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Die Jacht mit den drei Mumien

 

 

Walther Kabel

 

Die Jacht mit den drei Mumien

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1928 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Der Detektiv und die Klientin.

„Die Entführung des vierjährigen Töchterchens des Neuyorker Milliardärs Owen Darc bleibt ein Rätsel. Nachdem nunmehr drei Wochen seit dem spurlosen Verschwinden des Kindes verflossen sind, muß man den Gedanken fallen lassen, daß es sich um eine Entführung zum Zwecke der Erpressung eines hohen Lösegeldes handelt. Ebensowenig ist bisher auch nur der geringste Beweis dafür erbracht, daß Frau Jane Darc, die zweite Gattin des Milliardärs und Stiefmutter der kleinen Betsy, irgendwie an der Entführung beteiligt ist, wie es einige Neuyorker Skandalblätter in verwerflicher Sensationshascherei ihren kritiklosen Lesern aufgetischt haben. Tatsache ist lediglich, daß zwischen dem Ehepaar seit dem Verschwinden des Kindes ein ernstes Zerwürfnis herrscht und daß Frau Jane Darc den Palast ihres Gatten verlassen hat.“

Diese Notiz stand am 5. Mai ziemlich gleichlautend in allen Berliner Morgenzeitungen.

Und dieselbe Notiz war der Gegenstand der Unterhaltung zwischen zwei Herren, die an diesem Vormittag des 5. Mai durch die stillen vornehmen Straßen der Villenkolonie Grunewald, des schönsten westlichen Vorortes Berlins, dahinschlenderten und sich immer wieder an dem zarten ersten Grün der mannigfachen Bäume erfreuten, die zu den ausgedehnten Gärten der hier wohnenden Reichen gehörten.

Der größere der beiden Herren, dessen hageres Gesicht unwillkürlich die Blicke auf sich zog, weil in diesen Zügen ein seltsames Gemisch von Energie, Klugheit und auch sinnender Träumerei sich zeigte, sagte nun, indem er die grauen klaren Augen auf das Steinbild der Sphinx am Ende der Bismarckbrücke richtete:

„Es wäre ein Fall, der mich reizen könnte. Die näheren Umstände der Entführung der kleinen Betsy deuten auf ein größeres Komplott hin. Und die Tatsache, daß Owen Darc zwei Wochen vor der Entführung drei Privatdetektive mit der ständigen Bewachung der Kleinen betraut hat, deutet weiter darauf hin, daß er Drohbriefe oder dergleichen erhalten haben muß, wenn er dies auch verschweigt. – Setzen wir uns … Dieser köstliche Sonnenschein hier muß genossen werden …“

Sie nahmen auf einer Bank Platz.

Der kleinere der beiden, dessen rundliches Gesicht eine gewisse verschmitzte Gutmütigkeit verriet, sagte nun seinerseits:

„Du schautest soeben die Sphinx so durchdringend an. Dachtest Du an die Sphinxnatur aller Frauen, also auch Jane Darcs?“

„Nein, nur an das Rätsel dieses Geschehnisses im allgemeinen … – Im übrigen ist sie wieder da …“

„Sie …?! – Wer denn?“

„Die Dame, die heute seit neun Uhr verschleiert in unserer Straße auf und ab ging. Bitte – sie blieb hinter uns. Jetzt scheint sie uns ansprechen zu wollen …“

Der Kleinere blickte nach links. Eine schlanke Frau in dunklem schlichten Kostüm mit schwarzem Schleier um das englische Strohhütchen kam über die Brücke …

Sonst war in der Bismarckallee weit und breit kein Mensch zu sehen. Nur eine dicke Spreewälder Amme schob einen Kinderwagen in der Ferne vor sich her.

„Es ist Frau Darc,“ sagte der Hagere leise. „Bestimmt Frau Jane Darc. Sie hat offenbar Spione gefürchtet und unterließ es daher, unser Haus zu betreten.“

„Frau Darc?!“ Die Stimme des kleinen Korpulenten klang äußerst ungläubig. „Wie kommst Du darauf? Frau Darc …?! Das …“

„… ja, das rotblonde Haar verrät sie … Außerdem die winzigen Füße …“

Die Dame kam nun schräg über den Fahrdamm auf die Bank zu.

Die beiden Herren erhoben sich, lüfteten die Hüte. Die schlanke Frau blieb vor ihnen stehen.

Bevor sie noch irgend etwas sagen konnte, begann der Schlanke mit gemessener Liebenswürdigkeit:

„Frau Darc, nicht wahr?“ – Er sprach englisch. „Wen Sie hier vor sich haben, Frau Jane Darc, wissen Sie …“

„Ja … Ich bin Ihretwegen von Neuyork herübergekommen, Mister Harst!“

Der Detektiv verbeugte sich. „Wenn Sie Platz nehmen wollen – bitte!“

Sie tat es etwas zögernd. Seine Art verwirrte sie. Sie saß nun zwischen den beiden Herren.

„Ich bin mit allen Einzelheiten des Falles vertraut, Frau Darc, soweit die Zeitungen diese brachten,“ begann der Detektiv Harald Harst von neuem. „Am vierzehnten April spielte Ihr Stieftöchterchen Betsy unter Aufsicht der Bonne und der drei Detektive Worpin, Setter und Crold am Meeresstrande unweit des bei dem Dorfe Newcoord gelegenen Darc-Palastes. Ganz plötzlich führte der Seewind dann eine dichte Nebelbank vom Meere herüber, die Land und See für zehn Minuten in undurchsichtige Schleier hüllte. Als der Nebel landeinwärts gezogen war, bemerkten Sie von einem Balkon des Palastes als erste, daß sowohl das Kind als auch die Bonne Miß Trooper sowie die Detektive verschwunden waren. Sie dachten zunächst an nichts Bedrohliches, sondern glaubten, die fünf Personen seien vor dem Nebel in den Strandpavillon geflüchtet. Als jedoch eine Stunde vergangen war, stellte Ihr Gatte das Verschwinden der fünf unzweifelhaft fest. Seitdem hat man nichts mehr vor den Entführten gesehen oder gehört. Man nimmt eine Entführung an, obwohl keinerlei Anzeichen dafür gefunden wurden. Die ganzen Umstände lassen jedoch nur den Schluß auf eine gewaltsame Entführung zu. – Vier Tage nach diesem unerklärlichen Ereignis trennten Sie sich von Ihrem Gatten und kehrten zu Ihren Eltern nach Neuyork zurück. Weshalb?“

Frau Jane Darc hatte jetzt den dichten Schleier hochgeschlagen und zeigte den beiden Freunden ein Antlitz von wunderbarer Eigenart.

Jane Darc, geborene Wanker, war keine Schönheit nach amerikanischen Begriffen. – Die Vorliebe der Männer aus dem Dollarlande für runde, volle Gesichter deutet nicht gerade auf einen verfeinerten Geschmack hin. Es ist der Geschmack von Emporkömmlingen, von Geldjägern und Menschen minderer Intelligenz. Dieser Geschmack – unter einem Dutzend anerkannter „Filmschönheiten“ ist kaum ein schmales, rassiges Gesicht – kennzeichnet den Volkscharakter, das wüste Jagen nach Verdienst, bei dem alles Ideelle in den Hintergrund gedrängt wird.

Frau Darcs Antlitz war schmal und rassig, hatte nichts von jenem eingefrorenen Liebreiz an sich, der uns Deutschen die Filmstars von drüben langweilig und puppenhaft erscheinen läßt.

In Frau Darcs Antlitz war Seele und Charakter, in den dunklen, langbewimperten Augen eine Welt von Gefühlen.

Sie schaute den Detektiv Harst forschend an. Sagte:

„Was vermuten Sie, Mister Harst?“

„Daß Ihr Gatte Sie für schuldig hält …“

„Sie irren sich. Ich ging von ihm, weil er mich betrogen hatte – mit der Bonne Miß Lilian Trooper …“

„Und dies erfuhren Sie erst nach der Entführung des Kindes?“

„Ja!“

„Auf welche Weise?“

„Durch einen anonymen Brief, der so viel Einzelheiten enthielt, daß ich meinen Mann daraufhin zur Rede stellen konnte.“

„Er leugnete?“

„Nein!“

„Und Sie, Frau Darc, waren zu stolz, Ihren Eltern die Wahrheit mitzuteilen.“

„Ja. Ich kehrte heim – und schwieg … Ich habe vieles ertragen in dieser Zeit. Ein Teil der Presse verdächtigte mich …“

„Ich weiß. – Und nun wünschen Sie, daß ich die kleine Betsy wieder herbeischaffe, nicht wahr?“

„Ich bitte darum, Mister Harst.“

„Und Sie würden mir all meine Fragen wahrheitsgetreu beantworten?“

„Alle, Mister Harst.“

„Nun gut. – Haben Sie Owen Darc vor zwei Jahren aus Liebe geheiratet?“

„Nein – aus Trotz!“

„Ah … Sie liebten einen anderen, der Sie verschmähte …“

„Ja!“

„Wer war das?“

„Ein Arzt aus Chikago, Doktor James Bennett.“

„Hätten denn Ihre Eltern diese Ehe mit Bennett gebilligt?“

„Ja. Außerdem war ich mündig und besaß eigenes Vermögen.“

„Verzeihen Sie: Bennett liebte Sie nicht?“

„Wir waren so gut wie verlobt, Mister Harst – heimlich. Dann zog sich Bennett plötzlich zurück und mied mich. Als ich von ihm eine Erklärung verlangte, ihn also stellte, sagte er nur: „Wir müssen verzichten, Jane. Quälen Sie mich nicht!“ Das war im Opernhaus im Foyer. Er verneigte sich und ließ mich stehen. Drei Tage später hörte ich, daß er Chikago unbekannt wohin für immer verlassen habe.“

In ihren dunklen Augen schimmerte es feucht.

„Und dann – beging ich die größte Torheit meines Lebens. Ich verlobte mich mit meinem anderen Bewerber, mit Owen Darc. Es war – eine Sünde wider das Heiligste, wider die Liebe! – Ich habe Unmenschliches gelitten in diesen zwei Jahren!“

„Owen Darc war mit seiner ersten Gattin nur ein Jahr verheiratet. Woran starb sie?“

„Sie stürzte mit dem Pferde: Genickbruch!“

„Hegen Sie gegen irgend jemand Verdacht, was die Entführung des Kindes betrifft?“

Sie zögerte etwas. Ganz leise dann:

„Ja …“

„Gegen – Ihren Gatten selbst?“

Da schrak sie zusammen.

„Es ist so … Nur gegen ihn!“

„Und – weshalb?“

„Er – haßte mich. Ich konnte seine Liebe nicht erwidern. Unsere Ehe enttäuschte ihn. Seine Leidenschaft für mich war rein – rein körperlich. Und sie schlug in Haß um, als ich –“

„Danke, Frau Darc! – Sie meinen also, daß er vielleicht gar all diese elenden Hintertreppenblätter bestochen hat, um Sie bloßzustellen?“

„Ich bin überzeugt, daß er die Hand im Spiel hat. Er liebte das Kind nicht. Er liebte nur sich – und war zuletzt Sklave Lilian Troopers. – Der Chikagoer Detektiv Murgers hat Darc in meinem Auftrag beobachtet, jedoch angeblich nichts ausgerichtet. Sie werden ja unsere Verhältnisse kennen, Mister Harst: dort ist jeder käuflich, und Darc kommt es nicht auf Millionen an. Die stehen mir nicht zur Verfügung. Für europäische Begriffe bin ich reich. Nicht für amerikanische. Immerhin biete ich Ihnen hunderttausend Dollar, wenn Sie die Angelegenheit restlos aufklären. Sie brauchen keine Kosten zu scheuen. Auch das Geld meiner Eltern steht hinter mir …“

Harald erwiderte nichts.

Da bat Frau Jane Darc:

„Bitte, nehmen Sie doch den Auftrag an!“

Harst zog seine Brieftasche hervor.

„Ich erhielt heute mit der Morgenpost, als mein Freund Schraut noch schlief, zwei Schreiben. – Bitte, lesen Sie. Hier das erste!“

Es war ein Brief Owen Darcs an den Detektiv. Darc schrieb ihm, daß er sein Kind wieder herbeischaffen möge und daß er ihm einen Scheck über eine Million Dollar für den Fall des Gelingens verspreche.

Frau Jane hatte sich beim Lesen leicht verfärbt, murmelte nun bitter:

„Sein Gegenschachzug!“

„Hier der andere Brief,“ meinte Harst gleichmütig.

Herr Harst!

Sollten Sie von irgendeiner Seite mit dem Fall Darc beauftragt werden und sollten Sie den Fall übernehmen, so werden Sie niemals lebend amerikanischen Boden betreten.

Der Täter.

Harsts Freund war auch dieses Schreiben völlig unbekannt. Als er es nun gleichfalls überflogen hatte, warf er ihm einen bitterbösen Blick zu.

Frau Darc aber sagte, indem sie sich langsam erhob:

„Ich bin also zu spät gekommen.“

„Ja, Frau Darc … Ich habe Owen Darc abtelegraphiert und muß auch Ihnen erklären, daß ich gegen „den Täter“ kaum etwas ausrichten kann … Ich will – neutral bleiben!“

Frau Jane schaute ihn starr an.

„Undenkbar, daß ein Harst sich – fürchtet,“ meinte sie ungläubig.

Der Detektiv stand gleichfalls auf und zog den Hut.

