-Normann. – Als der Sterndampfer dann nach halb fünf hier anlegte, erkannte ich in zweien der Passagiere Pinnavarra und Gerhardi wieder, erkannte auch Dich, folgte Gerhardi und Klara Rintel bis zu Rohrs und bekam auch Emil Rohr zu Gesicht, wußte nun, daß er mit Karl Mischke identisch sei … – Um noch knapper zu werden, mein Alter: als Gerhardi abends gen Linewitz pilgerte – angeblich! –, da hat ihn ein verkommener Strolch angebettelt, und da kam auch Herr Pinnavarra dazu. Die beiden hielten mich in meinem famosen Kostüm wohl für geeignet, ihnen auf dem Kirchhof zu helfen, logen mir vor, sie seien Privatdetektive und wollten das Grab des alten Gustav Rohr, des Vaters eines Fercher Bauern, nur deshalb …“

Als Harst von einem alten Gustav Rohr sprach, wollte ich eine Bemerkung einstreuen, aber Harald winkte ab …

„Nachher – nachher! – Also – – nur deshalb das Grab öffnen, weil sie argwöhnten, die Leiche sei beiseite geschafft worden. – Ich gab mich so rüdig und so über jeden Gewissensskrupel erhaben, daß die beiden mir dann weitere hundert Mark versprachen, wenn ich ihnen helfen würde, zwei „Feinde“ zu beseitigen. Sie ließen nun halb und halb die Masken fallen. Sie hatten es auf Dich und Röber abgesehen, hatten Euch beide erkannt und wollten Euch … verschwinden lassen. Aus ihren Bemerkungen ging hervor, daß sie den „gefährlichen Freund der verkleideten Rätin“ noch in Berlin wähnten, also annahmen, ich sei noch in Berlin tätig. – Oh – sie hätten ahnen sollen, wie der Strolch da im Waldesdunkel diabolisch feixte! – Alles weitere weißt Du ja. Du hast es ja mit erlebt. Auf die Idee, Euch beide zu ersäufen, brachte ich die feinen Herren! Ich hatte mir ja schon meinen Plan zurechtgelegt. Es klappte alles tadellos, und Pinnavarra und Gerhardi werden nun jeden Eid besten Glaubens schwören, daß Ihr auf dem Seegrunde den Aalen Gesellschaft leistet! – – So, nun schieße Du los, Mäxchen Schraut!“

Und er nahm eine Zigarette, – – war offenbar so glänzender Laune, daß ich jetzt sehr bestimmt erklärte:

„Harald, Du wirst mir doch nicht vorreden wollen, daß Du die Sachlage noch nicht überschaust?!“

„Bitte – – nein, ich habe auch nicht die allergeringste Ahnung, was es mit dem Tode des alten Gustav Rohr auf sich hat! – Erzähle …!“

Und wohl oder übel begann ich jetzt meinen Bericht …

Die Aktentasche erwähnte ich, die Visitenkarte, die dunkle Hanfleine, den zweiten Besuch Klara Rintels, das Paket, das Normann-Chaak, der Ermordete, ihr vorgestern abend zur Aufbewahrung übergeben hatte und in dem ich nur zwei Steine und Zeitungspapier fand.

Das Paket interessierte Harald am meisten.

„Natürlich hat dieser Gerhardi es heimlich geöffnet und sich den Inhalt angeeignet,“ meinte er. „Klara Rintel wird ihm als ihrem Verlobten gegenüber das Paket erwähnt haben. – Jedenfalls: die Geschichte lichtet sich!“

„Aha!! Nun sei mal ehrlich … Wer war Chaak?“

„Genau dasselbe was wir sind: Detektiv. Und zwar war er hinter Pinnavarra her. Der Mexikaner, das weiß ich bereits, hat das grüne Auto vorgestern gekauft und es in der Nähe von uns in einer Garage unter falschem Namen eingestellt. Er steuerte es gestern vormittag, und er muß Chaak irgendwie bewogen haben, das Auto zu benutzen, in dem Gerhardi ebenfalls saß, sich nachher aber eng am Boden zusammenduckte. Nur Gerhardi kann Chaak-Normann erschossen haben – aus dem Auto heraus – mit einer Luftbüchse …“

„Und das nennst Du … nichts ahnen?!“ rief ich empört. „Gestehe nur: Du weißt noch mehr!“

„Meinetwegen! – Zum Beispiel: Der alte Gustav Rohr ist auf dem anderen Grundstück seines Sohnes beim Baumfällen verunglückt. Eine Kiefer schlug ihn nieder und zertrümmerte ihm den Schädel. Wenigstens hat der Sohn und dessen Frau es so angegeben. Andere Zeugen waren nicht vorhanden.“

„Dann – dann hat das Ehepaar Rohr die Leiche … verschwinden lassen, dann – haben sie es getan, um zu verhüten, daß die wahre Todesursache jemals festgestellt würde!“

„Ganz meine Ansicht!“ nickte Harald. „Und – vielleicht haben sie den Greis, er war siebzig Jahre alt, … vergiftet …! Da das Begräbnis von ihrem Hause aus stattfand, können sie den Sarg ganz bequem mit Steinen gefüllt und die Leiche irgendwo vergraben haben …“

Ich überlegte … fragte:

„Weshalb vergifteten sie ihn?“

Harald schüttelte den Kopf. „Mit meiner Weisheit ist’s nun wirklich zu Ende! Beim besten Willen: ich kann Dir nicht mehr verraten! Kann nicht, weil der Kern dieser Verbrechen noch absolut unsichtbar ist.“

Ich merkte: Diesmal gebrauchte er keine Ausflüchte!

