Walther Kabel
Kriminal-Roman
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin.
Im Speisesaal des Ostasiendampfers Viktoria ging es hoch her. Der Kapitän Coodler feierte heute abend seinen Geburtstag – den achtundfünfzigsten, wie er wiederholt betonte, da ihm niemand diese Jahre ansah.
Das heißt: nur an der „englischen“ Tafel schlemmte man in Sekt und ähnlichen Genüssen. Denn die achtzig Fahrgäste erster Kajüte hatten sich sorgfältig nach Nationen gruppiert, die Engländer für sich, die Franzosen, die Japaner und die wenigen Deutschen.
Mitten unter den Deutschen saß auch der einzige Vertreter Chinas, der reiche Handelsherr Maon Mi aus Hongkong.
Die Bordkapelle des mächtigen Steamers spielte heute nur englische Kompositionen. Gerade als aus der Operette „Die Geisha“ der bekannte Walzer erklang, sagte Maon Mi zu seinem Nachbar zur Rechten:
„Wir Chinesen werden in zehn Jahren in keiner Weise mehr auf ausländische Industrieerzeugnisse angewiesen sein. Wir werden uns völlig freimachen von europäischer Bevormundung. Der jetzt wütende Bürgerkrieg ist der Schlußstrich unserer Aufwärtsentwicklung.“
Professor Harstetter nickte aus Höflichkeit und meinte:
„Hoffen wir es …“
Dann fügte er hinzu, indem er sich noch mehr zu Maon Mi hinneigte:
„Sie sprechen meine Muttersprache überraschend fließend, Herr Maon Mi …“
Der große, schlanke Chinese, der hier einer der am besten gekleideten Herren war, schnippte mit der Fingerspitze ein Stäubchen von dem Seidenaufschlag seines Smokingjacketts und erwiderte in demselben kühlen, gleichmäßigen Tonfall wie vorhin:
„Ich war sechs Jahre in Berlin, Herr Professor …“
„Ah – nicht möglich! Sechs Jahre …! Wohl in einem Geschäft?“
„Nein, auf der Straße – als Händler …“
„So … so …“
„Ich liebe Deutschland … Die Menschen dort sind ehrlicher als anderswo und daher leichter zu übervorteilen …“
„Auch ein Standpunkt!“ lächelte der blondbärtige Gelehrte, der in China jetzt seine Studien über die Religion Buddhas vertiefen wollte. „Im übrigen ganz der Standpunkt eines Großkaufmanns, Herr Maon Mi.“
„Allerdings – und eines Chinesen, Herr Professor. Bekanntlich sind wir das verlogenste Volk, während das heuchlerischste dort drüben Geburtstag feiert.“
„Sehr ehrlich …! – Gestatten Sie eine andere Frage … Sie kamen gestern in Manila an Bord … Der dortige Arzt der Hafenpolizei erzählte mir, daß in diesen Gewässern die Piraten jetzt wieder außerordentlich rührig seien. Ist denn wirklich an diesem Gerede etwas Wahres? Uns Europäer berühren derartige Piratengeschichten stets etwas sonderbar. Man wird da an Kindheitstage erinnert – an Seeräubergeschichten und dergleichen …“
Maon Mis bartloses Mongolengesicht, das die Merkmale des Chinesentyps nur ganz verschwommen zeigte, verzog sich zu einem unendlich geringschätzigen Lächeln.
„Piraten?! – Nun ja, es sind Überfälle auf Dampfer vorgekommen … Aber Piraten kann man dies Gesindel kaum nennen … Armselige erwerbslose Hafenkulis stehlen eine Dschunke, fahren die Küste entlang und kapern nachts einen kleinen Frachter, massakrieren die Besatzung, versenken das Schiff und bringen die Ladung in ein Versteck, leben davon Monate … Gesindel!“
„Immerhin – – Piraten …!“ meinte der Gelehrte nervös und flüsterte hastig: „Glauben Sie, daß diese Leute sich auch an ein größeres Schiff wie die Viktoria hier herantrauen?“
Maon Mi musterte den Professor …
„Haben Sie keine Sorge … Das halte ich für ausgeschlossen …“
„Gott sei Dank …“ Und Harstetter wandte sich sofort an seine neben ihm sitzende rundliche Gattin und sagte liebevoll:
„Amalie, Herr Maon Mi meint, daß der Arzt in Manila bei weitem übertrieben habe … Die angeblichen Piraten sind arme Teufel von Hafenkulis, die aus Hunger zu Verbrechern werden …“
Der elegante Chinese beugte sich vor, verneigte sich vor der dicken Dame und bestätigte:
„Es liegt nicht der allergeringste Anlaß zu Befürchtungen vor, gnädige Frau … Einen schwimmenden Palast wie die Viktoria könnte nur eine tadellos organisierte Bande kapern … Und derart großzügige Piratenbündnisse gibt es nicht …“
Die Frau Professor Amalie Harstetter, auf deren Nase ein goldener Kneifer balancierte, nickte dem Chinesen dankbar zu …
„Gott sei Dank, Herr Maon Mi …! Der Arzt in Manila erzählte uns unter anderem von der Wegnahme einer englischen Brigg durch die Piraten und von einer jungen Dame, die gleichzeitig mit dieser Brigg verschwunden ist – vor sechs Monaten …“
„Ja, ich weiß, – die Brigg Haggerstone und die junge Miß Blendaboor, die Tochter des englischen Kohlenmagnaten, die leichtsinnig und abenteuerlustig genug war, mit dieser ihrem Vater gehörigen Brigg Ostasien zu besuchen … Alle Zeitungen berichteten davon. Blendaboor hat eine Unsumme als Belohnung dem versprochen, der über das Schicksal des Schiffes sichere Angaben machen könnte, denn, gnädige Frau, es ist noch durchaus nicht erwiesen, daß der Verlust der Brigg den Piraten auf das Konto zu setzen ist. Ebenso gut kann ein Zyklon[1] den Segler mit Mann und Maus in die Tiefe gerissen haben …“
Auch die gegenübersitzenden Herren beteiligten sich jetzt an diesem Gespräch. Unter diesen befand sich ein früherer deutscher Offizier, der jetzt als Vertreter eines Depeschenbureaus nach China ging, ein Herr von Hortemer, eine ganz besondere Spezies von Mensch …
Der sagte nun, indem er Maon Mi durch sein Monokel belustigt anlächelte:
„Also massakrieren tun diese Piratenbrüder die ganze Besatzung?! Und – die Matrosen halten immer hübsch still dabei?! Lassen sich verbindlichst die Kehle abschneiden, bedanken sich dann noch und bitten: „Wiederholen Sie doch die Prozedur! Sie ist so sehr bekömmlich …!““
Alles lachte …
Selbst Maon Mi verzog das Gesicht …
Und meinte: „Selbstverständlich geht es dabei ohne Kampf nicht ab … Aber – viele Hunde sind des Hasen Tod, wie Ihr deutsches Sprichwort lautet …“
Die Bordkapelle spielte jetzt die englische Nationalhymne …
Die Engländer hatten sich erhoben …
Und im selben Moment auch ging eine so starke Erschütterung durch das Schiff, daß eine ganze Anzahl Weingläser umfielen und mehrere der Engländer lang auf den roten Teppich schlugen …
Die Musik brach jäh ab …
Alles war hochgeschnellt …
Auf den meisten Gesichtern zeigte sich schlecht verhehlte Angst …
Nur Harstetters, Maon Mi, Hortemer und sein Nachbar Doktor Schubrich waren sitzengeblieben …
Und mitten in diese Totenstille hinein jetzt Herrn Hortemers näselnde und doch scharfe Stimme:
„Eine Mine, wenn ich mich nicht sehr irre … Die Viktoria wird vorn ein ekliges Loch gekriegt haben … Trotzdem ist wohl kaum ein Anlaß zur Beunruhigung, meine Damen und Herren … Der Dampfer hat ja wasserdichte Abteilungen …“
Diese Worte wirkten wie eine Entspannung …
Kapitän Coodler rief dem Deutschen zu:
„Dank Ihnen, Sir … Wird schon stimmen … Wird so ein treibendes Überbleibsel vom Weltkrieg sein … – Ich werde sofort prüfen, was vorgefallen ist … Nehmen Sie alle bitte wieder Platz … – Musik …!!“
Und – die Kapelle begann einen englischen Walzer zu spielen. –
Auf der Treppe begegnete der Kapitän seinem Ersten Offizier …
So erfuhr Coodler denn, daß die Viktoria so starke Beschädigungen am Bug erlitten habe, daß die eingedrungenen Wassermassen zwei Querwände bereits eingedrückt hatten.
Zehn Minuten darauf gab Coodler den Befehl, den Kurs zu ändern und der Insel Truro zuzusteuern, die nördlich der Schiffsroute Manila–Hongkong etwa sechzig Seemeilen entfernt lag. Er hoffte, die Viktoria dort auf Strand setzen oder noch in eine Bucht bringen zu können. –
Im Speisesaal der ersten Kajüte ahnte man nicht, daß der Dampfer jetzt nach Norden lief und daß er bereits so viel Wasser im Raum hatte, daß mit seinem Wegsinken in spätestens vier Stunden gerechnet werden mußte …
Man tafelte ruhig weiter …
Kapitän Coodler saß wieder mit am englischen Tisch.
Die Nationalhymne wurde jetzt ohne Störung beendet.
Coodler beherrschte sich vorzüglich …
Dann aber schickte der Erste Offizier ihm durch einen Steward ein Brieflein …
„Eilt, Sir …“ flüsterte der Steward.
Coodler las und – knüllte das Papier zusammen, nahm sein Sektglas und trank Lord Motterby[2] zu …
„Euer Lordschaft gestatten …“
Er trank …
Und doch stand in dem Brief:
„Soeben Funkengast Sheffries tot aufgefunden – ermordet. Apparate sämtlich gestört. Lickfort.“
Und Coodler dachte: „Jetzt kann ich den Unfall nicht einmal nach Hongkong melden … Jetzt können wir tagelang auf dem Inselchen warten, bis ein Schiff vielleicht vorüberkommt – falls wir Truro überhaupt erreichen …!“ –
Am deutschen Tisch sprach man über Seeminen …
Professor Harstetter meinte, daß es jetzt natürlich wieder heißen würde, es handele sich um eine deutsche Mine.
Und Hauptmann v. Hortemer nickte und bestätigte:
„Selbstmurmelnd – – deutsche Mine!“
Maon Mi aber sagte sehr laut: „Ich hoffe, daß niemand diese Taktlosigkeit aufbringen wird! Sonst …“
Diese versteckte Drohung wirkte im Munde eines Farbigen, eines Chinesen immerhin etwas eigentümlich …
Frau Professor Harstetter flehte denn auch mit ihrem für diese Körperfülle recht piepsigen Stimmchen:
„Oh – nur kein Streit, Herr Maon Mi … Wir Deutsche sind jetzt ja das Kuschen und Mundhalten schon gewöhnt …“
Gleich darauf hob der Kapitän die Tafel auf …
Bis auf den englischen Tisch strömte nun alles auf das Promenadendeck.
Auch Coodler begab sich auf die Kommandobrücke, wo er leise und eifrig mit seinem Ersten Offizier verhandelte.
Der ermordete Funkentelegraphist lag noch im Funkhäuschen, das nur von der Brücke zugänglich war.
Der Kapitän trat ein.
Der junge Funkgast lag neben dem Tische mit den Apparaten. Diese waren sämtlich demoliert. Einzelne Teile fehlten … Die Lampen des Senders und des Empfängers nur noch Scherben …
Der Ermordete hatte zwei Messerstiche ins Herz erhalten. –
Coodler war bei diesem Anblick doch etwas bleich geworden. Er begriff nicht recht, weshalb man den armen Sheffries erdolcht hatte … Und – wie in aller Welt war der Mörder hierher gelangt?! Auf der Kommandobrücke hatten sich doch der wachhabende Offizier und drei Leute befunden!
Er kehrte nun in den Speisesaal zurück und tat hier wieder völlig unbefangen, nahm dann aber den Detektivinspektor Lobberfoot aus Hongkong beiseite und teilte ihm das Geschehene mit.
Mr. Lobberfoot, der sich daheim in Old-England so etwas von der Malaria erholt hatte, war sofort auf den naheliegenden Gedanken gekommen, daß es sich hier nur um einen Racheakt eines der Matrosen gegen Sheffries handeln könne …
„Ich werde die Sache in aller Stille untersuchen, Mr. Coodler. Der Mörder hat die Apparate zerstört, damit der Verdacht in falsche Richtung gelenkt würde. Ich finde den Burschen schon!“
Er schlenderte an Deck und nahm sich einen der älteren Matrosen vor …
„Ja, Sheffries und der Heizer Patrick waren spinnefeind,“ bestätigte der Mann ohne jede Voreingenommenheit.
Als Lobberfoot den Maat ausforschte, standen sie an einer der Türen zu den Mittschiffskabinen.
Und diese Tür ging jetzt auf, und Professor Harstetter steckte den Kopf heraus …
Fragte bestürzt:
„Ist noch etwas geschehen?“
Lobberfoot erwiderte giftig: „Mit Ausnahme der deutschen Mine nichts …“
Da drückte der Gelehrte schleunigst die Tür wieder zu, riegelte ab und sagte zu seiner Gattin:
„Amalie, – es geht schon los! Einer der Engländer hat mir die Mine schon unter die Nase gerieben …“
Frau Amalie hatte bereits die tadellos gearbeitete Perücke zur Nacht abgenommen und an Stelle des Kneifers eine Brille aufgesetzt …
„Mögen sie …!“ meinte sie ärgerlich.
Und dann begann sie zu flüstern …
Harstetter tat das gleiche …
„Ich habe genau verstanden – genau … Der Funkentelegraphist ist ermordet worden …“ –
Während so das würdige Ehepaar dieses Verbrechen vorsichtig durchsprach, lehnten Herr von Hortemer und sein Tischnachbar Doktor Schubrich an der Backbordreling und rauchten und genossen die warme klare Nacht.
Hortemer fragte:
„Wie gefällt Ihnen der Chinamann, Doktor?“
„Hm – weiß nicht recht …“
„Hörten Sie sein Gespräch mit Harstetter über die Piraten?“
„Gewiß …“
„Und – bemerkten sie dabei etwas?“
„Nein … Was denn?“
Hortemer näherte seinen Kopf dem des Landsmanns und raunte ihm ein paar Sätze ins Ohr.
„Nicht möglich!“ rief der Doktor da fast entsetzt …
„Pst – – er kommt …“
Ja – er kam: Herr Maon Mi …
Seine Lackhalbschuhe glänzten im Laternenschein …
Und neben ihm schritt Edith Wenter, die junge deutsche Lehrerin, die sich für drei Jahre an die deutsche Schule in Tokio verpflichtet hatte.