„Überlassen Sie es der Zeit, die Wahrheit ans Licht zu bringen, Frau Darc, und reisen Sie mit dem nächsten Dampfer heim!“

Sie lächelte unendlich bitter.

„Also habe ich auch hier umsonst Hilfe gesucht! … Dann – werde ich mir selber helfen!“

Sie richtete sich straffer auf, grüßte kühl und schritt davon.

 

2. Kapitel.

Im Nebel.

Im Lesesaal des Schnelldampfers Helgoland war ein Lautsprecher aufgestellt, der den Reisenden der ersten Kajüte täglich die Darbietungen des Berliner Senders übermittelte.

Die Helgoland hatte Bremen am 7. Mai morgens verlassen. Heute am 8. Mai abends fuhr das Riesenschiff mit halber Geschwindigkeit inmitten eines dichten, eiskalten Nebels dahin, der die Nähe eines größeren schwimmenden Eisberges wahrscheinlich machte.

Es war zehn Uhr. Soeben hatte der Lautsprecher mit etwas schnarrendem Ton mit den Tagesnachrichten begonnen. Der Lesesaal war nur wenig besucht. In einer Ecke saßen zwei Herren, deren blondbärtige frische Gesichter und gemessene Bewegungen auf Holländer hindeuteten.

Der Lautsprecher meldete:

Das Neueste zum Fall Darc.

Die beiden Blonden zuckten leicht zusammen und schauten sich an.

Wie Neuyorker Blätter melden, hat sich der Milliardär Owen Darc an den Berliner Detektiv Harald Harst gewandt, damit dieser die Entführung der kleinen Betsy aufkläre. Harst hat den Auftrag abgelehnt. Er soll gleichzeitig einen Drohbrief erhalten haben, und vermutlich hat ihn der Inhalt dieses Schreibens veranlaßt, das so außerordentlich günstige Angebot des Milliardärs auszuschlagen.

Der größere der beiden Holländer flüsterte jetzt:

„Sehr wichtig für uns!“

Der Lautsprecher brüllte:

Eisberge im Atlantik. Der Motorschoner Kopenhagen traf auf der Fahrt von Westgrönland nicht weniger als sechs ungeheure Eisberge, die …

Der kleinere, etwas korpulente Holländer fragte den anderen:

„Glaubst Du etwa, daß Darc den Drohbrief schreiben ließ?“

„Möglich wäre das schon, mein Alter. Gehen wir aber lieber an Deck. Ein Schiff im Nebel ist poetischer als bei Sonnenschein.“

Sie verließen den Lesesaal, durchschritten das Spielzimmer und den Salon und stiegen die breite Treppe empor.

Als sie das Spielzimmer passierten, erhob sich ein einzeln hinter einer Zeitung sitzender Herr und folgte ihnen in einiger Entfernung. Er war überschlank, hatte einen dunklen Schnurrbart und eine dicke, unschöne Nase. In der Passagierliste stand er als Mr. Daniel Propetter, Journalist, Chikago. –

Die See war wenig bewegt. Das große Schiff glitt fast lautlos durch Meer und Nebel. Selbst hier auf dem Promenadendeck, wo die beiden Holländer nun an der Reling standen, konnte man kaum fünf Schritt weit sehen.

Unheimlich klang das dumpfe Tuten des Nebelhorns …

Unheimlich war diese graue, feuchte, wehende Masse, die den Ozeanfahrer gleichsam umklammerte …

„Drei Grad Wärme höchstens,“ sagte der lange Holländer – auch jetzt wieder in deutscher Sprache.

Der Kleinere schwieg und schlug den Kragen seines tadellosen Smokingjacketts hoch … Dann meinte er:

„Ob sie wirklich auf der Helgoland sein mag?“

„Nein. Eine Jane Darc verkleidet sich nicht und fährt Zwischendeck, mein Alter. Gewiß, sie ist uns entgangen. Wir wissen nicht, wo sie steckt. Hier auf der Helgoland jedenfalls nicht.“ – –

Und ich, Max Schraut, Schreiber dieser unserer Erinnerungen, meinen Lesern seit langem wohlbekannt, fragte nun den langen Holländer, nämlich Harald Harst, der in der Passagierliste als Mynheer van der Naken, Amsterdam, neben der Kabinennummer 21 glänzte:

„Vielleicht hältst Du es jetzt endlich für angebracht, mir zu sagen, wie Du über den Fall Darc eigentlich denkst?“

„Bedauere. Ich denke noch gar nichts. Wie oft soll ich Dir das wiederholen und –“

Er schwieg …

Von der Brücke her brüllte jemand durch das Sprachrohr:

„Stoppen! Ein Schiff an Steuerbord!“

Harst zog mich eilends mit sich fort. Wir liefen zur Steuerbordseite hinüber. Einer der Offiziere der Helgoland gab uns Auskunft.

„Wir hätten beinahe einen kleinen Dampfer gerammt. Er scheint ohne Besatzung zu treiben. Die Vorschiffwache hat ein Tau über die Ankerwinde des Fremden werfen können. Kommen Sie mit, wenn’s Sie interessiert …“

Die Helgoland schleppte das winzige Schifflein noch eine Strecke mit, bevor sie vollends stoppte.

Von oben war bei dem Nebel nur wenig zu erkennen. Der Offizier und zwei Matrosen kletterten an einer Strickleiter auf das Deck des kleinen Dampfers hinab.

Auch Kapitän Winter von der Helgoland kam jetzt herbei. Er allein wußte, wer wir in Wirklichkeit waren.

„Hoffentlich verlieren wir nicht zu viel Zeit,“ meinte er schlecht gelaunt. „Der Dampfer ist sicher von der Besatzung verlassen. Er führt keine Positionslaternen – nichts … – Hallo, Reimer, – wie steht’s?“

Der Offizier schwang sich an der Strickleiter wieder empor …

„Eine alte Dampfjacht, Kapitän,“ meldete er merkwürdig verstört. „In der Hauptkajüte sitzen um den Tisch herum drei – drei Mumien …“

„Was – Mumien?“

„Ja – und sonst ist nichts Lebendes an Bord … Der Kessel kalt …“

„Wie heißt denn der verdammte Kahn?“

„Weiß nicht … Keine Papiere da – nichts …“

Harst sagte rasch: „Lassen Sie uns fünf Minuten Zeit, Kapitän … Ich möchte mir die Jacht ansehen.“

„Gut, weil Sie es sind! Nur deshalb! Aber beeilen Sie sich … Natürlich stimmt irgend etwas mit der Jacht nicht!“

Harald turnte schon die Strickleiter hinab. Reimer hatte ihm seine Karbidlaterne gegeben.

Ich folgte …

Als wir unten an Deck des Fremden anlangten, glühten uns zwei Lichter entgegen: die Laternen der beiden Matrosen!

„Nun – was gefunden?“ fragte Harald …

„Nichts – nur drei vertrocknete Leichen!“

Die Matrosen kamen mit in die Heckkajüte … –

Ich werde nachher die Jacht noch genauer beschreiben. Jetzt nur das eine: Die Kajüte war sehr elegant eingerichtet, wenn die ganze Pracht auch ein wenig altmodisch und verblichen schien.

Unsere Laternen vereinten jetzt ihre Strahlen auf dem Mittelpunkt dieses viereckigen Raumes: dem Tisch mit den stummen, unheimlichen Gästen …

Mumien?! – Nein, unter Mumien versteht man etwas anderes …

Dies hier waren Leichen von drei Männern, die durch irgendwelche Mittel vor der Verwesung geschützt und daher mumienartig zusammengetrocknet waren.

Männer in Sportanzügen, ohne Kopfbedeckung … Männer mit bartlosen Gesichtern … Die Augenlider zugedrückt …

Harst faßte dem einen in die Brusttasche der Jacke.

Fand nichts … Durchsuchte die anderen Taschen.

Derweil durchstöberten die Matrosen und ich die Wandschränke …

Mit einem Male sagte Harald:

„Kapitän Winter mag unsere Koffer schleunigst hier auf die Jacht schaffen lassen … Bitte ihn, daß er uns zwei Matrosen mitgibt. Wir beide wären zu wenig für die Jacht!“

Und wenige Minuten später war das Unglaubliche geschehen: die Helgoland dampfte weiter, und wir und dieselben beiden Matrosen, die mit uns in der Kajüte gewesen, waren Herren und Besatzung der Jacht mit den drei Mumien!

Als die Helgoland im Nebel verschwunden, als wir vier, oben an Deck stehend, nur noch das Nebelhorn des Ozeanriesen hörten, wandte sich Harald an Jochem Dröger und Pieter Krefft:

„Ich bin nun also Kapitän der Jacht … Mein Freund Schraut mag den Schiffskoch spielen, und Ihr beide –“

Jochem Dröger rief da:

„Gott verdimm mich, Herr Harst … Da brennt mit ’nmal Licht in der Heckkajüt’ …!“

Wir schauten hin …

Und ich glaube, uns allen war ein wenig unbehaglich zumute … –

Ich möchte nun an dieser Stelle die Jacht, deren Namen wir noch immer nicht kannten, ein wenig näher beschreiben, da ich dies sonst vielleicht zu einem Zeitpunkt tun müßte, wo eine Unterbrechung des Ganges der Handlung noch unangenehmer wirkt als jetzt, – insofern unangenehm, als der Leser doch fraglos sehr begierig ist zu erfahren, wer denn in der Hauptkajüte Licht angezündet haben kann, da doch nur wir vier als lebende Insassen des kleinen Schiffleins in Betracht kamen.

Die Jacht war, wie schon erwähnt, älterer Bauart. Die modernen Privatjachten sind schlanker und schnittiger und haben zumeist als Maschine Motoren.

Unsere herrenlose Jacht hier maß etwa 25 Meter bei 7 Meter größter Breite. Auf dem Deck befanden sich außer den beiden Masten in der Mitte die Kommandobrücke mit einem kleinen Steuerhäuschen, vorn eine Luke und zwei überdachte Treppenniedergänge, der eine zum Mannschaftslogis, der andere zur Kombüse, zur Schiffsküche. Achtern, also auf dem Hinterdeck, gab es einen einzigen größeren Treppenniedergang, der in einen breiten Vorflur führte, aus dem wieder fünf Türen in fünf verschiedene Räume führten: rechts und links je zwei winzige Kabinen, und geradeaus die Hauptkajüte.

Aus dieser mündete eine zweite, dem Eingang gegenüberliegende und im Mahagoniholz-Wandgetäfel kaum bemerkbare schmale Tür in einen kurzen Gang, an den zwei Toiletten grenzten. Die vierte Tür dieses Ganges öffnete sich nach dem Maschinenraum hin.

Hiermit kann ich diese Beschreibung schließen. Sie genügt vollauf zum Verständnis der Örtlichkeit und all der widerspruchsvollen Erlebnisse, die uns hier noch beschieden sein sollten. –

Und nun zurück an Deck zu uns vier Insassen der Jacht, die wir so deutlich die Oberlichtfenster der Hauptkajüte, die zu beiden Seiten eines kastenähnlichen Aufbaus vor der Haupttreppe angebracht waren, erleuchtet sahen …

Jochem Dröger, ein kleiner stiernackiger Bursche von fünfundzwanzig Jahren, fügte jetzt seinem ersten Ausruf, der uns auf das Licht aufmerksam gemacht hatte, halb scherzend hinzu:

„Do is warrraftig eener von die dote vertrocknete drei Kierls wedder labendij worden!“

Worauf der hagere Pieter Krefft warnend meinte:

„Jochem, red’ kein Snack …! Mit so wat macht man keene Witzens! Nich wohr, Herr Harst?“

Harald nickte den beiden Kameraden zu. „Nein, Witze wollen wir uns lieber schenken … Mir ist die Hauptsache, daß Ihr das Herz auf dem rechten Fleck habt und keine Angstmeier seid. Die könnte ich hier nicht brauchen. Ich will Euch nun auch gleich erklären, weshalb ich mich entschlossen habe, diese Jacht in den nächsten Hafen zu bringen … Auch mein Freund Schraut verlangte schon vorhin hierüber Auskunft. Das, was ich Kapitän Winter über diesen meinen Entschluß angab, stimmte nicht … Die Jacht wäre mir gleichgültig gewesen und hätte meinetwegen noch wochenlang auf dem Atlantik mit ihren drei toten Passagieren umhertreiben können, wenn ich nicht in dem Jackenfutter der einen Mumie – eine kleine Bronzemünze gefunden hätte, die dem entgangen ist, der die Taschen der Toten geplündert hat. Diese Münze ist nichts anderes als ein Ausweis, eine Erkennungsmarke für die Angestellten des rühmlichst bekannten Neuyorker Detektivinstituts Kolumbus …“

Ich horchte auf … Blitzartig durchschaute ich Harald, rief leise:

„Und die drei Detektive, die Owen Darc engagiert hatte, waren Kolumbus-Leute …!“

„Ja. – Ich vermute daher, daß die Toten dort unten jene drei Kollegen sind, die zugleich mit der kleinen Betsy Darc und der Bonne Miß Lilian Trooper verschwanden …“

Jochem und Pieter stierten Harald recht verständnislos an. Wir vier standen dicht beieinander, und die Jacht trieb gerade in einem der sogenannten Nebellöcher dahin, das heißt einer nebelfreien Stelle, so daß Mond und Sterne das Deck in milde Dämmerung tauchten …

Bevor Harald dann aber unseren Kameraden Aufschluß über Betsy Darc und über die Geschehnisse unweit Neuyorks geben konnte, fuhren wir vier förmlich auseinander, als ob zwischen uns eine Granate explodiert wäre …

Und doch war’s nur ein langgezogener gellender Schrei gewesen, der scheinbar aus der Hauptkajüte überlaut emportönte und in einem kreischenden Heulen endete.