„Was weiter?“ verlangte ich seine nächsten Schritt zu erfahren.

„Beobachten …! Nur beobachten, mein Alter.“

„Hm – mir fällt soeben Röber ein … Wenn der nur nicht etwas verpatzt …!“

Harald zuckte die Achseln. „Er ist ein sehr befähigter Beamter … Er müßte gerade Pech gehabt haben und von den beiden Verbrechern …“

In diesem Augenblick erschütterte ein leichter Stoß die Jacht …

Harald schwieg, winkte mir rasch zu …

„Verberge Dich! Dort – in der kleinen Kombüse!“

Ich schlüpfte durch die winzige Tür …

Und hörte dann… Röbers Stimme in der Kajüte.

Hörte Harald rufen:

„Bitte – erscheine nur wieder! Herr Josef Lammark, Hausierer, wünscht Dich zu begrüßen …“

Ich trat ein … Stand Röber gegenüber, – Röber, der nicht mehr Sanitätsrat war, sondern ein dicker Mann mit schwarzem Spitzbart und einem schwarzen Hausiererkasten auf dem Rücken …

Lachend sagte er: „Ich hatte mir’s doch bald anders überlegt, was die Verfolgung der beiden fragwürdigen Subjekte betraf. Und zum Glück! Als ich zum Kirchhof zurückkehrte – von der anderen Seite, wäre ich fast auf einen Mann gerannt, der an der Ostseite der Kirchhofsmauer in den Büschen steckte und Sie beobachtete, Herr Harst. Es war … Emil Rohr …!“

 

8. Kapitel.

Eine Beichte …

„Das habe ich mir wohl gedacht,“ nickte Harald. „Eine Frage: ob Gerhardi nach Berlin zurückgekehrt ist? Ich nehme es an …“

„Ja. Die beiden trennten sich am Waldrande. Ich sah, daß sie einen Händedruck tauschten und daß Gerhardi die Richtung zur Bahnstation einschlug …“

Röber setzte sich, nachdem er seinen schwarzen Holzkasten bei Seite gestellt hatte.

In seinem ganzen Auftreten lag so eine gewisse freudige Überlegenheit, ganz so, als ob er nebenbei noch eine wichtige Entdeckung gemacht habe.

Harald bot ihm Frühstück an. „Da – essen und trinken Sie, lieber Röber … Und dann kramen Sie vollends aus …“

„Vollends, Herr Harst?!“

„Nun ja … Sie haben doch noch was auf dem Herzen, denk’ ich mir …“

„Hm …“ Und nach kurzem Zaudern: „Der Rohr wird seinen Vater ermordet haben!“ Dabei machte der Beamte ein Gesicht, als erwartete er, wir würden vor Staunen in den Bodens sinken.

„Sie meinen des … Unfalls mit dem stürzenden Baume wegen …,“ sagte Harald eifrig. „Gewiß, da dieser Unfall keine Zeugen hatte, kann man leicht auf die Vermutung kommen, daß …“

Er schwieg mit einem Male …

Er sah Röber scharf an …

„Ich möchte Sie noch etwas fragen, Herr Röber … – Wenn Sie beobachtet haben, daß Rohr mir zuschaute, wie ich das Grab zuschüttete: weshalb warnten Sie mich nicht?! Rohr hätte mir doch auch nachschleichen können und …“

„Oh – ich lag zwei Schritt hinter Rohr, Herr Harst … Wenn er auch nur Miene gemacht, Ihnen zu folgen, wäre ich rechtzeitig dazwischengetreten. Ich hätte Rohr eben verscheucht, indem ich wie von ungefähr ihm begegnet wäre. Er … er …“

„Ah – das haben Sie für sich behalten …“

„Nun ja – der Rohr blieb noch eine ganze Weile in seinem Versteck liegen, nachdem Sie gegangen waren. Ich hörte, daß er leise stöhnte und seufzte, so recht wie einer, der ein schlechtes Gewissen hat. Dann verließ auch er den Friedhof. Er schlich davon, als ob er soeben … einer Hinrichtung beigewohnt hätte. Ich glaube, wenn ich ihn angerufen haben würde, wäre er vor Schreck tot umgefallen …“

„Und – wohin ging er?“

„Nach seinem zweiten Grundstück, das oberhalb des Dorfes liegt …“

„Kenne ich!“ nickte Harald.

„Dort setzte er sich auf eine große gefällte Kiefer … Vielleicht ist’s die, durch deren Sturz der Alte umkam … Er redete da fortwährend mit seinem Bruder. Innerlich. Leider verstand ich nicht, was er sagte … Nach einer halben Stunde, als es schon recht hell war, erhob er sich und …“

Pause … – Röber schaut uns nacheinander an …

„… erhob er sich und, – – das werden Sie nie raten, was er dann tat, Herr Harst …“

„Vielleicht doch … Ging er zu einem Baum?“

„Ja … Zu einer krummen Kiefer …“

„Und – er nahm einen Strick aus der Tasche?“

„Nein … Er nahm den Strick von einem Pfahle, – es war eine alte Wäscheleine …“

„Er schlang den Strick um einen Ast des krummen Baumes und machte unten eine Schlinge … Er wollte sich … aufhängen …“