Maon Mi machte vor Hortemer halt …
„Auch noch munter, meine Herren? – Ja, diese Tropennächte … Die können es einem antun …“
Edith Wenters blonde Lieblichkeit zwitscherte:
„Dort – sehen Sie nur die riesigen Leuchtquallen in den Wogen … Ist das schön!“
Hortemer schaute gar nicht hin …
„Weniger schön ist, gnädiges Fräulein, daß dieser famose Kahn langsam immer mehr Wasser schluckt und gar nicht mehr Kurs auf Hongkong hält …“
Fräulein Wenter war kein hysterisches Frauenzimmer.
„Wir – sinken also, Herr von Hortemer?“ fragte sie leise.
„Sozusagen … Und weil wir sinken, steuert der Kapitän jetzt die Insel Truro an, schätze ich, – ein Felseninselchen von allerliebster Abgeschiedenheit, wo man Robinson spielen kann, wenn man allein dorthin gerät. Da wir aber hier auf dieser Luxusausgabe von Äppelkahn rund neunhundert Weiblein und Männlein sind, können wir dort, bis man uns abholt, einen neuen Staat gründen …“
„Oh – scherzen Sie doch nicht!“ sagte Edith Wenter etwas ängstlich. „Mit derlei soll man keinen …“
„… Scherz treiben?! Warum nicht?! Es ist ein Abenteuer, gnädiges Fräulein … Weiter nichts … Gefahr ist kaum dabei … Sollte der Dampfer schon vor der Insel wegsacken, so werden die Rettungsboote uns dorthin bringen. Und wenn dann das Schiff uns abholt, das Kapitän Coodler doch fraglos durch Funkspruch herbestellt hat, dann werden Sie, Landsmännin, noch bedauern, die Insel so schnell wieder verlassen zu müssen …“
„Vielleicht …“ sagte die blonde Schlanke verträumt. Und dabei schaute sie Hortemer etwas zu tief in die grauen kühlen Augen … Ward sich plötzlich bewußt, daß sie zu viel von ihrem geheimsten Fühlen preisgegeben und wandte sich verwirrt an Maon Mi …
„Sie kennen doch das südchinesische Meer recht genau. Kennen Sie auch diese Insel?“
„Nein … Wer kümmert sich um einen Haufen Felsen, gnädiges Fräulein?!“
Und der chinesische Gentleman nahm eine Zigarette aus goldener Dose und fragte Hortemer, ob die Viktoria denn tatsächlich schon so viel Wasser im Raum habe, daß sie tiefer als sonst liege …
„Einen halben Meter mindestens,“ nickte der Deutsche. „Und trotzdem alle Pumpen arbeiten, sinken wir flott weiter …“
Dann verneigte er sich und ging langsam davon.
Maon Mi blickte ihm nach …
„Ja – das ist der Schlag Menschen, den ich liebe,“ sagte er ehrlich. „Diese besondere Art Humor fand ich nur bei Deutschen. Herr von Hortemer hat offenbar keine Nerven … – Kennen Sie ihn eigentlich genauer, Herr Doktor?“
Schubrich verneinte. „Wir kamen beide in Genua an Bord … Also Bordbekanntschaft. Aber wir sind Landsleute, außerdem halbe Kollegen, denn auch ich als Arzt bin hauptsächlich literarisch tätig, wie ich denn auch jetzt in China, Japan und der Mongolei allerlei asiatische Krankheiten studieren will …“
Edith Wenter sagte den Herren jetzt gute Nacht.
Und auch ihr schaute Maon Mi mit einer gewissen sinnenden Freude nach …
„Welch schöne Frauen Ihr Vaterland hervorbringt, Herr Doktor!“ Er sagte es wie in respektvoller Bewunderung. „Man kann sich gar nicht vorstellen, daß Fräulein Wenter daheim keine Bewerber gehabt haben soll und daß sie gezwungen ist, hier in der Fremde ihr Brot zu verdienen …“
„Vielleicht hat sie den Rechten noch nicht gefunden!“
Maon Mi lächelte …
„Oh – vielleicht doch, wenn auch erst hier an Bord.“
„Sie denken an Hortemer?“
„Ja … Ich habe die Gabe, sehr scharf beobachten zu können, Herr Doktor …“
„Armes Fräulein Wenter!“ meinte Schubrich nun ehrlich bedauernd. „Hortemer wird nie ein Weib freien. Er hat mir erklärt, daß Frauen für ihn nur existieren … als gute Kameraden …“
Der chinesische Gentleman nickte gedankenvoll. „Er hat nicht unrecht damit … Vielleicht liegt gerade darin seine Stärke …“ Und dem Doktors schien’s, als seufzte Maon Mi leise auf … –
Es war jetzt elf Uhr geworden. Das Promenadendeck hatte sich geleert. Die ahnungslosen Passagiere, die noch immer glaubten, daß die Viktoria gen Hongkong steuere und daß auch sonst hier an Bord alles bis auf das „geringfügige“ Leck in schönster Ordnung, schliefen bereits in ihren eleganten Kabinen.
Der Mond war erschienen …
Schubrich bewunderte still die glitzernde Bahn auf dem leicht bewegten Wasser. Dicht neben ihm lehnte der Handelsherr aus Hongkong.
Und jetzt spürte der Doktor bei dieser körperlichen Nähe des Asiaten jenen besonderen Geruch, der vielen Farbigen eigen und der sich selbst durch reichlichen Gebrauch von Parfüm nur für gröbere Nasen betäuben läßt.
Dieser Körperduft hatte bei Maon Mi jedoch noch etwas sozusagen rein Persönliches an sich – etwas, das ganz entfernt an die scharfe Ausdünstung von Raubtieren erinnerte … – –
Während der Dampfer stetig und scheinbar ohne Eile der rettenden Insel zustrebte, während der Deutsche und der Chinese jetzt über die Frage der Übervölkerung Chinas sprachen, hatte Herbert von Hortemer die Kommandobrücke, für die Passagiere bekanntlich verbotenes Gebiet, ohne weiteres erklommen und war auf den Kapitän zugetreten.
Coodler sagte denn auch sofort:
„Entschuldigen Sie, Sir … Aber ich kann hier keine Ausnahmen machen … Unten hängt die Tafel, die …“
„Weiß ich, Kapitän … Sie waren jetzt aber nur hier anzutreffen, und meine Sache hat Eile … – Wann werden wir die Insel Truro erreichen?“
Coodler und der neben ihm stehende Erste Offizier starrten den Deutschen verblüfft an …
Hortemer putzte sein Monokel …
„Ja – ich weiß eben alles … Ich weiß, daß da unten eine Tafel hängt, daß die Viktoria langsam sinkt, daß die Pumpen mit Hochdruck arbeiten, daß wir jetzt mit nördlichem Kurs fahren und daß der Funkgast Sheffries ermordet worden ist, wie mir soeben Professor Harstetter erzählte …“
Während Hortemer diese Sätze in seiner unnachahmlich gleichgültigen und doch so unendlich überlegenen Art hinsprach, war Mr. Lobberfoot, Detektivinspektor, die Brückentreppe emporgekeucht.
Ohne den Deutschen zu beachten, nahm er den Kapitän nun beim Ärmel und zog ihn ein Stück abseits.
Da sagte denn Hortemer sehr laut:
„Auf die Weise werden Sie den Mörder wohl kaum finden, Mr. Lobberfoot …“
Der fuhr wütend herum …
Hortemer klemmte das Monokel ein …
Fügte hinzu: „Ich bin nicht ganz Laie in solchen Dingen, Mr. Lobberfoot … Wir Journalisten müssen eben von allem etwas verstehen … Außerdem …“ – und seine Stimme senkte sich, so daß nur der Kapitän und der Polizeibeamte ihn verstehen konnten – „außerdem ist auch Professor Harstetter der Ansicht, daß die treibende Mine, die den Bug des Dampfers so schwer beschädigte, und dieser Mord eng miteinander zusammenhängen – ganz eng …“
Lobberfoots unvernünftiger Haß gegen alles Deutsche brandete hier abermals hoch …
„Ja – Deutschland hat die Weltmeere mit Minen verseucht – – ganz recht!“ kollerte er hervor. „Aber ob auch ein Deutscher den Sheffries erdolcht hat, möchte ich bezweifeln, da unter der Besatzung …“
Er schwieg …
Herr von Hortemer hatte sich kurz umgedreht und die Brücke verlassen …
„Aufgeblasener Narr!“ sagte der Detektivinspektor verächtlich.
Kapitän Coodler aber meinte:
„Das hätten Sie nicht tun sollen, Mr. Lobberfoot …! Dieser Hortemer hätte uns fraglos seine Behauptung näher begründet … – Wie steht’s denn nun mit dem Verdacht gegen den Heizer Patrick?“
„Hm – Patrick hatte zur fraglichen Zeit Dienst vor den Kesseln und hat den Maschinenraum nicht verlassen. Wir müssen den Mörder anderswo suchen.“
Coodler wetterte jetzt los:
„Hören Sie mal, Mr. Lobberfoot, – das ist denn doch ein starkes Stück …! Sie wissen genau, daß Ihre Mutmaßungen zu Wasser geworden und beleidigen hier trotzdem einen meiner Passagiere, der vorhin im Speisesaal die Panik so glänzend verhütet hat …!! Ich bitte Sie, sich in dieser Angelegenheit nicht weiter zu bemühen …“
Lobberfoot war so verdutzt, daß er vor Ingrimm nur nach Luft schnappte, wie ein aufs Trockene geratener Fisch …
Dann verließ auch er die Brücke.
Coodler aber schickte den Ersten Offizier jetzt aus, um Hortemer hierher zu bitten …
„Seien Sie äußerst höflich, Lickfort,“ meinte er eindringlich. „Wenn ich’s mir recht überlege: es muß doch einen besonderen Grund haben, daß der Mörder die Apparate derart zerstörte …“
Lickfort suchte umsonst nach dem Deutschen …
Denn der saß jetzt in der Kabine Nr. 15 – bei der reizenden Edith Wenter, die bereits einen allerliebsten schwarzseidenen Schlafanzug anhatte.
Edith Wenter steckte vor dem Schrankspiegel in ihrer Kabine das Haar zur Nacht auf …
Und die blonde junge Lehrerin dachte an den Mann mit den grauen Augen, mit dem sie nun seit Genua hier an Bord Tag für Tag zusammen gewesen …
An Herbert von Hortemer …
Edith war traurig …
Es war nicht die weichmütige Trauer eines jungen Weibes, das stille Herzenswünsche begraben muß … Es war nur das ernste, wenn auch schmerzliche Verzichtleisten einer starken Seele auf den einen Mann, der ihre Seele in Aufruhr gebracht.
Sie wußte es nun mit aller Bestimmtheit: Hortemer sah in ihr nur die Landsmännin, nur einen – guten Kameraden! Als sie ihn vorhin halb unbewußt so prüfend und flehend angeschaut hatte, da war in seinen Augen etwas wie ein stilles, eindringliches Mahnen gewesen: Gib diese Gedanken auf …!
Und Edith Wenter kämpfte jetzt diesen schweren Kampf des Verzichtens …
Siegte auch … Und war eigentlich etwas erstaunt darüber, daß sie so ohne jede Träne sich in das Unabänderliche fand …
Als ehrlicher, aufrechter Mensch wollte sie sich nun nochmals Rechenschaft über ihre Empfindungen geben.
War das denn wirklich Liebe gewesen, jene Liebe, die himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt in stürmischem Überschwang der drängenden Triebe von Lust zu Schmerz und von Schmerz zu Lust besinnungslos taumelt …?!
Nein – nein, – das war’s niemals gewesen – – niemals!
Das war vielleicht nur der Beginn eines stärkeren Gefühls, war zunächst mehr befriedigte Eitelkeit und freudige Genugtuung gewesen, weil Hortemer gerade sie stets vor den anderen Damen so etwas ausgezeichnet hatte, die doch alle, alle seine schlanke Gestalt mit werbenden Blicken gestreichelt, mochten es Engländerinnen, Französinnen oder Amerikanerinnen sein …
Herbert von Hortemer war eben auf der Viktoria der Mann – der eine, der all die übrigen in den Schatten stellte … –
Und als Ediths blonde Jugend und Frische jetzt bei diesem Urteilsspruch über sich selbst so weit gekommen war, da – klopfte es …
Da huschte sie an die Tür …
Schrak zusammen …
Hortemer – – Hortemer verlangte Einlaß – jetzt – zu dieser Stunde …!
Und … durch die Türspalte flüsterte er jetzt, wie zu seiner Rechtfertigung:
„Es geht um unsere Sicherheit, Fräulein Wenter … Es geht um unser Leben vielleicht …“
Sie zog die Tür weiter auf …
Und er trat ein …
Verriegelte die Tür, nickte Edith zu und flüsterte wieder:
„Kleiden Sie sich nachher wieder vollständig an … Ich – fürchte für den Dampfer …“
Ganz dicht standen sie sich gegenüber …
Ediths Augen vergrößerten sich in jähem Schreck …
„Die Viktoria sinkt?“
„Auch das …! – Wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Insel Truro nicht anzulaufen, würde ich dem Kapitän raten, lieber die Rettungsboote auszusetzen und den Dampfer zu verlassen … Aber dies ist leider nicht angängig, da das Barometer immer mehr nach links schwenkt, und zwar bedrohlich schnell. Ein Sturm ist im Anzug, und diese Stürme hier im südchinesischen Meere sind berüchtigt. Da würden die sogenannten Rettungsboote samt allen Insassen einfach verloren sein.“
Edith Wenter begriff noch immer nicht, was Hortemer mit dieser ernsten Einleitung bezweckte. Sie schaute ihn lang forschend an und fragte zaghaft:
„Was – was haben Sie denn gegen die Insel Truro einzuwenden, Herr von Hortemer?“
Da neigte er sich noch mehr zu ihr hin, nahm ihre Linke und drückte sie fest …
„Sie werden tapfer sein, Fräulein Wenter,“ sagte er eindringlich … „So tapfer, wie es sich für die Tochter eines Deutschen geziemt … Und Sie werden mir helfen, den Gefahren zu begegnen, die uns allen hier zweifellos drohen …“
„Mein Gott …“
„Still! Tapfer sein … Die Viktoria soll – überfallen werden – von Piraten, Fräulein Wenter …“
Sie erblaßte …
Und Hortemer sprach weiter, drückte wieder ihre Hand …
„Ich rechne bestimmt mit einem Angriff auf den Dampfer … Ich werde versuchen, Kapitän Coodlers Sorglosigkeit zu zerstreuen … Wir müssen vorsichtig zu Werke gehen … Hier an Bord befinden sich im Zwischendeck achtzig chinesische Kulis, die angeblich von einer Plantage in der Nähe Manilas in ihre Heimat zurückkehren … Ich traue diesen Gelben nicht … – Und jetzt muß ich wieder fort, Fräulein Wenter … Hier – nehmen Sie diesen Revolver an sich. Sie haben mir ja selbst gesagt, daß Sie mit Schußwaffen umzugehen wissen … Bleiben Sie also auf … Ziehen Sie Ihren Gummimantel über und stecken Sie auch Ihre Papiere und Wertsachen zu sich … – Auf Wiedersehen! – Haben Sie nur Vertrauen zu mir … So ein wenig verdiene ich es auf Grund meiner Erfahrungen …“
Er nickte ihr aufmunternd zu …
Dann horchte er eine Weile an der Tür, öffnete rasch und glitt hinaus.