 

3. Kapitel.

Die Meldung eines Toten.

Nur ein Schrei?! – Nur …?!

Nun – dieser Schrei mußte wohl ganz besonderer Art gewesen sein, denn weder Harald, noch ich, noch unsere beiden jungen handfesten Matrosen waren hysterische Pensionsdämchen, die vor einer Maus auf den Schrank flüchten …

Und doch: wir waren auseinandergeprallt und stierten jetzt auf die hellen Oberlichtfenster, als ob dort durch die matten Scheiben Satanas mit seinem Anhang herausfahren müßte.

Sekunden freilich nur dauerte diese Schrecklähmung.

Dann Harst:

„Jochem kommt mit mir … Du und Pieter – Ihr bewacht das Deck!“

Und er riß die Clement aus der Beinkleidtasche, das kleine schwarze neunschüssige Ding.

Jochem sprang schon voraus – die Treppe hinab. Wollte zeigen, daß er Courage hätte …

Harst holte ihn ein … Sie verschwanden …

Und Pieter und ich standen und blickten mißtrauisch in die Runde. Meine Hand glitt gleichfalls in die Hosentasche …

„Gott verdimm mich!“ brummte der lange Pieter. „Hätt’ ich doch ook so ’n Schießeisen, Herr Schraut … Hier is jo der Düwel los an Bord!“

Ein Windstoß füllte das Nebelloch …

Im Nu waren wir wieder von den feuchten grauen Schleiern völlig eingehüllt …

Nichts sahen wir mehr … Kaum uns selbst …

Pieter drängte sich näher an mich heran …

„Herr Schraut, hier an Deck is ’s nu mit ’s Wache halten alle …“

„Ja – wir sind hier zwecklos … Gehen wir in die Kajüte …“

Da packte Pieter mein Handgelenk …

„Ho – do wor wat, Herr Schraut,“ keuchte er erregt. „Do wor –“

„Still …!“

Und wir lauschten …

Aber der dumpfe dröhnende Ton, der irgendwoher von Deck an unser Ohr gedrungen, wiederholte sich nicht.

„Hm,“ brummte Pieter, „wenn miene Oojen hier an Deck so wat as iin Boot bemörkt hädden, würd ich seggen, man häd iin Boot uttjeschwungen … Aber ich hebb kien Boot seihn …“

„Nein, ein Rettungsboot ist nicht vorhanden,“ bestätigte ich flüsternd.

Dann von vorn ein lauter Ruf:

„Schraut!!“

Haralds Stimme …

„Hallo – – hier!“

Eine Gestalt löste sich aus den Schwaden. Eine Laterne schimmerte milchig im Nebel …

„Wir haben nichts gefunden,“ erklärte Harald hastig. „In der Kajüte brennt die große Lampe, die Toten sitzen, wo sie saßen …“

„Gott verdimm mich!“ fluchte Pieter. „Dat is warrraftig ’n Gespensterscheep …“

„Scheint so, lieber Pieter. Aber wir werden die Gespenster schon finden. – Zunächst müssen wir die Positionslaternen setzen, und dann muß einer das Nebelhorn bedienen … Das können Sie tun, Pieter … Jochem bringt die Laternen schon in Ordnung. – Vorn in der Kammer liegen auch die Segelballen. Wir werden am Vordermast einen Fetzen Zeug hissen, damit die Jacht etwas Fahrt macht und dem Steuer gehorcht. Sonst rammt uns noch irgendein Frachter, ehe wir recht wissen, was geschieht.“

Eine halbe Stunde drauf war die Jacht kein lebloses treibendes Ding mehr … Schwerfällig schob sie sich durch die langen Wogen. Oben auf der Brücke stand Jochem als Steuermann, und vorn am Bugspriet bediente Pieter den mächtigen Blasebalg des Nebelhorns, so daß das dumpfe schaurige Tut–tut–tut die trostlose Stille dieser grauen Wüste weithin durchdrang.

Harald und ich, jeder eine große Karbidlaterne in der Linken, in der Rechten aber die entsicherte Clement, durchsuchten nun auf unsere Art das ganze Schiff …

Kein Winkelchen blieb unbeachtet. Selbst im Kielraum befühlten wir jeden der Ballastsäcke, beklopften die Wände, maßen jeden Raum aus, um festzustellen, ob irgendwo ein Versteck vorhanden, – im Maschinenraum schraubten wir sogar den großen Deckel vom Dampfkessel los und leuchteten in den Kessel hinein …

Auch nicht ein Fleckchen ließen wir undurchstöbert. Wir suchten eben, wie wir beide zu suchen verstehen, – zwei volle Stunden – mit der ganzen Geduld, die unser Beruf erfordert, fanden nichts, stellten nur mancherlei fest, was recht wichtig war …

1. Nicht ein Fetzen Papier, bedruckt oder beschrieben, war in der Jacht zu entdecken. Weder Schiffspapier noch Bücher – nichts.

2. Im Maschinenraum waren verschiedene Teile am Kessel entfernt, so daß die Maschine sich nicht benutzen ließ.

3. Die Vorratskammer neben der Kombüse enthielt reichlich Proviant aller Art. Der Süßwassertank war bis zur Hälfte gefüllt. (Dies hatte schon der Offizier Reimer von der Helgoland gemeldet gehabt.)

4. In der Kombüse verriet nichts, daß der Herd in letzter Zeit benutzt worden war. Alles war hier jedoch sauber geordnet. Jedes Ding stand an seinem Platz.

5. In keinem der Schiffsräume fanden wir Anzeichen dafür, daß sich Menschen auf der Jacht aufhielten. Die Einrichtungsstücke der Kabine waren zum Teil nicht mehr vorhanden. Die eine Kabine war gänzlich leer. –

Auf diesen Punkt 5 möchte ich besonders hinweisen, da ja unsere Augen und Ohren der Tatsache, daß wir kein lebendes Wesen entdeckt hatten, widersprachen. Jemand hatte in der Kajüte Licht angezündet, jemand hatte den fürchterlichen langgezogenen Schrei ausgestoßen! – Wo war dieser Jemand? Wer war es? Und – weshalb der Schrei?!

Wir standen nun wieder in der hell erleuchteten Kajüte …

Wir standen dicht am Tische, wo die drei steifen, vertrockneten Toten in den Rohrsesseln mit hängenden Köpfen lehnten … Die drei – Detektive …

Ja – man brauchte nur in diese schmalen, bartlosen, fast brutalen Gesichter zu sehen, um Harald recht zu geben: es waren Kollegen!

Und sie waren völlig angekleidet, trugen offenbar noch die Anzüge, in denen sie an jenem verhängnisvollen Vormittag am Strande das Milliardärtöchterchen bewacht hatten … Nur ohne Kopfbedeckung waren sie.

Harald trat an die eine Mumie (sie machten ganz den Eindruck jener Mumien, wie man sie in den Museen sieht – bis auf die moderne Kleidung) heran und befühlte Gesicht und Hände.

„Völlig hart!“ meinte er kopfschüttelnd. „Diese Jacht wird uns noch manche Nuß zu knacken geben, mein Alter.“

„Wollen wir nochmals suchen?“ fragte ich eifrig. „Wir müssen doch –“

„Zwecklos!“ unterbrach er mich. „Es gibt nur eine Erklärung für das Verschwinden des Menschen, der hier an Bord gewesen: er ist in einem Boot davongefahren! – Wir haben oben an Deck kein Boot bemerkt. Aber die Jacht kann ein solches im Schlepptau gehabt haben.“

Da erinnerte ich mich an das Geräusch, das Pieter und ich gehört hatten.

Ich schilderte Harald möglichst genau die Art dieses Geräusches …

„Also mehr ein Dröhnen, sagst Du? Kein Stampfen oder Knarren?“ fragte er nachdenklich.

„Ein Dröhnen! Ein metallisches Dröhnen, möchte ich behaupten.“

„Es kann ein Zinkboot gewesen sein, das durch die Wellen an die Bordwand der Jacht geworfen wurde.“

„Pieter meinte aber ebenfalls, daß das Geräusch auf Deck ertönte, nicht außerhalb!“

„Ihr könnt Euch verhört haben …“

Er schaute noch immer die drei stillen Gestalten an.

„Es wird schon ein Zinkboot gewesen sein … Deshalb finden wir hier nichts,“ fügte er hinzu. „Wollen diese drei armen Kerle in die leere Kabine tragen.“

Wir hoben den ersten empor. Der Körper war völlig steif, und genau in der Haltung, wie der Tote im Sessel gelehnt hatte, legten wir ihn nun in die Kabine, aus er man alles an Einrichtungsstücken entfernt hatte.

Der Tote war schwer. Es war der Größte der drei.

Nun folgte der zweite, offenbar ein Mensch von irischer Abstammung, denn er hatte brandrotes Haar.

Jetzt – – der dritte, der Schmächtigste und Kleinste.

Und da – sah ich auf dem Sitzpolster des Rohrsessels einen Zettel liegen …

„Ein Zettel!“ rief ich …

Wir trugen die Mumie schnell auf eins der Wandsofas …

Der Zettel war mit halb unleserlichen Bleistiftzeilen bedeckt …

„Dies kann nur die Hand eines Sterbenden oder eines – Gefesselten geschrieben haben,“ meinte Harald leise.

Das Blatt Papier war jedoch beiderseits gefüllt. Die andere Seite war eine – Rechnung, ausgestellt von der Firma Hawkin & Groop, New Orleans, für Mr. Owen Darc über – Schiffsproviant im Betrage von 586 Dollar. Das Datum der Rechnung war der 2. April dieses Jahres.

Und die Bleistiftzeilen: englisch – – gekritzelt – wie von Kinderhand …:

Wir – gewaltsam – führt – Ein – bekannter – auf – Jacht – will – töten – gefesselt – am Tisch – hier – Miß Troop – Kind Bet – – Eisberg – Chinesen – –

Worpin.

Die Gedankenstriche deuten die Wörter und Wortteile an, die wir nicht entziffern konnten.

Harald las nun vor, indem er das Fehlende ergänzte:

Wir sind gewaltsam entführt worden. Ein Unbekannter hier auf der Jacht … will uns töten. Sind gefesselt worden, am Tisch in der Kajüte hier. Die Bonne Miß Trooper und das Kind Betsy sind auf einem Eisberg mit … (ein paar?) Chinesen als Wächter.

Harst schaute von dem Zettel auf.

Ich sagte rasch: „Der Unbekannte ist eine Kreatur Owen Darcs … Die Rechnung beweist es.“

„Die Rechnung beweist gar nichts, mein Alter. Hüte Dich vor vorschnellen Schlüssen. Ich möchte Dich nur daran erinnern, daß der andere Verehrer Frau Jane Darcs Arzt war. Und – – diese Mumien hier sind das Werk eines Arztes, können nur von jemand in dieser Weise … präpariert worden sein, der das Gebiet der Medizin voll beherrscht.“

Ich blickte ihn verdutzt an. „Hm – und wie willst Du diesen Verdacht begründen?“

Und er:

„Hm – und wie willst Du den Verdacht gegen Owen Darc begründen? Wird er seine Geliebte Lilian Trooper und sein Kind auf einem Eisberg unter der Aufsicht von Chinesen aussetzen?“

Ich senkte den Kopf – – schwieg …

„Komm, mein Alter, tragen wir den armen Worpin zu den beiden anderen …“

Nun lagen die drei Mumien in der leeren Kabine nebeneinander …

Wir nahmen unsere Laternen wieder mit und gingen an Deck.

Es war jetzt drei Uhr morgens.

 

4. Kapitel.

Frau Jane erscheint.

Oben hatte sich das Bild inzwischen völlig verändert. Der Nebel lag nur noch in dünnen Schwaden auf dem Meere, lichtete sich immer rascher. Eine frische Brise trieb dann auch die letzten grauen Schleier auseinander.

Wir standen neben Jochem Dröger auf der Brücke und erzählten ihm, was wir – nicht gefunden hatten.

„Herr Harst, – upp ’n Iisberg sull ’n dat Wiep und dat Kind sien? – Upp n Iisberg?! Do frören se doch dot!“ meinte er kopfschüttelnd. „Und so jelbe Chinesens ook noch dabi?! Ne – dat is ’n faulen Snack, Herr Harst … Dat is Swindel …“

Hiermit war Jochems Philosophie zu Ende.

Auch Pieter Krefft war jetzt herbeigekommen, da die Tuterei nicht mehr nötig. Auch er brummte kopfschlackernd:

„Upp ’n Iisberg?! Nö, dat hett de Detektiv man bloß so in sien Dotesangst phantaseirt, Herr Harst … Aberst mit ’n Zinkboot, dat wird woll stimmen … Dei Kierl is uttjekniffen …“

Es wurde allmählich hell. Der Morgen graute … Der Nebel war verschwunden.

Harald schickte Jochem in die Kajüte hinab, damit er ein Fernglas hole.

Jochem brachte zwei Gläser mit.