Röber starrte Harald an. „Bei Gott, Sie haben’s geraten!“

„Das war nicht schwer, lieber Röber. In der Gemütsverfassung konnte der junge Bauer eigentlich nichts anderes tun … Bedenken Sie: er war Zeuge gewesen, daß Leute, die er nicht kannte oder doch jedenfalls nicht erkannte, die Leere des Sarges seines Vaters festgestellt hatten. Bedenken Sie weiter, daß seine Seelenunruhe ihn bereits am Vormittag nach Berlin getrieben hatte – zu mir, wenn auch nicht zu mir in Haus. Das wagte er noch nicht. Nein, er gab sich einen falschen Namen und wollte erst einmal zusehen, was für Menschen Schraut und ich seien … – Ja, dieser Selbstmordversuch ist verständlich. Wie verhinderten Sie ihn?“

„Indem ich in den Wald eilte und dann dort ein Lied sehr laut pfiff, ohne mich zu zeigen …“

„Sehr klug gehandelt. Und dann?“

„Ging der Emil Rohr heim, wo ihn seine Frau schon erwartete …“

Harald nickte versonnen, griff nach einer neuen Zigarette, sagte …:

„Der Rohr ist kein Mörder – niemals! Da spielen andere Dinge mit …“

„Möchte wissen welche, Herr Harst …! – Emil Rohr war der Alte eben lästig. Der Greis soll ein sehr rechthaberischer, verschlossener Mann gewesen sein … Er war aufs Altenteil gesetzt worden, und das hat der Sohn nur durch Drohungen erreicht. Das ganze Dorf spricht davon …“

„Weiß ich …“ nickte Harald, immer noch mit jenem geistesabwesenden Gesichtsausdruck, den ich längst an ihm kenne …

„Es soll viel Streit zwischen Vater und Sohn gegeben haben …“

„Weiß ich …! Ich weiß aber nicht einen einzigen Grund zum Mord, lieber Röber. Der Emil Rohr ist mir als ruhiger, etwas schwerfälliger und denkträger Mensch geschildert worden, dabei gutmütig und zuweilen verschlagen wie alle Bauern …“

Abermals stockte das Gespräch …

Harst blies tadellose Rauchringe …

Draußen auf dem See wurde es lebendig … Ein Motorboot knatterte …

Möwen schrien … kreischten …

Und das Knattern kam näher und näher.

Harst stand auf, blickte durch das Oberlichtfenster, indem er auf einen Schiffsschemel stieg …

Und sagte, wieder herabspringend:

„Wenn Sie glauben, daß Sie nicht beobachtet wurden, als Sie Rohr beobachteten, lieber Röber, dann sind Sie irriger Ansicht! Frau Rohr hat alles mit angesehen, ich meine den Selbstmordversuch, der noch nicht bis zum Versuch gediehen war … – denn: Frau Rohr wird sofort im Motorboot ihres Mannes Bord an Bord mit der Jacht liegen. Mithin weiß sie, daß Sie hier sind, mithin hat sie Sie gesehen und ist Ihnen gefolgt …!“

Röber wollte etwas erwidern …

Da verstummte das Knattern jäh, und ein leichter Stoß verriet, daß das Motorboot an der Jacht angelegt hatte.

Harald eilte die Treppe zum Deck empor.

Wir hörten ihn halblaut sprechen …

Dann erschien Frau Rohr auf der Treppe und betrat die Kajüte. Ihr krankhaft blasses, vergrämtes Gesicht wirkte ebenso mitleiderregend wie ihre rotgeweinten Augen.

Aufschluchzend sank sie auf eine Polsterbank … Bedeckte das Antlitz mit den Händen und weinte … weinte …

Bis Harald mit unendlicher Güte zu ihr sagte:

„Liebe Frau Rohr, Sie sehen sich hier drei Männern gegenüber, die das Leben genau kennen, die jede Art Leid, Trübsal, Geheimnis und … Verbrechen gleichsam studiert haben. Seien Sie ohne Sorge. Was Sie uns auch zu beichten haben: Sie werden hier Rat und Hilfe finden!“

Frau Rohrs Hände sanken herab.

Ihr tränenverschleierter Blick musterte uns drei mit stillem Entsetzen …

„Ich … ich kenne keinen von Ihnen …“ stammelte sie …

„Ja, Sie suchten hier den Mann, der Ihren Ehemann auf dem Grundstück beobachtet hat … und dem Sie gefolgt sind, bis er schließlich hier im Boot zur Jacht ruderte …“

Sie nickte nur …

„Der Mann ist hier, Frau Rohr …,“ erklärte Harald nun. „Das ist er …“ Und er zeigte auf Röber.

Röber sagte ernst: „Ich bin’s, Frau Rohr. Nur daß ich mich nun verkleidet habe …“

„Ah – dort im Walde …! Ich war zu weit zurück … Es war noch nicht hell genug …“ – Sie flüsterte das mit seltsamer Scheu …

„Wer wir sind, ist ja gleichgültig,“ meinte Harald. „Jedenfalls: reden Sie!“

„… Polizei …!!“ hauchte das arme Weib und begann zu zittern. „Oh mein Gott – auch das noch!! Und – und der Sarg … der Sarg …“

Sie wäre umgesunken und zu Boden geglitten, wenn Harst sie nicht gehalten hätte.

Ich griff schon von selbst nach der Kognakflasche und einem Gläschen … –

Frau Röber war sofort wieder zu sich gekommen. Sie trank, hustete und … fing wieder zu weinen an …

Harald wartete mit Engelsgeduld.