Edith schloß die Tür. Eine seltsame Starrheit lähmte sie völlig. Sie stand regungslos. Nur ihre Gedanken spielten.
War das noch derselbe Hortemer, der für all und jedes ein halb ironisches Scherzwort bereit hatte?!
Sie staunte über diese jähe Veränderung …
Sie sah noch immer das schmale, fast hagere Gesicht mit der etwas großen Nase vor sich … Und diese grauen Augen, diese Kinnpartie, die im Verein mit den anderen Anzeichen einer unerhörten Energie diese Willensstärke noch doppelt unterstrich …
Sie dachte nicht mehr an das, was sie über ihre Gefühle vorhin sich zurechtgelegt …
Und dachte doch nur an diesen einen Mann, der soeben die Todesgefahr für die Insassen des prachtvollen Schiffes durch – Piraten angedeutet hatte …
Ein Schauer überlief sie …
Professor Harstetter hatte ja bei Tisch so unheimliche Dinge von diesen schlitzäugigen Bestien berichtet …
Piraten … Piraten …! Und – man lebte doch im Jahre 1924, nicht mehr zu jenen Zeiten, als die Flibustier oder Coopers roter Freibeuter[3] die Meere unsicher gemacht hatten!
In der schlaff herabhängenden Rechten hielt sie den kleinen Revolver …
Und hob ihn nun dicht unter die Augen …
Sechs Patronen – sechs Schuß!
Sie legte ihn auf das kleine Tischchen, ließ sich in den Korbsessel fallen …
Ganz mechanisch begann sie in der illustrierten Monatsschrift zu blättern, die sie noch von Berlin mitgebracht und bisher nie angesehen hatte, da ihre Zeit hier an Bord überreich ausgefüllt gewesen …
Und ihre Gedanken klebten doch hartnäckig an den blutigen Schilderungen des Professors – an den Massakers auf den gekaperten Schiffen …
Dann – – fuhr sie halb aus dem Sessel hoch …
Stierte auf die eine Seite der Monatsschrift, auf das eine Doppelbild …
Also – – das war’s … das!! Deshalb all das Widerspruchsvolle … – deshalb!
Sie – lächelte plötzlich …
Und was sie bisher nicht empfunden, das stellte sich jetzt wie von selbst ein: Zuversicht und Mut! –
So erwartete Edith Wenter das Kommende …
Herbert von Hortemer aber war langsam an der Kajüte des Kapitäns vorüber gegangen, hatte wieder kehrt gemacht und sich nach allen Seiten umgeschaut …
Dann klopfte er an – öffnete auch sofort, erwartete gar nicht Coodlers Herein. –
Der Kapitän stand da mit einer Whiskyflasche in der Linken und einem Weinglase in der anderen, hatte sich soeben stärken wollen …
„Endlich, Mr. Hortemer!“ So empfing er den Deutschen. „Ich habe Sie bereits wie eine Stecknadel suchen lassen …“
Hortemer sagte darauf: „Sie könnten mir ebenfalls etwas von dem Zeug da spenden. Ein Schuß Alkohol dürfte uns in dieser Nacht bekömmlich sein …“
Coodler trank und holte ein anderes Glas …
Meinte: „Wir sind nur noch eine halbe Stunde von Truro entfernt. Wir schaffen’s …“
Er schenkte das Glas voll – bis zum Rand, und reichte es Hortemer …
Der erwiderte bedächtig: „Und wenn wir dort sind, geht der Tanz los … Wir werden erwartet …“
Coodlers Augen quollen vor …
„Von wem?“ flüsterte er, denn im selben Moment war ihm eine ungefähre Ahnung der wahren Zusammenhänge aufgegangen.
„Von den Piraten, Mr. Coodler,“ erklärte Hortemer gedämpft und leerte dann das Glas auf einen Zug.
Der Kapitän hatte die Oberzähne in die Lippe gepreßt …
Breitbeinig stand er … Die Augen waren halb zugekniffen …
„Also das!!“ sagte er kopfschüttelnd …
„Ja – die Mine war kein blindes Spiel des Zufalls, Kapitän … Die Mine war an einer sehr langen Stahltrosse befestigt … Alles war so eingerichtet, daß sie am Bug der Viktoria explodieren mußte … Und das Fahrzeug, das uns die Mine in den Weg schleppte, ist von der Steuerbordwache gesehen worden. Ich habe den Matrosen unauffällig befragt. Es war eine chinesische Dschunke – mindestens dreihundert Meter in Lee passierten wir sie … Also muß die Trosse gut fünfhundert Meter lang gewesen sein …“
„Die Bande …!!“
„Und als sie explodierte, Kapitän, da hat wohl niemand auf der Brücke nach achtern geschaut … Da konnte ganz gut solch ein gelber Schuft von den achtzig chinesischen Kulis aus dem Zwischendeck die Brücke erklettert haben und unbemerkt in das Funkerhäuschen gelangt sein …“
„Verstehe, Mr. Hortemer: wir sollten keinerlei Nachricht aussenden können …“
„Ja. Und – wir sollten auch Kurs auf Truro nehmen … – Ein feines Plänchen … Die Kerle wagen sich offen an die Viktoria nicht heran … Also muß es auf andere Art geschafft werden – durch Mine, Mord und Angriff auf den in einer Bucht der Insel auf Grund gesetzten Dampfer … – Haben Sie Waffen an Bord, Kapitän?“
„Ja … Die Reederei gab uns dreißig alte Militärgewehre und fünfhundert Patronen mit – für alle Fälle …“
„Das genügt vielleicht. Und Ihre Leute?“
„Sind zuverlässig, die meisten haben bei der Kriegsmarine gedient während des großen unsinnigen Massenmordes …“
„Dann rate ich Ihnen, zunächst einmal die achtzig Kulis aus dem Zwischendeck in aller Stille einzusperren. Sind die Leute in einem Raum untergebracht?“
„Ja – im Schlafraum Nummer drei …“
„Lassen Sie auch das Gepäck durchsuchen, Kapitän. Ihr Waffenvorrat dürfte angenehm ergänzt werden!“
„Und dann, Mr. Hortemer? – Sie verstehen von solchen Dingen offenbar mehr als ich, Sie waren ja auch Offizier …“
„Nein – niemals …“
Hortemer lächelte ganz wenig …
Coodler aber rief:
„Nicht?! Ja, was in aller Welt …“
Hortemer beugte sich vor …
„Im Vertrauen, Kapitän … Ich bin der Detektiv Harald Harst, und Doktor Schubrich ist mein Intimus Max Schraut. Unsere Namen dürften Ihnen nicht ganz fremd sein. Wir sind nach China unterwegs, um im Auftrage des Kohlenmagnaten Blendaboor dessen Tochter Lilian zu suchen …“
Coodler war so verblüfft, daß er den Mund immer weiter aufriß …
Dann stieß er ein „Unglaublich!“ hervor und fügt stotternd hinzu:
„Mr. Harst – das hätte … hätte ich nie vermutet!“
„Bitte, nicht Harst! Ich heiße Hortemer … Herbert von Hortemer …! Niemand darf ahnen, wer ich bin … Sonst ist Lilian Blendaboor verloren …“
„Sie lebt bestimmt noch?“
„Bestimmt, Kapitän … Sie hat in ihrer Verzweiflung schließlich doch ein Mittel gefunden, eine Flaschenpost ins Meer zu werfen … Hier – dies ist der Zettel, den die Flasche enthielt, die von dem englischen Kreuzer Skamander südlich der Paracelsinseln aufgefischt wurde.“
Er entnahm seiner Brieftasche ein zerknittertes Stück hellbraunen Packpapiers. Mit Bleistift war darauf folgendes geschrieben:
„Die Brigg Haggerstone wurde in der ersten Nacht nach der Abfahrt von Manila von chinesischen Piraten, drei Dschunken, überfallen. Ich, Lilian Blendaboor, Tochter von Lewis Blendaboor, Yorkshire, blieb am Leben und werde hier in einer künstlichen Höhle auf einem schroffen Vorgebirge gefangen gehalten. Näher kann ich den Ort nicht bezeichnen. Jedenfalls sehe ich von meinem Gefängnis aus nur das Meer, nie ein Schiff, keine Insel – nichts. Ich bin seit acht Tagen hier und flehe diejenigen, die diese Nachricht finden sollten, inständigst an, sie in aller Stille meinem Vater zu übermitteln, da mein Leben bedroht ist, falls die Piraten erfahren, daß ich die Flaschenpost ausgeworfen habe. Der Anführer dieser chinesischen Seeräuber ist ein buckliger, schwarzbärtiger Mensch, vielleicht kein Chinese.
Lilian Blendaboor.“
Harst-Hortemer schob das Papier wieder in seine Brieftasche …
Kapitän Coodler schüttelte ihm dann derb die Hand.
„Mr. Hortemer – jetzt ans Werk …! Bestimmen Sie, was geschehen soll … alles! Ich füge mich … Sie sind Fachmann in solchen Dingen … Sie haben nicht zum ersten Male mit Piraten zu tun … Ich kenne Ihre Abenteuer …“
„Sie wissen ja Bescheid … Ich muß aus dem Spiel bleiben – vollständig … – Sobald die Insel in Sicht ist, gebe ich Ihnen weitere Winke … Und: schweigen Sie!“
Dann schlüpfte er hinaus …
Rauchte eine Zigarette an und schlenderte zum Promenadendeck, wo Doktor Schubrich und Maon Mi noch immer die Mondnacht genossen …
Coodler begab sich auf die Brücke und flüsterte eine Weile mit Lickfort, dem Ersten Offizier.
Lickfort hatte fünf Minuten darauf vorn im Mannschaftslogis sämtliche Leute der Freiwache um sich versammelt – an die hundert englische Maate, alles erfahrene Männer, die jetzt begierig hinhorchten …
Und wieder fünf Minuten später war der Schlafsaal Nr. 3 im Zwischendeck von zwanzig Bewaffneten besetzt. Die drei Türen wurden verschlossen, alles Licht eingeschaltet und die gelbe Brut von den Lagerstätten aufgescheucht.
Die achtzig Kulis wagten keine Widerrede.
In ihrem Gepäck wurde außer Messern, Dolchen und fünf Revolvern nichts von Waffen gefunden.
Als Lickfort dies Ergebnis dem Kapitän meldete, meinte der etwas enttäuscht: „Hm – also Punkt eins stimmt nicht …! Mr. Hortemer hoffte auf ein kleines Waffenlager!“
„Das andere wird auch nicht stimmen, Kapitän …“ brummte der Erste Offizier, der diese ganze abenteuerliche Piratengeschichte von vornherein angezweifelt hatte …
„Na, warten wir ab,“ sagte Coodler ein wenig kleinlaut …
Und er nahm das lange Fernrohr wieder an die Augen und schaute gen Norden, wo in der Ferne bereits die zackigen Umrisse der Felseninsel Truro in der dämmerigen Beleuchtung der Tropennacht zu erkennen waren. –
Inzwischen hatten die drei Herren an der Reling Gesellschaft erhalten: auch einen Deutschen, den Oberlehrer Gotthart, einen Kollegen Edith Werners, der gleichfalls nach Japan unterwegs war – auch mit dreijährigem Vertrag für die Schule in Tokio.
Fritz Gottharts hier auf der Viktoria bereits sprichwörtliche Bescheidenheit kam jetzt bei der Unterhaltung mit Hortemer, Schubrich und Maon Mi abermals stark zum Vorschein.
Dabei war er äußerlich eine durchaus sympathische und keineswegs unbedeutende Persönlichkeit. Diesem Gesicht mit der modernen Hornbrille und den klugen Augen hatten Intelligenz und Herzensgüte einen klaren Stempel aufgedrückt.
Maon Mis scharfe Augen erspähten jetzt die ferne Insel, die lediglich als dunklerer Fleck in der verschwommenen Dämmerung hervortrat.
„Dort – – Truro!“ sagte der Chinese und hob den Arm. „In einer Viertelstunde haben wir festen Boden unter den Füßen …“
„Es wird auch Zeit!“ meinte Hortemer gähnend … „Dieses Luxushotel sinkt immer tiefer … Der Kielraum dürfte einem Badebassin gleichen …“
Fritz Gotthart, einer der Hunderte von Ahnungslosen hier auf der Viktoria, fragte den chinesischen Elegant überhöflich:
„Verzeihen Sie, Herr Maon Mi … Ich verstand Sie nicht ganz … Festen Boden unter den Füßen? Wir sind doch noch anderthalb Tagereisen von Hongkong entfernt.“
„Allerdings, Herr Gotthart …“ Um des Asiaten Lippen lag sekundenlang ein etwas geringschätziges Lächeln … „Wir fahren gar nicht mehr nach Hongkong, sondern nach einer entlegenen unbewohnten Insel …“
Dieses Lächeln Maon Mis galt nicht lediglich des Oberlehrers übergroßer Bescheidenheit, sondern auch ebenso sehr Fritz Gottharts schüchternen Versuchen, Edith Wenter den Hof zu machen.
Die gesamten Fahrgäste der ersten Kajüte hatten ja Gottharts Bemühungen um die schlanke blonde Schönheit miterlebt und – mitbelächelt. Und obwohl der chinesische Handelsherr aus Hongkong erst in Manila an Bord gekommen, hatte er doch sehr bald die Sachlage richtig durchschaut und seinerseits ebenfalls die junge deutsche Lehrerin mit respektvollen Aufmerksamkeiten umgeben.
Fritz Gottharts nüchterner, jeder Phantastik abgeneigter Denkweise waren diese Mitteilungen Maon Mis zunächst durchaus unglaubwürdig und mehr als ironischer Scherz erschienen. Ein fragender Blick in die Gesichter seiner Landsleute Hortemer und Schubrich aber bewies ihm sofort, daß hier tatsächlich für die Fahrgäste des Dampfers eine dringende und schwere Gefahr vorlag …
„So … so …“ sagte er nun mehr verlegen als ängstlich. „Also werden wir dort auf jener Insel wahrscheinlich warten müssen, bis …“
Hortemer unterbrach ihn. „Machen Sie sich deswegen keinerlei Sorgen, Landsmann … Lebensgefahr droht niemandem … Kapitän Coodler tat recht daran, den Passagieren die Notwendigkeit eines Anlaufens von Truro zu verschweigen. Es hätte eine Panik gegeben. So aber werden die Herrschaften heute früh erwachen und zu ihrer Überraschung dann erst sehen, daß die Viktoria in einer Bucht vor Anker gegangen oder – genauer ausgedrückt – auf Grund gesetzt worden ist.“
Fritz Gotthart hatte jetzt nur einen Gedanken: Edith Wenter …! – Er fürchtete, Edith würde, wenn sie die schlimme Lage der Viktoria erführe, vor Angst vergehen … – Zerstreut nur lauschte er der Unterhaltung der anderen Herren, immer wieder die Frage im stillen erwägend, ob er Fräulein Wenter nicht irgendwie vorbereiten könnte.