Wir spähten den Horizont ab. Nichts von Schiffen – nichts …

Auch keine Wolke am Himmel. Nur am nordöstlichen Horizont bemerkten wir eine kleine helle Wolkenmasse.

Dann nahmen Jochem und Pieter die Gläser.

„Dat is kiene Wolke, Herr Harst,“ erklärte der lange Pieter. „Dat is ien Iisberg …“

Und Jochem bestätigte:

„Dat is ien groten Iisberg, ien bannig groten Iisberg …“

Harald ruckte leicht zusammen. Unsere Blicke trafen sich.

„Wir werden wenden!“ befahl er kurz.

Jochem und Pieter verstanden, grinsten etwas …

„Herr Harst, – nix för ungaut, aberst upp de Iisberg do sein wedder Chinesens, noch een Miß, noch een Jöhr … Do well ick doch glig (gleich) ’n Liter Water supen, wenn …“

Harald fiel dem braven Jochem ins Wort:

„Ich weiß, daß jetzt im Atlantik viele Eisberge schwimmen und daß es sehr fraglich ist, ob jener dort der richtige ist. Immerhin – – wir wenden.“

Es geschah, und die Jacht nahm Kurs auf die weiße Wolke.

Ich begab mich jetzt in die Küche hinab und kochte Tee und stellte ein Frühstück zusammen.

Um halb sechs Uhr morgens war der Eisberg schon mit bloßem Auge als weißer Punkt zu erkennen. Nach Pieters Schätzung mußten wir ihn gegen zehn Uhr erreichen.

„Dann werden drei von uns jetzt Vorrat schlafen,“ erklärte Harald.

„Ich bliew oben am Stüer,“ bot Jochem sich freiwillig an.

So gingen wir drei anderen denn hinab in die Kabinen. Harald und ich wählten die Kabine neben der „Mumienkammer“, in der zwei Betten standen, und Pieter Krefft warf sich in der gegenüberliegenden angekleidet auf das Bett. Die Türen lehnten wir nur an.

Harald, der Mann mit den eisernen Nerven, war im Moment eingeschlafen. Auch ich fühlte plötzlich eine bleierne Schwere in den Gliedern …

Mein letzter klarer Gedanke vor dem Hinübergehen ins unruhige Reich der Träume galt dem uns immer noch unbekannten Namen der Jacht. Wir hatten ja nach Hellwerden vorn am Bug nachgeschaut, ob dort nicht ein Name zu finden. Ja – die Stelle war noch da, wo die Metallbuchstaben befestigt gewesen. Aber – alles war mit Ölfarbe dick überpinselt. Nur die Schraubenlöcher der Buchstaben waren noch zu sehen. Die verrieten jedoch nur eins: der Name hatte nur aus fünf Buchstaben bestanden! –

Ich erwachte nicht …

Nun – der kurze Moment, in dem mein mißhandeltes Hirn mir zu denken gestattete, war eben zu kurz.

Und bevor mir, als ich jäh hochfuhr und wieder zurücksank, das schwindende Bewußtsein das Augenlicht löschte, sah ich drei schlitzäugige Gesichter in der Kabine und auf diesen Gesichtern ein höllisches echt asiatisches Grinsen … –

Mit einem Wort: wir waren im Schlaf überfallen worden! Im Schlaf hatten die Schufte uns mit dicken Knütteln über den Schädel gehauen …

Zum Glück nicht zu arg …

Als ich dann zu mir kam und mit trüben Augen emporstarrte zur Decke der Kabine, da hatte ich sehr bald heraus, daß ich auf meinem schmalen Bett festgebunden war … Die Arme waren mir kreuzweise auf der Brust gefesselt. Um den Hals lief ein Strick nach hinten und war dort irgendwo angeknotet. Jedenfalls konnte ich mich nicht im geringsten bewegen, nicht einmal den Kopf heben …

Über die Schmerzen im Hirn will ich schweigen. Klare Gedanken zu fassen war unmöglich. Und doch erinnerte ich mich mit unheimlicher Deutlichkeit an die drei Schlitzaugen! Und doch konnte ich mir wenigstens das eine zurechtlegen: diese Chinesen waren die von dem Eisberg, waren die, von denen Detektiv Worpin auf seinem Zettel gesprochen!

Ich lag still … Stöhnte leise …

Endlose Zeit verging, bis ich in der Kabine ein Geräusch hörte …

Eine gelbe Asiatenschnauze beugte sich über mich.

Grinste mich an – verschwand.

Und wieder endlose Zeit – ein Hindämmern in einer Art Halbschlaf … Minuten klarsten Denkens dazwischen. In diesen Minuten zu den bohrenden, brennenden Schmerzen eine grauenvolle Angst vor einem ähnlichen Schicksal wie das der drei amerikanischen Kollegen … –

Mein Gehörsinn wird wieder normal. Das Rauschen und Klingen des Blutes in den Adern läßt nach …

Drüben an der anderen Wand, auf dem anderen Bett stöhnt Harald …

Ich rufe leise …

Keine Antwort …

Nur dasselbe qualvolle Stöhnen …

Durch die runden Kabinenfenster fällt Sonnenschein in breiter Bahn in diesen Raum der Todespein …

Ich beginne an meinen Fesseln zu zerren …

Und dann – jäh ein anderes Gesicht über mir … Ein blondbärtiger Mann – ein Unbekannter …

Eines Taschenmessers blinkende große Klinge fährt durch die Stricke …

Im Nu bin ich frei … Der Blonde richtet mich auf, drückt mir – meine Clement in die Hand …

Gleitet zum anderen Bett …

Harst ist frei … Ich sehe sein mit einer Blutkruste bedecktes Gesicht.

Er nickt mir zu.

Ein zweiter Mann kommt in die Kabine – noch ein Fremder. Ein Mensch mit schwarzem Schnurrbart, hager und lang wie ein Stengel, mit einer dicken Kartoffelnase …

Und der flüstert:

„Die drei sind an Deck – die drei gelben Halunken! Rasch – der Eisberg ist nahe!“

Und er hält mir eine Flasche Whisky hin … Ich trinke … Harald trinkt …

Der Blonde lehnt an der Tür. Einen Revolver hat er halb erhoben.

„Daniel Propetter,“ stellt der Schlangenmensch sich vor. „Propetter aus Chikago, Journalist … Und das da ist Mistreß Jane Darc, die uns befreit hat …“

Der Blonde lächelt ganz wenig. Das Lächeln ist frauenhaft.

„Vorwärts!“ mahnt Propetter. „Wir fangen die Gelben lebendig …“

In der Tür erscheinen Jochem und Pieter – ähnlich wie Harst – wie nach einer bösen Rauferei …

Unserer fünf sind wir … Die Schufte sollen es gut haben!!

Harald taumelt, als er sich erhebt. Auch mir wird schwindlig …

Frau Jane Darc springt zu, stützt mich …

Ich reiße mich zusammen …

Wir schleichen die Treppe empor …

Harst voran. Die drei Gelben stehen auf der Brücke, drehen uns den Rücken zu … Die Jacht ist kaum noch tausend Meter von dem ungeheuren Eisriesen entfernt …

Wir laufen vorwärts …

Zwei Clements, zwei Revolver richten sich auf das schlitzäugige Gesindel da oben …

„Hände hoch!“ brüllt Harald auf Englisch …

Und damit die Kerle merken, wie hier der Hase läuft, schießt er dem einen eine Warnungskugel in den linken Unterschenkel … –

Einzeln müssen sie herabsteigen. Pieter und Jochem nehmen sie einzeln in Empfang. Und – binden sie!!

Das Schmerzgeheul der Wichte gellt über das Deck. Pieter schwingt ein Tauende …

„Au – au … o Missul, Missul …!! Arme Chinaman alles sagen wollen,“ kreischt der eine.

„Wat, Missul?! Pieter is mein Nam’, Du Jelbeijesichte!“

„Hören Sie auf, Pieter,“ befiehlt Harald …

Jochem steuert die Jacht …

Und auf Deck nun ein kurzes Verhör …

Harald fragt: „In wessen Diensten steht Ihr drei?“

Der Chinese, ein alter Kerl mit faltigem Gesicht, winselt:

„Kenn’ den Missul nicht … Ist weiße Missul mit schwarze große Bart …“ (Missul gleich Mister, verdorbenes Englisch.)

„Er hat Euch drei angeworben?“

„In New Orleans … Waren dort Hafenkulis. Sein meine Söhne, die beiden …“ – Er deutet auf die beiden anderen Halunken.

„Und Ihr habt dann die fünf Menschen im Nebel am Strande überwältigt?“

„Ja … Weiße schwarze Missul, wir drei und noch ein Missul – blond mit Bart …“

„Die Jacht lag derweil in der Nähe des Strandes? Ihr wart im Nebel auf die Küste zugesteuert?“

„Ja …“

„Wo befindet sich die Miß und das Kind?“

„Auf eine Eisberg in Boot …“

„Jener Eisberg dort?“

„Nicht wissen, ob das sein der Eisberg … Jacht gestern abend war weggetrieben von Eisberg … Wir drei hier an Bord … Jacht trieb in Nebel … Als große Schiff Jacht anhielt, wir in Schornstein krochen und Rauchklappe zumachten …“

Ah – also dort hatten die Schufte gesteckt! Den Schornstein hatten wir allerdings nicht durchsucht.

„Wer hat die drei Detektive getötet?“ setzte Harald das Verhör fort.

„Schwarz weiße Missul … Gift einspritzen … Arme Chinaman nichts haben tun dabei … Arme Chinaman nur angeworben zu Schmuggelfahrt … Nachher erst –“

„Schon gut …“ –

Und zu uns anderen: „Bringen wir sie ins Mannschaftslogis …“

Es geschah. – All das war wie eine Hetze von Kinobildern gewesen. Nun kamen wir etwas zu Atem.

 

5. Kapitel.

Der Darc-Palast.

Jochem Dröger steuerte in vorsichtiger Entfernung um den Eisberg herum.

Wir standen mit Gläsern oben auf der Brücke und spähten nach dem schwimmenden glitzernden Ungeheuer hinüber.

Frau Jane erzählte derweil:

„Ich wußte, daß mein Mann mich beobachten ließ, daß mir Spione bis Berlin gefolgt waren. In dieser Verkleidung, die ich einem Berliner Theaterfriseur verdanke, entkam ich ihnen, fuhr nach Bremen und belegte eine Kabine dritter Klasse auf der Helgoland. Schon am ersten Tage hatte ich dann Sie beide, Herr Harst, oben auf dem Promenadendeck erkannt. Ich habe ein gutes Auge für charakteristische Gesichtszüge, und selbst Ihr Bart konnte die kennzeichnenden Merkmale Ihres Kopfes nicht völlig verbergen. Außerdem hatten Sie beide ein so großes Interesse für alle Passagiere der Helgoland, daß –“

„Sehr anerkennenswert, Frau Darc! – Sie beobachteten dann auch, daß wir gestern abend an Bord der Jacht gingen und folgten uns heimlich …“

„An einem Tau … Der Nebel begünstigte mich. Ich wußte nun ja, daß Sie beide doch den Fall Darc bearbeiten wollten … Und dann: ich kenne diese Jacht …“

„Nicht möglich!“

„Es ist die Jacht Texas. Sie gehörte dem Vater meines Gatten, der sein Riesenvermögen in Texas erworben hatte. Owen Darc hat die Jacht vor einem halben Jahre angeblich verkauft. Sie lag ja doch nur noch unbenutzt im Hafen von New Orleans.“

„Angeblich? An wen?“

„Das weiß ich nicht …“ –

Also Texas! – Und diese Texas umsegelte den Eisberg … In jede Bucht des gigantischen Riesen schauten wir hinein.

Harst befahl jetzt Pieter Krefft:

„Hole den alten Chinesen herauf. Vielleicht erkennt er den Eisberg.“

Und zu Frau Darc:

„Wo waren Sie hier an Bord verborgen?“

„In der Kombüse oben auf dem Wandbrett hinter den großen Kesseln.“

„Allerdings – auch dort haben wir nicht gesucht!“

Daniel Propetter meldete sich.

„Vielleicht darf ich jetzt mein Garn spinnen, Harst … – Ich bin Reporter des Chikago-Herald und war in Berlin, um meinem Blatt Stimmungsbilder über die Zustände in Deutschland zu liefern. Zur Heimreise benutzte ich die Helgoland. Auch mir waren Sie beide aufgefallen, da mein Reporterblick sehr bald heraus hatte, daß –“

„Bitte – weiter!“

„Auch ich folgte Ihnen hier auf die Jacht. Ich witterte ein Abenteuer, das mir Geld einbringen würde, und mein Riecher war richtig. Ich war’s, der in der Kajüte Licht machte. Ich wollte mich Ihnen zeigen, denn die Helgoland war ja bereits außer Sicht, und Sie konnten –“

„Weiter!“

„Mit einem Male fielen die drei Gelben über mich her. Ich rief um Hilfe. Sie würgten mich und schleppten mich in den Schornstein, wo sie mich fesselten, knebelten und an eins der Steigeisen hingen. Es war das eine verdammt ungemütliche Sache! Aber Frau Darc befreite mich und mit Frau Darc befreiten wir Sie vier …“

Pieter kam mit dem alten Gelben herbei.

Der schwor Stein und Bein, daß dies nicht der richtige Eisberg sei.

„War viel mehr größer, Missul … War nicht so hoch … Hatte keine solche Zacken …“ –

Zweimal umfuhren wir den Riesen.