Schließlich beruhigte sich die Frau. Nochmals schaute sie uns der Reihe nach an.

Zauderte – stieß jäh hervor:

„Mit dem Brief begann das alles – mit dem eingeschriebenen Brief, meine Herren …“

Harald, der noch neben ihr stand, zog einen Schemel herbei und setzte sich, sagte herzlich und vertraulich:

„Es war ein Brief vom Gericht, nicht wahr?“

„Nein – wahrscheinlich nicht! Ich habe ihn ja nie zu sehen bekommen, und mein Mann spricht sich darüber nicht aus.“ Diese ersten zusammenhängenden Sätze wollten nur stockend über die Lippen.

„War Ihr Mann denn sehr verstört über den Empfang des Briefes?“

„Mein Mann? – Oh, an den war er ja gar nicht gerichtet! An … den Schwiegervater!“

„Gustav Rohr …“

„Ja … Und der Briefträger Ullrich hat mir nachher gesagt, ganz im Vertrauen, denn der Schwiegervater hatte ihm verboten, darüber zu sprechen, – ja – aus Mexiko sei das Schreiben gewesen … Aber ob’s von einem Gericht war, weiß ich nicht …“

Wir drei schauten uns an …

Mexiko!! Und – – Sennor Karlos Pinnavarra!!

Harald fragte weiter:

„Sie und Ihr Mann standen mit dem alten Rohr sehr schlecht … Deshalb hat er Ihnen wohl nichts über das Schreiben mitgeteilt …“

„Ja … An dem Tage, als es eintraf, und das sind nun so an die anderthalb Monate her, da – da sagte er mittags zu uns: „So, nu könnt Ihr was erleben! Nu werd’ ich’s Euch beiden zeigen!“ – Und da fragte mein Mann: „Vater, was für ’n Brief war das?!“ – Und der Alte lachte so recht höhnisch: „Grünschnabel, das möchst wohl wissen!“ – Und damit war das Gespräch zu Ende. Aber von dem Tage an war der Alte so ganz verändert und hat fast jeden Mittag uns zugerufen: „Jetzt wer’ ich’s Euch zeigen!“ Bis mein Mann einmal zu mir abends meinte, er würde mal oben die Stube vom Vater durchsuchen, wenn der nicht zu Hause wäre. Und am folgenden Tag tat er’s auch. Ich mußte vor der Haustür aufpassen. Und als Emil dann herunterkam, da war er ganz käsig im Gesicht und hat am ganzen Leib gezittert. Aber – – was er gefunden, hat er mir nie verraten …“

Sie war jetzt in Eifer geraten.

Es schien ihr gleichsam eine Wohltat zu sein, daß sie sich mal aussprechen konnte.

„Nein – nie verraten! – Und so waren vielleicht zwei Wochen vergangen … Da – kam jener Montag, an dem wir morgens –“

Sie schluckte … kämpfte mit sich.

„– morgens – morgens den Vater tot in seinem Zimmer fanden – bei offenem Fenster – im Hemde – mit … mit eingeschlagenem Schädel!“

Keuchend, atemlos stieß sie die letzten Worte hervor.

„Und – das ist die volle Wahrheit, meine Herren: der Vater war tot, und – und mein Mann hat’s nicht getan, nein, der war’s nicht – bei Gottes Barmherzigkeit!“

Sie zitterte. Ihre wilden Augen irrten angstvoll über Harsts Gesicht hin.

Der sagte gütig: „Wir glauben Ihnen, Frau Rohr. Und da Sie beide nun fürchteten, daß der Verdacht der Täterschaft auf Ihren Mann fallen könnte, haben Sie die Leiche nach dem anderen Grundstück geschafft und nachher –“

„Im Schiebkarren – unter Brettern und Erde –“ flüsterte sie. „Oh – es war … es war schrecklich. Und – und alles so im Geheimen. Und die Angst – die Angst! – Aber es ging alles gut vorüber. Der Arzt mußte ja erst aus Beelitz geholt werden, und er hat dann auch gleich den Totenschein ausgestellt. – Aber mein Mann meinte, wenn doch mal jemand mißtrauisch würde und wenn man den Sarg wieder ausgrub, dann könnten die Herren vom Gericht leicht feststellen, daß der Vater nicht vom Baum erschlagen worden war, sondern mit seinem eigenen Handbeil. Und da – da haben wir in den Sarg Säcke und Steine gelegt und den Vater auf dem Grundstück drüben nachts begraben.“

„Und – dann, Frau Rohr?“

„Dann – wollte man bei uns einbrechen, die Herren … Dreimal … Und wenn ich nicht so ’nen leisen Schlaf hätte, würden die – die Diebe auch ins Haus gekommen sein. Deshalb hat mein Mann die Hunde angeschafft. Aber da – da versuchten die Spitzbuben es auf andere Weise – von oben – von der Eiche … mit der Leine. Und – und das hat auch unsere Mieterin[14], Fräulein Rintel, gesehen. Ich wollte ihr’s ausreden, denn Emil hatte mir in der Nacht gerade gesagt: „Anna,“ sagte er, „Anna, damit Du es weißt: die beiden Spitzbuben kommen Vaters wegen! Das sind die Mörder! Und – den Brief wollen sie haben, Anna, – den Brief! Nur den! Deshalb wollen sie auch mit der Leine aufs Dach und so in Vaters Stube rein!“ – Ja, und das stimmte: zweimal hatten wir die Kerle vom Dach verjagt!“

„Kennen Sie diese Leute?“

„Nein. Sie sahen immer anders aus, aber es waren doch dieselben – ein Kleiner und ein Größerer, ganz Dünner.“

Harald nahm Frau Rohrs Hände in die seinen.

„Nun mal ehrlich, Frau Rohr: Ihr Mann sucht noch immer nach dem Brief, der verschwunden ist. Er hat vom Todestage Ihres Schwiegervaters an bis heute gesucht …“

„Ja – das hat er!“

„Und – Sie wissen immer noch nicht, was jener Brief enthielt?“

„Nein – nein! Wirklich nicht! Noch heute, als ich meinen Mann, der halbtot war, an der Tür begrüßte, stammelte er: „Nur nichts von dem Brief verraten, Anna. Sonst – sonst bin ich verloren!““

Harst nickte dem armen Weibe aufmunternd zu.

„Liebe Frau Rohr, fassen Sie nur Mut! Wir werden das alles schon ins rechte Geleise bringen. – Eine Frage: Wie ist denn Fräulein Rintel zu Ihnen gekommen?“

„Ach – ihr Verlobter hat ihr Ferch wohl so empfohlen, und er hat dann auch für sie und ihre Mutter bei uns gemietet. – Ein sehr netter Herr, der Herr Gerhardi. Meine Zähne hat er mir ganz umsonst in Ordnung gebracht. Nur – nur reden tut er etwas viel, und sehr neugierig ist er.“

„Natürlich kennt er Ihr ganzes Haus?“

„Oh ja – natürlich. Er hat schon mal bei uns geschlafen – in der einen Mansardenstube. Und – und in der Nacht waren die Hunde so – so laut. Und als wir aufstanden, hat der kleinere Dieb wieder an der Leine an der Eiche so hin und her geschwungen.“

„So … so. – Was will Ihr Mann denn nun tun, da doch jetzt drei Männer den leeren Sarg angebohrt haben?“

„Er – er will mittags wieder nach Berlin rein – zu Herrn Harst, wenn Sie den Namen kennen sollten. Das ist nämlich ein – ein Detektiv, so einer wie in den Büchern. Und da Herr Harst sehr gut zu allen Menschen sein soll, will mein Mann ihn bitten, daß er ihm einen Rat gibt, wie wir – wie wir dem – dem Gericht am besten die Wahrheit mitteilen, bevor – bevor Emil vielleicht verhaftet wird. Nur – nur von dem Brief wollte mein Mann nichts sagen. Nein, der Brief soll verschwiegen werden.“

„Harald Harst sitzt hier vor Ihnen, liebe Frau Rohr. Erschrecken Sie nicht! Ich tue niemandem etwas. Im Gegenteil, ich verspreche Ihnen, daß all Ihre Sorgen schwinden werden. – Jetzt hören Sie mal genau hin, Frau Rohr. – Weiß Ihr Mann, daß Sie den Herrn aufsuchen wollten, der ihm nachgeschlichen war?“

„Nein. Ich hab’ ihm davon nichts gesagt. Ich wollte hier nur auf die Jacht und den Herrn bitten, daß er doch niemand erzählen möchte, daß mein Mann sich – sich aufhängen wollte.“

„Gut. Raten Sie ihm, erst morgen zu Harst zu fahren.“

„Das werde ich.“

„Dann erzählen Sie Fräulein Rintel heute, daß Sie und Ihr Mann nach – na sagen wir nach Beelitz wollten und erst morgens zurückkehren würden. Sie beide müssen auch nachmittags Ferch verlassen und dürfen erst nach Tagesanbruch heimkehren. Bewegen Sie Ihren Mann irgendwie zu diesem Ausflug.“

„Das wird sehr schwer werden, Herr Harst!“

„Muß aber sein – unbedingt! Wenn’s nicht anders geht, sagen Sie ihm die volle Wahrheit, – daß Sie mich hier auf der Jacht kennen gelernt haben.“

„Vielleicht wär’ das am besten.“

„Ja – es ist am besten! – Nun gehen Sie, liebe Frau Rohr. Und – bestellen Sie Ihrem Mann, daß er mir über den Brief nichts mehr zu verheimlichen braucht. Ich weiß, was das Schreiben enthielt. Besser, ich vermute es. – Ist der alte Rohr mal nach Empfang des Briefes in Berlin gewesen?“

„Nein. Aber – in Potsdam war er – mit dem Dampfer.“

„Nun – ob Berlin oder Potsdam, das bleibt sich in diesem Falle gleich.“ –

Frau Rohr verabschiedete sich.

Sie war wie verwandelt. Man merkte, welches Vertrauen sie zu Harald hatte.

Knatternd entfernte sich das kleine Motorboot. –

 

9. Kapitel.

Nur Erörterungen …

Röber blickte Harald gespannt entgegen, fragte nun, als Harst die Kajüte wieder betrat, nachdem er der Frau noch in das Motorboot geholfen hatte:

„Was – enthielt der Brief?“

„Einen – Scheck!“

Röber stutzte.

„Scheck?!“

Und auch ich meinte verwundert:

„Weshalb gerade einen Scheck?“

„Weil nur der den Mord an Gustav Rohr erklärt. Ich habe, wie ich Dir, mein Alter, schon mitteilte, hier mit dem Gemeindevorsteher gesprochen. Und bei dieser Unterhaltung erfuhr ich auch, daß der verunglückte Altsitzer Gustav Rohr in Mexiko irgendwo einen sehr reichen, aber auch sehr geizigen Stiefbruder habe, der dort eine Plantage, Farm oder Hazienda besitze.“

„Ach so!“ machte Röber sehr gedehnt.

„Ja – da war’s nicht schwer, auf den Scheck zu kommen! Geld legt man nicht in einen Einschreibebrief, wenigstens nicht – viel Geld! Und hier handelt es sich fraglos um eine größere Summe. Das geht schon aus des alten Rohrs höhnischen Bemerkungen hervor und aus der Angst seines Sohnes vor diesem Brief, der natürlich außer dem Scheck, der in Potsdam eingelöst wurde, noch ein Schreiben zum Inhalt hatte. Emil Rohr hat eben sowohl das Schreiben als auch das Geld in seines Vaters Stube gefunden und hat gefürchtet, man könnte ihn als – Raubmörder verdächtigen!“

Ich nickte eifrig.

„Ja – das erklärt alles!“

„Freilich – es ist der Schlüssel zu all den Rätseln. Auch der für Pinnavarras und Chaaks Persönlichkeiten! Pinnavarra wußte, daß des alten Rohrs Stiefbruder einen Scheck nach Deutschland schickte. Den Geldbetrag will er an sich bringen. Er fährt nach Europa, hat aber drüben in Mexiko schon manches auf dem Kerbholz gehabt, so daß ein Detektiv, Chaak, ihn verfolgte. Er wollte Chaak los sein, und er und Gerhardi ermorden den Detektiv, bevor dieser noch den ganzen Fall mir vortragen konnte. Wie Pinnavarra und Gerhardi sich kennen gelernt haben, ahne ich nur: Pinnavarra dürfte ein ausgewanderter Deutscher und ein Freund Gerhardis von früher her sein!“

„Bravo!“ meinte Röber. „All das paßt so tadellos ineinander, daß man kaum zweifeln darf.“

„Gerhardi aber wird heute sicherlich hier wieder zum Besuch seiner Braut eintreffen, von ihr erfahren, daß die Rohrs auswärts sind und mit Pinnavarra dann abermals in das Haus eindringen, um nach – dem Gelde zu suchen!“

„Bravo!! Und – wir werden die Halunken abfassen!“

„Hm – ein Aber ist noch dabei, lieber Röber!“

„So?!“

„Ja. Bedenken Sie folgendes. Die beiden haben den Sarg doch nur angebohrt, weil sie vermuteten, daß er leer sein könnte. Daß er leer ist, wissen sie nun. Und – vielleicht suchen sie nun, in der Annahme, der Sohn Rohr habe den Vater ermordet und ihm das Geld abgenommen, von dem Sohne dieses – zu erpressen. Vielleicht geht dieses Erpressungsmanöver schon heute vor sich. Und – schreiben die beiden wirklich einen Drohbrief an Emil Rohr, so ist das auch ein Beweis dafür, daß sie – nicht mehr nach dem Gelde suchen, also auch diese Nacht nicht mit der Leine von der Eiche aus in das Haus eindringen werden. Wir müssen uns also sehr genau überlegen, was wir tun wollen – sehr genau! Allerdings bin ich überzeugt, daß Frau Rohr nochmals hier erscheint, falls ein Erpresserbrief ihren Mann in neue Schrecken jagt.“

Röber hatte sich eine Zigarre angezündet.

„Hm – weshalb sollen die beiden eigentlich nicht sofort verhaftet werden, Herr Harst?“ fragte er, und – wie ich glaubte – mit einigem Recht.

„Bitte – beweisen Sie den beiden mal den Mord an Gustav Rohr!“ erwiderte Harald gleichmütig. „Das dürfte Ihnen sehr schwer werden, sehr! Und deshalb will ich eben erst noch diese Beweise herbeischaffen, oder besser – herbeiführen!“

Schweigen folgte.

Wir hingen jeder seinen eigenen Gedanken nach, prüften nochmals alles, bis ich dann plötzlich mich an Harald wandte:

„Chaak, der Detektiv, hatte doch eine Hanfleine in seiner Aktentasche …“ –

Harst fiel mir schon ins Wort.

„Die Leine hat er ohne Frage heimlich einem der beiden Verbrecher abgenommen!“

„Gut – auch meine Ansicht. Aber – weshalb verbarg er die Tasche in der Standuhr?“

„Weil er – dies ist die einzige Erklärung – mich, den bekannteren Kollegen, durch einen kleinen Trick überraschen wollte. Wahrscheinlich hätte er im Lauf des Gesprächs so getan, als ob ihm die kostbare Uhr auffiele, hätte sie geöffnet, hätte so getan, als entdeckte er zufällig die Tasche, und würde dann zugegeben haben, daß es ihm lediglich darauf angekommen sei, mich zu verblüffen.“

„Möglich,“ meinte Röber und gähnte. „Ob wir nicht ein paar Stunden jetzt schlafen? Die kommende Nacht dürfte uns doch wieder auf den Beinen finden.“

Wir legten uns nieder. Harst und ich in der Kajüte, Röber vorn im Vorschiff. –

Mittags gegen ein Uhr erhoben wir uns wieder.

Aßen, tranken, unterhielten uns. Harald meinte, daß ein Erpresserbrief heute die Rohrs nicht mehr belästigen würde. – Es war jetzt drei Uhr, und die Postbestellung war längst erfolgt.

Um halb vier mußte Röber dann Kundschafterdienste leisten. Er sollte sehen, was Pinnavarra triebe. – Und eine halbe Stunde drauf ruderte auch Harald im Beiboot der Jacht an Land, um den Dampfer von Berlin an der Anlegebrücke zu erwarten.

Ich war allein.

Nicht lange.

Zehn Minuten nach Harsts Weggang sah ich, der ich zum Schein mit einer Angel in der Hand oben auf Deck saß, Klara Rintel am Ufer.

Und – – sie winkte – winkte.

Bis ich auf das kleine Beiboot der Jacht deutete, das Harald etwas auf den Strand gezogen hatte.

Fräulein Rintel schob das Boot ins Wasser und ruderte herüber.

Ich sah, daß sie sich in großer Aufregung befand, nahm sie mit in die Kajüte hinab.

Und hier nun – brach sie in Tränen aus … Faßte sich rasch wieder … Erklärte dann:

„Frau Rohr hat mich hergeschickt. Ich hätte Sie nicht erkannt, Herr Schraut, wenn ich nicht gewußt hätte, daß Herr Harst sich hier auf der Jacht befinden soll. – Frau Rohr hat von ihrem Mann vorhin erfahren, daß ich bei Ihnen in der Blücherstraße war. Er hat mich dort gesehen. Ich gab das ruhig zu, und bald merkte Frau Rohr auch, daß sie mir vertrauen dürfe. Kurz: sie wiederholte mir, was hier in der Kajüte gesprochen worden ist, auch was Herr Harst über – über meinen Verlobten gefragt hat – wegen des Ferienaufenthaltes hier. Und da, Herr Schraut, da habe ich, was schon lange in mir rege war, … neuen Verdacht gegen Gerhardi geschöpft, den ich schon wiederholt auf allerlei Lügen ertappte. – Herr Schraut …“ – sie griff nach meiner Hand – „sagen Sie mir die Wahrheit: ist etwa Gerhardi einer der – der Leute, die bei Rohrs eindringen wollten? Oh, verhehlen Sie mir nichts! Meine Liebe zu Gerhardi ist längst – erkaltet, besonders aber, nachdem ich Normann kennen gelernt hatte –“

Sie blickte zu Boden.

Und ich – hielt nun mit der Wahrheit nicht zurück. Wunderte mich, mit welch starrer Ruhe das Mädchen all das Ungeheuerliche hinnahm.

Und – als ich geendet, sagte sie eisig:

„Gerhardi kommt heute wieder her – mit dem Dampfer. Er soll mir nichts anmerken. – Und Frau Rohr läßt durch mich bestellen, daß sie und ihr Mann jetzt schon nach Beelitz unterwegs sind!“ –

Gleich darauf war ich wieder allein.

Was ich noch mit Klara Rintel[15] vereinbart hatte, zeigt das Schlußkapitel dieses in seiner Art gewiß nicht ganz alltäglichen Kriminalfalles.

 

10. Kapitel.

Habgier …

Abends neun Uhr …

Harst, Röber und ich hatten in Abständen das Rohrsche Haus betreten.

Saßen nun oben im Mansardenstübchen der Rintelschen Damen.

Gerhardi war angeblich bereits nach der Station Linewitz zu Fuß unterwegs. Pinnavarra aber hatte um halb neun noch einen Spaziergang in den Wald unternommen. Jedenfalls: es war etwas im Anzuge!!

Die beiden Rintels, Mutter und Tochter, hatten soeben auf Haralds Vorschlag das Haus verlassen. Sie sollten die Nacht im „Willkommen“ zubringen, dessen Besitzer von Röber eingeweiht und zum Stillschweigen verpflichtet worden war. –

Wir saßen stumm da im dämmerigen Stübchen …

Die beiden Wolfshunde liefen frei im Hofe und im Garten umher.

Harst erhob sich gegen halb zehn.

„Ich will nochmals in des Alten früheres Zimmer. Ich habe dort noch etwas vorzubereiten.“

Leise schlich er hinaus.

Es war bereits dunkel geworden. Röber beklagte sich, daß Harald uns das Rauchen hier verboten hatte.

„Er ist zu vorsichtig! Die Schufte werden doch nicht gleich Verdacht schöpfen, wenn sie etwas Zigarrenrauch riechen sollten, der ohnedies nicht gleich bis zum Vorboden ziehen wird.“

Meine Gedanken galten anderem.

Dem, was Harald – vorbereitete!

Was wohl – – was?!

Er kehrte sehr bald zurück.

„So – nun bitte!“ meinte er. „Stiefel herunter! Waffen in die Jackentaschen!!“

Wir postierten uns auf dem Vorboden – jeder vor einem der schrägen Dachfenster, die nach Osten zu lagen, nach der uralten Eiche hin.

Geduld gehörte dazu, in dieser Weise zu warten – hinauszuspähen in das Dunkel, das der Mond allmählich lichtete.

Geduld und gute Nerven. –

Elf Uhr …

Immer noch nichts!

Die Eiche war deutlich zu erkennen.

Immer noch nichts!

Sollten die beiden Verbrecher doch nicht erscheinen?!

Ich trat nach rechts, zu Harald heran. Flüsterte: „Jetzt ist doch die günstigste Zeit. Nachher wird’s noch heller!“

Und er flüsterte zurück: „Wenn Gerhardi einen Nachschlüssel zur Haustür besorgt hat oder wenn –“

Und – da – von unten her ein schwaches Geräusch. Eine – kreischende Türangel.

Harst zog uns in das Rintelsche Stübchen. Er hatte die Tür gut geölt – alles … Ließ sie etwas offen …

Und stand hinter der Spalte, während Röber und ich ihm über die Schultern spähten. –

Ein Lichtschimmer blitzte auf dem Vorderboden auf – von der Treppe her.

Da zog Harald sacht die Tür vollends zu.

Da – waren in die Tür drei Löchlein gebohrt. Und wir sahen draußen zwei Gestalten.

Sahen sie drüben in der anderen Stube verschwinden. Lautlos – rasch.

Die Hunde unten meldeten sich nicht …

Totenstille im Hause …

Toten … stille. –

Mein Herz hörte ich pochen.

Hörte selbst Röber hastiger atmen …

Harst öffnet die Tür – ganz langsam.

Durch die Bodenfenster fällt Mondlicht herein.

Wir huschen hinüber …

Zur anderen Tür – zu den drei Löchern in der Füllung …

Sehen …

Sehen in des toten Alten Stube helles Licht – zwei Karbidlaternen.

Sehen Pinnavarra und Gerhardi.

Sehen, daß sie das Fenster mit der Bettdecke verhängt haben.

Und – warten …

Warten geduldig, weil Harald uns jetzt zuraunt:

„Sie werden das Geld finden! Jedenfalls etwas, das sie für – das Geld halten! Das habe ich vorbereitet, damit sie sich verraten und wir beweisen können, weshalb sie hier eindrangen! Dann – ist auch der Mord an Gustav Rohr bewiesen!“ –

Die beiden suchen …

Suchen …

Wir beobachten alles – alles …

Bis Pinnavarra plötzlich den alten Lehnstuhl am Fenster vorsichtig umkippt und die Polsterung, die Sprungfedern ableuchtet.

Und mit einem Ruck reißt er da ein Päckchen hervor …

Sein halblauter Jubelruf schrillt bis zu uns:

„Die hunderttausend Mark!! Wir haben sie!“

Gerhardi tritt neben ihn.

Sie haben nur Augen für das Päckchen. Kehren der Tür den Rücken zu. Und – auch diese Tür ist geölt – – alles …

Sie geht auf – ohne das geringste Geräusch.

Wir stehen auf der Schwelle …

Pinnavarra zerschneidet gerade den Bindfaden, der den Schatz umschließt, die Beute – den Mordlohn!

Keucht hervor:

„Endlich – endlich!!“

Und Gerhardi ebenso – zitternd vor Gier – vor Erwartung:

„Hätten wir’s nicht gefunden, so wär’s fast schade um die Schufte, die wir – dieserhalb über die Klinge springen ließen –“

Und da …

Da – – eine Stimme hinter ihnen:

„Auch – schade um den alten Rohr, nicht wahr!“

Harst hat’s gerufen …

Die beiden fliegen herum … stieren in drei Pistolenmündungen …

Bis Röbers Handschellen sich knackend um zwei Paar Handgelenke schließen. – – –

Ich habe kaum noch etwas hinzuzufügen. Vielleicht das eine, daß es ja mehr dem Charakter eines Romans entspräche, wenn ich hier noch angeben könnte, daß Harst dann die hunderttausend Mark wirklich fand, die der Stiefbruder des alten Rohr auf dem Sterbebett noch absandte, um seinen früheren Geiz gutzumachen.

Aber Harst fand sie nicht.

Er ist vielmehr überzeugt, daß der Alte das Geld – verbrannt hat, um sich so an seinem Sohne zu rächen – um ihm nichts als Erbteil zu hinterlassen.

Vielleicht hat Harald recht. Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Vielleicht liegt das Geld auch irgendwo im Fercher Walde verborgen …

Vielleicht …

 

Ende!

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „hausten“.
  2. In der Vorlage fehlt eine Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  3. In der Vorlage steht: „das“.
  4. Gemeint ist hier ein sogenannter Audion-Empfänger, speziell die Schaltungstechnik eines Rückkopplungs-Audion. Auch erinnerte die damalige Bauform der Elektronenröhren sehr stark an Glühlampen. Siehe dazu auch Wikipedia: Erfindung des Radios.
  5. „Rintel“ / „Rintels“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Rintel“ geändert. Die Deklination des Namens wie „…Rintels Beschreibung …“; „… Rintels weißgekleidete …“ usw. wurde natürlich unverändert beibehalten.
  6. In der Vorlage steht: „Schöfför“.
  7. In der Vorlage steht: „geruschten“.
  8. In dieser und den folgenden fünf Zeilen gibt es Textaussetzer, die sinngemäß ergänzt wurden.
  9. In der Vorlage fehlt eine Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  10. Vermutlich Escamillos Arie aus dem zweiten Aufzug von Georges Bizets Oper „Carmen“ (1875), die im deutschen Libretto den berühmten Refrain „Auf in den Kampf, Torero!“ hat. Denkbar ist aber auch Carmens „Zigeunerlied“ vom Anfang desselben Aufzugs oder ihre „Habanera“ („Die Liebe vom Zigeuner stammt …“) aus dem ersten Aufzug.
  11. „Röber“ / „Röbel“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Röber“ geändert.
  12. In der Vorlage steht: „wie“.
  13. In der Vorlage steht: „Erlaubis“.
  14. In der Vorlage steht: „Meisterin“.
  15. In der Vorlage steht: „Ritel“.