Inzwischen stampfte der bereits recht tief liegende Dampfer schwerfällig seinem Ziele zu. Wenn eine größere Woge nahte, tauchte er seine Nase bedenklich tief in die anstürmende Flut, und trotz der durchaus geringen Windstärke gingen zuweilen schwere Brecher über den Bug hinweg …
Die Insel Truro trat immer deutlicher hervor.
Und da war’s nun Hortemer, der Maon Mi beiläufig fragte:
„Ob es dort wohl überhaupt eine Bucht gibt, die wir anlaufen können?!“
Der chinesische Gentleman erwiderte, ohne den Blick von den dunklen Felsgestaden abzuwenden:
„Mir fällt soeben ein, daß eine meiner Handelsdschunken einmal vor einem Zyklon dort Zuflucht suchte und daß der Kapitän mir mitteilte, eine sehr bequeme Bucht befinde sich auf der Südseite … – Man müßte dies eigentlich Coodler mitteilen … Wollen Sie’s übernehmen, Herr von Hortemer? Ich möchte nicht gern die Brücke betreten …“
„Gut – machen wir!“ nickte der angebliche Journalist freundlich …
Und schlenderte davon …
Oben auf der Brücke wurde er von Coodler mit der Nachricht empfangen, daß die achtzig Kulis im Zwischendeck doch wohl harmlos seien … Man habe bei ihnen an Waffen so gut wie nichts gefunden.
Der Detektiv Harst merkte, daß Coodler bereits wieder recht sorglos geworden, fühlte auch, daß der Erste Offizier Mr. Lickfort hieran nicht ganz schuldlos war.
„Haben Sie auch die Lagerstätten durchsuchen lassen?“ wandte er sich an Lickfort. „Ich rate dringend dazu. Und – sofort!“
„Allerdings, daran habe ich nicht gedacht,“ murmelte Lickfort kleinlaut …
„Holen Sie es nach!“ befahl Coodler kurz.
Und Hortemer-Harst meinte noch: „Seien Sie vorsichtig! Wenn die Gelben merken, daß man es auf die Betten abgesehen hat, so werden sie vielleicht aufsässig werden …“
Der Erste Offizier eilte davon.
Hortemer erzählte nun, was Maon Mi soeben vorgeschlagen habe …
„Kommt mir sehr gelegen,“ erklärte Coodler. „Dann brauchen wir nicht erst die Insel umrunden …“
Der Detektiv schaute den Kapitän seltsam durchdringend an …
„Sie kennen Hongkong genauer, Mr. Coodler?“
„Und ob!“
„Haben Sie dort schon einmal den Namen Maon Mi gehört?“
„Des öfteren … Der Krösus von Hongkong, Mr. Hortemer!! Besitzt außerhalb der Stadt ein schloßartiges Haus … Jeder weiß dort, daß Maon Mi an die sechzig Handelsdschunken unterwegs hat – jeder …!“
Der Detektiv säuberte umständlich sein Monokel, das er nur jetzt als Hortemer zu tragen beliebte …
Er tat dies stets, wenn er, ganz im Gegensatz zu dieser harmlosen Tätigkeit seiner Hände, im Geiste mit schwerwiegenden Gedanken jonglierte …
Und meinte gedehnt:
„Haben Sie noch nicht darüber nachgedacht, Mr. Coodler, daß die Kulis und Maon Mi in Manila gleichzeitig an Bord kamen?!“
Das war keine Frage …
Das war so etwas wie eine versteckte Warnung …
Und der Engländer begriff’s auch sofort … Flüsterte hastig: „Glauben Sie etwa, daß Maon Mi …“
Da fiel Hortemer ihm mit Nachdruck ins Wort:
„Maon Mi hat gestern am Tage dreimal mit einem der Kulis gesprochen … Gewiß – dabei könnte nichts Besonderes sein – könnte! Aber wer die stolze Unnahbarkeit reicher Chinesen gegenüber ihren ärmeren Landsleuten kennt, muß sich wundern, daß Maon Mi sich bis zum Vorderdeck verirrte und dies dreimal!“
„Allerdings … allerdings …“
„Und wenn man die Möglichkeit ins Auge faßt, daß meine Kombinationen stimmen und daß wir auf Truro uns vielleicht werden verteidigen müssen, nachdem die Mine ihre Schuldigkeit getan hat, dann – dann dürfte vielleicht Maon Mis plötzliche Erinnerung an die Südbucht von Truro den Schluß zulassen, daß die Viktoria in seinem Interesse dort einlaufen soll …“
Coodler nagte die Unterlippe …
„Hm – Sie haben eine besondere Art, einem Gespenster zu zeigen, Mr. Hortemer!“
„Womit ich nur eine selbstverständliche Pflicht als Warner erfülle …“
Da kehrte der Erste Offizier auch schon auf die Brücke zurück. Ein ironischer Blick traf Hortemer …
„Nichts!“ sagte er … „Auch nicht mal ein Messer! Absolut nichts, Mr. Hortemer.“
Der Detektiv erwiderte kühl:
„Sie werden anders denken lernen, Lickfort …“
Coodler, der vielleicht einen Wortwechsel befürchtete, meinte ärgerlich:
„Mr. Hortemer hat noch mehr Gründe, den Kulis nicht zu trauen … – Geben Sie dem Rudermann den Befehl, auf die Südseite der Insel zuzuhalten …“
Lickfort trat an den das Steuerrad bedienenden Matrosen heran. Der halbe Rüffel des Kapitäns ärgerte ihn schwer. Seines Erachtens war dieser Deutsche nichts als ein unleidlicher Wichtigtuer.
Coodler und Hortemer schwiegen und schauten nach der Insel aus.
Der Dampfer wendete und lief noch schwerfälliger weiter …
Der Kapitän benutzte sein Fernrohr und hatte auch bald eine breite Einfahrt bemerkt …
„Stimmt – da ist eine Bucht,“ sagte er zu dem Detektiv … Und rief dem Ersten Offizier zu:
„Lassen Sie loten, Lickfort … Und die Scheinwerfer an …! Die Bucht dort scheint wirklich tief ins Land einzuschneiden.“
Wieder drehte die Viktoria den Bug nach links, kam nun in stilles Wasser unter Wind der Insel und näherte sich der Einfahrt mit stark verringerter Maschinenkraft.
Vorn an den Ankerwinden blitzte jetzt der Scheinwerfer auf …
Der blendende Lichtkegel zeigte links von der Einfahrt eine schroffe Halbinsel, ein steiles Vorgebirge …
„Kap Tschi-Lao nach der Seekarte,“ meinte Coodler zu Hortemer.
„Und das heißt auf deutsch oder englisch?“ fragte der Detektiv.
„Kap der Seemöwen … Sie sehen ja auch, welche Unmenge von Vögeln unser Scheinwerfer aufgescheucht hat …“
Der Deutsche hatte Coodlers Fernrohr an das rechte Auge geführt …
Und im selben Moment rief Lickfort:
„Dort oben … ein Tier – ein Löwe … – oder … ein großer Hund …“
Auch der Detektiv hatte das Tier bemerkt …
Konnte sich jedoch über dessen Natur nicht schlüssig werden, da das zottige Geschöpf urplötzlich verschwand.
„Merkwürdig,“ meinte Coodler. „Wie kommt ein Hund auf die Insel – falls es einer war!“
Lickfort rief mit besonderem Lachen:
„Vielleicht gar ein Gespenst mit vier Beinen …!!“
Und dieser Spott galt fraglos dem Deutschen.
Hortemer beachtete diese neue Anrempelung nicht weiter.
Ein leises Lächeln spielte sogar um seinen Mund.
Und mit noch offenkundigerer Ironie sagte er nun einerseits:
„Man soll nichts verrufen, Mr. Lickfort. Es gibt auch vierbeinige Gespenster besonderer Art … Ich habe auch in dieser Beziehung meine Erfahrungen!“
„Vom Schreibtisch her!“ meinte der Erste Offizier bissig. „Schon möglich, daß Sie mal über derlei Dinge einen Sensationsartikel geschrieben haben …“
„Sensationen pflege ich zu erleben Mr. Lickfort … Und damit auch Sie endlich wissen, daß ich kein eingebildeter Tropf bin: mein Name ist Harst, Harald Harst … Und er dürfte Ihnen nicht ganz unbekannt sein. – Schweigen Sie jedoch hierüber, wenn ich bitten darf …“
Und ohne sich um Lickforts in dieser maßlosen Verblüffung wenig geistvolles Gesicht weiter zu kümmern, verließ er eiligst die Brücke und gesellte sich den drei Herren auf dem Promenadendeck wieder zu.
Hier hatte man die seltsame Tiererscheinung oben auf dem Kap genau so angestaunt wie dies Coodler, Lickfort und Hortemer getan hatten …
Nur daß Doktor Schubrich-Schraut Gelegenheit gehabt hatte, eine sehr merkwürdige Entdeckung zu machen, die den eleganten Maon Mi betraf …
Als dieser, durch einen Zuruf Fritz Gottharts aufmerksam gemacht, die schroffe Felswand emporgeblickt hatte, war er sichtlich betroffen zusammengezuckt, und seine schmalen Lippen hatten sich wie in jäh aufsteigender Wut so fest aufeinandergepreßt, daß der Mund nur mehr eine kaum sichtbare Falte bildete …
Wie nun Hortemer neben den an der Reling Stehenden erschien, war Schubrich wie zufällig dem angeblichen Korrespondenten einen Schritt entgegengegangen und hatte blitzschnell geflüstert: „Achtung – – Maon Mi – – der Hund!“
Der Detektiv verstand diese Andeutung seines Freundes und fragte den Chinesen, ob er denn ebenfalls das Tier dort oben gesehen habe …
„Gewiß, Herr Hortemer … – Wofür hielten Sie es denn?“
„Für einen sehr großen gelblichen Hund, vielleicht eine Spielart von Bernhardiner …“
Maon Mi lächelte krampfhaft …
Und – merkwürdig! – genau wie Lickfort meinte er dann: „Es müßte gerade ein Gespensterhund sein, Herr Hortemer … Truro ist unbewohnt … Wie soll ein Hund hierher geraten?!“
„Oh, bitte: Schiffbrüchige!“
„Und die würden sich mit einem Hunde behängen, wo sie Not genug gehabt haben dürften, das nackte Leben zu retten?! – Nein, Herr Hortemer: ich bleibe dabei, daß es keine Erscheinung von Fleisch und Blut war. Sie als Europäer weisen ja freilich alles grundsätzlich ab, was etwa über die nüchterne Logik erprobten Gelehrtentums geht – so auch alles Übersinnliche …“
„Verzeihung – mit nichten, Herr Maon Mi … Gerade ich glaube sogar bestimmt an gewisse übersinnliche Einflüsse, die unser Tun und Lassen gleichsam regieren. Ich habe in Indien zum Beispiel Dinge erlebt, die jeder exakten Wissenschaft spotten und doch … Tatsachen waren …“
Der Dampfer befand sich jetzt bereits zwischen den Klippenreihen, die die Einfahrt in die Bucht drohend umsäumten.
Der Scheinwerfer beleuchtete grell die Fahrrinne, und vorn am Bug der Viktoria paßten scharfe Matrosenaugen auf Riffe und Untiefen auf …
Man konnte jetzt ein Stück in die von steilen Felswänden umrahmte Bucht hineinschauen …
Und plötzlich nun nahm Maon Mi eine Zigarette aus seinem goldenen Etui und rieb ein Sturmzündholz an, das grell und zischend aufflammte.
Hortemer warf da seinem Freunde einen besonderen Blick zu …
Der arglose Oberlehrer aber sagte erstaunt: „Das Zündholz leuchtet ja wie eine – eine Leuchtkugel, Herr Maon Mi …“
„Oh – ein Sturmzündholz, Herr Gotthart …“
Er warf es über Bord – in weitem Bogen …
Und es erlosch erst im Wasser …
Wieder schauten sich Hortemer und Schubrich vielsagend an …
Der Chinese rauchte und meinte harmlos:
„Nun sind wir in Sicherheit …“
„Hoffen wir’s,“ seufzte der Oberlehrer in Gedanken an Edith Wenter.
Und der angebliche Doktor Schubrich fügte hinzu:
„Es sei denn, daß das vierbeinige Gespenst uns belästigt …!“
Maon Mi verzog das undurchdringliche Asiatengesicht zur Fratze …
Eine Sekunde nur …
Glaubte wohl, daß niemand ihn beobachte …
Und ruhig und langsam lief die schwerverwundete Viktoria in den schützenden Naturhafen ein …
Die Bucht wurde sehr bald breiter … Und mitten an dieser breitesten Stelle ragte da aus dem stillen Wasser ein Haufen von Felstrümmern empor – ein Inselchen …
Kapitän Coodler steuerte darauf zu …
Der Dampfer schlich nur noch vorwärts …
Dann – und Maon Mi schaute diesem tadellosen Manöver erstaunt zu – wurde die Viktoria zwischen zwei mächtigen klippenartigen Ausläufern des Inselchens wie in einen Schraubstock eingekeilt …
Knirschend und kreischend rieb sich das Felsgestein an den Planken des lecken Dampfers …
Der Kiel schrammte über steinigen Grund hinweg …
Noch ein Ruck, und der Dampfer lag still …
Dieses letzte Erzittern des gewaltigen Schiffsleibes mußte die schlafenden Fahrgäste notwendig aus den Kojen scheuchen …
Kapitän Coodler schickte sofort ein paar Stewards aus, die jedem verbieten sollten, die Kabinen zu verlassen.
Und gleichzeitig erschienen nun auch auf den Decks des schwimmenden Luxushotels bewaffnete Matrosen …
Gleichzeitig trat Lickfort, genau wie zwischen Hortemer und dem Kapitän verabredet, an die vier Herren heran …
„Befehl Mr. Coodlers: die Passagiere bleiben in ihren Kabinen! Wollen die Herren sich also hinab bemühen …“
Maon Mi hatte die Matrosen flüchtig gemustert … Etwas wie Unruhe flackerte in seinen Augen …
Er folgte Hortemer und Schubrich, ohne ein Wort zu verlieren. Ihre Kabinen lagen nebeneinander. Gotthart war an der Backbordseite untergebracht.