Dann wurde Kriegsrat gehalten. Der Beschluß lautete: Kurs Neuyork!

Wir setzten alles an Segeln, was die Jacht tragen konnte. Nachmittags vier Uhr tauchte hinter uns ein norwegischer Frachtdampfer auf. Der Kapitän war bereit, uns für 10 000 Dollar nach Neuyork zu schleppen.

Wir blieben auf der Texas, die nach Möglichkeit dem Norweger die Schlepparbeit erleichterte.

Die drei Gefangenen wurden nun ganz eingehend verhört. Alles deutete darauf hin, daß Owen Darc den Schwarzbärtigen und den Blondbärtigen für diesen infamen Streich gekauft hatte. Die beiden Männer, versicherten die Chinesen, hätten falsche Bärte und Perücken getragen und sich stets nur mit Vornamen angeredet. Der Schwarze als John, der Blonde als Billy. –

Da der Norweger Funkeinrichtung an Bord hatte, ließ Harald am dritten Morgen, als wir in Reichweite der Neuyorker Stationen waren, die dortige Polizei anrufen. Wir waren zu diesem Zweck auf den Norweger hinübergerudert.

Der Telegrafist bekam auch bald Verbindung.

Harst bat, uns einen schnellen Dampfer entgegenzuschicken unter der Begründung, daß wir hier auf See drei Meuterer eines anderen Schiffes aufgegriffen hätten. Seinen Namen verschwieg er, da zu befürchten stand, daß noch andere den Funkspruch abhörten und Owen Darc vorzeitig gewarnt würde. – Die Polizei lehnte ab. Die Sache sei zu unwichtig.

Als wir auf die Texas zurückkehrten, fragte Daniel Propetter, ob wir Erfolg gehabt. Er fluchte und schimpfte, als wir ihm die Antwort der Polizei mitteilten.

In der übernächsten Nacht näherten wir uns Neuyork, änderten dann aber den Kurs und liefen ohne Hilfe des Schleppers in eine Flußmündung südlich des Darc-Palastes ein. Der Norweger war von Frau Darc mit einem Scheck bezahlt worden und dampfte weiter nach Halifax.

Es war elf Uhr, als wir die Jacht in diesem Flüßchen dicht am bewaldeten Ufer verankerten.

Um halb zwölf, gerade als Harald und ich Owen Darc einen nächtlichen Besuch abstatten wollten, kam Jochem in die Kajüte gestürmt …

„Die drei Kierls sein utjerickt!“ brüllte er …

Das war eine üble Bescherung.

Die Chinesen hatten tatsächlich ihre Stricke aufgeknotet und dann die Tür der Kammer irgendwie geöffnet.

Wie sie das allerdings angestellt hatten, blieb uns unklar.

Obwohl die Halunken erst vor wenigen Minuten entschlüpft waren, hätte eine Verfolgung bei dieser Dunkelheit keinen Zweck gehabt.

Wir standen allesamt in der Kajüte und machten ziemlich lange Gesichter.

Bis Harald meinte:

„Nun gerade!! – Schraut und ich werden Owen Darc festnehmen, falls er daheim ist, und Sie, Propetter, laufen nach dem nahen Dorfe und benachrichtigen von dort aus die Neuyorker Polizei!“ –

Wir eilten am Meeresstrande entlang. Frau Jane hatte erklärt, daß wir in zwanzig Minuten am Ziel sein würden.

Es stimmte: genau um Mitternacht erreichten wir die Parkmauer, und gleich darauf läuteten wir den Pförtner des Haupteingangs heraus.

Der Mann kam faul aus seinem Häuschen herbeigeschlurft …

Und wurde saugrob, als wir unser Anliegen vorbrachten …

„Wenn Sie Mr. Darc sprechen müssen, dann finden Sie sich morgen zehn Uhr hier ein. – Mr. Darc hat mir befohlen, jeden Besucher abzuweisen.“

„Wann?“

„Das geht Sie den Teufel was an!“

Und er schlurfte davon … –

Um zwölf Uhr fünfzehn Minuten hatten wir die Mauer überklettert und standen an der Hauswand eines der glänzendsten Paläste, die je ein Milliardär sich hier an der Küste unweit Neuyorks hat erbauen lassen.

Ein Wächter kam vorüber …

Wir hatten ihn rechtzeitig gehört, lagen im Schatten einiger Palmenkübel …

Am Blitzableiter erreichten wir den Balkon im ersten Stock, hinter dessen Glastür Licht schimmerte … Auch die beiden Fenster rechts und links waren erleuchtet.

Wir schauten durch die schlecht schließenden Vorhänge in ein Herrenzimmer hinein …

Auf dem Eisbärfell eines Diwans lag ein junges Weib … Neben ihr saß – Owen Darc, hielt ihre Hände in den seinen, beugte sich über sie …

„Lilian Trooper!“ flüsterte Harald …

Mir verschlug dieses Bild die Stimme …

Ja – war denn dieser Darc wahnsinnig daß er seine Geliebte hier in seinem Palast beherbergte?! Und wo war die kleine Betsy?! Wie kam Lilian Trooper überhaupt hierher?!

 

6. Kapitel.

Die Verhaftung.

Harald zog mich vom Fenster fort. „Wir werden umkehren … Ich weiß genug …“ – In seiner leisen Stimme war ein ganz besonderer Ton. „Wir erwarten die Polizei … Ich will persönlich nichts unternehmen, nur dabei sein, wenn Darc verhaftet wird …“

Ich wurde stutzig … Wollte etwas fragen. Er kletterte schon am Blitzableiter hinab.

Wir hatten Glück, kamen unbemerkt zur Palastmauer und schwangen uns hinüber. Dann schlugen wir die tadellos gepflegte Straße zum nahen Dorfe ein.

Rechts von uns brandete der Atlantik gegen die Küste. Durch die Dunkelheit schimmerten die weißen Wogenkämme wie gleißende helle Linien.

Die Straße war nach der See hin als hohe Mauer ausgebaut. Ein starkes Holzgeländer lief an dieser Seite entlang. Offenbar hatte Darc diesen prachtvollen Zufahrtweg zu seinem Schlosse anlegen lassen.

Der Salzhauch des Meeres kühlte mein heißes Gesicht – heiß durch die hastenden Gedanken.

Harald schritt mit halb gesenktem Kopf dahin. Er schwieg hartnäckig, überhörte meine Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen. Ich wollte ihn aushorchen. Ich hatte das Gefühl, daß er an Owen Darcs Schuld jetzt zweifelte. Meine Fragen waren tastend, wie unsichtbare Fühler. Ich mochte mich nicht gern blamieren. –

Wenn Darc nun wirklich schuldlos sein sollte?! Wer war dann der Anstifter dieses ungeheuerlichen Verbrechens? Etwa jener Doktor James Bennett, von dem niemand mehr wußte, wo er geblieben, nachdem er Chikago verlassen hatte?!

Wir näherten uns dem Dorfe. Es verdiente diesen idyllischen Namen nicht. Einst mochte es ein Dorf gewesen sein. Jetzt war’s ein Villenvorort an der See. – Der Mond tat uns den Gefallen, hinter dem tiefziehenden Gewölk für Minuten hervorzukriechen. Im Mondlicht lag nun die Ortschaft da – am Abhang eines Berges – in Terrassen emporklimmend zu bewaldeten Kuppen, überall zierliche Villen, Gärten und – blinkende Antennendrähte, dieses Wahrzeichen der modernen Zeit.

Vor den ersten Häusern machte Harald halt und setzte sich auf das Geländer der Straße. Der breite obere Balken bot bequemen Sitz.

Ich schwang mich neben ihn. Begann von neuem:

„Darcs Verhalten ist unbegreiflich …“

Und da – endlich eine Antwort:

„Durchaus nicht, mein Alter!“

„Du hältst ihn nicht für schuldig?“

„Habe ich das je behauptet? Meine Worte Frau Jane und den anderen gegenüber mögen sich so haben deuten lassen. Ich hielt niemand für schuldig. Ich hatte noch eine zu große Auswahl: Frau Jane, Bennett und Owen Darc. – Nun ist Darc jedenfalls ausgeschieden.“

„Wodurch?“

Er wandle den Kopf. Sein Blick streifte mein Gesicht. „Spielst Du Komödie?! – Wer hat denn die drei Chinesen befreit?! Du etwa?!“

Das war wie ein elektrischer Schlag.

„Du meinst – – Frau Jane?“

„Vielleicht …“

Vor uns aus dem Schlunde der wieder in Dunkel gehüllten Straße das Geräusch eines nahenden Autos …

Zwei schwache Lichter blitzten auf. Ein Auto, das ohne Scheinwerfer fuhr …

Harst sprang vom Geländer und trat mitten auf den Weg. Sein Taschentuch flatterte …

Der Kraftwagen hielt.

„Harald Harst!“ sagte der Freund am offenen Auto und faßte an die Mütze.

Einer der fünf Herren erhob sich halb.

„Inspektor Davis … – Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mister Harst … Steigen Sie beide nur ein. Wir rücken zusammen.“

Ich quetschte mich zwischen Daniel Propetter und einen der Beamten. Das Auto glitt weiter.

„Darc ist daheim,“ erklärte Harald laut. „Er hat Besuch … Wir haben ihn von einem Balkon aus beobachtet. Miß Trooper ist bei ihm …“

„Was Teufel – die Entführte!“ rief Davis da.

Der Mond enthüllte die Hälfte seines runden Gesichts. Ich hatte mich zurückgelehnt, sah Propetters Profil. Der Reporter grinste merkwürdig. Da verschwand der Mond wieder.

„Wir klettern am besten über die Mauer, Mister Davis,“ sagte Harst kühl und sachlich. „Lassen Sie den Wagen weit vor dem Anfang des Parkes halten …“

Davis hatte sich von seinem Staunen erholt.

„Die Lilian Trooper?“ meinte er ungläubig. „Hm – das wird ja eine nette Skandalaffäre geben! Ein Milliardär am Pranger!! – Mr. Propetter hat mich bereits in alles eingeweiht. Übrigens ist Ihre Übersiedlung von der Helgoland auf die Jacht mit den drei Mumien hier längst bekannt, Mister Harst. Kapitän Winter von der Helgoland meldete auch das Verschwinden zweier Passagiere, eines Mannes namens Gould und hier Mr. Propetters. Nun wissen wir ja, daß Gould Frau Jane Darc gewesen ist.“

„Also muß auch Owen Darc dies erfahren haben: das Zusammentreffen des Dampfers mit der Jacht und mein Eingreifen.“

„Muß er – natürlich! Stand ja in allen Zeitungen. Unglaubliche Vermutungen haben die phantasievollen Presseherren an die drei Mumien geknüpft. – Oh, was wird das für ein Sensationsprozeß werden: drei ermordete Detektive – und all das übrige!“ –

Das Auto hielt … Und zehn Minuten drauf standen sieben Herren unter dem Balkon an der Hausmauer. Vor ihnen einer der Parkwärter, dem Davis seine Legitimation zeigte. – Der Mann war völlig benommen und zog sich verlegen zurück.

Davis kletterte voran. Als der Blitzableiter uns oben auf dem großen Balkon wieder vereint hatte, sahen wir Lilian Trooper jetzt in einem Klubsessel sitzen, während Owen Darc ruhelos hin und her ging und sehr lebhaft sprach. Seine Handbewegungen verrieten, daß er sich in größter Aufregung befand.

Davis klopfte an die Scheibe der Balkontür. Darc fuhr herum. Ich konnte sein Gesicht nun ganz deutlich erkennen. Es war der interessante Kopf eines jener Dollarfürsten, die aus dem Ruin anderer ihr Vermögen aufgebaut haben.

Ein bartloses, wulstiges Antlitz … Unter dicken dunklen Brauen ein Paar kalte Augen … Ein kleiner harter Mund, darüber eine starke fleischige Nase … Das Kinn breit und vorgebaut … Etwas vom Berufsboxer, gemildert durch den Schimmer überragender Intelligenz …

Festen Schrittes kam er auf die Balkontür zu …

Ein Feigling war das nicht.

Riß die Doppeltür auf … Die Lichtflut aus dem Zimmer zeigte ihm unsere drohende Versammlung … Seine Augen wurden klein … Hinter ihm schnellte Lilian Trooper mit einem Schrei aus dem Sessel hoch.

„Polizeiinspektor Davis!“ sagte der Beamte und trat ein.

Darc wich etwas zurück …

Wir anderen folgten. Propetter schloß die Balkontüren wieder.

Darc lehnte neben Lilian am Mitteltisch.

„Sie wünschen?“ fragte er Davis und musterte uns übrige prüfend. Auf Haralds Gesicht (wir waren nicht mehr maskiert) blieb sein Blick länger haften.

„Ich möchte zunächst einiges von Ihnen beantwortet haben, Mr. Darc,“ entgegnete der Inspektor höflich. „Wie kommt Miß Trooper hierher?“

„Sie ist den Leuten, die sie entführt hatten, heute entflohen und hat hier bei mir Schutz gesucht.“ Darc wies auf Stühle und Sessel. „Nehmen wir Platz, Mister Davis. In wenigen Minuten dürfte sich dieses – Verhör kaum erledigen lassen.“ Er winkte Lilian und setzte sich mit ihr hinter den Tisch auf das Klubsofa.