Bevor Hortemer die Tür der Schiffskammer schloß, in der er zusammen mit Schubrich wohnte, wandte er sich an den Hongkong-Kaufmann:
„Was mag da eigentlich los sein?! Die Leute hatten Gewehre und Revolver … Alles ganz kriegerisch …“
Maon Mis finsteres Gesicht verschwand im Dunkel der Kabine …
Aus dem Dunkel kam die Antwort:
„Ich weiß es nicht … Mir auch gleichgültig, Herr Hortemer …“
Und seine Tür fiel zu …
Auch die der beiden Deutschen …
Nur daß diese jetzt lautlos den Gang wieder hinabeilten – an Deck – auf die Brücke …
Die Viktoria hatte wie mit einem Schlage jetzt fast festlich illuminiert …
Alle Decklampen waren eingeschaltet …
Eine Flut von Licht ergoß sich über die beiden Felsen, zwischen denen die Viktoria eingekeilt war …
Über das Inselchen …
Über die steilen Buchtwände …
Und der Scheinwerfer leuchtete in langsamer Drehung jeden Winkel ab …
Die Matrosen aber kauerten hinter der Reling …
Fast zweihundert argwöhnische Augen spähten nach Feinden aus … –
Nur auf der Brücke standen die, denen es jetzt oblag, das Leben der Fahrgäste zu schützen …
Coodler, Hortemer, Schubrich und Lickfort hatten Ferngläser an den Augen …
Wenn der Lichtkegel des Scheinwerfers an einer Stelle längere Zeit klebte, prüften diese bewaffneten Augen die düsteren Felsmassen, um rechtzeitig die Vorbereitungen chinesischer Heimtücke zu erkennen.
Lickfort freilich hatte nur zu schnell vergessen, daß ein Harst hier die Lage bedrohlich fand …
Lickfort war’s, der nun nach etlichen Minuten meinte:
„Wer will uns hier angreifen?! Die Planken der Viktoria bestehen aus Eisen, die Reling desgleichen … Der Dampfer ist eine Festung, die …“
John Lickfort sollte in diesem Dasein den Mund nie mehr auftun …
Eine Kugelsaat war jäh über die Brücke hinweggefegt …
Klatschend schlugen die Geschosse gegen die Eisenteile – zersplitterten … Lickfort sank wie ein Klotz nach vorn …
Detektiv Harst fing ihn auf, legte ihn sanft nieder und warf sich dann selbst der Länge nach hin …
Coodler brüllte irgend etwas …
Seine Stimme wurde halb erstickt von der wilden Wut des echten Briten ob solcher Frechheit, ein englisches Schiff mit Maschinengewehren zu befeuern …
Dann nochmals derselbe Befehl:
„Licht aus …!!“
Und im selben Moment stobte[4] auch über den Bug ein Kugelhagel hernieder …
Die beiden Maate am Scheinwerfer waren getroffen. Die Linse ging in Scherben …
Aus den Kehlen der Besatzung schwoll ein ingrimmiges Gebrüll zum nächtlichen Himmel empor …
Und jäh erloschen all die elektrischen Lampen … –
Coodler kroch zu Harst, flüsterte keuchend:
„Ist Lickfort tot?“
„Ja – Kopfschuß … – Schicken Sie je zehn Leute auf die flachen Spitzen der beiden Felsen … Mögen die Leute dort aus Steinen Kugelfänge errichten … Ich fürchte …“
Und – ihm erstarb das Wort im Munde …
Vom Vorschiff her ein wahnwitziges Geheul – Schüsse – Schreie – ein Lärm, der mit jeder Sekunde anwuchs.
„Die Zwischendeck-Chinesen – – die Kulis …!!“ stammelte Coodler …
Harst meinte ärgerlich: „Dann haben Ihre Wachen schlecht aufgepaßt, haben sich überrumpeln lassen …“
Und er erhob sich …
Die knatternden Schüsse von den Uferwänden waren verstummt …
Dunkel war’s auf den Decks …
Nur vom Bug bellten noch die Revolver, heulten Stimmen auf …
Drei Gestalten schlüpften die Treppe zur Brücke empor: Schubrich-Schraut, der Oberlehrer Gotthart und Maon Mi …
Harst hatte noch gerade Zeit, dem Kapitän zuzuflüstern: „Vorsicht – kein Wort zu dem Chinesen!“
Da rief Schraut schon: „Die Matrosen haben das gelbe Gesindel bereits wieder zurückgedrängt … Ein paar der Kerle sind ins Wasser gesprungen …“
Maon Mi, im Dämmerlicht des tropischen Nachthimmels sich über das Geländer der Brücke beugend, starrte hinab in das leicht schimmernde Wasser der Bucht …
„Dort erkennt man ein paar Köpfe,“ meinte er gleichmütig. „Weshalb haben denn die Kulis gemeutert?!“ Und er wandte sich Coodler zu …
Der Kapitän konnte sich trotz Harsts Warnung nicht länger beherrschen …
„Schuft – gelber Schuft!!“ brüllte er, und in seiner Hand blinkte der Revolver … „Du weißt das besser als wir …! Die Komödie ist ausgespielt – endgültig! Packen Sie zu, meine Herren … Binden Sie den Halunken …!“
Maon Mis dünne Augenbrauen hatten sich wie erstaunt hochgezogen …
Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht …
Dieses Mongolenantlitz war jetzt eine scheußliche Maske hohnvollster Tücke …
Seine Blicke glitten über die anderen drei Europäer hin …
Der Detektiv Harst meinte achselzuckend:
„Das war ein schwerer Fehler, Mr. Coodler … Niemals hätten Sie zur Unzeit unseren größten Trumpf ausspielen dürfen …“
Und zu Maon Mi:
„Sie sind unser Gefangener … Wir werden ja sehen, ob Ihre Leute ihr Leben opfern …“
Und schärferen Tones: „Strecken Sie die Hände vor!“
Maon Mi stand an der Backbordseite der Brücke …
„Bitte!“ meinte er eisig …
Hob die Arme …
Und – – schlug zu …
Coodlers Revolver flog davon …
Der Chinese aber hatte sich blitzschnell nach hinten über das Brückengeländer geworfen – fiel so hinab ins Wasser … klatschte unten schwer auf …
Im Nu war Harst hinterdrein gesprungen …
Schoß in die Flut – arbeitete sich empor, sah schräg vor sich den Kopf des mit kraftvollen Schwimmstößen fliehenden Chinesen …
Aber – der Detektiv war der Gewandtere, Schnellere.
Rücksichtslos packte er Maon Mi beim Genick, schlug mit der anderen Faust zu – ein Hieb gegen die Schläfe, der den Gelben für Sekunden lähmte …
Ein Tau flog schon von der Brücke hinab. Schraut kam dem Freunde zu Hilfe, glitt abwärts …
Und drei Minuten später lag Maon Mi eng gefesselt in der Kapitänskajüte.
Harst eilte zum Vorschiff …
Drei, vier Tote … Verwundete auch, stöhnend, sich krümmend …
An der Treppe zum Zwischendeck der zweite Offizier Mr. Armstrong …
„Wie steht’s?“ fragte der Detektiv …
„Sind wieder eingesperrt, die Schufte … Hatten doch Waffen, Mr. Hortemer … Sechs von unseren braven Leuten sind tot …“
„Bringen Sie mich bitte hinab zu den Chinesen – im Auftrag des Kapitäns, Mr. Armstrong …“
Unten in den Gängen zwischen den Schlafsälen der Zwischendecker lagen Blutlachen … Der männliche Teil der Zwischendecker hatte sich erfolgreich am Kampfe beteiligt gehabt. Da waren auch sechzig Arbeiter einer englischen Firma, die in Hongkong ein neues Dock bauen sollten … Und diese sechzig hatten zum Glück Revolver und Repetierpistolen bei sich gehabt …
Man hatte den Kulis übel mitgespielt. Es lebten nur noch etwa fünfzig von ihnen, und die hockten nun in einer Ecke des Schlafsaales Nr. 3 dicht nebeneinander, wurden von einem Teil der Arbeiter bewacht.
Die Toten lagen in der anderen Ecke – ein Anblick, der selbst dem Detektiv etwas an die Nerven ging …
Harst fragte die jetzt angstvoll zusammengeduckten Piraten, ob einer von ihnen englisch verstehe.
Drei erhoben sich …
„Kommt mit!“ befahl er …
Er brachte sie in die Kapitänskajüte vor den gefesselten Maon Mi …
Und hier sagte er zu ihnen: „Ihr seht, daß Euer Anführer entlarvt und in unserer Gewalt ist. Sobald wir nochmals beschossen werden, stirbt Maon Mi … Nun geht und meldet dies Euren Freunden.“
Die drei starrten Maon Mi unausgesetzt an.
Dann erklärte der eine:
„Das ein Fremder sein, Mister … Den Mann wir nicht kennen …“
Und ein anderer meinte:
„Das sein Maon Mi aus Hongkong … Nicht unser Kapitän, Mister … Bestimmt nicht …“
Harst war auf Ähnliches vorbereitet.
„Schraut, nimm ihm seinen Kabinenschlüssel ab …“ sagte er zu seinem treuen Begleiter.
Und zu Coodler: „Dieser Irrtum wird sofort aufgeklärt werden …“
Maon Mis Augen spotteten … Sein ganzes Gesicht höhnte …
„In Hongkong werden Sie mich um Verzeihung bitten,“ meinte er eisig …
Der Detektiv und sein Freund verließen mit dem Kabinenschlüssel die Kajüte.
Als sie den Backbordkabinengang durchschritten, trat ihnen Edith Wenter entgegen …
„Ich halte es nicht mehr in meiner Schiffskammer aus, Herr Harst … Was geht vor?! Ich …“
Harst stutzte leicht.
„Woher kennen Sie meinen wahren Namen?“ fragte er überrascht.
„Durch ein Bild in der Monatsschrift „Aus aller Welt“ …“
„Gut, kommen Sie mit …“
Er hatte es eilig … –
Die meisten Kabinentüren waren ein wenig geöffnet. Ängstliche, verstörte Gesichter lugten heraus … Die Schüsse an Deck, das Geschrei der Kämpfenden und das Ungewisse der Lage hatten selbst den Mutigsten die Gefahren bis ins Ungemessene gesteigert.
Von allen Seiten wurden die Herren Hortemer und Doktor Schubrich angerufen.
Der Detektiv Harst beruhigte die Gemüter durch ein paar aufmunternde Worte.
Dann verschwanden die beiden Deutschen und Fräulein Wenter in Maon Mis Kabine.
Edith Wenter sah mit Staunen, daß Harst die beiden Koffer des Chinesen öffnete und den Inhalt rücksichtslos auf das Bett warf.
Er schien jedoch nicht zu finden, was er suchte.
So hob er denn nun erst den einen leeren Koffer empor und schüttelte ihn kräftig.
„Aha – also doch!!“
Und er nickte Schraut-Schubrich schmunzelnd zu. – Der Koffer hatte einen doppelten Boden!!
Und in diesem Versteck lagen nicht nur eine schwarze, ziemlich langhaarige Perücke und ein ebenso fein gearbeiteter falscher schwarzer Vollbart, sondern auch ein schmieriger dunkelblauer Leinenanzug sowie vier moderne Repetierpistolen nebst sechs Schachteln Patronen und – ein seltsames Kissen mit Lederriemen …
Dieses Kissen hob Harst empor …
Sagte: „Maon Mis Buckel!! – Und bucklig ist der Pirat, der Miß Lilian Blendaboor raubte …“
Edith Wenter erschauerte …
„Mein Gott – wirklich Maon Mi?!“
Und sie dachte mit Entsetzen daran, daß der elegante Asiate ihr ebenfalls den Hof gemacht und sich immer wieder an sie herangedrängt hatte …
Harst packte die Sachen aus dem Kofferversteck in Maon Mis Reisetasche und meinte:
„So, nun werden wir den chinesischen Gentleman seinen Leuten in anderer Aufmachung zeigen …“
Als die drei in der Kapitänskajüte wieder erschienen, hatte Coodler inzwischen die Kulis nach allem Möglichen ausgefragt.
Die Antworten hatten ihn jedoch wenig befriedigt. Entweder wußten die Kerle tatsächlich nichts, oder sie verstanden das Lügen glänzend.
Harst verschloß jetzt die Kajütentür und zeigte dann Coodler den merkwürdigen Inhalt der Reisetasche.
Der Kapitän lachte drohend auf …
„Doch der Pirat …!! – Legen wir ihm die Maskerade an!“
Maon Mi, der auf dem Rohrsessel neben dem Schreibtisch Coodlers saß, wehrte sich nicht weiter …
Kaum hatte der deutsche Detektiv ihm die Perücke übergezogen und den Bart befestigt, als die drei Kulis – die sehr wohl wußten, um was es sich handelte – wie in einem Atem riefen:
„Auch das nicht unser Admiral sein …!“
Diese prompte Verneinung war denn doch zu auffällig.
Harald Harst trat dicht vor die drei hin …
„Ihr wollt nichts verraten …! Nun gut … Jedenfalls wird einer von Euch jetzt die Viktoria verlassen und Euren Freunden melden, was Ihr hier gesehen und was wir über diesen Euren Landsmann da beschlossen haben! Der erste Schuß auf den Dampfer kostet Maon Mi das Leben!“
Die Kulis verharrten bei ihrer Behauptung …
Was den Detektiv zu der Bemerkung veranlaßte:
„Ihr habt vor Eurem Piratenadmiral anscheinend mehr Angst als vor dem Galgen …!“
Dann bestimmte er den Jüngsten der drei zum Boten.
Die beiden anderen wurden wieder in den Zwischendeckschlafsaal zurückgeführt.
Der Bote kletterte an einem Tau von der Reling ins Wasser und schwamm rasch nach der kleinen Felseninsel hinüber, wo er zwischen den Steinmassen in der Dunkelheit verschwand. –
Inzwischen hatte Mr. Armstrong, der zweite Offizier der Viktoria, die Verwundeten durch den Schiffsarzt verbinden lassen und auch sonst wieder an Deck Ordnung geschaffen. Der Scheinwerfer war durch einen anderen ersetzt worden, und die englischen Arbeiter hatten sich ihrerseits bereitwilligst unter den Befehl der Schiffsoffiziere gestellt.
Maon Mi blieb in der Kapitänskajüte, wo zwei Mann ihn bewachten. Er hatte seine hochfahrende Miene beibehalten, und seine Augen begegneten denen der Europäer stets mit offensichtlichem Spott.
Eine kurze Beratung im Speisesaal zwischen den deutschen Detektiven und Coodler sowie Armstrong, Gotthart und Edith Wenter führte noch zu weiteren Vorbereitungen und Anordnungen.
Edith und Gotthart sollten die gesamten Kajütenpassagiere in den Speisesaal rufen. Da es zu gefährlich war, das Deck zu passieren, mußten die Damen und Herren sich von den Stewards durch sonst verbotene Türen geleiten lassen.
Während dann Coodler hier den Fahrgästen die Sachlage schilderte und die männlichen Kabineninsassen bat, sich gleichfalls zur Verteidigung des Schiffes zur Verfügung zu stellen, während Mr. Armstrong dasselbe im Zwischendeck mit bestem Erfolge tat, hatten Harst und Schraut, begünstigt durch eine einzelne, Mond und Sterne für Minuten verhüllende Wolke, in tiefster Dunkelheit die Viktoria verlassen und waren auf den östlichen der beiden Felsblöcke geklettert, zwischen denen der Dampfer eingekeilt lag.
Sie hatten ein langes Seil mitgenommen und wollten zu der kleinen Insel hinüber, die durch eine Reihe niederer Klippen mit dem Felsblock verbunden war.
Die Freunde, jetzt allein auf sich angewiesen, gingen auf Grund ihrer vielfachen Erfahrungen mit der allergrößten Vorsicht zu Werke, da sehr wahrscheinlich das Felseneiland von den Piraten bereits besetzt war.
Gerade als sie die Klippenreihe glücklich hinter sich und den steinigen schmalen Inselstrand erreicht hatten, trat der Mond hinter der ziehenden Wolke wieder hervor …
Sofort schmiegten sie sich zwischen das Geröll und krochen nun auf allen vieren in einer schrägen Spalte der Uferwand höher und höher.
Diese Uferwände hatten stellenweise eine Höhe von zwanzig Meter und waren nicht viel niedriger als die Küstenbildung der Bucht.
Kaum hatte Harald Harst nun als erster die Uferhöhe erreicht, als er zu seiner Überraschung feststellen mußte, daß die Insel im Innern einen tiefen Kessel von etwa vierzig Meter Durchmesser bildete und daß der Ring der Uferwände kaum einige Meter breit war.
Seine Überraschung war jedoch freudiger Art. Hatte er doch zusammen mit Schraut lediglich erkunden wollen, ob die Insel sich nicht vielleicht zur Verteidigung besser eigne als die Viktoria, die von den Buchtufern aus nur zu bequem völlig unter Feuer genommen werden konnte, so daß selbst die Reling wenig Schutz gegen Kugeln bot.
Auch Schraut fand die Insel infolge ihrer besonderen Form für außerordentlich günstig zu kräftigem Widerstand.
Die Freunde bewegten sich jetzt oben auf dem Rande dieser mächtigen Felsenschüssel ebenso vorsichtig weiter und hatten so das Eiland in kurzem umrundet.
Es war von den Piraten noch nicht besetzt worden.
Daher gab Harst jetzt mit seiner Taschenlampe nach der nur zwanzig Meter entfernten Viktoria die mit Coodler vereinbarten Zeichen, woraufhin fünfzig Männer, darunter zwanzig mit Gewehren bewaffnete, eilends zur Insel hinüberkamen und zwei starke Stahltrossen mitbrachten, deren eines Ende an dem Vordermast des Dampfers befestigt war. Die dann straff gespannten Stahltaue sollten zum Hinüberschaffen von Proviant und anderem mittels Gleitrollen dienen.
Die Piraten störten diese Besetzung des Eilandes in keiner Weise, wie man denn überhaupt noch niemanden der gelben Seeräuber an den Buchtufern zu Gesicht bekommen hatte.
Inzwischen war, ebenfalls auf Harsts Vorschlag, auch die Motorbarkasse der Viktoria zu Wasser gebracht und mit sechs erlesenen Leuten bemannt worden. Die Barkasse sollte die Bucht zu verlassen suchen und Hilfe herbeiholen.
Nachdem Harst und Schraut von der Insel zurückgekehrt waren, wo jetzt der englische Lord Motterby als früherer Kapitän der Kriegsmarine den Oberbefehl übernommen hatte, gab der deutsche Detektiv den sechs wackeren Leuten der Barkasse noch allerlei Verhaltungsmaßregeln.
Dann schoß das lange gedeckte Motorboot mit vollster Kraft seiner Maschine in die Bucht hinaus und steuerte der Einfahrt zu.
Doch jetzt zeigte sich, daß auch die Piraten auf der Insel trotz ihrer Unsichtbarkeit nicht müßig gewesen und die Zeit ebenfalls schlau ausgenutzt hatten.
Denn – ein lautes Splittern und Krachen und ein ruckartiges Halten der Barkasse bewies den Beobachtern auf der Viktoria, daß die Einfahrt offenbar durch verankerte Balken oder dergleichen von den Seeräubern gesperrt worden war.
Harst und Coodler erkannten durch ihre Ferngläser, wie das Motorboot jetzt rasch wegsank und wie die sechs Mann Besatzung schwimmend wieder auf die Viktoria zuhielten.
Die Hoffnung, durch die Barkasse Hilfe herbeirufen zu können, war also zunichte geworden.
Harald Harst legte dem eine greuliche Verwünschung ausstoßenden Coodler die Rechte schwer auf die Schulter.
„Kapitän – jetzt heißt es: Hilf Dir selber! Jetzt sind wir allein auf uns angewiesen, wenn wir hier lebendig wieder wegkommen wollen!“
Und Coodler reichte ihm da die Hand, preßte sie wie im Schraubstock …
„Mister Harst, ein Hundsfott will ich sein, wenn ich je wieder ein schlechtes Wort auf einen Deutschen münze! – Ans Werk! Von uns beiden hängt letzten Endes Leben und Tod von über achthundert Menschen ab!“
Sie standen auf der Kommandobrücke, als sie so gleichsam ein heiliges Versprechen leisteten, alles zu tun, was in ihren Kräften lag, um die raubgierigen Pläne der gelben Brut zuschanden zu machen …
Und da war’s, daß Max Schraut und Oberlehrer Fritz Gotthart denselben Kuli wieder die Treppe emporführten, den man als Unterhändler ausgeschickt hatte.
Der Chinese trat jetzt ganz anders auf …
Es war ein jüngerer Bursche mit äußerst verschmitztem Gesicht …
Patzig stellte er sich vor Coodler hin …
„Well, Master, da sein Kuang wieder …“
Coodler biß sich vor Grimm auf die Lippen … Aber er beherrschte sich, da Harst ihm warnend zuwinkte …
„Was bringst Du?“ fragte der Kapitän grollend …
Nur verschwommen war Kuangs Gesicht und das freche Grinsen zu erkennen …
„Maon Mi sein unser Admiral,“ erklärte der Kuli kurz. „Ihr ihn herausgeben sollt … Sonst wir töten weiße Miß Lilian Blendaboor …“
Coodler keuchte vor Wut …
Harst griff rasch ein …
„Höre mal zu, Kuang – genau zu … – Wer ist diese weiße Miß?“ – Er stellte sich absichtlich völlig unwissend.
„Miß sein von gekaperte Schiff vor sechs Monate … Miß sein hier gefangen. Also Ihr ausliefern werdet Maon Mi und alle unsere Landsleute, auch die Toten – alle … Sonst Miß werden erst Geliebte von Unteradmiral und dann tot …“
Eine ungeheure eisige Bestialität lag in diesen Worten. Eine so abschreckende Grausamkeit, daß Fritz Gotthart ausrief: „Sind das noch Menschen?!“
Harst schien zu überlegen …
Dann zog er seine Uhr und erklärte:
„Es ist jetzt ein Uhr morgens. Bis drei Uhr wünschen wir Bedenkzeit … Und bis drei Uhr müssen alle Feindseligkeiten unterbleiben …“
Kuang nickte. „Gut so, Master … Zwei Stunden … gut so … Kuang Unteradmiral sagen Bescheid.“
„Halt – noch etwas,“ meinte der deutsche Detektiv. „Wenn die gegenseitige Auslieferung erfolgt ist, was dann?“
Wieder flog ein abscheuliches Grinsen über Kuangs Gesicht …
„Dann jede Partei tun kann, was will – jede! Dann wir erobern den Dampfer …“
„Du bist wenigstens in diesem einen Punkte ehrlich, Kuang … Also – dann Kampf bis aufs Messer!“
„Oh – nicht viel Kampf, Master … Wir haben alles, Euch zu zwingen zur Übergabe … Admiral sein kluger Anführer, viel gelernt von Europäer … Haben Granaten mit giftige Luft und Geschütze, Master.“
Selbst Harst verstummte da für Sekunden …
Er ahnte, daß Kuang nicht log, daß es sich hier nicht um leere Drohungen handelte …
Und doch bewahrte er Haltung, meinte achselzuckend:
„Wir werden ja sehen … – Verschwinde nun, Kuang …“
Gleich darauf schwamm der Kuli wieder davon.
Die auf der Brücke Zurückbleibenden verharrten in Schweigen …
Der deutsche Detektiv zündete sich eine Zigarette an. Sein Freund Schraut trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf dem Kompaßgehäuse.
Harst rauchte und schaute zum nächtlichen Himmel empor …
„Nach zehn Minuten ist der Mond hinter den Buchtufern verschwunden,“ meinte er bedächtig. „Dann wird es so dunkel sein, daß man es wagen kann … – Ziehen wir also unsere dunkelgrauen Sportanzüge an,“ wandte er sich an Schraut.
„Sie beabsichtigen?“ fragte Gotthart atemlos …
„Einen Ausflug nach dem Piratenlager, Landsmann. Also eine Erkundung der Freibeuterinsel und – – eine Vernichtung der gefährlichen Munition …“
„Der Gasgranaten?“ rief Coodler leise.
„Ja, es muß sein …“
„Ein gefährliches Unterfangen, Mister Harst.“
„Nicht so schlimm, wie Sie denken … Schraut und ich haben es schon mit ärgeren Gegnern zu tun gehabt.“
Und zu Schraut:
„Ziehen wir uns um …“
Harsts kaltblütige Ruhe verfehlte ihre Wirkung nicht.
Coodler brummte: „Zum Teufel – Sie beschämen uns, Mister Harst! – Sollen die Frauen und die älteren Passagiere nun wirklich nach dem Inselchen hinübergeschafft werden?“
„Ja – sofort!“
Und er und sein Freund gingen in ihre gemeinsame Kabine hinab.
Hier packten sie den einen Koffer Harsts zur Hälfte aus …
Hier traten nun Schminken und Perücken in Wirksamkeit …
Hier entstanden aus zwei Europäer Gesichtern echte Mongolenvisagen mit hängenden Schnurrbärten, Schlitzaugen und braungelber Haut …
Hier bewiesen die beiden Berühmtheiten wieder einmal, daß ihre Kunst der Verkleidung mit ihren sonstigen Eigenschaften sich die Wage hielt. –
Als der Mond dann untergegangen, als das Sternenlicht die Bucht nur matt schillern ließ und der bereits in leichten Stößen bemerkbar werdende Morgenwind die Oberfläche des Wassers strichweise kräuselte, da schwammen zwei Männer, von denen jeder ein Bündel Kleider auf dem Kopfe als flache Haube festgebunden hatte, dem Nordufer der Bucht zu, wo eine Unmenge Klippen schmale Wasserstraßen bildeten.
Zwischen diesen Klippen tauchten die Schwimmer unter …
Diese beiden mutigen Deutschen, die hier ihr Leben wagten – ohne Zaudern …
Zwei Deutsche freilich, die schon oft bewiesen hatten, daß es für sie das Wort Unmöglich nicht gab … –
Harst und Schraut waren jetzt noch vorsichtiger als vorhin beim Betreten des Schüsseleilandes …
Kaum am Ufer angelangt, duckten sie sich hinter Steine und verharrten wohl fünf Minuten lang ohne jede Bewegung …
Dann erst krochen sie einer Schlucht zu, die sie sehr bald oben auf das Plateau brachte. Sie hofften jetzt bestimmt, nicht bemerkt worden zu sein …
Und hier oben legten sie nun die mitgebrachten Kulianzüge im Schutze einer Felsgruppe an …
Glichen vollkommen dann ein paar von jenen Freibeutern, die als harmlose Plantagenarbeiter in Manila an Bord gekommen …
Und begannen so die Streife durch die Insel, immer noch vorsichtig, und doch auch darauf bedacht, sich nicht etwa durch ihre Bewegungen verdächtig zu machen …
Nach Süden wandten sie sich, umrundeten die Bucht und näherten sich dem Kap Tschi-Lao, wo der – Gespensterhund für Minuten zu sehen gewesen.
Harst unterhielt sich flüsternd mit seinem treuen Gefährten …
Und beide hatten allzeit die Augen überall …
Die wilde Felsszenerie des Inselplateaus bot unzählige Verstecke …
Einmal bemerkten sie dicht am Rande des Steilufers eine Gruppe Gestalten, vielleicht acht Leute, Chinesen.
Harst hob winkend den Arm – im Vertrauen auf die tadellose Verkleidung.
Man rief ihnen etwas zu …
Sie schritten weiter.
Max Schraut meinte leise:
„Du hast ganz recht, Harald … In den Berichten über das Verschwinden der Brigg Haggerstone war ein Hund erwähnt, ein großer gelber Hund, der dem Kapitän gehörte …“
Und Harst wieder: „Du kannst mir’s schon glauben, mein Alter: Das Kap Tschi-Lao ist die Felswand, von der Lilian Blendaboor in ihrer Flaschenpost spricht …! Wir werden Lilian dort finden. Ich hoffe, sie wird nicht allzu scharf bewacht werden …“
Weiter schritten sie …
Vor ihnen – unter ihnen lag bereits der Ozean mit seinen weißen Wogenkämmen …
Vor ihnen türmten sich die Felsmassen der Spitze des Kaps zu phantastischen Bauten auf …
Einzelne gewaltige Blöcke lagen umher. Dahinter die zerklüftete Spitze, die nur nach Westen zu eine glatte Tenne bildete. Und dort war der Hund sichtbar gewesen …
Keine lebende Seele hier …
Möwen, Albatrosse flogen kreischend auf …
Sonst nichts …
Steine, Felsen … –
Die beiden Detektive blieben stehen …
Schraut flüsterte: „Mir ist, als ob hier irgendwo das Verderben lauert …“
Harst schwieg …
Spähte umher … Die rechte Hand hatte er in der sackartigen Tasche des Kulikittels …
„Weiter!“ sagte er energisch.
Und langsam näherten sie sich dem Wall übereinander getürmter Felsen, der die Spitze des Kaps nach dieser Seite hin abschloß …
Standen wieder still …
Bis – eine Stimme verschwommen an ihre Ohren drang …
Eine weibliche Stimme …
Zu leise, um die einzelnen Worte verstehen zu können.
Harst schlich vorwärts …
Erstieg einen Block nahe der massiven Felswand …
Winkte Schraut …
Und Schraut sah hinab in eine meterbreite, nach unten zu sich verengernde Felsspalte …
Licht dort unten … Das gelbweiße Licht einer Karbidlampe …
Und dieses Licht beschien den mit einem kostbaren Teppich belegten Boden einer Höhle, die sich in dem festen Felsgefüge der Spitze des Kaps befinden mußte …
Nur einen Fleck von etwa drei Meter Durchmesser bildete das Sehfeld der Spalte …
Und – nur der Teppich war zu erkennen … Sonst nichts …
Harst beugte sich vor, kroch langsam in die Spalte hinein, hütete sich, ja kein Steinchen ins Rollen zu bringen …
Lauschte dann …
Wieder die Stimme …
Und – ein dumpfes kurzes Aufbellen des Hundes als Antwort … –
Der Detektiv schob sich wieder rückwärts empor …
Stand neben dem Freunde …
„Es muß einen bequemen Eingang zu der Grotte geben … Suchen wir …“
Sie stiegen von dem Block herab …
Und geradeaus vernahmen sie deutlich ein lautes drohendes Knurren des großen Hundes …
„Das Tier hat uns gewittert,“ flüsterte Harst …
Und er nahm aus der sackartigen Tasche die für diese Gelegenheit praktischste Waffe: ein – eisernes Zweikilogewicht!