Davis nickte. „Gut, lassen wir uns Zeit …“ Er zog einen Stuhl an den Tisch. „Mr. Harst, – bitte – hier neben mich … – So … Vielleicht fragen Sie nun, Mr. Harst, was Sie zu wissen wünschen …“

Harald machte dem Milliardär eine knappe Verbeugung …

„Vielleicht erzählt Miß Trooper ihre Erlebnisse … Wichtig ist mir, ob Sie, Miß, tatsächlich mit dem Kinde auf einem Eisberge gefangengehalten wurden und wie Sie jetzt entfliehen konnten.“ –

Lilian Trooper war eine Schönheit nach amerikanischem Geschmack. Sie hatte nichts Unsympathisches an sich. Auch ihre Stimme war angenehm und ihre Augen hatten nichts Hinterhältiges, blickten frei und offen Harald an.

Sie erzählte. – Es war fast genau dasselbe, was wir schon durch die Chinesen erfahren hatten. – Als der dichte Nebel so plötzlich den Strand eingehüllt hatte, waren die drei Detektive hinterrücks niedergeschlagen worden. Lilian und Betsy warf man Decken über die Köpfe und trug sie in ein großes Boot, einen gedeckten Motorkutter, der dann zur draußen ankernden Jacht hinüberfuhr. Hier auf der Jacht wurden Miß Trooper und die kleine Betsy in eine Kabine eingesperrt. Verpflegung und Behandlung waren gut. Nach etwa anderthalb Wochen – die Jacht hatte derweil irgendwo zwischen bewaldeten Inseln vor Anker gelegen – wurden Lilian und das Kind auf ein anderes Schiff gebracht und fanden sich nach zwei Tagen – man hatte ihnen offenbar ein Schlafmittel ins Essen gemischt – auf dem Kutter wieder, der in der Bucht eines riesigen Eisfeldes vertäut war. In derselben Bucht lag weiter nach der offenen See zu die Jacht Texas. – Die Behandlung blieb gut. Die kleine Kajüte des Kutters war elektrisch geheizt. Dann – wieder nach etwa zwei Tagen – befiel Miß Trooper dieselbe unnatürliche Müdigkeit wie schon einmal. Auch Betsy schlief in ihren Armen plötzlich ein. – Als Miß Lilian erwachte – wie lange sie geschlafen, konnte sie auch nicht ungefähr angeben –, lag der Kutter am Ufer eines mondbeschienenen Binnensees. Lilian sah durch die kleinen Fenster, daß eine Planke zum Ufer hinüberführte, sah auch, daß die Tür der Kajüte nur angelehnt war. Einer Eingebung des Augenblicks folgend, schlich sie an Deck. Niemand trat ihr in den Weg. Sie wollte Betsy holen und fliehen. Da erschien der Kopf des einen der beiden Europäer, die mit den drei Chinesen zusammen die Gefangenwärter gespielt hatten, über dem Rande der Vorschiffluke. Es war zu spät, Betsy mitzunehmen … Lilian lief über die Planke in den Uferwald, wurde verfolgt und entkam. Nach langem Umherirren fand sie eine kleine Farm. Der Farmer sagte ihr, daß sie keine Meile vom Darc-Palast entfernt sei und brachte sie mit seinem Wagen bis zum Parktor. Kurz vor elf Uhr nachts war sie hier eingetroffen, also etwa vor drei Stunden. – Sie betonte noch, daß auf dem Kutter zuletzt nur noch die beiden verkleideten Europäer anwesend gewesen.

„Ich nehme dies alles auf meinen Eid, Mr. Harst,“ fügte sie zum Schluß hinzu.

„Und – was haben Sie nun getan, Mr. Darc?“ platzte Davis heraus. „Haben Sie wenigstens den Versuch gemacht, Ihr Kind zu befreien? Sie wußten doch, da der Kutter …“

Der Milliardär unterbrach ihn: „Ich habe nichts getan. Glauben Sie denn, Mr. Davis, daß der Kutter noch dort liege, wo er lag, als Miß Trooper entfloh?! Außerdem hat der eine der Kerle Miß Trooper nachgebrüllt, daß man Betsy töten würde, falls die Polizei hinzugezogen werden sollte.“

Lilian sagte fest: „Ja, so ist’s … Ich kann das ebenfalls beschwören.“

Davis murmelte etwas. Dann meinte er barsch:

„Sie haben doch eine besondere Liebhaberei, Mister Darc … Alle Welt weiß das … In Ihrem Privatmuseum hier im Palast sind acht ägyptische Mumien ausgestellt, und Sie selbst haben sich seit langem mit Versuchen beschäftigt, Tiere zu mumifizieren …“

Owen Darc lächelte verächtlich.

„Ich habe keinen Teil an diesem Verbrechen,“ erklärte er. „Ich weiß, daß Sie mich verhaften wollen. Tun Sie es. Meine Schuldlosigkeit wird an den Tag kommen.“

Seine Ruhe machte Eindruck auf Davis.

Propetter, der neben mir an der Wand saß, hüstelte plötzlich …

„Hm – ich bin ja nur Reporter, Mr. Davis …“ meldete er sich bescheiden. „Aber – vielleicht fragen Sie Mr. Darc, an wen er die Jacht Texas verkauft hat …“

Darc erwiderte schon: „Das kann ich nicht sagen … Da müssen Sie bei der Generaldirektion meiner Vermögensverwaltung sich erkundigen.“

Davis schaute grübelnd vor sich hin … Dann drehte er sich halb um und flüsterte Harald etwas zu. Der entgegnete ganz laut:

„Ja, Mr. Davis, ich würde beide verhaften … Miß Trooper ist Darcs Geliebte, die er nun wieder hat auftauchen lassen, weil er sie nicht länger entbehren mochte. Dieses verwerfliche Spiel wird nun völlig aufgedeckt werden.“

Owen Darc erhob sich. „Mr. Harst, ich hätte von Ihnen mehr erwartet. Sie waren meine Hoffnung. – Ich bestreite, diese Verbrechen begangen zu haben. Ich bin das Opfer eines schändlichen Intrigenspiels, nichts weiter …“ –

Darc und Miß Trooper wurden dann jedes in einem Kraftwagen des Milliardärs unter Bewachung nach Neuyork geschafft.

 

7. Kapitel.

James Bennett taucht auf.

Wir beide und Daniel Propetter wanderten am Seestrande wieder dem Flüßchen zu, in dem die Jacht Texas mit Frau Jane Darc und den beiden Matrosen am waldigen Ufer verborgen lag.

Der Reporter schwatzte in einem fort und berechnete ganz genau, was er an diesem Seeabenteuer verdienen würde …

„Fünf Artikel zu je fünfhundert Zeilen, das sind dreitausend Dollar … Außerdem der Zuschlag für eine Sensation – weitere tausend – ein feines Geschäft!“

„Ein Trinkgeld!“ meinte Harald, der Unbegreifliche, geringschätzig.

„Oho!! Sie mögen ja an andere Honorare gewöhnt sein! Für mich …“

Dann lachte er kichernd in sich hinein – ein abscheuliches Lachen. Dieser Schlangenmensch hatte mir zuerst recht gut gefallen. Er war ein ulkiger Patron, der die ganze Welt kannte – wie wir … Jetzt – seit dieser Nacht – hatte ich das Gefühl, als ob er hinter der Maske des allzeit fidelen Clowns eine Teufelsfratze verbarg. Sein Grinsen vorhin im Auto war wie ein Einblick in seine wahre Seele gewesen.

„Weshalb lachen Sie?“ fragte Harald und gähnte laut.

„Nun – über das gute Geschäft! Für mich ist es gut …“

„Und das Unglück eines anderen,“ sagte Harst sehr ernst.

„Nanu?! Unglück?! Darc ist ein Verbrecher. Wer sein Geld dazu benutzt, Leute zu solchen Schandtaten anzustiften, verdient doch kein Mitleid.“

„Nein, das wahrlich nicht,“ nickte Harald.

Er war mir unbegreiflicher denn je.

Und Daniel Propetter sagte kichernd:

„Nun also!! Darc wird ins Zuchthaus wandern. Das ist kein Unglück, sondern Gerechtigkeit.“

„Die Gerechtigkeit siegt zuweilen,“ meinte Harst wieder in demselben ernsten Tone.

Da verstummte der Schwätzer.

Und ich fragte mich: „Weshalb hat Harald den Milliardär verhaften lassen?! Weshalb redet er hier orakelhaft – doppeldeutig, was der Schafskopf Propetter nicht einmal merkt?!“ –

Wir hatten die Jacht erreicht.

Es wurde bereits hell. An der Reling lehnten Jochem und Pieter.

„Hallo,“ rief der lange Pieter. „Nu – wie steiht’s denn, Herr Harst?“

„Darc ist verhaftet, auch Lilian Trooper, die bei ihm war …“

„Gott verdimm mich! Sie wor bei ihm? Nu – und det lütte Jöhr?“

Harst berichtete Einzelheiten. Dann kam auch Frau Jane aus der Kajüte herauf.

Es wurde immer heller.

Propetter sagte nun, daß er sich verabschieden müsse. „Meine Pflicht ruft – mein Geschäft …“ – Er hatte es mit einem Male sehr eilig. Da er kein Gepäck an Bord hatte, drückte er uns zum Abschied hier an Deck die Hand und wandelte wieder dem Strande zu, drehte sich noch einige Male um und schwenkte seinen Hut.

Wir gingen mit Frau Jane in die Kajüte hinab. Pieter und Jochem wollten den versäumten Schlaf nachholen.

„Du könntest uns starken Kaffee kochen, mein Alter,“ bat Harald in der Kajüte. „Die Arbeit für uns beginnt jetzt erst.“

Frau Jane blickte aus ihrem Sessel überrascht auf.

„Oder,“ fügte Harst hinzu und schaute Frau Darc an, „oder trauen Sie Ihrem Manne diese Mordtaten zu, selbst nur als Anstifter?“

„Nein, niemals!“ erwiderte sie leise. „Ich habe das auch nie behauptet. Ich kann mir nur denken, daß Darcs Kreaturen eigenmächtig gehandelt haben …“

„Darcs Kreaturen …?!“ Harald nahm eine Zigarette. „Ich habe ihn nun kennengelernt, diesen Owen Darc. Ich war angenehm enttäuscht. Sie beide, Frau Darc, paßten freilich niemals zusammen. Sie haben zu viel Seele und – verzeihen Sie – zu wenig Sinne. Jeder Mensch muß so verbraucht werden, wie er ist. – Schraut, den Kaffee …!“

Ich verschwand. Als ich in der Kombüse saß und die Kaffeemühle drehte, wußte ich nun wenigstens das eine: weder Darc noch Frau Jane kamen hier in Betracht. Also blieb nur James Bennett übrig.

Als ich dann mit dem vollbesetzten Teebrett über das Deck zur Achtertreppe ging, war die Sonne bereits so hoch gestiegen, daß ihre Strahlen durch eine Baumlücke mich trafen. – In der Kajüte befand sich nur noch Harald. Frau Jane hatte sich in ihre Kabine zurückgezogen.

Wir saßen an demselben Tische, an dem die drei unglücklichen Detektive gesessen hatten – als Mumien. Jetzt lagen sie drüben in der leeren Kabine. – Ich füllte die Tassen.

„Was nun Harald?“

„Du fragst?! Und dabei gibt es doch übergenug zu tun. Wir ruhen uns hier aus, bis der Direktor des Kolumbus mit dem Auto eintrifft, den Davis herschicken wollte. Er soll seine drei Leute sich ansehen. Er wird dann Frau Jane mitnehmen.“

Er trank mit Behagen, nahm die dritte Zigarette.

„Ein Fall, wie wir ihn noch nicht erlebt haben,“ sagte er sinnend. „Ich bin wirklich gespannt, wer nun eigentlich der Macher des Ganzen ist …“

„Bennett!!“

„So?! Bennett?! Weil er Arzt ist?! – Nein, lieber Alter … Bennett ist nach Frau Janes Angaben ein mäßig begüterter Herr. Diese ungeheuerliche Sache konnte sich nur ein sehr reicher Mann leisten. Ich möchte Dich nur darauf aufmerksam machen, daß die Chinesen uns eins verschwiegen haben: das zweite Schiff, das nach Lilian Troopers Beschreibung der Kabine eine sehr elegante große Motorjacht gewesen sein muß. Es waren also gleichsam drei Fahrzeuge beteiligt: der gedeckte Kutter, die Texas und diese noch unbekannte Jacht.“

„Allerdings …“

Er schenkte sich die Tasse wieder voll.

Ich wagte eine Frage:

„Hat Daniel Propetter die Chinesen freigelassen?“

„Wer sonst?“

Ich atmete auf. Endlich Klarheit!

„Also spielte er auf der Gegenseite mit?“ meinte ich kopfschüttelnd.

„Das wußte ich schon, als er uns befreien half. Er behauptete, von den Chinesen in den Schornstein geschleppt worden zu sein. Er hatte keinerlei Wunde, keinerlei Würgemale am Halse, keine Striemen von den Stricken an den Handgelenken. Er – – war auf der Helgoland als Spion unseretwegen! Dieses Geschäft bringt ihm nicht 4000, sondern wahrscheinlich das Hundertfache ein …“

Auf Deck Schritte – jemand rief:

„Mister Harst?!“

Wir eilten hinauf. Es war ein kleiner dicker Herr in Begleitung eines Jüngeren, der recht stattlich aussah.