Dann – schoß drei Schritt weiter zwischen dem hohen Felsgewirr eine breite grelle Lichtbahn hervor …
Ein Weib erschien, den mächtigen Hund am Halsband haltend …
Lilian Blendaboor …
Oberlehrer Gotthart half Edith Wenters blonder Lieblichkeit beim Errichten eines Zeltes aus Segelleinen.
Und wie gern half er ihr, wie unendlich unpraktisch zeigte er sich, wie rührend baten seine guten Augen um Verzeihung wenn er in seinem Ungeschick zur Unzeit eine Zeltschnur losließ und so den ganzen Bau wieder gefährdete!
Es war das Zelt für die deutschen Frauen, an dem die beiden arbeiteten – im Felsenkessel des Inselchen an der Ostseite.
Dicht daneben saß das Ehepaar Harstetter. Der Professor hielt eine Laterne, und seine korpulente Gattin hatte einen Spiegel in der Hand, um die Perücke geradezurücken, die eine schöne graublonde Haarfülle vortäuschen sollte.
Noch andere Laternen brannten hier, beleuchteten das Bild eines rasch entstehenden Zeltlagers.
Matrosen und englische Arbeiter riefen sich gutgelaunt Ermunterungsworte zu … Niemand ahnte, daß die Piraten durch eine einzige Gasgranate alles Leben hier ersticken könnten.
Und jedermann wußte nun, daß der deutsche Detektiv Harst unter dem Namen Hortemer mit zu den Passagieren gehörte und daß diese Berühmtheit Maon Mi entlarvt und vorläufig das Schlimmste verhütet hatte. –
An den Stahltrossen schwebten Ballen und Kisten von der Viktoria zum Eiland …
Lebensmittel, Bettmatratzen, Decken – vieles andere …
So wurde der Felsenkessel wohnlich hergerichtet.
Endlich war auch das „deutsche“ Zelt fertig …
Frau Amalie Harstetter hielt nun ihren Einzug …
Im ganzen sollte das Zelt sechs Frauen beherbergen.
Fritz Gotthart hatte sich heiß gearbeitet.
Edith Wenter gab ihm die Hand …
„Brav gemacht, Herr Kollege …“
„Man lernt alles,“ nickte er, „zumal dann, wenn …“
Da stockte er.
Hatte sagen wollen: „… wenn ich’s für Sie tun darf!“
Doch derlei Redensarten wagte Gottharts strenge Gelehrsamkeit nicht.
Edith hatte längst gefühlt, wie dieser so überaus sympathische Landsmann sie mit rührender Bescheidenheit umwarb.
Und ihr anderer Liebestraum war ja nun endgültig ausgeträumt. Herbert von Hortemer hatte sich in den berühmten Harald Harst verwandelt. Ein Harald Harst stand hoch über den irdischen Wünschen einer keuschen, wenn auch leidenschaftlichen Mädchenseele.
Und diese schlanke, liebliche Edith streckte dem Kollegen jetzt freundlich auch die andere Hand hin …
Fühlte, wie diese Hand die ihre umklammerte, als wollte sie vollends davon Besitz ergreifen …
„Also auf gute Kameradschaft, Herr Gotthart – für alle Zeit!“ sagte sie herzlich.
Sein kluges, in diesem Moment so erregtes Gesicht nahm den Ausdruck unendlicher Enttäuschung an …
Edith begriff …
Edith stand fast allein auf der Welt da – elternlos, bisher nur betreut von einer zänkischen Tante, der sie jetzt endlich – nach Japan entfliehen wollte.
Sie fühlte diese Ehrlichkeit und wahre Herzensgüte dieses Landsmannes, der ihr eine Zufluchtsstätte, ein Heim bieten würde …
Liebe?! Liebe?! – Was war denn ihre Begeisterung für Hortemer anderes gewesen als die Anbetung einer überragenden Persönlichkeit! Und – was war aus diesen stillen Wünschen entstanden?! Doch nur das Bewußtsein, sich hier verloren zu haben in zweckloser Schwärmerei …
Doch – hier hielt sie die Hände eines Mannes, der ihr mit der Zeit mehr werden mußte als nur guter Kamerad …
Und in einer Aufwallung erster Zärtlichkeit sagte sie nun leise:
„Vorläufig auf herzliche Kameradschaft …!“
Und Fritz Gotthart wurde plötzlich verwegen, küßte rasch ihre Hände, eine nach der andern …
Seine warmen Lippen liebkosten weiche Haut …
Edith riß sich los, drehte sich rasch um und betrat das Zelt, stieß hier fast mit Harstetter zusammen, der sich nun dem Oberlehrer zugesellte …
„Bleiben Sie auch hier im Kessel?“ fragte der Professor hastig. „Ich möchte mich nicht gern von meiner Frau trennen … Kapitän Coodler wird doch nichts dagegen haben?“
„Bewahre! – Ja, auch ich bleibe …! Jetzt bleibe ich … Ich hole sofort mein Gepäck … Wir werden uns aus Decken eine Art Zelt bauen, Herr Professor!“
Fritz Gotthart erkletterte die Felswand und ließ sich dann von dem kleinen Boot zur Viktoria bringen.
Da die Piraten den Waffenstillstand durchaus innehielten, hatte man jetzt auch einen Bootsverkehr mit dem Dampfer hergestellt.
Es war jetzt halb drei Uhr morgens.
Als Gotthart die Kommandobrücke betrat, wo Coodler, die kurze Pfeife im Munde, jetzt im Morgenzwielicht besorgt nach den beiden Deutschen ausschaute, die immer noch nicht zurückgekehrt waren, erschien gerade in der Einfahrt der Bucht ein flaches Boot, in dem man zwei Chinesen und am Steuer eine hellgekleidete Dame mit Strohhut und Schleier erkannte.
Der Kapitän rief Gotthart zu:
„Da – sie bringen Miß Blendaboor! Was tun wir nur?! Harst kann mir nicht raten … Wo steckt er nur!“
Gotthart schaute scharf nach dem Boot hinüber …
„Wenn Harst nur hier wäre!“ meinte er bedenklich. „Schließlich sind Sie aber doch der allein Verantwortliche, Mr. Coodler … Ich würde jedenfalls Maon Mi“ – er zögerte – „nicht ausliefern …!“
„Aha – auch Sie nicht! – Ganz meine Meinung! Aber – was tun?! Miß Blendaboor winkt …“
Der zweite Offizier Mr. Armstrong hastete die Brückentreppe empor …
„Kapitän, was haben Sie beschlossen?“
Er war ganz außer Atem …
Und selbst er fügte ärgerlich hinzu:
„Mr. Harst ist noch nicht zurück … Vielleicht würde er –“
Coodler unterbrach ihn …
„Alles ganz recht, – Harst würde vielleicht den Austausch noch verzögern oder sonstwie anders sich entscheiden. Ich aber bin auf solche Spitzfindigkeiten nicht geeicht. Ich muß letzten Endes Maon Mi und die anderen Halunken freigeben …“
Da kam auch schon die schrille Stimme eines der Kulis aus dem Boote herüber:
„Hallo – hallo! Schafft die Gefangenen an Deck, Master! Werft uns dann ein Tau zu, damit Ihr die Miß hochhissen könnt. Das ist dann ehrlich Spiel …“
Coodler zögerte nicht länger, zumal Miß Lilian Blendaboor immer wieder wie flehend die Hände hob …
So gab er denn die nötigen Befehle.
Inzwischen hatten sich an der Backbordreling der Viktoria und oben auf dem Promenadendeck fast sämtliche hier an Bord verbliebenen Fahrgäste und Matrosen versammelt.
Alles blickte gespannt zu dem kleinen Boot hinab …
Im Osten hatte sich der Himmel immer mehr gelichtet. Zarte Röte färbte die Ränder der kleinen Wolkengebilde.
Die Gefangenen wurden nach dem Heck des Dampfers gebracht – auch Maon Mi …
Bewaffnete standen dabei, Matrosen und englische Arbeiter …
Coodler, Armstrong und Gotthart sahen aus nächster Nähe zu, wie man dem Piratenadmiral die Fesseln abnahm.
Maon Mi verneigte sich vor Coodler …
„Sie werden an mich denken,“ sagte er in seinem tadellosen Englisch …
Ein Tau flog zum Boote hinab …
Miß Blendaboor ergriff es, erhob sich …
Und dann sprangen die Kulis über die Reling, – Maon Mi als erster …
Dann schwebte Miß Blendaboor an dem Tau in der Luft …
Und – da gerade war’s, daß Fritz Gotthart mit überschnappender Stimme brüllte:
„Nieder – – hinter die Reling …“
Er hatte drüben am Westufer eine Gruppe Piraten zwischen den Felsen entdeckt – hatte gesehen, daß ein Maschinengewehr auf das Heck gerichtet wurde …
Dann kam auch schon die Kugelsaat hernieder …
Zwei – drei Matrosen brachen mit Kopfschüssen zusammen …
Alles andere warf sich flach nieder …
Wie Hagelschloßen klatschten die Kugeln gegen die eiserne Reling …
Coodler fluchte …
Neben ihm fluchten Matrosen, Arbeiter, Gentlemen über diesen nichtswürdigen Verrat …
Dann – schwieg die Kugelspritze ebenso plötzlich …
Und als Fritz Gotthart in einer ihm selbst unbegreiflichen Tollkühnheit den Kopf über die Reling hob, sah er das Boot mit Miß Blendaboor gerade um die erste Krümmung der Bucht verschwinden … –
Die Lage der Viktoria-Leute war jetzt geradezu verzweifelt. Auf dem Inselchen befanden sich nur dreißig Mann und die Frauen. Von diesen dreißig hatten nur acht Gewehre und ein weiteres Dutzend Revolver und Pistolen. Der Rest der für das Eiland bestimmt gewesenen Besatzung war zum Dampfer hinübergerudert, um noch allerlei zu holen, und war hier nun durch die jähe Eröffnung der Feindseligkeiten überrascht worden.
Es erschien ausgeschlossen, daß noch irgend jemand lebend nach dem Eiland hinüber käme, da die Gelben zweifellos sofort feuern würden.
Kapitän Coodler beriet mit Armstrong. Und derweil richtete Fritz Gotthart sich abermals auf und – sprang mit Kopfsprung ins Wasser hinab …
Schüsse knallten von den Buchtwänden …
Durch die Löcher der Eisenreling beobachteten unzählige Augen den waghalsigen Schwimmer, neben dem immer wieder kleine Fontänen hochspritzten …
Gotthart hatte Glück …
Kaum am Inselufer, lief er mit langen Sätzen zu der Felsspalte, die aufwärts führte … – in den Kessel hinein.
Und als er dort nun erschien, als Lord Motterby, Kommandant der kleinen Festung, ihm derb die Hand schüttelte und auch Edith Wenter herbeieilte, da hatte das kluge, gütige Gesicht des gelehrten Herrn einen ganz anderen Ausdruck …
Seine Augen strahlten Ediths Lieblichkeit entgegen.
Ohne Scheu …
Und rasch vortretend, flüsterte er:
„Sie sollten hier nicht ohne Freund sein … Das tat ich für Sie …“
Dann folgte er Edith zum Zelte …
Und Edith sagte mit bebenden Lippen:
„Es hätte Ihr Tod sein können …“
Fritz Gotthart lächelte nur glücklich. –
Oben am Rande des Kessels lagen die Verteidiger hinter rasch errichteten Schutzwehren aus Steinen …
Und jetzt begannen sie das Feuer der Piraten zu erwidern, da bereits die ersten Sonnenstrahlen den klaren Himmel durchleuchteten.
Die Nacht der Schrecken war vorüber. Der Tag war da …
Vielleicht der letzte für all diese Menschen, die hier gegen gelbe Grausamkeit kämpften …
An Bord der Viktoria hatten sich nun die Bewaffneten zweckmäßig verteilt. Nur eng an die Reling geschmiegt konnte jeder sich vorwärts bewegen …
Coodler lag hinter der Ankerwinde …
Wenn eine Kugel klatschend an den Metallteilen zerspritzte, biß er vor Ingrimm die Zähne knirschend zusammen …
Wo war Harst – – wo?!
Coodler sehnte ihn herbei wie einen rettenden Engel.
Coodler fühlte sich hilflos, wußte nicht, was er nun beginnen sollte.
Hin und wieder zersplitterte eins der Kabinenfenster.
Die Schufte zielten auf die runden Fenster, zielten auf alles, was zu beschädigen war … –
Armstrong hatte sich eins der Gewehre geben lassen und feuerte durch einen Schlitz der Reling …
So verging eine halbe Stunde …
Dann tauchte das kleine Boot wieder auf … Vorn stand ein Kuli, der ein weißes Tuch schwenkte.
Im gleichen Moment verstummten die Schüsse von den Buchtufern …
Man rief Coodler zu, daß ein Parlamentär sich nähere.
Coodler trat an die Reling – mit voller Figur …
Sein verwittertes Seemannsgesicht war fahl nach dieser bangen Nacht.
Das Boot schoß heran …
Der Kerl mit dem weißen Lappen brüllte nach oben:
„Im Auftrage des Admirals: Die beiden Deutschen sind gefangen! Ihr sollt Euch ergeben. Eine Stunde Bedenkzeit. Hißt eine weiße Flagge dann!“
Coodlers Augen quollen förmlich aus den Höhlen …
Er – er ein englischer Kapitän – – und sollte hier vor diesen schlitzäugigen Hunden kapitulieren?!
Und doch – die Klugheit gebot Selbstbeherrschung.
„Unter welchen Bedingungen sollen wir uns ergeben?“ rief er dem Unterhändler zu.