„Billins!“ stellte der Kleine sich vor. „Direktor Billins vom Kolumbus. Und dies hier Doktor James Bennett …“

Das war eine Überraschung!!

Bennett erklärte höflich: „Ich bin seit acht Tagen in Neuyork, meine Herren. Ich nehme an, Frau Jane hat Ihnen einiges über mich erzählt. Ich wohne jetzt droben im Goldlande Klondyke. Als ich in den Zeitungen die infamen Verdächtigungen gegen Frau Jane fand, glaubte ich, daß sie wohl eines treuen Freundes bedürfe. Die Fahrt von Alaska hierher dauert lange. Ich habe mich an Mr. Billins gewandt. Er sollte …“

Harst unterbrach ihn. „Weshalb verließen Sie damals Chikago?“

„Weil ich krank war, weil ich selbst in meinem Auswurf Tuberkeln festgestellt hatte und auch fühlte, daß meine Lunge nicht in Ordnung war. Ich hoffte in der kalten reinen Luft Alaskas zu genesen, was denn auch eingetroffen ist.“

Harald drückte ihm die Hand. „Sie hätten trotzdem Frau Jane damals nicht im Unklaren lassen sollen über die Beweggründe Ihres Verzichts auf ihre Hand …“

„Dann hätte Jane mich nicht ziehen lassen, Mister Harst … Ich hielt mich für einen Todeskandidaten!“

Der kleine Direktor Billins trippelte ungeduldig hin und her.

„Jetzt kommen Sie an die Reihe, Mr. Billins,“ meinte Harald freundlich. „Folgen Sie mir … Aber leise … Frau Jane schläft …“

Ich werde nie den greulichen Fluch vergessen, den Billins ausstieß, als er seine drei toten Leute in diesem Zustand hier wiedersah.

Bennett als Arzt untersuchte die mumifizierten Körper genauer.

„In die Gewebe und Gefäße ist Formalin eingespritzt worden,“ erklärte er etwas gepreßt.

„Und – die eigentliche Todesart?“ fragte Harst. „Äußere Verletzungen sind nicht zu finden …“

„Gift wahrscheinlich, Mr. Harst!“

„Oh – dieser Darc!“ polterte der kleine Billins in ungeheurer Wut. „Der elektrische Stuhl ist ihm sicher!“

Im Kabinengang knarrte eine Tür. Frau Jane erschien.

Mit leisem Schrei wich sie zurück, als sie James Bennett erkannte.

Billins und wir beide gingen an Deck. Wir waren bei diesem Wiedersehen überflüssig.

„Wollen die Herren meine Gäste in Neuyork sein,“ lud der Direktor uns ein. „Wir sind doch Kollegen … Und nach diesen Tagen wird Ihnen die Ruhe meiner Villa guttun …“

„Vielen Dank fürs erste!“ lehnte Harald höflich ab. „Wir bleiben hier an Bord, Mr. Billins … Wir beide erholen uns nur in der Einsamkeit. Außerdem sind wir leidenschaftliche Angler, und dieses Flüßchen ist sehr fischreich. Nach ein paar Tagen besuchen wir Sie dann sehr gern …“ –

Um sieben Uhr morgens waren wir vier Deutsche mit den drei toten Amerikanern allein an Bord der Texas.

 

8. Kapitel.

Die Raketen.

Der starke Kaffee hatte uns gehörig aufgepulvert. Wir aßen jetzt noch allerlei leckere Dinge aus der Vorratskammer und weckten dann unsere Kameraden Jochem und Pieter.

„Mr. Billins läßt nachher die Mumien abholen,“ sagte Harst zu Jochem. „Ihr beide bewacht nun unser Schiff. Vorläufig gehört es ja uns. Es war herrenlos. Schraut und ich wollen einen Spaziergang machen.“

Dieser Spaziergang begann unter recht merkwürdigen Umständen. Zunächst verlangte Harst, daß ich genau wie er noch hundert Reservepatronen für die Clement mitnähme. Dann packte er in ein als Rucksack hergerichtetes Stück Segeltuch allerlei aus unserem Requisitenkoffer ein. Ein zweiter ähnlicher Rucksack für mich enthielt Lebensmittel, eine Flasche Whisky, drei Blechdosen Karbid und zwei Karbidlaternen.

Dann erst verabschiedeten wir uns von Jochem und Pieter und wanderten dem Seestrande zu.

„Wohin nun?“ fragte ich.

„Auskneifen …!“ Und er zwinkerte mir listig zu.

„Wem denn?“

„Wirst schon sehen …“

Ich sah gar nichts. Ich ahnte nur, daß … wir beobachtet wurden.

„Zwei sind’s,“ meinte Harald nach einer Weile. „Zwei Kerle wie die Tramps, wie amerikanische Landstreicher. Als wir auf dem Deck standen und Daniel Propetter sich von uns so hastig verabschiedete, da hatte ich kurz vorher eine Handbewegung von ihm aufgefangen … Er rückte sich den Hut mehr ins Genick … Aber – er beschrieb dabei einen Kreis in der Luft, und seine Augen hingen am Geäst der alten Eiche, die da links vom Liegeplatz der Texas steht … In der Eiche saß ein Kerl im grünlichen Anzug …“

„Donnerwetter …!“

„Ein zweiter hockte in der mächtigen Buche mehr rechts … – Ich bin überzeugt, daß Propetter die Kerle in der Nacht herbeordert hat, als er im Dorfe die Polizei benachrichtigte!“

„Das muß wohl so sein …“

„Mithin läßt man uns nicht aus den Augen. Und wer weiß, ob uns in Neuyork nicht – zufällig etwas zugestoßen wäre – zufällig! Hier sind wir sicherer!“

Er bog jetzt vom Strande ab. Äcker und Wiesen lagen hinter den hohen Dünen. Man konnte das Land weithin überblicken.

„So – dies ist die geeignete Örtlichkeit,“ nickte Harald zufrieden. „Nun wandern wir den Fußweg dort hinab und verhindern so, daß die Kerle wie bisher dicht hinter uns sind. Sie stecken nämlich drüben in den Büschen.“

Er zündete umständlich eine Zigarette an.

Durch grünende Saaten pilgerten wir weiter. In der Ferne tauchten ein paar Gehöfte auf – kleine Farmen.

Harst zeigte auf einen Krähenschwarm, der in die junge Saat einfallen wollte. Wir blieben stehen. Ein Schuß knallte – noch einer … Die Krähen stoben auseinander, und fünf der lästigen Vögel sanken flatternd zu Boden …

„Sechs …“ sagte Harst.

„Nein, nur fünf … Ich sah es ganz genau … Für zwei Schrotschüsse ein mäßiger Erfolg …“

„Doch sechs! – Komm weiter. Die Sache wird – brenzlich … An sechs Gegner habe ich nicht gedacht.“

Da verstand ich ihn. „Also sechs Mann hinter uns her?“ fragte ich ein wenig beunruhigt.

„Ja … Ein Massenaufgebot … – Das Wild ist vorsichtig.“

„Der – Täter?“

„Der Anstifter, mein Alter … Die sechs haben sich verteilt wie bei einer Treibjagd. Es wird doch recht schwer werden, ihnen zu entwischen …“

Wir kamen an einer Farm vorüber. Ein Buchenwäldchen prangte vor uns im ersten Grün. Als wir es kaum betreten hatten, begann Harald zu laufen …

„Rasch – die Büsche am Saume decken uns!“

Und dann mitten in dem Wäldchen half er mir auf eine uralte Buche hinauf, turnte mir nach …

Schmarotzerpflanzen, mispelähnliche Gewächse, hingen in ganzen Ballen an den Ästen und boten uns ein gutes Versteck.

Ich keuchte ein wenig von der Anstrengung des Kletterns …

„Still – sie kommen!“ warnte Harald.

Zwei Kerle schlichen unter der Buche dahin – abgerissen, zerlumpt …

Verschwanden …

„Hinab!“ befahl Harald …

Im Nu waren wir unten, huschten von Baum zu Baum – den Weg zurück, den wir gekommen …

Krochen hinter einem Feldrain entlang, wandten alle Kniffe an, uns zu verbergen.

Es gelang. Wir kehrten auf die Jacht zurück. Jochem und Pieter saßen auf dem Achterdeck und frühstückten.

„Los die Taue!“ rief Harald. „Wir gehen in See!“

Die Segel flogen hoch … Langsam schob die Texas sich mit der Strömung dem Meere zu.

Als wir etwa zweihundert Meter von Land entfernt waren, sahen wir drüben auf den Dünen mehrere Gestalten …

„Genarrt!!“ lachte Harald. „Wenn’s zu Fuß nicht geht, geht’s per Schiff. Die Kerle waren uns lästig.“

Eine steife Nordbrise trieb die Jacht rasch ins offene Meer hinaus …

Jochem Dröger steuerte. Pieter Krefft hatte ein Fernglas geholt und schaute nach den Spionen aus.

„Eine Rakete!“ brüllte Pieter plötzlich …

Und trotz des klaren Sonnenscheins sahen wir nun hoch über den Dünen grellrote Leuchtkugeln langsam herabschweben.

Eine zweite – eine dritte Rakete folgten …

Harst starrte wie gebannt in die Luft.

„Geben Sie mir das Glas, Pieter!“ sagte er mit einem Male.

Und er drehte sich um und suchte den Horizont ab – die See …

„Nur große Frachtdampfer,“ meinte er dann kopfschüttelnd. „Wem galt das Signal? War es für landeinwärts bestimmt?“

Sein Gesicht drückte etwas wie Besorgnis aus …

Wieder drehte er sich um.

„Pieter, Sie haben bessere Augen … Nehmen Sie das Glas und mustern Sie mal die Küste …“

Der Matrose nickte.

Lange stand er fast unbeweglich, nur Kopf und Hände und Fernglas beschrieben einen kleinen Bogen …

„Wedder ’ne Raket!“ rief er. „Do – jensiets des Waldes … Do, wo ’n Turm von ’n Hus tau seihen is …“

„Ein Turm?“

„Jo, Herr Harst … So ’n Turm wie von ’ne grote Villa …“

„Haben Sie sich auch nicht getäuscht, Pieter?“

„Nö, Herr Harst … Die Raket flog dotsicher von ’n Turm hoch … Oh – do – noch eene …“

„Ist der Turm rund, eckig?“

„Hei is rund und weiß … Bawen is ien Flaggenstock …“

„Geben Sie mal das Glas her …“

Er führte es an die Augen, stellte es ein …

In meinen Nerven zuckte eine unglaubliche Erregung. Ich ahnte, wie wichtig diese Entdeckung war. Harst ließ das Glas sinken …

„Ich sehe nichts – nur einen hellen Fleck!“

„Dat is dei Turm, Herr Harst,“ erklärte Pieter.

Harald rief Jochem zu: „Steuern Sie den Hafen von Neuyork an!“ Und zu Pieter: „Kein Wort von den Raketen und dem Turme, Pieter! Auch Jochem soll das Maul halten. Hier geht’s ums Ganze!“ – –

Um zwei Uhr nachmittags saßen wir beide im Dienstzimmer des Inspektor Davis, der uns sehr erfreut begrüßt hatte.

„Die Angelei ist Ihnen wohl schon langweilig geworden?!“ lachte er.

„Allerdings! – Haben Sie vielleicht eine ganz genaue Karte von der Umgebung des Darc-Palastes, Mr. Davis?“

„Gewiß … Ich werde sie bringen lassen.“

„Ich möchte mir doch auf der Karte das Flüßchen ansehen, wo wir mit der Texas geankert haben,“ meinte Harald harmlos.

Davis telefonierte.

Dann sagte er: „Owen Darc wird schwer zu überführen sein … Er hat sich den besten Strafverteidiger genommen, den es hier gibt, und …“

„Darc ist auch nicht zu überführen, denn er ist unschuldig!“

Davis’ Gesicht war klassisch!

„Wie – was – unschuldig? Und – das sagen Sie, Mr. Harst, der mir in der verflossenen Nacht –“

„Stopp, werden Sie nicht ungemütlich! Darc mußte verhaftet werden, damit wir den wirklichen Täter abfassen konnten. So hatte ich disponiert …“

Ein Beamter trat mit ein paar großen Karten ein.

„Hier, Inspektor, das Gewünschte!“ Und ging wieder.

Davis breitete die eine auf dem Tische aus. Es war eine tadellose Reliefkarte. Jedes Haus war eingezeichnet.

Am linken Rande der Karte fanden wir das Flüßchen, den Tryn-Bach. Und etwas rechts davon am Südrand eines Waldes auf einer Bergkuppe weit im Binnenland ein schloßartiges Gebäude mit rundem Turm …

„Kennen Sie dies Haus?“ fragte Harald.

Davis beugte sich über die Karte.

„Und ob! Und ob! Das ist Ballmer-Castle, der Palast des ehemaligen Milliardärs Ballmer …“

„Ehemalig?“

„Nun ja … Vor einem Jahr gab’s hier doch an der Börse den großen Kampf Darc–Ballmer … – Harry Ballmer verlor ihn und büßte die Hälfte seines Vermögens ein … Nun besitzt er nur noch 600 Millionen – nur!“

„Also – gewann Darc die anderen 600?“

„Mehr noch! In dieser Börsenpanik verloren noch andere ihr Vermögen.“

Harst schaute Davis an.

„Dann ist Harry Ballmer der Anstifter dieser Schandtaten, Mr. Davis. Meine Beweise gegen ihn sind ein paar – Raketen!“

 

9. Kapitel.

Der Sündenlohn.

Diese Beweisführung machte auf den kühl-kritischen Amerikaner jedoch nicht den erwarteten Eindruck.

„Zugegeben, daß die Raketen auf Ballmer-Castle hindeuten, Mr. Harst … Wo wird aber ein Mann wie Harry Ballmer sich so vielen Mitwissern in die Hände geben! Die könnten ihn ja nachher nach Belieben auspressen …“

„Diese Mitwisser können die anderen durch Darc Besiegten sein … Sie alle können sich zusammengetan haben, um Darc zu verderben … Der ganze teuflische Plan spricht von gemeinster Rachsucht, besonders der Umstand, daß man die drei Detektive in Mumien verwandelte, weil doch Darc Vorliebe für Mumien hat …“

„Hm …“

„Dann muß ich noch mehr ins einzelne gehen, Mr. Davis: Daniel Propetter ist Ballmers Verbündeter!“

„Was?! Der Tintenkleckser?!“ – Davis lachte schallend.

„Propetter hat die drei Chinesen befreit. Propetter war nach Berlin geschickt, um Schraut und mich und Frau Jane zu beobachten. Es war kein Zufall, daß die Helgoland die Jacht Texas im Nebel beinahe gerammt hat. Nein – die Texas, behaupte ich, wurde von einer anderen Jacht so dirigiert, daß sie mit der Helgoland zusammentreffen mußte. Die drei Mumien sollten gefunden werden!“

Davis hob abwehrend die Hände.

„Mr. Harst, verzeihen Sie schon, – das ist selbst mir zu – phantastisch.“

Harald hob ein wenig die Schultern.

„Mag sein … – Dann gebe ich Ihnen den Rat, Propetter in aller Stille verhaften zu lassen … Er wird fraglos noch hier in Neuyork sein.“

„Bedauere wirklich: woraufhin soll ich ihn verhaften?!“

„Nun denn: Fragen Sie vertraulich bei allen Banken an, ob Propetter heute nicht irgendwo eine größere Summe eingezahlt – den Sündenlohn!“

Davis wiegte zweifelnd den Kopf hin und her …

„Na – gut … Das soll geschehen … – In einer halben Stunde können wir Bescheid haben.“

Er verließ das Zimmer.

Harald sagte zu mir: „Ich verarge Davis diese Starrköpfigkeit nicht. Ihm fehlt der Überblick über das Ganze.“

Der Inspektor erschien erst nach zwanzig Minuten – aber mit anderem Gesicht …

„Mr. Harst, ich habe aus mir selbst heraus beim Hafenamt angefragt, ob Harry Ballmers Motorjacht Ozeana in letzter Zeit abwesend war. Und so erfuhr ich, daß sie am dreizehnten April unseren Hafen verlassen hat, also am Tage vor der Entführung des Kindes, und in der verflossenen Nacht erst wieder eingelaufen ist …“

„Ja – nachdem man Lilian Trooper absichtlich von dem Motorkutter entschlüpfen ließ, damit sie bei Darc gefunden würde – –: Satansspiel!“

„Hm – und die Western-Bank hat uns soeben vertraulich geantwortet, daß Mr. Daniel Propetter aus Chikago heute dreimalhunderttausend Dollar eingezahlt hat …“

„Ah – also doch!“

„Ja – vor anderthalb Stunden … Und – in einer Stunde dürfte er verhaftet sein, Mr. Harst … Ich bin bekehrt!“ –

Daniel Propetter wurde aus dem Bett heraus in einer Pension verhaftet.

Um vier Uhr nachmittags stand er vor uns. Er merkte, daß er sich nur durch ein offenes Geständnis retten könne, als Davis ihn barsch fragte, woher die 300 000 Dollar stammten.

Mit einem kläglichen Seufzer nahm er Abschied von dem Sündenlohn … –

Harry Ballmer und sieben andere Spekulanten hatten Owen Darcs Untergang beschlossen und auf echt amerikanische Art einen angeblichen Wohltätigkeitsverein gegründet, der noch weitere durch Darc um ihr Vermögen Gebrachte ermittelte, darunter auch eine Anzahl Chinesen.

Gemeinsamer Haß gegen den vom Glück begünstigten Darc verband so eine Anzahl von Männern, die nun in allen Einzelheiten den Plan entwarfen und vorbereiteten, durch den Darc endgültig abgetan werden sollte.

Zu diesen Männern gehörte auch ein Onkel von Daniel Propetter, den der Reporter einst zu beerben hoffte. Dieser Thomas Propetter führte seinen Neffen in den „harmlosen“ Verein als wertvolle, vielgereiste Kraft ein, und so wurde denn Daniel mit der Aufgabe betraut, Frau Jane Darc zu überwachen. –

Ich brauche hier Propetters Geständnis nicht zu wiederholen, denn er bestätigte nur Haralds Vermutungen.

Als Davis so aus dem Munde eines Eingeweihten diese in der Kriminalgeschichte aller Länder wohl einzig dastehende Tatsache eines mit scheußlichstem Raffinement gegen einen einzelnen Mann geschmiedeten Komplotts vernommen hatte, begab er sich sofort zu dem Senator, dem das Polizeiwesen unterstellt war, denn nicht nur Harry Ballmer als weltbekannte Persönlichkeit war ja an diesem Verbrechen beteiligt, sondern noch ein halbes Dutzend andere bisher sehr angesehene Bürger.

Senator Olgins erschien dann zusammen mit Davis wieder in dem freundlichen großen Dienstzimmer, begrüßte uns überaus liebenswürdig und fragte Harald, in welcher Weise man die ganze Verbrechergesellschaft auf einmal am besten festnehmen könne.

„Es ist doch wohl nach all dem Vorausgegangenen klar, daß diese Leute alle nur irgend erdenklichen Vorsichtsmaßregeln getroffen haben,“ fügte er hinzu.

„Fraglos,“ nickte Harald. „Und doch dürften sie sämtlich zurzeit auf Ballmer-Castle versammelt sein. Die Art der Abfahrt der Texas aus dem Flüßchen wird sie stutzig gemacht haben. Vielleicht findet zurzeit dort auf dem Schlosse großer Kriegsrat statt. – Lassen Sie ein paar Autos mit Beamten nach Ballmer-Castle vorausfahren, die das Schloß völlig umstellen. Wir folgen, sobald diese Einkreisung vollendet ist.“

Olgins stimmte zu.

Inwiefern Harald sich getäuscht hatte, sollten wir nach anderthalb Stunden erfahren.

 

10. Kapitel.

Die gelbfahle Wolke.

Das Auto hielt am Waldrande. Die breite Chaussee machte hier einen scharfen Bogen nach links – und dort links auf grüner Bergkuppe lag wie ein Feenpalast das berühmte Ballmer-Castle, eine Nachahmung des weltbekannten Mudir-Maza-Palastes in Lahore in Indien.

Der massige Turm des Mittelbaus reckte sich stolz und drohend den Wolken entgegen. An dem Flaggenstock oben wehte eine mächtige Fahne: das Sternenbanner der Vereinigten Staaten!

Wir waren kaum ausgestiegen, als ein Motorradler in wilder Jagd daherkam …

„Verdammt – das ist ja Smitson!“ rief Davis. „Da ist fraglos etwas geschehen …“

Der Detektiv Smitson sprang vom Rade …

„Meldung von Sergeant Toms: Siebzehn Herren, darunter sechs Chinesen, sind soeben nach Süden zu gewaltsam durchgebrochen, haben zwei von uns niedergeschlagen und sind in den Wald entkommen, unter ihnen auch Harry Ballmer. In Ballmer-Castle fand heute ein großes Festessen des Wohltätigkeitsvereins Charitas statt. Einer der Diener hat bereits angegeben, daß Ballmer plötzlich bei Tisch von seinem Radiotelegraphisten eine Funkdepesche erhielt, woraufhin die ganze Festgesellschaft in den kleinen Saal eilte und sich dort einschloß. Dann verließen die siebzehn Herren das Schloß und eilten durch den Park zur Südmauer, wo sie den Durchbruch durch unsere Posten gewaltsam bewerkstelligten.“

Senator Olgins rief überstürzt:

„Werden sie verfolgt?“

„Ja – Sergeant Toms ist mit zwölf Mann hinter ihnen her. Der Wald ist jedoch ein Naturpark, eine völlige Wildnis, und …“

Harst mischte sich ein.

„Mr. Olgins, das Meer liegt von hier aus südwärts und ist kaum eine Meile entfernt. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: wir kehren nach Neuyork zurück und besteigen einen Ihrer schnellsten Zollkreuzer. Ballmer wird fraglos auf seiner Jacht Ozeana zu entkommen suchen. Daher auch die Flucht südwärts. Er wird die Ozeana an die Küste bestellt haben.“

„Ins Auto!“ brüllte der Senator nur …

Das Auto raste davon …

Villen, Ortschaften, Vorstädte flogen vorüber …

Endlich Neuyork – endlich der Hafen …

Und zehn Minuten drauf peitschten die Schrauben des schlanken Zollkreuzers die trüben Wasser des Hudson …

Wir wußten jetzt: die Ozeana hatte tatsächlich vor einer Stunde ihren Liegeplatz verlassen!

Eine Stunde Vorsprung! – Senator Olgins rannte nervös auf dem Vorderdeck auf und ab … Die beiden Geschütze des flinken Schiffes waren gefechtsklar … Inspektor Davis stand neben uns an der Backbordreling …

„Ballmer ist die Verhaftung Propetters gemeldet worden,“ meinte Harald und hob das Fernglas an die Augen …

Wir hatten die offene See erreicht …

Der Senator blieb vor uns stehen …

„Wenn die Jacht entwischt, dann sind Sie geliefert, Davis … Ihre Leute haben sich offenbar wie die Esel bei der Festnahme des Propetter benommen …!“

Dann stelzte er weiter …

Davis kratzte sich den Kopf …

„Natürlich – einer ist ja stets der Prügeljunge!“ brumme er. „Na – wenn man mich entläßt, dann nimmt der Kolumbus mich in Dienst … – Sehen Sie was, Mr. Harst?“

„Allerlei – nur keine Privatjacht, armer Davis! – Halt … doch …! – Ah – da brüllt ja schon der Mann von der Brücke etwas …“

Wir stürmten nach oben. Der Kapitän des Zollkreuzers faßte vor Senator Olgins an den Mützenrand:

„Mr. Olgins, in zwanzig Minuten sind wir Bord an Bord mit der Ozeana … Der Kreuzer läuft acht Knoten mehr als die Jacht …“

Ein prachtvoller Sonnenuntergang färbte die See und verwandelte den Himmel in eine Malerpalette … Und dort, wo der rote Schein am Horizont in ein zartes Lila überging, hoben sich für das bewaffnete Auge scharf die Konturen eines weißen Schiffes ab …: die Ozeana mit den siebzehn Flüchtlingen, dem Verein Charitas, der heute in Ballmer-Castle den Sieg über Owen Darc hatte feiern wollen … –

Näher und näher rückte der Kreuzer dem Flüchtling.

Dann – ein Knall – und eine Granate sauste dicht über den schrägen Schornstein der Ozeana hinweg …

Eine zweite folgte …

Aber die Jacht stoppte nicht …

Wir erkannten genau, daß auf dem Achterdeck eine Menge Menschen standen …

Ich konnte mir so leicht ausmalen, wie Ballmer und den anderen da drüben zumute sein mußte …

Die dritte Granate nahm ein Stück Schornstein mit weg …

Und da – dippte die Jacht die Flagge, stoppte – beschrieb einen weiten Bogen …

„Ein Boot zu Wasser!“ befahl Olgins. „Wir rudern hinüber …“

Harst warnte eindringlichen Tones:

„Mr. Olgins, bedenken Sie, daß die Leute dort jetzt wie die Bestien sind … Ich würde –“

Er – brauchte nicht mehr zu warnen …

Die Jacht war urplötzlich in eine dichte, gelbfahle Wolke gehüllt … Der Krach einer gewaltigen Explosion dröhnte uns in den Ohren …

Als der Qualm zerflattert war, konnte man von der eleganten weißen Ozeana nur noch ein paar Holzstücke auf den wild erregten Wogen bemerken …

[Ein Schrei, entsetztes Gestammel drang aus Olgins][1] zitternden Lippen … Ganz bleich und starr war er geworden. –

Der Kreuzer suchte noch nach Überlebenden. Nicht ein einziger wurde gefunden.

* * *

Die Liebe regiert die Welt. Letzten Endes dreht sich doch alles um die Liebe, um – das Weib …

Ich freue mich berichten zu können, daß Owen Darc und Frau Jane in allem Frieden auseinander gingen und daß die kleine Betsy Darc, die Harald unversehrt in Ballmer-Castle in dem Häuschen eines Parkwächters auffand, in der Person Lilian Troopers eine neue, ebenso liebevolle Mutter erhielt …

Und daß schließlich aus Frau Jane und James Bennett ein glückliches Paar geworden, brauche ich eigentlich kaum zu erwähnen … –

Hiermit endet die Geschichte der Jacht mit den drei Mumien … Über das, was uns dieses Seeabenteuer einbrachte, schweige ich … Owen Darc war ja Milliardär.

 

Ende!

 

 

Anmerkung:

  1. In der Vorlage fehlt eine Zeile. Text sinngemäß ergänzt.