„Auf Gnade und Ungnade! Zieht Ihr in einer Stunde nicht die weiße Flagge, so wird in den Kessel der kleinen Insel eine Granate geworfen …“
Und – das Boot machte kehrt …
Umruderte die Buchtkrümmung …
Kein Schuß fiel mehr …
An den Steilufern sah man das gelbe Gesindel hin und her gehen …
Hinter einem Steinwall erkannte man die Mündung eines Geschützes …
Coodler und Armstrong waren jetzt auf die Brücke gegangen, waren hier allein …
„Es ist das Ende, Armstrong,“ sagte der Kapitän dumpf. „Das Lumpenpack wird uns sämtlich umbringen … Sie haben es auf die wertvolle Fracht der Viktoria abgesehen …“
Coodlers Gesicht war in diesem Moment fast greisenhaft …
Armstrong, ein untersetzter Schotte mit derben Zügen, nickte nur …
Plötzlich erschien Fritz Gotthart neben ihnen – triefend, keuchend …
„Bin wieder herübergekommen,“ sagte er japsend. „Habe drüben zufällig mit einem der Matrosen gesprochen … Der Mann behauptet daß unter den Frachtstücken im Laderaum sich auch zwei Kisten der Firma Alberton, London, Radiofabrik, befinden. Sollte in den Kisten nicht vielleicht ein Sender enthalten sein?“
Coodler schoß das Blut in die Wangen …
„Mann, Mann, – – hinab in den Laderaum …! Hinab …!!“
Und schon zehn Minuten darauf hatte der sachkundige Gotthart die in Leinwand gehüllten Apparate in das Funkerhäuschen gebracht …
Sheffries, des Funkers Leiche, war bereits auf Seemannsart bei der Herfahrt im Ozean bestattet worden. In dem blutbefleckten kleinen Raume hantierte nun der deutsche Oberlehrer eifrig umher …
Zwanzig Minuten …
Dann hatte er die Apparate aufgebaut, verbunden …
Und versuchte zu senden …
Horchte am Kontrollempfänger …
Lilian Blendaboor bemerkte die beiden Kulis und rief ihnen drohend zu:
„Was wollt Ihr hier? Schert Euch …!“
In ihrer Rechten blinkte ein Revolver …
Die rotblonde überschlanke Engländerin fuhr leicht zurück, als der eine der Chinesen höflich erklärte:
„Miß, Sie irren sich … Wir sind Deutsche … Wir kommen Sie befreien … Folgen Sie uns!“
Harst trat gleichzeitig vor …
Der mächtige langhaarige Hund knurrte da …
Und der Detektiv fügte hinzu:
„Ich bin Harald Harst, Miß Blendaboor … Ihr Herr Vater hatte mich beauftragt, nach Ihnen zu suchen …“
Lilian wich noch mehr zurück …
In der Dunkelheit war wenig von ihrem Gesicht zu erkennen … Nur ihre Gestalt war von dem grellen Licht umflossen …
Dann machte sie eine einladende Handbewegung nach dem Grotteneingang hin …
„Wollen Sie bitte eintreten, meine Herren … Meine Flucht von hier stößt auf gewisse Bedenken meinerseits, die wir erörtern müßten …“
Sie schritt voran – hinein in die mit verschwenderischem Luxus ausgestattete Grotte …
Der Detektiv Harst folgte ihr …
Schraut zögerte … Doch ein Wink des Freundes beschwichtigte seine Bedenken.
Er zog die Steintür zu … Staunte jetzt ebenso wie Harst über dieses Gefängnis …
Und ihnen gegenüber, den riesigen Hund noch am Halsband, stand Lilian Blendaboor …
Nun sahen sie ihr Gesicht …
Nein, eine Schönheit war das nicht … Das war trotzdem ein Weib, in dessen Augen und Mundwinkeln heiße Sinne zu lauern schienen …
Und kalt und schneidend sagte sie nun, die Waffe plötzlich erhebend:
„Betrachten Sie sich als meine Gefangenen … Wenn Sie eine verdächtige Bewegung machen, lasse ich den Hund frei … Satan ist auf den Mann dressiert, ist ein Bastard zwischen Wölfin und Leonberger … – Setzen Sie sich dort in die Sessel … Legen Sie die Hände flach auf die Schenkel … Gehorchen Sie!“
„Wie Sie wünschen,“ meinte Harst kühl. „In der Tat, ein merkwürdiger Empfang …“
Und er setzte sich …
Dicht neben ihm war Schrauts Platz …
Lilian Blendaboor betrachtete die beiden spöttisch …
„Mein lieber Vater scheint ja plötzlich große Sehnsucht nach mir zu haben … Früher habe ich davon nie etwas gemerkt. Seit dem frühen Tode meiner Mutter lebte er nur seinen Geschäften und seinen Maitressen. Was Wunder, wenn ich jetzt die Geliebte eines Piratenführers geworden, der – mir als Mann imponierte!“
Sie sprach das letzte mit zynischer Offenheit aus … Sie lächelte nicht mehr höhnisch, sondern wie ein Weib, das in Liebe des einen gedenkt, der nunmehr ihres Lebens Inhalt ist.
„Die Flaschenpost, Miß Blendaboor, wurde also vor Ihrem – Bündnis mit Maon Mi ausgeworfen …“ sagte Harst gleichmütig. „Wissen Sie auch, daß der Dampfer, den Maon Mi so schlau hierher lockte, falls dieser Ausdruck auf diese Art von brutaler List paßt, – daß die Viktoria unter ihren Passagieren auch eine junge Dame zählt, der Maon Mi besondere Aufmerksamkeiten erwies? – Nein, dies dürften Sie nicht wissen …“
Lilian Blendaboor besaß nur zu viel von jener echt weiblichen übergroßen Eifersucht aller häßlichen und dabei klugen und nach Liebe sich sehnenden Mädchen …
Harsts Spiel mit diesem Weibe, das sich in die Arme eines Asiaten verirrt hatte, war weder vornehm, noch seiner Gemütsart angepaßt. Hier aber, wo es sich um das Leben von Hunderten handelte, hatten alle Bedenken gegen ein derartiges Vorgehen zurücktreten müssen.
Lilian Blendaboor hatte den Detektiv auf diese Anschuldigung ihres Geliebten hin sekundenlang starr angesehen …
„Oh – Sie lügen!“ sage sie dann verächtlich. „Sie müssen lügen, denn Maon Mi ist kein Betrüger … Maon Mi liebt mich … Nie würde er auch nur ein anderes Weib begehrend anschauen …“
Harald Harst tat dieses arme Wesen da unendlich leid. Und doch durfte er sie nicht schonen. Lilian Blendaboor mußte aus diesem Rausch erwachen und sich wieder bewußt werden, daß sie eine Europäerin, daß sie Engländerin war … Ihr Stolz mußte aufgepeitscht werden – und ihr Haß …
So erwiderte der Detektiv denn, und er log in nichts:
„Miß Blendaboor, ich begreife durchaus, daß Sie meine Worte anzweifeln. Ich habe mir gedacht, wie die Dinge zwischen Ihnen und Maon Mi stünden … Ich wurde stutzig, als ich den Hund oben auf dem Kap frei umherlaufen sah … Und – außerdem sah ich noch mehr, was den anderen Beobachtern entging: Sie selbst, Miß Blendaboor! Ganz flüchtig freilich … Immerhin: Sie – bewegten sich hier oben offenbar in aller Freiheit … Und da Maon Mis äußere Erscheinung manchen Europäer in den Schatten stellt, da ich ferner über Ihren Charakter und Ihre Gemütsveranlagung genau unterrichtet war, sagte ich mir mit einigem Recht: Sie sind keine Gefangene mehr, sondern …“
Er hüstelte …
Und fuhr fort: „Sie halten Maon Mi nun fraglos, wie Sie ja auch schon betonten, für – absolut treu … Sie kennen die Chinesen nicht, Miß Blendaboor … Treue ist diesem Volke im allgemeinen ein unbekannter Begriff – den Männern wenigstens … Und Maon Mi macht da keine Ausnahme … – Bevor ich diesen kurzen Ausflug hierher antrat, habe ich in einiger Voraussicht dessen, was nun wirklich geschehen, ein von einer Frau Professor Harstetter an Bord der Viktoria hergestelltes Amateurbild zu mir gesteckt – eine Gruppenaufnahme, bei der besonders ein Kopf tadellos scharf hervortritt: der Maon Mis! – Bitte …“
Und er reichte ihr das unaufgezogene Bild im Format 9 mal 12, auf dem sich Edith Wenter, Maon Mi, er selbst, Schraut und Kapitän Coodler befanden.
Maon Mi aber schaute auf dieser Amateuraufnahme Edith Wenter von der Seite mit einem so klaren Ausdruck heißesten Begehrens an, daß niemand diesen Ausdruck mißverstehen konnte …
Lilian nahm das Bild mit einem überlegenen Lächeln entgegen …
Aber ihr Gesicht veränderte sich urplötzlich …
Um ihre etwas dicke, unschöne Nase zeigten sich weiße Flecken …
Die Lippen öffneten sich …
Wie ein dumpfes Ächzen kam’s aus dem liebestollen Munde …
Halb taumelnd trat sie näher an die Lampe heran.
„Wer … wer ist diese Frau?“ stieß sie hervor …
„Eine Deutsche, eine junge Lehrerin … Jedenfalls ein Mädchen, das nie diesem Verbrecher ein Recht gab, sie so anzublicken … Das tut kein wahrer Gentleman …“
Lilian war jetzt völlig erbleicht …
Ihr Antlitz wirkte abschreckend …
Stumm reichte sie dem Detektiv das Bild zurück.
„Es – ist – gut …“ sagte sie hart. „Maon Mi wird – bestraft werden … Maon Mi wird sehr bald hier erscheinen … Man wird einen Betrug verüben, wird einen als Europäerin herausgeputzten Chinesen in ein Boot setzen …“
Der Detektiv machte eine hastige Bewegung nach dem Ausgang der Grotte hin …
„Kommen Sie, Miß Blendaboor,“ bat er. „Wir müssen eilen …“
„Sie bleiben!!“ – Sie hatte die Waffe schon wieder in der Hand. „Setzen Sie sich … Ich werde Sie alle retten … aber erst will ich meine Rache haben!“
Und auf den mächtigen Hund, den Wolfsbastard deutend: „Satan heißt er … Ist ein Satan … Abergläubische Furcht empfinden die Gelben vor dem Tiere. Selbst in Maon Mis Abwesenheit war ich unter Satans Schutz völlig sicher … Die Chinesen halten ihn für ein Geschöpf, in dem die Seele eines Mannes wohnt … Sie nennen Satan unter sich den Geist von Kap Tschi-Lao, – den bösen Geist …“
Harald Harst schaute seinen Freund an, dann Lilian und meinte: „Es ist merkwürdig: auch auf der Viktoria fielen ähnliche Worte, als wir den Hund hier oben sahen …“
Miß Blendaboor lächelte rachsüchtig …
„Oh – ein böser Geist – mit Recht Mister Harst … zwei Chinesen, die hier oben einmal verbotenerweise umherstrichen, hat Satan – erledigt … Er pflegt Feinden – die Kehle durchzubeißen …“
Der Detektiv hatte jetzt andere Sorgen, andere Fragen …
Erfuhr nun, daß hier in einer nördlichen Bucht drei Dschunken ankerten, daß die Piraten etwa 130 Mann stark seien und daß die Gasmunition des einzigen Geschützes in einer der Dschunken liege …
Lilian Blendaboor beantwortete alles mit einer unheimlich starren Ruhe …
Und meinte dann: „Sobald ich mit Maon Mi abgerechnet habe, werde ich die Dschunken anzünden … – Fürchten Sie nichts mehr … Ich rechne auch mit Maon Mis Leuten ab … Ich bin Lilian Blendaboor, und mein durch diesen Asiaten entweihter Leib soll im Blute dieser Elenden geläutert werden …“
Die Freunde schwiegen … Maon Mis und seiner Bande Sündenregister war zu groß, als daß hier auch nur ein Wörtchen der Milde angebracht gewesen.
Die Zeit ging hin …
Lilian erzählte, wie die Seeräuber die Brigg damals gekapert hatten … und wie es gekommen, daß sie dann des Piratenadmirals Geliebte wurde – freiwillig!
Sie wühlte in diesen Erinnerungen …
Und ihre Gedanken fraßen sich fest an der unerhörten Schmach, die sie eines Treulosen wegen auf sich genommen … Ihre Finger spielten nervös mit der in ihrem Schoße liegenden Waffe … Zu ihren Füßen hatte sich der Hund niedergestreckt – das Gespenst des Kaps, der böse Geist … –
Und dann, als schon durch die Fenster der Grotte der neue Tag hereinlugte, – – dann tat sich die Tür auf …
Maon Mi …
Noch im Smoking, wie nach der Abendtafel auf der Viktoria …
Schlank, elegant – mit den blitzenden Lackschuhen, der tadellosen Wäsche …
Und dem teuflisch grinsenden Gesicht, das er den beiden Deutschen zuwandte …
Lilian hatte sich erhoben – hatte die Waffe ebenfalls emporgereckt …
„Bleib stehen!“ sagte sie überlaut …
Ihr Gesicht war fahl …
Maon Mi musterte sie kalt …
„Was soll das?!“ fragte er rauh …
Und mit raschem Schritt wollte er auf Lilian zutreten …
Eine Stimme kreischte …
„Satan – allons!! Nimm ihn, Satan!“
Und das riesige Tier, vielleicht stets schon erfüllt von dumpfer Feindseligkeit gegen den Gelben, flog durch die Luft …
Harst wollte zuspringen … wollte verhüten, daß der Pirat auf diese Weise endete … An den Galgen gehörte der Mörder!
Zu spät … zu spät …
Mensch und Hund wälzten sich am Boden … Ein Arm stieß mit funkelndem Dolche mehrmals zu … Das Tier war schwer getroffen, ließ nicht los … Und als Ströme von Blut den kostbaren Teppich färbten, als beide Kämpfer, Mensch und Hund, zur Seite sanken, war das Geschick beider entschieden …
Drei schauten aus blassen Gesichtern das grauenvolle Bild …
Aus Maon Mis zerrissener Kehle quoll der Lebenssaft …
Und – mit einem Aufschluchzen kniete Lilian Blendaboor da neben dem sterbenden Hunde nieder und bettete den zottigen Kopf in ihre Hände …
So starb Satan …
Und elend verreckte neben ihm der Asiate. – –
Lilian Blendaboor verließ dann schweigend die Grotte …
Als Harst und Schraut, von dem Kap gen Norden spähend, die schwarzen Rauchwolken der brennenden Dschunken bemerkten und die dumpfen Detonationen der explodierenden Munitionsvorräte vernahmen, wagten sie sich zum Buchtstrande hinab …
Die Piraten waren sämtlich verschwunden … Die Feuersbrunst ihrer Schiffe hatte sie weggelockt. –
Nachmittags drei Uhr landete der durch Fritz Gottharts Funkdepeschen herbeigerufene amerikanische Kreuzer zweihundert Mann und kreiste die jetzt völlig verängstigten Gelben ohne Mühe ein.
Lilian Blendaboor hat niemand mehr zu Gesicht bekommen. Nach Aussage der Gefangenen ist sie mit einer der Dschunken, in der die Granaten lagerten, in die Luft geflogen. –
Fünf Tage später schritt am Hafen in Hongkong ein junges Brautpaar Arm in Arm dahin, begleitet von zwei berühmten Landsleuten …
Und Edith Wenters blonde Lieblichkeit lächelte Harald Harst an und sagte, auf den draußen ankernden amerikanischen Kreuzer deutend:
„Unser Verlobungsschiff, Herr Harst …“
Der Detektiv blieb ernst – meinte:
„In dieser Stunde werden die Piraten aufgeknüpft!“
Edith erschauerte leicht …
Aber Fritz Gottharts strahlende Augen verscheuchten rasch diese letzte trübe Erinnerung an das Gespenst vom Kap Tschi-Lao …
Ende!
Anmerkungen: