Walther Kabel
Kriminal-Roman
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin.
Die Jagdgesellschaft lagerte auf einer Dschungellichtung am Fuß eines vereinzelten schroffen Felsenhügels, über den hinweg die längsten Äste der Urwaldriesen ihre Blätter ineinandertauchten.
Vor dem großen Zelt, das dicht an die Felswand gerückt war, saßen die drei Herren und Miß Lilian Derbly an einem lustig flackernden Feuer, dessen Qualm noch den Vorteil bot, daß er die Mücken verscheuchte.
Etwas mehr nach links, nach der Südecke des dunklen Steinhügels hin, erhob sich Lilians kleineres Zelt.
Die acht Inder, die mit zu der kleinen Jagdexpedition gehörten, hockten um ein zweites Feuer herum, das am Fuße eines hier das Dschungelgestrüpp überragenden halb verdorrten Tropa-Baumes loderte. Von den acht Farbigen waren zwei bekannte Tigerjäger, die übrigen nur Träger und Pferdehüter. Die vier Reitpferde der Amerikaner waren mitten in der Lichtung angepflockt.
Master Charlie Granvell, bis zu einem gewissen Grade als Forschungsreisender berühmt, sagte soeben zu Lilian Derbly, deren dicker Papa bereits vor Müdigkeit dem Einschlummern nahe war:
„Ich schlage vor, wir durchstreifen noch zwei Tage den Dschungel … Wenn wir bis dahin die weiße Bestie nicht zu Gesicht bekommen haben, kehren wir um. Eine Woche sind wir unterwegs. Wie lange soll das noch dauern?!“
Charlie Granvell war ein guter Freund der Derblys von Neuyork her. Was Mr. Nathanael Derbly, Schuhfabriken, acht an der Zahl, an Fett zu viel auf dem Körper hatte, fehlte dem reichen Granvell in demselben Maße. Granvell war wie ein gedörrter Klippfisch, Haut und Knochen – oder Gräten.
Der dritte Gentleman der Runde, Doktor Morris Gibson, zeigte im starken Gegensatz zu den angejahrten Gesichtern der beiden Neuyorker Freunde ein vergnügtes, faltenloses, leicht gebräuntes Antlitz mit winzigem blonden Schnurrbärtchen und großen, runden braunen Augen … Ohne das Bärtchen hätte man ihn bei seiner schlanken Figur für ein verkleidetes Mädchen halten können.
Doktor Gibson war mit den drei Amerikanern zufällig im Hotel in Dehli zusammengetroffen. Da er sehr angenehme Umgangsformen hatte, wurde man rasch mit ihm vertraut und forderte ihn dann auch zur Teilnahme an der Jagdexpedition auf, die der Erlegung eines geheimnisvollen, in den Radigrara-Dschungeln angeblich hausenden Tigers galt, der ein schneeweißes Fell haben sollte …
Angeblich!!
Nun, die beiden indischen Tigerjäger, die schon so manchen Europäer in die endlosen Dschungeln begleitet hatten, waren sehr empört gewesen, als der skeptische Granvell ihre Angaben anzuzweifeln gewagt hatte.
Jedenfalls: Nathanael Derbly, so etwa zweihundertfacher Dollarmillionär, hatte unbedingt diese Rarität von Tigerfell als Schreibtischvorleger für sein Arbeitszimmer mit nach Neuyork nehmen wollen. Ein weißer Tiger: damit konnte man Staat machen! So etwas hatte die Welt noch nie gesehen …!
Die Jagdexpedition kam auch zustande. Doktor Gibson machte mit, obwohl er als friedlicher Künstler – er war so ein Mittelding zwischen Altertumsforscher und Architekt – kaum eine Pistole abfeuern konnte, wie er verlegen erklärt hatte. –
Auf Charlie Granvells Bemerkung hin hatte Nathanael Derbly seine Zigarre wütend in das Feuer geworfen und erwidert:
„Unerhört, Granvell, daß Sie die Flinte so schnell ins Korn werfen! Ich jedenfalls bleibe. Ich suche weiter … Wir werden den Tiger finden. Das Vieh wird uns in dieser Nacht sicher auf den Leim gehen!“
Nathanael liebte die Anwendung allgemeiner Redensarten. Sein breites Bulldoggengesicht hatte sich zum Glück in keinem seiner Züge auf sein einziges Kind Lilian weitervererbt. Wenn Lilian gewollt hätte, würde jede Filmgesellschaft sie engagiert haben. Mit ihren neunzehn Jahren war sie ein gertenschlankes rassiges Mädel von pikantem Liebreiz.
Und sie sagte nun ihrerseits:
„Wir haben den frischgeschlachteten und abgehäuteten Hammel volle drei Meilen durch die Lichtungen des Dschungels geschleppt und dann fünfhundert Meter weiter östlich liegen lassen, damit die weiße Bestie vielleicht der Fährte folgt. Wenn wir diese Art Anlockung noch acht Tage fortsetzen, immer kreuz und quer den Dschungel durchziehend, dann müssen wir den Tiger erlegen können, oder – es gibt eben keinen weißen Tiger …! – Pa hat recht: wir werfen die Flinte nicht ins Korn …! Sie haben keine Geduld, Granvell!“
„Wer langsam fährt, kommt auch zum Ziel!“ fügte Nathanael hinzu …
Und Morris Gibson, Doktor der Philosophie, meinte bescheiden:
„Ich für meine Person würde auch vorschlagen, daß wir so schnell ein Unternehmen nicht aufgeben sollen, das uns Ruhm und Bewunderung eintragen wird …“
Der Stockfisch Granvell lachte. „Ruhm?! – Lieber Doktor, wir sind in aller Heimlichkeit hier in die Dschungeln eingedrungen, weil man zur Großwildjagd einen Erlaubnisschein des Gouverneurs von Dehli gebraucht und weil solch ein Schein nur erprobten Jägern ausgestellt wird. Wenn wir den Tiger schießen und wenn die Geschichte herauskommt, sperrt man uns ein. Das ist der Ruhm …!! – Immerhin – ich bin nicht Spielverderber … Ich mache weiter mit …“
Er schaute nach dem Feuer der Inder hinüber …
Die Abenddämmerung hatte bereits die Ränder der Lichtung in Dunkel gehüllt.
„Tafiru!“ rief er den Farbigen zu …
Einer der Tigerjäger erhob sich … Es war ein baumlanger engbrüstiger Mann mit schwarzem Vollbart …
Er kam herbei …
„Sahib, Du wünschest?“
„Wird es nicht Zeit zum Aufbruch?“
„Du hast recht, Sahib … Es ist Zeit …“
Granvell klopfte seine kurze Holzpfeife am Absatz seines braunen Schnürstiefels aus und stand auf …
Lilian war gleichfalls im Moment auf den Beinen.
Kurz darauf verließen die Derblys, der Stockfisch und die beiden Tigerjäger den Lagerplatz und begaben sich nach der anderen Lichtung, in deren Mitte der geschlachtete Hammel, bereits in Verwesung, die Luft weithin verpestete …
Am Rande der Lichtung war ein kurzstämmiger dicker Baum mit ungeheuren wagerechten Ästen. Hier nahmen die fünf Schützen mit ihren Gewehren Platz. Lilian saß mit Granvell auf einem Ast, Nathanael dicht daneben und die beiden Berufsjäger auf einem dritten über ihnen …
Die Dunkelheit nahte schnell …
Der Dschungel, bisher fast stumm, erwachte. Es war das Nachtkonzert der am Tage unsichtbaren Bewohner – ein Konzert, das die Nerven durch die Dissonanz seiner Töne reizte und peinigte …
Lilian, die bisher Granvell nie recht als Mann angesehen, jedenfalls für einen Flirt als zu alt befunden, war in dieser seltsamen Situation froh, einen erprobten starknervigen Freund neben sich zu haben.
Sie konnte weder von dem stinkenden Lockmittel dort zwanzig Meter weiter im Freien noch von Charlie Granvell etwas erkennen. Es war die Zeit absoluter Finsternis. Die Sterne am Himmel spendeten erst allmählich einige Helle …
Und da fühlte sie, daß Granvell nach ihrer Hand tastete …
Sein Atem schlug ihr ins Gesicht …
„Lilian,“ raunte er ihr zu, „ich hoffe, daß ich nicht umsonst so treu um Sie geworben habe … Lilian, werden Sie meine Frau. Ich liebe Sie …“
Die gertenschlanke Lilian war wie benommen …
Das konnte doch nur ein Scherz von Granvell sein! Er, der mindestens fünfundvierzig Jahre alt war, der ihr Vater sein konnte, wollte sie zum Weibe …?! Und – er wollte um sie geworben haben?! Unmöglich – lächerlich …!
Gewiß – sie ließ ihm ihre Hand …
Flüsterte aber:
„Granvell, das ist der beste Witz, den Sie je gemacht haben …!!“
Ein Mann in Granvells Jahren empfindet eine Zurückweisung in solcher Form als schwere Beleidigung.
Der Stockfisch lachte trotzdem ganz leise …
„Sehen Sie, Miß Lilian, das vertreibt doch wenigstens die Zeit … Scherz muß sein …!“
„Was redet Ihr da?!“ meldete sich Nathanael Derbly ärgerlich … „Wollt Ihr den Tiger durchaus verscheuchen?! Da – abermals das Jaulen … Die Bestie kommt näher …“
„Wenn’s nur der weiße Tiger ist!“ meinte Granvell ironisch. „Es kann auch ein grüner, roter oder terracotfarbener sein … Gewiß – heulen tut ein Biest …“
„Sahib, … still!!“ kam von oben Tafirus Stimme … „Es ist der weiße Tiger … Nur er stößt diese Töne aus …“
Granvell bog den Kopf zurück und schaute nach oben …
„Woher weißt Du, daß er gerade in dieser Weise jault, Tafiru? – Ich denke, Du hast ihn noch nie zu Gesicht bekommen …“
„Du irrst, Sahib … Du irrst …! Ich sah ihn dreimal undeutlich im Gestrüpp … Still nun … still!“
Jagdfieber packte die drei Amerikaner. Der Tag war glühendheiß gewesen. Nathanael Derbly schwitzte wie ein Lastträger …
Lilian hielt ihre leichte Repetierbüchse krampfhaft umklammert …
Der Stockfisch dachte an Lilians herzlose Art, seine Werbung abzulehnen …
Und nach zehn Minuten dann – die Lichtung zeigte schon den hellen Dämmerschein der Tropennacht – schob sich durch das Gras ein weißer langer Körper.
Auf den stinkenden Hammelkadaver zu …
Nath Derbly flatterten die Hände …
Lilians Herzchen jagte …
Der Stockfisch hob die Büchse …
Oben flüsterte Tafiru:
„Alle drei schießen … Nicht gleichzeitig …“ Sie hatten jeder ein Repetiergewehr … Jeder gab vier Schuß ab …
Der lange weiße Leib war hochgeschnellt und zurückgesunken …
Tafiru kreischte:
„Er ist tot … tot …!!“
Lilian bebte vor Erregung …
Nath sagte keuchend zu Tafiru: „Ihr beide habt die Belohnung verdient …! Ich schreibe Euch einen Scheck …“
Granvell sprang vom Aste herab und näherte sich der Bestie … – –
Eine halbe Stunde später kehrten die fünf Jäger ins Lager zurück …
Morris Gibson lief ihnen entgegen …
„Ich hörte viele Schüsse … Ich …“
Er brach ab …
Er sah drei unglaublich verstörte Gesichter …
Granvell erzählte flüsternd …
„Herr Gott …!“ schrie Gibson entsetzt … „Mein Diener Ali?! Und in einem weißen Nachthemd von mir …?! Ist der Kerl wahnsinnig gewesen?!“
„Jedenfalls ist er tot, und wir haben ihn verscharrt … Wir müssen den übrigen fünf Indern etwas vorlügen … Ali ist eben verschwunden. Keiner weiß wohin … keiner …! Dabei bleibt’s …“ –
In dieser Nacht lag Lilian in ihrem kleinen Zelt und versuchte immer wieder umsonst, einzuschlafen …
Gerechter Himmel, – sie – sie hatte mitgeholfen, einen Menschen zu morden …!! Sie …!! Drei Kugeln hatte der kleine Ali in der Brust und eine quer durch den Kopf gehabt …!!
Lilian weinte schließlich …
Ihre Nerven streikten …
Draußen wanderte als Wache Doktor Gibson auf und ab …
Lilian öffnete verzweifelt den Zelteingang …
„Doktor, leisten Sie mir Gesellschaft … Ich werde sonst verrückt …“
Und in ihrer augenblicklichen Stimmung war es ihr ein Labsal, daß Morris Gibson sich vor das Zelt setzte und mit ihr eine Unterhaltung begann …
Die Kapelle spielte einen Boston …
Der weiße Marmorsaal des Hotels mit seinen Palmen, Springbrunnen und diesem ganzen unbezeichenbaren Hauch raffiniertesten Luxus war belebt von einer Menge von Gästen in tadelloser Abendtoilette …
In der Mitte zwischen den beiden großen Springbrunnen wurde getanzt …
Die ganze Europäerkolonie der großen indischen Wunderstadt Dehli war hier versammelt, dazu gegen hundert Hotelgäste, alles reiche Touristen …
Es war ein Wohltätigkeitsfest, zugleich Empfang für den neuen Gouverneur von Dehli, Lord Bootrick. –
An einem Tische zwischen duftenden Blumenwänden saßen Lilian, ihr Vater und Charlie Granvell …
Alle drei geistesabwesend … alle drei nur deshalb hier, weil es aufgefallen wäre, wenn man sich nicht beteiligt hätte …
Lilian sah trotz ihrer krankhaften Blässe überaus reizend aus … Der Stockfisch, im Frack wie Nath Derbly, warf verschleierte Blicke auf ihre entblößten Schultern …
Der Millionär kaute nervös an einer Zigarre …
Auf dem Tische standen Blumen, Sektkelche, eine Schale mit Früchten und Süßigkeiten …
„Wenn er nur erst wieder zurück wäre …!“ seufzte Lilian …
Sie meinte Morris Gibson, der in selbstloser Freundschaft die heimlichen Unterhandlungen mit des toten Ali Eltern übernommen hatte, den trotz aller Bestechungsgelder einer der indischen Tigerjäger doch die Wahrheit mitgeteilt hatte. Ob es Tafiru oder der andere Jäger gewesen, wußte man nicht, weil die beiden sofort nach der vor drei Tagen erfolgten Rückkehr aus dem Dschungel verschwunden waren.
„Vor Mitternacht kann Gibson nicht hier sein,“ sagte der Stockfisch und bewunderte Lilians zarte Haut …
Vor dem Tische tauchte ein schlanker Herr auf …
Frack – wie angegossen … Sehnig, schlank … Geistvolles Gesicht, starke Nase … Im Gesicht ein Etwas, das unter tausend Männern kaum einer aufzuweisen hat: Energie und Persönlichkeit …!
Verbeugte sich vor Lilian …
„Dürfte ich um den Boston bitten, Miß …“
Lilian zögerte …
In dieser Stimmung tanzen?!
Aber der Blick des Fremden bezwang sie …
Sie erhob sich … An seinem Arm schritt sie dem für die Tänzer freigelassenen Raume zu …
Es wurde viel getanzt …
Der Fremde sagte in seinem tadellosen Englisch:
„Miß Derbly, ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen … Gehen wir in den Park …“
Lilian knickte fast zusammen …
Vor ihrem inneren Auge erstand wieder die Szenerie der nächtlichen Dschungellichtung …
„Ein Polizeibeamter!“ schoß es ihr durch den Kopf.
Und doch – willenlos wie vorher ging sie mit …
In den wundervollen Hotelpark … Bis zu den Tennisplätzen …
Hier standen Korbsessel. Hier war es einsam …
„Nehmen Sie Platz, Miß Derbly …“
Lilian hatte sich leidlich wiedergefunden …
„Wer sind Sie?“
„Das tut vorläufig nichts zur Sache … Jedenfalls weiß ich, daß Sie, Ihr Vater und Master Granvell durch einen unglücklichen Zufall einen jungen Inder erschossen haben. Ich möchte die näheren Umstände kennenlernen … – Nehmen Sie Platz …“
Lilian war schon in den Sessel gesunken …
Sie war kein nervöses Püppchen. Und doch hatten ihre Nerven in den letzten Tagen stark gelitten. Sie begann zu schluchzen …
Der Herr sagte tröstend, und seine Stimme konnte wie Musik sein:
„Miß Derbly, fürchten Sie nichts … Wenn Sie mir alles erzählen, sind Sie weniger in Gefahr denn je.“
Lilian erzählte … Mußte es – ein innerer Zwang trieb sie zu schrankenloser Offenheit.
Als sie geendet, stellte der Herr noch einige sonderbare Fragen.
Dann führte er Lilian wortlos in den Saal und an den Tisch zurück, verbeugte sich und ging.
Lilian war wie im Traum …
Sie saß da und trank Sekt …
Ihr Vater forschte abermals:
„Wer war der Herr?“
Lilian erwiderte schließlich mit einem verstohlenen Seufzer:
„Wenn ich’s wüßte …!“
Der Herr hatte sie gebeten, die Unterredung am Tennisplatz zu verschweigen, und sie wollte diese Zusage auch halten …
Sie trank Sekt …
Sie sah das Gesicht des Fremden immerwährend vor sich …
Noch nie hatte ein Gesicht so auf sie gewirkt …
Charlie Granvell bat um einen Tanz … Lilian lehnte ab …
„Schonen Sie mich,“ meinte sie gequält …
„Oh – Sie haben etwas erlebt, Lilian,“ rief der Stockfisch in einer Anwandlung wütender Eifersucht.
Lilian trank Sekt …
Da kam Morris Gibson …
Mädchenhaft wie stets … Die großen braunen Augen verdunkelt von tiefster seelischer Zerrissenheit …
Er setzte sich …
„Diese schurkischen Eltern!!“ stieß er hervor. „Master Derbly, das farbige Gesindel verlangt eine Unsumme als Entschädigung … Ali sei ihr Ernährer gewesen … Diese verd… braunen Gauner sind gerissen …“
„Wieviel?“ fragte Derbly kalt, dem – – was kam es ihm schließlich auf eine Million an …!
Und Morris Gibson nannte … eine halbe Million!
Charlie Granvell ballte die Fäuste …
„Oh – – das Gesindel!“
„Nun gut – ich gebe sie hin,“ lachte Derbly verächtlich. „Bei Gott, der weiße Tiger ist mir nicht billig geworden …! Und – ich habe das Fell nicht einmal …!“
Der Doktor nahm eine Zigarette …
„Ich soll den Scheck den Leuten noch heute bringen,“ meinte er zögernd. „Ich tue es ja sehr gern für Sie, Mr. Derbly, obwohl dieses Eingeborenenviertel bei Nacht entsetzlich ist … Wenn Mr. Granvell hinfände, würde ich ihn bitten, mir den Gang abzunehmen … Aber in den Gassen und Gäßchen verirrt man sich nachts unbedingt …“
Er rauchte hastig, um ruhiger zu werden …
Derbly schrieb mit dem Füllfederhalter einen Scheck aus …
„Hoffentlich wissen diese Erpresser, daß der Scheck so gut wie Bargeld ist, Doktor …!“ brummte er dabei.
„Ich habe es dem würdigen Elternpaar erklärt … Töpfer ist der Alte … Und in einer Bude wohnen sie – – entsetzlich!“ – Er hielt sich die Nase zu …
Derbly gab ihm den Scheck …
„Doktor – wie soll ich Ihnen danken!“ flüsterte er fast gerührt …
Morris Gibson lächelte kindlich-verlegen und blickte Lilian an …
„Oh – Miß Lilian hat mir ja bereits die Hand gedrückt …!“
„Gehen Sie!“ fauchte Granvell ihn an …
Gibson machte plötzlich ein unendlich hilfloses Gesicht …
„Mein Gott, – der Ali hatte eine Braut …,“ murmelte er …
„Teufel, – will die auch eine halbe Million?!“ platzte Derbly heraus, und sein Bulldoggengesicht wurde blaurot …
„Nein … nein … Die … die weiß noch nichts.“
Und er verneigte sich und schob mit hängenden Schultern ab …
Granvell lachte kurz auf. „Wozu erwähnte er die Braut, der fade Waschlappen …!! Ich hätte die Geschichte mit diesem Gesindel in die Hand nehmen sollen!!“
„Sie?!“ Nathanael Derblys kalte Spekulantenaugen bohrten sich in die des berühmten Charlie Granvell, der bereits Ehrenmitglied vieler Akademien war … „Sie?! Na – da wäre nur Mord und Totschlag herausgekommen …!“
„Allerdings – meinen Browning, Miniaturformat, habe ich stets bei mir …!“
„Genau wie Lilian den verdammten persischen Dolch, den sie hier im Basar gekauft hat …!“
Lilian nickte verträumt. „Eine Waffe gibt das Bewußtsein von Kraft …“
Sie fühlte sich müde und zerschlagen …
„Pa, ich möchte mich verabschieden … Laßt Euch nicht stören …“ –
Sie ging … Schlank, elegant, pikant, – mit ruhigen abgerundeten Bewegungen …
Der Liftboy öffnete ihr den Fahrstuhl … Mit einem Male stand Gibson vor ihr …
„Wie – noch hier, Doktor …?“
„Ich habe mich in der Bar gestärkt, Miß Lilian … Die Beine versagten mir plötzlich den Dienst … – Ich begleite Sie nach oben … Ich … muß Ihnen etwas anvertrauen …“
Der Fahrstuhl stieg empor …
Lilian, dicht vor Gibson, starrte ihn bang an …
„Die Braut …,“ begann Gibson … „die Braut des Ali …“
Seine Stimme sank zum Flüstern …
Und dann … dann saß Lilian allein oben in ihrem kleinen Hotelsalon wie eine Halbtote …
Dann … schreckte sie empor …
Hinter dem Vorhang zum Schlafzimmer tauchte eine junge Inderin auf …
Lilian wollte schreien …
Lilian sah ein Messer funkeln …
Lilian tastete nach der eigenen Waffe … stieß blindlings zu … –
Arme Lilian Derbly …
Ein Wesen, das ihr kaum mehr glich, lehnte an der Wand des Schlafzimmers …
Über dem Bett lag die Inderin, den persischen Dolch noch in der Brust …
Ein irres Lächeln machte Lilians entstelltes Gesicht noch blöder …
„Mörderin … zum … zweiten Male …!!“ lallte sie …
Ein ungeheures Grauen rüttelte sie auf …
Sie hetzte in den Salon …
Wie eine Wahnsinnige stürmte sie hin und her …
Was tun – – was tun …?!
Dort im Nebenzimmer die Leiche …!!
Ihr Vater unten im Saal …
Oh – – wenn jetzt der Fremde erschienen wäre, der …
Da – – ein Pochen an die Tür …
Die Tür geht auf …
Ein alter Herr mit goldener Brille verneigt sich …
„Verzeihung … Ich … ich hörte hier einen Schrei … Ich wohne nebenan in Nummer 18 … Professor Cockaday aus Philadelphia, Naturforscher … Kann ich Ihnen irgendwie beistehen, Miß …?“
Lilian bricht in Tränen aus …
Fällt halb ohnmächtig auf den Wanddiwan …
„Oh … ich erlaube mir unter diesen Umständen einzutreten,“ sagt der Professor …
Er schließt die Tür …
Schließt ab …
Sitzt neben Lilian …
Und hält Lilians eisige Hände …
Sie weint wie ein Kind …
Die Stimme des Professors ist die des schlanken Fremden …
Der Nachtzug Dehli–Bombay hat Dehli um zehn Uhr fünfzehn Minuten verlassen …
Es ist jetzt halb zwölf …
Durch Wildnis und Berge des ungeheuren Indien saust die schwere Lokomotive mit dem Gepäckwagen und sechs Luxuswagen …
In einer Schlafkabine steht Lilian Derbly vor dem Schrankspiegel und betrachtet ihr Gesicht.
Die Augen sind tief umschattet … sind wie erloschen … Das Gesicht um Jahre älter … Die Lippen zucken nervös …
Zwölf Stunden sind seit jener furchtbaren Tragödie im Grand-Hotel in Dehli verflossen …
Lilian weiß kaum mehr, was in diesen zwölf Stunden geschehen ist …
Lilians Hirn existiert nicht mehr …
„Mörderin!!“ flüstert sie … „Mörderin, – was – – was tat doch der … der Professor in Deinen Zimmer …?!“
Sie grübelt …
Ihr Gesicht verschwimmt im Spiegel …
Das Gesicht der Inderin, der Braut Alis, taucht auf …
Mit einem Schrei prallt Lilian zurück, taumelt auf ihr Bett, drückt den Kopf in die Kissen …
Seltsames begibt sich da …
Die Schranktür geht lautlos auf …
Ein Mann schlüpft heraus … zur Kabinentür … in den Wagengang …
Lilian hörte, sah nichts …
Das Grauen treibt ihr Eisesschauer über den Leib … Das Grauen hat sie auch gestern im Hotel an ihr Bett gefesselt bis zur Abfahrt des Zuges … bis sie sich ankleiden mußte … –
Lilian Derbly haßt Indien …
Als harmlos-vergnügtes Geschöpf kam sie hierher.
Jetzt …?!
Oh – was hat Indien aus ihr gemacht!! Der weiße Tiger …!! Wenn nur ihr Vater nicht damals in der Basarstraße den Tigerjäger Tafiru kennengelernt hätte …! Damit hatte das Unheil begonnen! Damit!! –
Lilian beruhigt sich …
Wagt den Kopf aus den Kissen zu heben und schaut scheu nach dem Spiegel hin …
Das Bewußtsein, daß es sich nur um eine Sinnestäuschung gehandelt haben kann, gibt ihren Nerven Widerstandskraft …
Lilian fühlt: es darf nicht so weiter gehen! Sonst wird sie verrückt …! Irrsinnig …!! – „Was habe ich denn schließlich getan?!“ beginnt sie die eigene Seele zu beeinflussen. „Ich habe auf ein Geschöpf gefeuert, das ich für einen Tiger hielt. Ich weiß nicht einmal, ob es gerade meine Kugel war, die den armen Ali traf, der da in einer unbegreiflichen Anwandlung von Übermut heimlich diese Maskerade sich erlaubte – ein törichter, leichtfertiger Streich, wie Morris Gibson mit Recht betont hat!“ – Und dann gestern … Wie war das doch …?! Wie war doch das Ende dieser fürchterlichen Szene in ihren Zimmern im Grand-Hotel gewesen? Zunächst: Alis Braut hatte sie angegriffen … Daran ließ sich nicht deuteln … In Notwehr hatte sie zugestoßen … Jeder hätte so gehandelt … Dann war der Professor eingetreten … Ja – Professor Cockaday … Ein Mann, der unendliche Güte abgeklärter Lebensweisheit in der Stimme wie milde Akkorde mitklingen ließ … Ein Mann, dem sie weinend gebeichtet, der über ihre Stirn mit zarten Fingerspitzen strich und sanft befahl, sie solle vergessen, was nicht mehr zu ändern …
Dann war der alte Herr in das Schlafzimmer gegangen, hatte die Tote sich angesehen, war wieder zurückgekehrt und hatte Morris Gibson, den kleinen, schüchternen Doktor, auf dessen Klopfen eingelassen.
Lilian war froh, daß Gibson sich gerade jetzt einfand … Im halben Dämmerzustand hörte sie, wie die Herren miteinander berieten … Jeder öffentliche Skandal müsse vermieden werden, hatte der Doktor betont. Es sei am besten, man schaffe die Leiche heimlich fort.
Der Professor wollte sich in diese Dinge nicht weiter einmischen und hatte sich verabschiedet …
Ja – so war’s gewesen …
Und Gibson holte dann den Pa und Charlie Granvell nach oben …
Der Pa war über alledem zusammengebrochen. Granvell und Gibson erledigten die Heimlichkeiten. – Mittlerweile war es ein Uhr nachts geworden. Granvell sagte, wenn man die Polizei benachrichtige, dann käme auch Alis Erschießung ans Tageslicht … Man müsse die Tote verschwinden lassen.
Worauf Gibson nachdenklich erklärte, in den Gassen des Eingeborenenviertels triebe sich genug Gesindel umher … Man solle ein paar dieser braunen Banditen bestechen …
Nathanael Derbly lebte auf, als sein wirres Hirn eine Möglichkeit erkannte, auch dieses Entsetzliche durch Geld für alle Zeit totzuschweigen …
Ja … so war’s gewesen … Und immer deutlicher schaute nun Lilian die einzelnen Szenen …
Wie die drei Männer ihr ganzes Bargeld zusammengelegt hatten, wie sie selbst dann noch ein paar ihrer Schmuckstücke hinzutat …
Mit diesen Mitteln hatte der treue Doktor sich auf den Weg gemacht …
Eine halbe Stunde später hatte er, von dem eiligen erfolgreichen Gang zurückgekehrt, eine schmierige Leine aus dem Schlafstubenfenster hinabgelassen, die er mitgebracht hatte.
Draußen regnete es … Ein tropisches Gewitter war aufgezogen …
Zwei braune Kerle hatten die in Decken gehüllte Tote geholt …
Alles war geglückt … Alle Spuren wurden in den Zimmern beseitigt …
Der Pa blieb bei Lilian, schlief auf dem Diwan …
So war diese Nacht des Schreckens vergangen …
Und – so war alles gewesen …
So … alles stimmte, – so war’s gewesen …
Nur … nur …
Und Lilian saß auf dem Bett und hatte den Kopf in die Hände gestützt …
Grübelte …
Nur … nur ein Punkt stimmte nicht …
Nein, da war eine klaffende Lücke in der Kette der Geschehnisse …
Lilian hatte doch den Kampf mit der rachelüsternen Inderin im Salon bestanden … Und nachher … nachher hatte die Tote im Schlafzimmer auf dem Bett gelegen, und Lilian hatte daneben an der Wand gelehnt …
Wer also hatte die Tote auf das Bett getragen?! Oder war die junge Inderin mit dem Dolche in der Brust, diesem unseligen persischen Dolch, bis dorthin sterbend geflüchtet und niedergesunken?!
Eine klaffende Lücke …!!
Lilian entsann sich auch nicht im geringsten, daß sie vielleicht der Verwundeten ins Schlafzimmer gefolgt wäre … Nicht im geringsten …
Wie hing dies nun zusammen?! Wie war es möglich, daß gerade diese Lücke in ihrer Erinnerung entstehen konnte?!
Sie grübelte …
Hin und wieder blickte sie scheu auf den Schrankspiegel …
Aber ihre Nerven waren jetzt gewappnet: Sinnestäuschung …!!
Mit einem Male stand sie auf und hängte ihren leichten Gummimantel vor den Spiegel, indem sie Sicherheitsnadeln in das Holz drückte …
Sie dachte immer an dasselbe: Ich bin keine Mörderin …! Mein Gewissen ist rein …!!
Und jetzt kam ihr auch plötzlich die Erinnerung an ähnliche Worte des alten gütigen Professors. Der hatte ihr dasselbe eindringlich vorgestellt: Notwehr – niemals ein Verbrechen …!
Lilian stand mit hängenden Armen da …
Hilflos – verwirrt, – denn ebenso jäh tauchte nun in ihrem Gedächtnis das Bild des schlanken Herrn mit den grauen Augen auf, der sie zum Tanze geholt und dann nach den Tennisplätzen geführt hatte …
Hilflos …
Verwirrt …
Die beiden Stimmen: der Herr, der seinen Namen nicht genannt hatte, und der Professor …!
Dieselbe Stimme …!!
Lilian horchte gleichsam in ihr Inneres hinein … Lilian verglich die Stimmen …
Ob … ob Professor Cockaday etwa nur derselbe Unbekannte in einer Verkleidung gewesen war?!
Lilian seufzte …
Sie gab es auf, dies zu entscheiden. Es war unmöglich …
Und mit müder Bewegung erhob sie die Hände, um ihr aschblondes Haar zur Nacht zu ordnen …
Poch … poch … poch …
Die Arme sanken …
Drei Schritte zur Tür …
Ah – – der Riegel nicht vorgeschoben?! Wie – sollte sie vergessen haben, sich einzuschließen?! Nein, nein, bestimmt hatte sie abgeriegelt … bestimmt …!
Wieder klopfte es leise …
Lilian war nie feige gewesen …
Sie öffnete … Denn sie ahnte: ein Neues würde geschehen!
Vor ihr im dämmerigen Gange des Schlafwagens zwei Herren – ihr völlig fremd …
Beide blondbärtig, wie Touristen gekleidet … Der eine kleiner und dicker …
Der größere flüsterte: „Miß Derbly, wir möchten Sie gern allein sprechen … Ich bin Professor Cockaday.“
Die Stimme …!!
Und Lilian trat zurück …
„Bitte …“
Die Herren schlüpften herein, mit Bewegungen, die etwas Akrobatenhaftes an sich hatten …
Die Tür wurde verriegelt.
„Miß Derbly, mein Name ist Harald Harst,“ sagte er schlicht. „Ich bin Detektiv, und mein Freund Max Schraut, dieser Herr hier, hat denselben Beruf …“
Lilian starrte den Deutschen an …
Harst …!! Harst …!! Das war ein Name, den jeder kannte … Das war Charlie Chaplin ins Ernsthafte und Wertvolle übertragen – dieselbe Berühmtheit, nur ein Gentleman, der der Welt schon ungeheuer genützt hatte …
„Oh – Master Harst …!“ sagte sie langsam … „Ich kenne Sie aus zahllosen Zeitungsnotizen und Büchern … Ihres Freundes Schilderungen Ihrer Abenteuer erscheinen auch in Amerika …“
„Ja,“ nickte Schraut … „Und ich habe bereits gegen die Herausgeber Klage wegen Verletzung meiner Autorrechte angestrengt …!“
Er hatte etwas Heiteres, Behagliches im Ton, und obwohl er diese Sätze völlig ernst meinte, hatte er doch ein humorvolles Zwinkern in den Augen …
„Laß diese Nebensächlichkeiten,“ meinte Harst sehr ernst. „Wir haben mit Miß Derbly anderes zu besprechen … Wenn Sie Platz nehmen wollen, Miß Derbly …“
Es waren nur zwei kleine Korbsessel vorhanden. Schraut blieb stehen und lehnte sich an den Schrank …
Der Detektiv Harst begann:
„Ich bin auch Ihr … Tänzer gewesen, Miß Derbly …“
„Ja, Ihre Stimme ließ es mich ahnen, Mr. Harst.“
„Sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, weshalb ich mich mit diesen Dingen beschäftige, Miß Derbly. Das Gerücht, daß in den Riesendschungeln bei Dehli ein weißer Tiger hause, besteht seit drei Jahren. Wie es aufgetaucht ist, ließ sich nicht mehr feststellen. Gesehen hat den Tiger noch niemand. Aber eine Anzahl Touristen haben sich, verleitet durch die Angaben der beiden falschen Tigerjäger, in die Wildnis gewagt. Drei von ihnen sind verschwunden, darunter Lord Roxanoor. Die Gattin des Lords hatte mich vor einem Monat mit Nachforschungen beauftragt. Ich habe ermittelt, daß die beiden echten Tigerjäger Tafiru und Makama diese Touristen nie begleitet haben, sondern daß zwei andere Inder sich diese bekannten Namen anmaßten und die Leute in aller Heimlichkeit in die Dschungeln führten, so daß den Behörden bisher nichts davon zu Ohren kam. Die drei verschwundenen Herren hatten Scheckbücher bei sich, und ein Europäer hat dann nach ihrem Marsch in die Wildnis Schecks über größere Summen kassiert. Der weiße Tiger ist mithin gröbster Schwindel und dient nur zur Ausplünderung wohlhabender Touristen …“
Lilian schüttelte den Kopf …
„Mr. Harst, das …“
„… ist erwiesen,“ ergänzte der Detektiv …
Das dumpfe Rollen der Räder, die über die Schienen hinweg in die Ferne glitten, bildete die Begleitmusik zu diesen Worten …
„Und Ihr Vater, Miß Lilian,“ fügte der Deutsche hinzu, „ist nun in ähnlicher Weise durch den weißen Tiger … geneppt worden, indem die beiden Jäger den Diener Ali irgendwie veranlaßten, in dem langen Nachthemd an den Köder heranzuschleichen, wobei sie dem Ärmsten natürlich versicherten, daß er keinerlei Gefahr liefe und daß auf ihn nicht geschossen werden würde. Dann kam nachher die Erpressung durch die Eltern Alis – die angeblichen Eltern. Ich weiß jetzt, daß Ali keine Eltern mehr hatte und daß in dem Häuschen, wohin Master Gibson den Scheck brachte, seit Monaten niemand wohnt. Das Elternpaar waren mithin Verbündete der Schwindler und Mörder. Ich fand die Hütte leer …“
„Mein Gott …!!“ rief Lilian erschauernd. „Welche Verruchtheit …!!“ – Sie war ganz verstört. Sie hatte bisher von den Abgründen menschlicher Verworfenheit so wenig gewußt …!
Harst fragte:
„Ist Ihnen vielleicht inzwischen noch irgend eine Einzelheit eingefallen, Miß Derbly, die sich auf die gestrigen Vorgänge bezieht?“
„Ja … ja …, Master Harst … Eine Lücke in meiner Erinnerung läßt sich selbst durch schärfstes Nachdenken nicht ausfüllen …“
Sie erzählte: daß sie nicht begreifen könnte, wie die Leiche der jungen Inderin auf das Bett, ins Nebenzimmer gelangt sei …
Der Detektiv, jetzt in der neuen Verkleidung einem blonden Nordländer gleichend, sann vor sich hin …
Lilian sagte zögernd: „Auch hier in der Kabine hat … hat mich das Gesicht der Toten noch erschreckt … Deshalb habe ich den Spiegel verhängt …“
„Das dachte ich mir, Miß Lilian … Wozu sonst der mit Sicherheitsnadeln befestigte Mantel?!“
„Und – merkwürdig! – ich hatte die Kabine verriegelt … Jetzt, als Sie klopften, war der Klappriegel geöffnet …“
Harst sprang auf …
„Das wissen Sie bestimmt?!“
„Bestimmt …!“
Der Detektiv zog die Tür des kleinen Schrankes auf …
Im Rauchsalon des Luxuszuges saßen in einem der mit Klubmöbeln ausgestatteten offenen Abteile drei Herren …
In den übrigen Abteilen war das Licht ausgedreht … Ein Kellner schlief im Dunkeln an der einen Tür auf einem Sofa. Sonst war der Rauchsalon leer.
Über dem runden Tische der drei brannte die tief herabgezogene und gelb verhüllte elektrische Lampe. Auf dem Tische standen Flaschen, Gläser, Schalen mit Eisstückchen und Aschbecher.
Durch das Riesenfenster konnte man im feierlichen Dämmerlicht der Tropennacht Wälder, Felder, Wildnis, Sümpfe, Berge, Dörfer in gespenstiger Eile vorüberhuschen sehen … Das gelbe Licht der Lampe warf nur matten Schein auf den Bahndamm …
Nathanael Derbly lag im Sessel – ein gebrochener Mann …
Daß er, Nath Derbly, aus Dehli wie ein gemeiner Verbrecher hatte flüchten müssen, darüber kam er nicht hinweg …
Charlie Granvells mageres Eulengesicht zeigte gleichfalls die düstere Miene eines Menschen, der am liebsten in stiller Wut irgend ein Glas gegen die Wand gefeuert hätte …
Granvell verfluchte diese Reise nach Indien. Er, ein Mann von gewisser Berühmtheit, mußte jetzt dauernd in der Angst leben, verhaftet zu werden. Unerhört war das!
Und Doktor Morris Gibson, der seiner rebellierenden Nerven wegen ungeheure Mengen Whisky-Soda getrunken hatte – mehr Whisky als Soda und reichlich Eisstückchen –, war in seinem Sessel eingeschlafen … Die erloschene Zigarette hing ihm im Mundwinkel und wippte hin und her – je nach den Stößen des federnden Wagens … –
Derbly sagte gedämpft, indem er sein Glas füllte:
„Wir mieten in Bombay eine Jacht, Granvell … Dann soll uns der Teufel verhaften …! Wenn wir erst daheim in Neuyork sind, schützt man uns vor der Untersuchungshaft. Hier locht man uns ein. Die Engländer verstehen keinen Spaß: Beseitigung einer Leiche – – ich danke!!“
Er trank gierig und warf einen neidischen Blick auf den schlafenden Doktor.
Der Stockfisch Granvell beugte sich zur Seite und blinzelte den Gang zwischen den Abteilen entlang. Ja – der Kellner lag noch auf dem Sofa …
„Der Gedanke ist gut, Derbly,“ sagte er dann und sog an seiner Pfeife. „Wenn wir nur erst in Bombay wären …! Wenn …!! …“ Er holte pustend Atem … „Mir liegt’s wie ein Sandsack auf der Brust … Ich traue dem Frieden nicht … Die Schurken, die die Tote abholten, können uns trotz allem noch verraten … Oder …“
„Was … oder?!“
„Nun – man kann noch mehr aus uns herausquetschen, Derbly … Ich sage Ihnen: in Dehli gestern waren mir ständig zwei braune Schufte wie Schatten auf den Fersen …!“
„Verdammt …!! Und davon reden Sie erst jetzt?!“ Der Millionär wischte den Schweiß von der Stirn …
Mit einem Male erwachte Doktor Gibson jetzt, fuhr hoch, stierte schlaftrunken umher …
„Ich … ich glaube, ich war eingeschlummert …,“ meinte er verlegen. „Ich … ja – ich hatte da soeben einen scheußlichen Traum …“
Er tastete nach der Whisky-Flasche, und gluckernd füllte sich sein Glas …
„Saufen Sie nicht so viel, Doktor …!“ murrte Derbly. „Sie ruinieren sich die Nerven vollständig!“
„Wenn schon, Mr. Derbly …!! Besser betrunken als solche Träume …!“ Sein Gesicht lag im Lichtschein. Es war verzerrt. „Ich träumte, ich wurde … hingerichtet … wie bei uns – auf dem elektrischen Stuhl … Scheußlich!“
Er trank … zerkaute die Eisstückchen, nahm eine Zigarette.
Derbly und Granvell starrten ihn an … Ihnen war nicht viel anders zu Mute …
Langes Schweigen …
Der Zug raste durch einen Bahnhof …
Bei jeder Weiche stieß der Wagen stärker als sonst … Die Gläser klirrten …
Dann waren die Bahnhofsanlagen vorüber …
Plötzlich flatterte etwas aus der Luft herab und gerade in die Schale mit den Eisstückchen hinein …
Ein Zettel – – handgroß …
Die drei glotzten stier auf den Zettel, sahen, daß er beschrieben war, daß er die Feuchtigkeit aufsog und sich dunkler färbte …
Keiner wagte, ihn anzurühren …
Sie wußten: eine Drohung, eine Erpressung – – dergleichen! Irgend jemand, der sich bei dem Gerumpel des Wagens über die Weichen in den Rauchsalon geschlichen, hatte den Wisch über die Holzwand nach dem Nebenabteil hin geworfen, die nur etwa zwei Meter hoch war …
Schließlich streckte Charlie Granvell die Hand aus.
Der Wisch tropfte …
Bleistiftzeilen – verstellte Schrift – englisch:
„Mr. Derbly, Ihre Tochter hat eine Inderin umgebracht … Ich habe beobachtet, wie die Tote an dem Seil in den Park geschafft wurde. Ich bin ein armer Teufel von Kellner. Mit 200 000 Dollar kann ich Hotelbesitzer werden. Legen Sie den Scheck in die Falten zwischen Sitz und Lehne Ihres Sessels. Andernfalls werden Sie vier verhaftet werden. Ich schäme mich ja selbst meiner Handlungsweise. Aber – jeder ist sich selbst der Nächste. Der Scheck muß auf die Filiale der India-Bank in Bombay lauten. Sobald Sie ihn im Sessel versteckt haben, gehen Sie schlafen – alle drei! Und – kein Verrat – – kein Wörtlein! Nun – Sie werden ja nicht so dumm sein, sich selbst an den Galgen zu bringen …!“
Derbly hatte seinen Sessel dicht an den Granvells geschoben. Gibson hatte sich weit vorgebeugt …
Der Stockfisch hatte das Papier glatt gezogen, damit man die Schrift lesen könnte. Jetzt riß es infolge der Nässe auseinander …
Die drei schauten sich an …
„Also … also ist der Lump hier im Zuge, der Kellner …,“ flüsterte der Doktor …
„Naives Kind!“ hohnlachte Charlie Granvell. „Können Sie nichts Geistreicheres vorbringen?“
„Oh, – – wir müßten … den Schuft aus dem Zuge werfen!“ murmelte Gibson …
„Sie sind verrückt,“ sagte Nathanael Derbly grob. „Wohl noch so eine Schweinerei …! Mag der Lump sich ein Hotel kaufen …! Ich fülle den Scheck aus. Ich will Ruhe haben …“
Und er zog seine Brieftasche hervor und riß ein Blatt aus seinem Scheckbuch …
Doktor Gibson trank sein Glas leer …
„Man wird blöde über alledem, Mr. Granvell,“ murmelte er, während der Millionär schrieb …
„Blöde?!“ Granvells hohe Stirn war kraus von Falten wie ein Waschbrett. „Nein, blöde nicht … ich nicht. Nur … mordgierig wird man! Insofern kann ich Sie verstehen, Doktor! Auch ich möchte den Halunken umbringen …!“
Derblys Bulldoggenkopf troff von Schweiß … Derbly trennte sich doch nicht so leicht von seinem Gelde …
Nun trocknete er die Schrift des Schecks mit einem Stückchen Löschpapier, legte ihn zusammen und schob ihn hinter sich in die Lederpolsterung …
Erhob sich …
„Gute Nacht … Ich gehe schlafen …“
Und er zog mit schweren Schritten davon … Wut saß ihm im Herzen – ohnmächtige Wut …
Wenn er jetzt dem verfluchten weißen Tiger, der an alledem schuld war, begegnet wäre: er hätte das Vieh mit den Händen erwürgt!
Als er an Lilians Kabine vorüberschritt, rollte die Tür plötzlich ein wenig auf …
Lilian winkte …
Derbly sah zwei fremde Herren in der Kabine …
Sein erster Gedanke war: etwa die Polizei?!
Doch nein …! Der eine der Herren sagte schon leise:
„Ich bin der Detektiv Harald Harst … Ich suche den weißen Tiger …“
Nath Derbly blieb der Mund offen …
Lilian aber schloß die Tür …
Harst fügte hinzu: „Eine Gaunerbande schröpft Sie, Mr. Derbly … Der Obermacher ist ein Europäer … Und den nenne ich jetzt mit einigem Recht den weißen Tiger. Setzen Sie sich bitte …“
Nathanael kam zu sich …
Sein Mund klappte hörbar zu, und dann sagte er:
„Ah – Master Harst …!! Dem Himmel sei Dank!“
Nahm Platz und lauschte den Worten des Detektivs …
„Und nun, Mr. Derbly,“ schloß Harst, „werden wir abwarten, ob die Bande sich nicht nochmals an Sie heranmacht.“
„Da brauchen Sie nicht zu warten … Ich bin soeben abermals 200 000 Dollar losgeworden …“ – Und mit ingrimmigem Lächeln erzählte er, was im Rauchsalon geschehen …
Harald Harst war in der Tat zunächst verblüfft …
„Gehen Sie sofort in den Rauchsalon zurück,“ ordnete er dann mit energischstem Tone an. „Holen Sie den Scheck … Wahrscheinlich wird er nicht mehr da sein … Das würde auch nichts schaden … Gehen Sie!“
Nath verließ die Kabine, nachdem der Freund des Berühmten in den Gang hinausgespäht hatte.
Nach vier Minuten war Nath ohne den Scheck wieder da … –
Die beiden Deutschen schlüpften fünf Minuten später in ihre gemeinsame Kabine, und Derbly begab sich in die seine … –
Der Zug hielt plötzlich inmitten der Sandeinöden von Bawalar, einer kleinen Wüste, die als Nordwestausläufer der großen Thar zu betrachten ist …
Irgend jemand hatte die Notbremse gezogen …
Wenn ich, Max Schraut, der ich diese Erinnerungen heute nach einem Jahr an Hand meiner Aufzeichnungen in Form eines Romans niederschreibe, – wenn ich an jene Tage zurückdenke, wo wir dem zweibeinigen Tiger nachjagten, dann werden mir noch heute die Finger merkwürdig kühl und zitterig, und ein ebenso kühler Hauch streicht mir den Rücken entlang, sobald ich mir die Einzelheiten jener einen Nachtstunde in der Bawalar-Wüste ausmale … –
Wir hatten unsere gemeinsame Kabine, nachdem wir Lilian und ihren Vater gesprochen, nicht etwa deshalb betreten, um schlafen zu gehen. Bewahre! Schlafen – wir?! Hier im Zuge, wo sich fraglos unser Jagdwild befand?!
„Pech!!“ meinte Harst und setzte sich auf seinen Bettrand, rauchte eine Mirakulum an und fuhr fort: „Wenn Nathanael Derbly uns drei Minuten früher die Sache von dem Klubsessel, dem Scheck und dem angeblichen Kellner erzählt hätte, würden wir den Burschen, der den Scheck holte, unbedingt erwischt haben … – Na – trösten wir uns. Wir kriegen ihn schon noch, den weißen Tiger nebst Gefolgschaft …! Bestimmt bekommen wir ihn! Der Bursche ahnt noch nicht, daß zwei nicht ganz ungewandte Spürhunde auf seiner Fährte sind …!“
Ich saß und machte ein ungläubiges Gesicht …
Ich traute dem Frieden nicht …
„Ob er wirklich nichts ahnt, Harald?“
„Nein … Sonst hätte er diese zweite Erpressung nicht riskiert – Pardon, die dritte …! Nummer eins war die Entschädigung für „Alis Eltern“, Nummer zwei die Bezahlung der Leute, die die Leiche der jungen Inderin wegschafften, Nummer drei … der Scheck für den Kellner …“
Nun – ich war sehr erstaunt über diese Äußerung, denn daran, daß die beiden indischen Strolche, die für eine Unsumme und für Brillantschmuck die Tote beseitigt hatten, vielleicht gleichfalls zu dieser Verbrecherbande gehörten, hatte ich noch gar nicht gedacht.
Harst nickte mir zu …
„Es ist schon so, mein Alter … Ein so gutes Ausbeutungsobjekt wie Nathanael Derbly muß gehörig ausgesogen werden, haben sich die Burschen vorgenommen. Nach dem Rezept handeln sie. Ihr Führer ist kein Dummkopf, wenn auch nicht gerade ein überragender Geist. Wenn wir ihn entdeckt haben werden, dürften wir einen verschlagenen, feigen, heimtückischen, den gebildeten Ständen angehörigen Menschen vor uns sehen.“
„Und – Dein Verdacht gegen Granvell?“
„Bitte – habe ich bisher einen solchen Verdacht geäußert?!“
„Hm – Du machtest merkwürdige Redensarten über Derblys Freund …“
„Aus denen Du mehr herausgeklügelt hast, als sie besagten … Ich … kenne den weißen Tiger längst.“
Daß ich geradezu emporfuhr, war kein Wunder …
„Ich kenne ihn, lieber Alter. Ich könnte meine Hand auf ihn legen und ihn verhaften lassen … Ich warte damit bis Bombay … Er soll …“
„Verzeih … Soeben erklärtest Du: „Wenn wir ihn entdeckt haben werden …!“ – Und jetzt behauptest Du, daß Du bereits weißt, wer es ist …“
„Ich weiß es … Und der Ausdruck „entdecken“, den ich anwandte, ist so zu verstehen, daß ich ihn entlarven will – so gründlich, daß er sofort kapituliert … Ich könnte ihn Dir bis ins einzelne beschreiben, obwohl …“
Und da war’s, daß plötzlich die Bremsen des Zuges kreischten …
Der Zug hielt …
Inmitten der trostlosesten Sandeinöde, die diese Eisenbahnlinie durchschneidet …
Wir öffneten das Fenster …
Zugbeamte liefen hin und her …
Wir hörten: die Notbremse war gezogen worden!
Es fragte sich nun, in welchem Abteil …
Wir gingen in den Gang hinaus, in den zweiten Schlafwagen …
Vor einer offenen Tür drei Beamte mit Laternen … – und Mr. Charlie Granvell, den wir persönlich noch nicht kannten …
In der Kabine, die offen war, mußte zwischen dem Insassen und anderen Leuten oder einem einzelnen ein wilder Kampf stattgefunden haben.
Granvell erklärte den Beamten soeben, daß er, der die Nachbarkabine innehatte, plötzlich ein paar Schreie und andere Geräusche vernommen habe, worauf er in den Gang hinaustreten wollte, um zu sehen, was seinem Kabinennachbar Doktor Gibson zugestoßen sei … –
Das Innere der Kabine zeigte überall Blutspritzer … Der Bettvorhang war zerrissen … Die Bettwäsche war von Bluttropfen punktiert … Das Fenster war herabgelassen.
Harald flüsterte mir zu:
„Wir geben uns nicht zu erkennen … Die Derblys schweigen …“ –
Zehn Minuten später hatten Zugbeamte und Passagiere, zu denen auch wir gehörten, festgestellt, daß man Doktor Gibson offenbar ermordet und beraubt, und daß die Mörder dann die Notbremse gezogen hatten, um durch das Fenster zu flüchten. Im Sande neben dem Bahndamm war die Stelle deutlich sichtbar, wo die Leiche aufgeschlagen war, ebenso gab es hier Fußspuren von zwei Leuten, die sich laufend entfernt hatten. Diese Fährte ging nach Osten zu in die Sanddünen hinein, wo stellenweise breite Flächen des sogenannten Wüstendorns wuchsen und mannshohe Dickichte bildeten, in die kein Mensch eindringen konnte.
Granvell und wir beide waren als einzige diesen Spuren bis zum ersten Dornenfeld gefolgt. Wir hatten uns Granvell unter den Namen vorgestellt, die wir hier jetzt gewählt hatten. Erst bei der Rückkehr zum Bahndamm lüftete Harald die Maske und erzählte Granvell auch, daß wir die Derblys bereits kannten.
„Wir werden den Zug verlassen, Mr. Granvell,“ fügte er hinzu. „Wir bleiben hier und suchen nach Doktor Gibsons Mördern …“ –
So geschah es. Der Zug fuhr ohne uns und ohne Vater und Tochter Derbly weiter. Man hatte im Zuge noch festgestellt, daß die Kabinen zweier Inder, die ihrer Kleidung nach den reichen Ständen angehört hatten, leer und daß die dort zurückgebliebenen Koffer ganz neu und ohne Inhalt waren. Diese Inder also waren die Täter. – Unser Gepäck sollte in der nächsten Stadt – das war Machara, ausgeladen werden. Wir hatten nur das Nötigste in Handtaschen bei uns behalten.
Als der Zug weiterdampfte, war es kurz nach zwei Uhr nachts. Gegen vier mußte es hell werden.
Wir standen auf der Westseite des Bahndamms, der uns also gegen Sicht schützte.
Lilian stützte sich auf den Arm ihres Vaters. Der Tod des bescheidenen, allzeit hilfsbereiten Doktors ging ihr sehr nahe. Nicht etwa, daß sie jemals wärmere Gefühle für ihn gehegt hätte. Nein, davon war keine Rede gewesen. Aber Morris Gibson, das hatte Lilian mir gegenüber betont, war für sie die Verkörperung jener Art von unauffälligem Gentleman, dessen innere Vornehmheit die eigene Person stets im Hintergrunde hält.
Charlie Granvell behütete Lilian als ehrlicher und beharrlicher Bewerber von der anderen Seite. Diesen drei dicht gegenüber standen Harald und ich. Etwas weiter aber lagen fünf Handtaschen im Sande.
„Die beiden Täter,“ sagte Harst jetzt, „müssen wir unbedingt fangen. Nur einer von ihnen kann Ihnen den Erpresserzettel im Rauchsalon zugeworfen haben, Mr. Derbly. Die beiden sind eben Mitglieder der Bande des weißen Tigers. Wir werden jetzt hier hinter dem Bahndamm noch ein weites Stück nach Norden gehen und uns dann erst nach Osten wenden. Brechen wir auf.“
Und er nahm drei der Handtaschen, damit die Derblys nichts zu tragen brauchten.
So schritten wir in die heiße dämmerige Nacht hinaus – ins Ungewisse …
Harald zehn Schritt voran.
Granvell hielt sich jetzt an meiner Seite. Er war nun so recht in seinem Element …
„Dieses Abenteuer gefällt mir, Mr. Schraut … Wir sind alle bewaffnet … Fünf Repetierpistolen: das lohnt! Auch Miß Lilian schießt recht gut …“
Harst kletterte jetzt über den Schienenstrang hinweg. An der anderen Seite des Dammes erwartete er uns.
„Wir werden nun vorsichtiger sein müssen,“ erklärte er. „Ich werde noch weiter vorausgehen … Sobald ich dieses Zeichen mit dem rechten Arm gebe, werfen Sie alle sich lang in den Sand …“
Vor uns Dünen, einzelne Strecken Dornendickicht, einzelne armselige Bäume …
Es ging scharf nach Osten zu, also im rechten Winkel vom Bahndamm weg. Nach dieser Richtung hin hatte die Bawalar-Wüste ihre größte Ausdehnung, wie ich noch genau von früher her wußte, wo wir die Thar und ihre Nachbarschaft hoch zu Dromedar durchstreift hatten.
Eine halbe Stunde verstrich. Harst war stets gut zu sehen, obwohl er mindestens dreißig Meter voraus war. Nur wenn er in ein Dünental hinabstieg, entschwand er unseren Blicken.
Wieder war er so für uns unsichtbar geworden, als Miß Lilian plötzlich rief:
„Ah – hörten Sie?! Das … das war ein … ein Schrei …!“
„Ja – von einem Nachtsperber, Miß Lilian,“ beruhigte der dürre Granvell …
Ich hatte überhaupt nichts gehört …
„Nein, ausgeschlossen …!“ erklärte sie da sehr bestimmt. „Ein Vogel war das niemals …! Ich kenne Vogelrufe … Das war eine menschliche Stimme …“
Wir setzten derweil unseren Weg fort …
Wir hatten nun die Dünenkuppe erreicht. Einzelne Flecke Dornengestrüpp bildeten phantastische Gestalten.
Mit einem Male rief Lilian wieder …
„Dort – – eine Hütte – – ein Haus dort unten … Schafe weiden daneben …“
Bisher hatte ich nie gewußt, daß es hier indische Bauern geben könnte. Aber Miß Derbly hatte recht: da war ein Haus!
Und davor stand Harald und winkte mit der Mütze.
Wir bogen also nach rechts ab und beschleunigten unsere Schritte …
Das Haus kam uns durch Gestrüppstreifen aus den Augen …
Tauchte wieder auf … Wir waren keine zehn Meter mehr entfernt.
Harst mußte die Hütte betreten haben. Durch die erblindeten Fenster links vom offenen Eingang schimmerte Licht …
Granvell ging voran in den Flur, der die Hütte in zwei Hälften zerschnitt … Es war im Flur so dunkel, daß er sein Feuerzeug anzünden wollte … Die Fünkchen sprühten … Dann … nicht mehr …
Derbly rief:
„Hallo, old Charlie, machen Sie doch Licht, zum Teufel …!“
Niemand …
Nichts …
Stille … Die absolute Stille absoluter Leere und Finsternis …
Derbly trat über die Schwelle. Ich wollte ihn zurückhalten …
Er war schon drinnen …
„Granvell, so melden Sie …“
Mitten im Satz Schluß …
Nichts mehr …
Kein Geräusch – kein Ton …
Lilian drängte sich an mich …
„Mr. Schraut, was bedeutet das?!“
„Weiß nicht …“ – Und nun hatte ich aus meiner Handtasche meine kleine elektrische Lampe hervorgeholt und schaltete sie ein …
Der Lichtkegel schoß in die Finsternis …
Leer der Flur …
Kahl … kahle Wände … zwei Holztüren …
Ich zog Lilian rasch vom Eingang fort … dem Gestrüpp zu …
Stolperte über einen am Boden liegenden menschlichen Körper …
Und – – erkannte Charlie Granvell – mit aufgerissener Jacke, aufgerissenem Hemd …
In der Herzgegend ragte der Griff eines Jagdmessers heraus – eines reich verzierten Messers …
Granvell war tot … Ich fühlte nach dem Puls … Nein – dieses Herz schlug nie mehr – – nie mehr …
Charlie Stockfisch war ermordet worden …
Ich nahm Lilian bei der Hand, sagte sehr gepreßt:
„Fliehen wir! Laufen wir …!! Es gilt unser Leben …!“
Lilian stand erstarrt und schaute Granvell immerfort in das stiere Totenantlitz … In diesem Gesicht war ein Ausdruck wahnwitzigen Grauens, noch wahnwitzigerer Wut … In solcher Verzerrung hatte ich noch kein Totenantlitz gesehen …
Lilian regte sich nicht …
„Mein … Vater …,“ sagte sie lallend …
Ich wußte, was sie wollte: sie fürchtete dasselbe Schicksal für ihren Vater … Wir sollten ihn retten …!
Da tat ich etwas, das hier notwendig: ich umschlang das Mädchen, trug sie, lief durch den Sand, bis ich den ersten Streifen Dornengestrüpp erreicht hatte – eine Einbuchtung, wo der Stachelwald uns den Rücken deckte.
Vielleicht dreißig Meter entfernt die unheimliche Hütte …
Und – – hier haben Lilian und ich, die gespannten Pistolen bereithaltend, den Morgen erwartet …
Endlich wich die Dunkelheit …
Es wurde heller und heller …
Und nichts war in dieser Zeit geschehen, wo wir, die Leiche Granvells vor uns, die Hütte beobachtet hatten … –
Der Tag war da … –
Und – dies ist die Nacht gewesen, die in meinem Hirn wie eingebrannt ist …
Gerade weil nichts geschah, gerade weil wir warteten und nichts – nichts sahen noch hörten, jagten uns Stille und Gleichmäßigkeit des Bildes vor uns die Fieberschauer aufs höchste gepeinigter Nerven über die Leiber …
Das war die Nacht in der Bawalar-Wüste …
Etwas südlich vom Viktoria-Dock in Bombay lag am Kai eine kleine Motorjacht vertäut, an deren Bug beiderseits der Name Titania in Messingbuchstaben glänzte, während die Gallionsfigur den Oberleib einer Nixe darstellte.
Auf dem Achterdeck des Schiffleins unter dem Sonnensegel standen zwei Korbsessel. Die Dunkelheit ließ die beiden in den Sesseln lehnenden Gestalten nur undeutlich erkennen.
Auch ich konnte nur durch das Gehör feststellen, daß Miß Lilian, mein Schützling, wieder einmal weinte. Wir beide waren die verschwommenen Gestalten … –
Vormittags waren wir in Bombay eingetroffen. Lilian hielt an dem Gedanken ihres Vaters fest, eine Jacht zu mieten …
„Ich will in kein Hotel, Mr. Schraut … Ich fürchte mich in einem Hotelzimmer …“
Da Lilians Scheckbuch größere Ausgaben gestattete, mietete ich zwei Stunden später durch Vermittlung eines Agenten die hübsche Titania, deren sonstige Bestimmung es war, Touristen gegen klingende Münze die Küste zu zeigen. Der Kapitän und Besitzer war ein Mr. Daniel Compson, ein uralter Seebär, der sich von seinen Ersparnissen die Jacht hatte bauen lassen. Die Besatzung bestand aus sieben Indern. –
Lilian weinte wieder …
Mir war nicht viel anders zu Mute …
Nathanael Derbly und Harst waren ja in der Hütte in der Bawalar-Wüste nicht aufzufinden gewesen. Damals am Morgen hatten wir uns in die Hütte hinein gewagt … Wir fanden dort zwei Leichen – ein altes indisches Ehepaar … – erstochen …
Wir begruben den armen Charlie Granvell. Wir suchten die Umgebung ab …
Spuren gab’s übergenug …
Auch eine Art Pfad … Und dieser Pfad brachte uns nach dem Dorfe Lakoma am Bahndamm.
Lakoma hat vierhundert Einwohner und ist Haltestelle für Personenzüge. Die Bahnbeamten halfen uns, nochmals die Dünen und die Hütte in weitem Umkreis nach den Verschwundenen zu durchstöbern …
Nichts …
Wir hüteten uns, die volle Wahrheit anzugeben … Wir hätten von Lakoma aus nach Alwar an die Polizei telegraphieren können. Es wäre zwecklos gewesen. Ich habe zwar meist eine Brille vor den Augen, aber mehr als ein Polizist sehe ich doch.
So fuhren wir denn nach Alwar, nahmen das dort untergestellte Gepäck mit uns und hatten nun einen vollen Tag auf der Titania zugebracht – zwei Menschen, die das Schicksal vor kurzem erst zusammengeführt hatte und die jetzt durch gemeinsames Leid Freunde geworden: Lilian hatte den Vater verloren, ich den besten Freund, den einzigen Freund, den gütigsten Menschen, der je all seine Geisteskräfte für den Schutz zur Hilfe anderer eingesetzt hat!
Vorläufig hatten wir sie verloren … Daß sie ermordet seien, glaubte ich nicht. Und immer wieder hatte ich dies Lilian gegenüber betont. Wenn ich trotzdem die ernstesten Besorgnisse um die beiden Verschwundenen hegte, so bezogen sie sich lediglich auf eine Gefangennahme, auf die Möglichkeit einer Verschleppung in die unwirtlichsten Gebiete der großen Thar-Wüste, die ja stets der letzte Zufluchtsort von allerlei Gesindel gewesen ist.
Die Vorgänge in der Hütte des von den Leuten des noch immer unbekannten weißen Tigers ermordeten indischen Bauernpaares konnte ich mir nur zum Teil durch Kombinationen in ungefähren Umrissen zusammenreimen. – Wir waren natürlich, schon als der Zug ohne uns abdampfte, ständig beobachtet worden. Wir hatten stets Spione um uns gehabt, und als Harald als Führer leider gerade auf die entlegene Hütte zusteuerte, da hatten diese Schurken – vielleicht waren es doch mehr als zwei – die alten Leute kaltblütig umgebracht, damit das Häuschen ihnen für weitere verbrecherische Zwecke zur Verfügung stände. Harst war diesen brutalen Burschen dann fraglos in der Hütte in die Arme gelaufen. Charlie Granvell hatten sie im dunklen Flur halb erwürgt und erdolcht, die Leiche dann sofort, um uns, die Überlebenden, zu schrecken, lautlos hinter uns in den Sand gelegt. Schließlich hatten sie sich dann auch Lilians Vaters bemächtigt. Weshalb sie uns unbehelligt ließen, begriff ich nicht.
Jeder, der diese Vorgänge prüft, wird unschwer in der ganzen Art der Einzelereignisse Widersprüche finden, die kaum lösbar erscheinen. Ich brauche hier auf diese Widersprüche kaum hinzuweisen. –
Und jetzt, gegen zehn Uhr abends, hörte ich nun hier auf dem Achterdeck abermals die wehen schluchzenden Laute Lilian Derblys …
„Aber Miß Lilian …!“ sagte ich leise … „Sie hatten mir doch versprochen, ein tapferes Mädel zu sein …!“
Ich rückte meinen Korbsessel näher zu ihr heran, tastete nach ihrer Hand …
„Miß Lilian, Sie dürfen nicht so verzagt sein … Sie lähmen dadurch meine Entschlußkraft … Wir wollten doch beraten, ob …“
Sie fiel mir ins Wort …
„Oh – wir haben etwas ganz vergessen, Mr. Schraut … Soeben fällt es mir ein … Leider erst jetzt … Wir hätten den Scheck sperren lassen sollen, den Pa hier auf die India-Bank ausgestellt hat … – den Scheck aus dem Klubsessel des Rauchsalons …“
Ich drückte ihre Hand …
„Vergessen habe ich etwas, Miß Lilian, nämlich Ihnen mitzuteilen, daß ich dies durch unseren hiesigen alten Freund, den Detektivinspektor Malcolm, tun ließ. Ich habe Malcolm vom Büro des Agenten aus angerufen, der den Mietvertrag über die Titania zustande brachte. Der Inspektor war gerade sehr beschäftigt und wollte mir hierher Nachricht geben, ob der Scheck etwa schon einkassiert ist …“
Lilian überließ mir ruhig ihr schmales und doch kräftiges Händchen.
„Es ist merkwürdig, daß Mr. Malcolm noch immer nichts von sich hören läßt …,“ sagte sie sinnend …
„Allerdings … Ich wäre auch längst bei ihm. Aber ich möchte Sie nicht allein lassen, Lilian …“
„Sie sind so gut zu mir, Mr. Schraut … Nein, nein, gehen Sie nicht von Bord … Ich …“
Gleichzeitig hatten wir beide da auf dem Hafenbollwerk ein paar Männer bemerkt, die sich der Titania näherten. Es waren fünf im ganzen, einer davon ein Europäer. Als er nun unter der einen Bogenlampe der Uferbeleuchtung dahinschritt, erkannte ich Edward Malcolm.
Man erkennt ihn leicht. Nur Malcolm schlenkert so unglaublich mit den langen Armen und trägt den Kopf so schief nach links.
Er kam über die Laufplanke allein an Deck. Der Matrose, der die Wache hatte, hielt ihn an. Ich rief sofort:
„Hallo, Malcolm, hierher …!!“
So nahte er denn. Ich hatte mich rasch erhoben und die Glühbirnen unter dem Sonnensegel eingeschaltet.
„’n Abend, Malcolm …“
Donner – was bedeutete das?!
Er übersah meine Hand, faßte an den Tropenhelm, richtete sich sehr dienstlich auf …
„Mr. Schraut, die Dame dort ist Miß Lilian Derbly, nicht wahr?“
„Allerdings …“
Mir wurde verdammt schwül zu Mute …
„Es tut mir leid,“ sagte Malcolm noch dienstlicher … „Ich muß Miß Derbly verhaften. Es ist eine lange Depesche aus Dehli eingetroffen …: Mordverdacht … Beseitigung einer Leiche …“
Lilian war sehr blaß geworden. Aber sie hielt sich bewundernswert.
„Auf ein Wort, Malcolm …,“ meinte ich leise und zog ihn beiseite. „Malcolm, ich bürge für Lilian. Lassen Sie sie hier an Bord. Ersparen Sie ihr die Untersuchungshaft. Sie hat nichts – nichts verbrochen. Ich werde Ihnen alles erzählen, und daß ich nicht lüge, wissen Sie. – Lady Roxanoor, Gattin des verschwundenen Lords, hatte uns nach Dehli gebeten. Es handelte sich um eine der seltsamsten Gaunereien gefährlichsten Stils, die ich kenne, um einen weißen Tiger …“
Nun berichtete ich weiter …
Edward Malcolm, der sich bei der Londoner Polizei seine Sporen verdient hatte, war ein Mensch von hohen Fähigkeiten. Sein interessiertes Gesicht bewies, daß ihm das meiste, was er hier hörte, völlig neu war.
Als ich geendet, als ich zum Schluß auch unsere Abenteuer in der Wüste Bawalar geschildert hatte, drückte er mir kräftig die Hand …
„Schraut, das ändert die Sache … Wenn Sie für Lilian Derbly bürgen, mag sie hier an Bord bleiben. Ich sehe ja ein, daß sie schuldlos ist … Aber der Haftbefehl kommt vom Gouverneur in Dehli, und bevor …“
„Schon gut, Malcolm … Ich danke Ihnen … Sprechen Sie doch ein paar beruhigende Worte zu Miß Derbly …“
Er tat noch mehr. Er setzte sich neben Lilian. Er war sehr liebenswürdig, tröstete sie …
„Ich hoffe, daß der Haftbefehl morgen wieder aufgehoben wird … Jedenfalls dürfen Sie die Jacht nicht verlassen, Miß Derbly … Und morgen beraten wir dann, was im Interesse Ihres Vaters und Mr. Harsts geschehen muß … Wir werden mit allen Machtmitteln der Polizei zupacken – mit allen …!“
Er verabschiedete sich freundlich.
Meinte noch: „Halt, – – der Scheck! Da bin ich leider zu spät gekommen. Eine verschleierte Dame hat ihn kassiert.“
„Dame?!“
Lilian und ich riefen es gleichzeitig.
„Ja … Eine sehr elegante junge Dame … Mithin hat der weiße Tiger auch weibliche Verbündete …! – Gute Nacht …“
Er zog mit seinen Beamten ab.
Lilian und ich saßen wieder im Dunkeln beieinander.
Still und stumm …
Beobachteten das lebhafte nächtliche Hafenbild der Riesenstadt Bombay, der zweitgrößten Indiens …
Die weite Wasserfläche war wie von goldenen und silbernen Streifen durchkreuzt: dem Widerschein der Schiffslaternen!
Riesendampfer löschten ihre Ladung … Ketten rasselten … Kräne stöhnten … Ungeheure Lasten schwangen wie leere Gehäuse durch die Luft …
„Es ist gut, daß die Polizei nun eingreift,“ sagte Lilian plötzlich. „Mir ist eine verzehrende Angst von der Seele genommen. Ich kann mich jetzt verantworten für das, was ich tat …“
Ich freute mich. Sie war lebendiger, frischer …
Um halb zwölf zogen wir uns in unsere Kabinen zurück. Die Jacht hatte in den Heckräumen fünf Kabinen und einen kleinen Salon. Wir wohnten nebeneinander, Lilian und ich. Die Verbindungstür war verschlossen und durch unsere Koffer verstellt.
Die Nacht war heiß. Die Ventilatoren surrten ununterbrochen.
Ich mochte etwa eine halbe Stunde im Bett gelegen haben (nach übler Angewohnheit rauchte ich noch eine Zigarre und las Zeitungen), als es klopfte …
Sehr leise …
Ich horchte … Ich war im ersten Augenblick wie erstarrt …
Denn dieses Klopfen war das eines lieben, mir teuren Menschen …
Poch … poch, poch, … poch, poch, poch, … poch!
Ein längst bekanntes Signal!
Dann fuhr ich aus dem Bett …
An die Tür …
„Harald – Du?!“
„Natürlich, mein Alter …!“
Ich öffnete …
Vor mir ein zerlumpter alter Inder …
Der reicht mir die Hand, tritt ein …
„’n Abend … – Nicht viel fragen … Wir müssen weg … Auch Miß Lilian … Sofort …“
Harst ist etwas atemlos …
„Lilian?! – Das geht nicht, Harald … Sie ist verhaftet worden … Ich habe für sie gebürgt …“
„So?!“ – Der Inder sieht mich seltsam an. „Schade …! Unter diesen Umständen …“ – und er tritt wieder in den Gang und winkt …
Drei andere Inder – Hafenkulis …
Und Harst flüstert mit ihnen …
Mit einem Male hat der eine mich bei der Kehle … Auch die beiden anderen packen zu …
Im Nu bin ich gefesselt, geknebelt … Habe ein Tuch vor den Augen …
Werde nach oben getragen – offenbar auf ein anderes Fahrzeug …
Man wirft mich auf einen Haufen Stroh …
Stille …
Nichts …
Und langsam komme ich zur Besinnung … Begreife: Harst hat mich gewaltsam entführt, ebenso wird er’s mit Lilian machen …
Er hat gewußt, daß Lilian die Jacht nicht verlassen konnte … Mein Wort, das ich Malcolm für Lilian verpfändet, sollte nicht angezweifelt werden. – Und – ich hatte jetzt auch ein ganz reines Gewissen. Ich war überrumpelt worden. Ich hätte nie geduldet, daß man Lilian mitnahm.
Ich setzte mich aufrecht … Das Stroh raschelte …
Da brummte jemand undeutlich neben mir:
„He – wer ist’s?“
Donner – das war Kapitän Compsons Stimme! Daniel Compsons Whiskykehle! Besitzer der Titania! Also auch ihn hatte man gefangengenommen …!! Harst war gründlich!!
Ich konnte nicht antworten … Der Knebel erwürgte mich fast.
Mit einem Male begann das Fahrzeug zu schwanken.
Ein Motor ratterte …
Ratterte endlos lange … Stärker wurde das Schaukeln. Der Hafen lag hinter uns. Wellen klatschten gegen die Bordwände. Schritte liefen über mir hin und her …
Nach vielleicht einer Stunde – inzwischen hatte Daniel Compson noch wiederholt mit mir sich verständigen wollen – verstummte der Motor …
Kreischend rieben Außenplanken an Holzpfählen entlang …
Das Fahrzeug lag still … Leute kamen, trugen mich fort … Die Augenbinde verhinderte, daß ich Umschau halten konnte.
Dann … nahm mir jemand die Binde ab …
Ich stand in einem hell erleuchteten, eleganten Herrenzimmer …
Vor mir eine schlanke blonde Dame …: Lady Roxanoor! –
Es war das Herrenzimmer der Villa Lord Roxanoors auf dem Malabar Hill, der westlichen Halbinsel-Vorstadt Bombays …
Dasselbe Zimmer, in dem die Lady uns den Auftrag erteilt hatte, ihren Gatten zu suchen.
Lady Amelia Roxanoor sagte ernst:
„Es tut mir leid, lieber Mr. Schraut, daß man Sie so hart angefaßt hat. Es mußte leider sein …“
Wir waren allein im Zimmer.
Jetzt öffnete sich aber eine der beiden Türen und ein schlanker Herr trat ein, der Typ des vornehmen Engländers. Er nahm mir schnell den Knebel ab und stellte sich dann vor:
„Lord Roxanoor …“ – Lächelte ganz wenig. „Der befreite Roxanoor, Mr. Schraut … – Bitte, setzen Sie sich … Ihnen die Handfesseln zu lösen, bin ich leider nicht befugt. Harst hat es verboten. Sie … Sie müssen sich als unser Gefangener betrachten …“
Ich stand da, und mein Gesicht muß nicht übermäßig geistreich gewesen sein …
Lady Amelia schob mir einen Klubsessel hin …
„So nehmen Sie doch Platz, Mr. Schraut … Es ist begreiflich, daß Sie sehr erstaunt sind …!“
Und sie schmiegte sich an ihren Gatten, der noch immer lächelte …
Ich setzte mich …
Ich kam mir höchst töricht in dieser seltsamen Situation vor … Und aus diesem Bewußtsein, hier eine fast unwürdige Rolle zu spielen, wuchs langsam ein grimmer Ärger heraus …
„Das – das geht denn doch zu weit von Harald!“ sagte ich gereizt. „War es denn unbedingt nötig, Mylord, daß er uns von der Titania auf diese Weise entführte?!“
„Leider war es nötig – leider! Malcolm hatte dem Polizeichef Bericht erstattet. Der war durchaus nicht einverstanden, daß man Miß Lilian auf der Jacht beließ. Der verlangte, daß auch Sie wegen Beihilfe verhaftet werden sollten. Ich habe gute Freunde, die mich rechtzeitig verständigten. So haben wir denn ein Frachtboot … geliehen und diesen Piratenstreich verübt. Außerdem, lieber Mr. Schraut: der weiße Tiger und sein Anhang sind noch immer nicht gefunden! Harst meint, nur durch besondere Tricks könnte man die Bande erwischen. Davon verstehe ich nichts …“
„Und … Nathanael Derbly?“ fragte ich gespannt.
Der Lord hob den rechten Arm. „… Schläft oben in einem unserer Gastzimmer …“
Mein Ärger schwand wieder. Die Freude, daß Harald, Derbly und auch der Lord gerettet waren, überflutete alle anderen Empfindungen.
Das Ehepaar nahm auf dem Klubsofa Platz … Eine verlegene Stille trat ein. Lord und Lady Roxanoor war es offenbar nun doch sehr peinlich, daß ich hier bei ihnen wie ein Verbrecher behandelt wurde.
Lady Amelia schaute mich flüchtig an …
„Sie müssen es sich nicht zu Herzen nehmen, Mr. Schraut …,“ sagte sie leise. „Harst wird auch sofort wieder hier sein … Er hat nur Kapitän Compson und die Leute der Titania ausbooten wollen – irgendwo …“
Das Gespräch kam wieder in Gang.
„Wo steckt denn Lilian?“ fragte ich.
„Oben bei ihrem Vater … Wenigsten ist ihr das Nebenzimmer angewiesen worden … Vielleicht hat sie ihren Vater geweckt.“
„Würden Sie mir vielleicht Ihre Erlebnisse erzählen, Mylord,“ bat ich Roxanoor … „Oder hat Harald auch das verboten?!“
„Durchaus nicht … Seien Sie nicht bitter und ironisch, Mr. Schraut … Ich werde Ihnen alles berichten. Die Vorgeschichte kennen Sie ja … Dort im Dschungel überfielen mich diese Schurken und verlangten, ich sollte einen Scheck über eine halbe Million ausfüllen. Sobald sie das Bargeld besäßen, würden sie mich freilassen. Der Oberlump Tafiru machte den Unterhändler. Ich lehnte ab. Man brachte mich dann in tagelangem Dromedarritt nach der Bawalar-Wüste und nach dem Dorfe Lakoma in ein abseits liegendes Bauerngehöft. Dort erneuerten die Kerle ihre Erpressungsversuche … Wochen vergingen. Ich lebte in einem Kellerloch, das elend genug war. Fliehen konnte ich …“
„Verzeihung – den weißen Tiger bekamen Sie nie zu Gesicht?“
„Sie meinen den Anführer der Bande, den Harst für einen Europäer hält … Nein, den sah ich niemals … Und … und ich glaube auch nicht recht an diesen weißen Tiger … Ohne Harsts Fähigkeiten anzweifeln zu wollen … – Doch weiter … Eines Nachts konnte ich durch das Fensterloch meiner Zelle beobachten, daß die Inder, die das Gehöft bewohnten und die gleichzeitig meine Wächter waren – ein Greis und zwei jüngere Leute –, einen Toten auf den Hof brachten … Es war ein kleiner schlanker Europäer … Das Gesicht war über und über mit Blut bedeckt. Sie trugen ihn auf einer kurzen Leiter, hatten Spaten bei sich und wollten ihn irgendwo verscharren, was sie dann auch getan haben dürften …“
„Oh – das wird Doktor Morris Gibson gewesen sein …“
„Stimmt …! Harst meint dasselbe … – Als die drei nach den Feldern hin abgezogen waren, blieb ich aus Neugier noch eine volle Stunde am Fensterloch … Und – – zum Glück! Denn jetzt bemerkte ich etwas Neues: zwei lebende Europäer …: Harst und Nathanael Derbly – jeder eine Pistole in der Hand – schleichend wie … wie Indianer auf dem Kriegspfad … Da habe ich denn gebrüllt … da kamen sie und befreiten mich. Wir drei wollten nun die Schufte bei ihrer Totengräberarbeit überraschen. Aber wir fanden sie nicht …“
„Und wie kamen Harst und Derbly nach dem Gehöft, Mylord?“
„Sie waren dem Lumpenpack entflohen, waren in der Nacht vorher in der Hütte östlich des Bahndammes …“
„Aha – kenne ich …!“
„… gefangengenommen[1] worden … niedergeschlagen – halb erwürgt – sofort weggeschleppt …“
„So – nun entwirrt sich das Ganze allmählich,“ nickte ich zufrieden. „Während Lilian und ich uns von der Hütte entfernten, werden die Verbrecher das Häuschen nach Süden verlassen haben …“ Und ich berichtete unsere Erlebnisse … auch ganz kurz …
„Im übrigen, Mylord: der weiße Tiger existiert schon, hat auch eine weiße Verbündete,“ schloß ich meine Erzählung. „Eine verschleierte Europäerin hat den Scheck hier kassiert – den aus dem Rauchsalon … Sie wissen …“
„Ich weiß … alles, lieber Mr. Schraut … Auch von dem Scheck, der hier präsentiert wurde. Wir sind nämlich heute früh gleichzeitig mit Miß Lilian und Ihnen hier eingetroffen – fast gleichzeitig … im Flugzeug, das mir der Gouverneur von Agra zur Verfügung stellte, mein Vetter John Roxanoor … Harst war dann in seiner Verkleidung den ganzen Tag auf den Beinen … Nerven kennt er überhaupt nicht, nehme ich an, und Schlafen und Essen ist ihm die allergrößte Nebensächlichkeit …“
„Ein fabelhafter Gentleman,“ meinte Lady Amelia … „Schade, daß er kein Engländer ist …!“ – Sie lächelte dazu. Es sollte ein harmloser Scherz sein, und so faßte ich es auch auf.
Ein Diener trat ein – ein älterer Inder … sehr hastig, sehr erregt …
„Mylord, Mr. Malcolm, Detektivinspektor, ist draußen … Die Villa ist von der Polizei umstellt …“
Das Ehepaar fuhr hoch …
Sie schauten mich entsetzt an …
Indem riß Malcolm schon die Tür auf …
Ich erhob mich …
Malcolms Blick ruhte verächtlich auf mir, dem scheinbar Wortbrüchigen …
Aber dieser Blick änderte sich … Er sah meine gefesselten Hände …
Mit raschen Schritten näherte er sich mir …
„Schraut, was bedeutet das alles?!“
Dann erst verbeugte er sich vor Lord und Lady Roxanoor …
„Das bedeutet,“ erklärte ich, „daß ich gefesselt von der Titania weggeführt wurde, daß ich also überfallen wurde und Lilian nicht schützen konnte …“
„Von wem überfallen?“
„Von einem Ihrer Freunde, lieber Malcolm … Von einem Manne, den Sie sehr hoch schätzen – sehr.“
„Ja – von Mr. Harst,“ fügte da der Lord hinzu.
Malcolm stand und schüttelte lediglich den Kopf …
Sagte schließlich: „Doch wohl nur Witze, Mylord?! Harst hat …“
In der noch offenstehenden Flurtür war ein zerlumpter Inder erschienen …
Und der war’s, der nun Malcolms Satz beendete:
„… ja, Harst hat wirklich zu diesem eigenartigen Mittel gegriffen, lieber Malcolm …!“
Er trat ein …
Der Inspektor musterte ihn …
Dann streckte er ihm beide Hände hin …
„Old Boy, welche Freude …! Sie wieder im gesegneten Bombay …!! Großartig haben Sie sich wieder eingeführt!! Verdammt – Miß Lilian haben Sie mir gestohlen!“
Hand in Hand standen sie – lachten beide …
Und wir drei Zuschauer lächelten … Der alte Diener hatte sich diskret zurückgezogen.
„Sehen Sie, Malcolm,“ sagte Harst dann, „meine Methoden sind stets etwas anders als die meiner Kollegen … Ich mußte Lilian haben … Da Schraut Bürge war, habe ich ihn regelrecht kaltgestellt. Er hat sein Wort gehalten … Und – jetzt kann ich ihm wohl die Fesseln abnehmen …“
„Natürlich …!“ –
Ich knete die Striemen meiner Handgelenke. Wir saßen um den Tisch herum. Lady Amelia hatte persönlich Getränke geholt …
Draußen zog der neue Tag herauf …
„Leider – leider war auch dies alles umsonst,“ begann Harald, seine Zigarette liebevoll betrachtend. „Ich hatte auf einen anderen Erfolg gerechnet … Er ist ausgeblieben … Nur – – Sie sind erschienen, Malcolm …“
„Ja – auf eine telephonische Meldung an das Polizeigebäude hin … Eine weibliche Stimme erzählte mir am Apparat, daß ich Miß Derbly und Master Schraut, die ich umsonst auf der Titania soeben gesucht hätte, in Lord Roxanoors Villa finden würde … Die unbekannte Person gab so viel Einzelheiten an, daß ich notwendig an die Richtigkeit dieser Meldung glauben mußte.“
„Und – – jetzt?“
„Lieber Harst, Dienst ist Dienst … Pflicht ist Pflicht … Befehl ist Befehl … Und dieser lautet: Lilian und Nathanael Derbly sowie Harst und Schraut sind zu verhaften …! – Ich muß …!“
„Allerdings: Sie müssen …! Befehl ist Befehl …! Und dieser Befehl paßt in meinen Kram vorzüglich hinein, daß ich Sie dringend bitte, Malcolm, uns recht streng zu behandeln … Lassen Sie uns abführen … Nur …“
Und wir alle blickten Harald voller Spannung an.
„Nur Lord Roxanoor wird die Liebenswürdigkeit haben, mich zu vertreten … – Mylord, legen Sie dies wunderbare Habit dort im Nebenzimmer an … Hier ist eine Flasche mit Hautfarbe … In fünf Minuten sind Sie Harald Harst, als Inder verkleidet!“
„Mit Freuden …!“ rief Seine Lordschaft.
Lady Amelia machte ein sehr langes Gesicht … Sie waren erst vier Jahre verheiratet, und sie hatte den Gatten acht Wochen entbehrt … – –
Um acht Uhr morgens brachten die Bombayer Zeitungen Extrablätter heraus:
Sensationelle Verhaftungen!!
Einen dieser Zettel habe ich mir aufbewahrt …
Es heißt da:
„Die Polizei hat wohl hauptsächlich in Rücksicht auf die farbige Bevölkerung, da ja die von Miß Lilian Derbly Niedergestochene eine Inderin war, so energisch zugegriffen. Uns erscheint die Verhaftung der beiden deutschen Detektive wegen Beihilfe bezw. Begünstigung denn doch ein wenig zu … energisch zu sein. Um es unumwunden zu sagen: diese Verhaftung ist ein Mißgriff, eine Entgleisung, zumal nach unseren Informationen die Schuldlosigkeit Miß Derblys so gut wie erwiesen sein soll …“
Ähnlich lauteten damals alle Extrablätter, wenigstens die der für Europäer bestimmten Zeitungen. Die beiden rein indischen Zeitungen gaben dagegen ihrer Genugtuung Ausdruck, daß die Behörden so unparteilich ihre Macht zur Verhütung der Verschleierung des Tatbestandes geltend gemacht hatten … –
Dies war die Nacht in der Villa Roxanoor …
Und die nächste …
Bombay ist Weltstadt … Bombay besitzt einen Polizeipalast und ein[2] dahinter liegendes Polizeigefängnis, die allen modernen Anforderungen entsprechen …
Meine Zelle war Nr. 8. – In Nr. 9 steckte „Harst“, in Nr. 10 Nathanael Derbly, der seine Einkerkerung nur deshalb so ruhig hinnahm, weil ihm Harald (der echte Harald) einen Wink gegeben, nicht etwa das Spiel durch gereizte Reden und dergleichen zu verderben.
Also: wir drei hatten Nr. 8, 9, 10. Miß Lilian war in einer Zelle der Frauenabteilung untergebracht.
Um drei Uhr nachmittags wurden „Harst“ und ich gleichzeitig vom Polizeichef vernommen. Man hatte für „Harst“ inzwischen europäische Kleider besorgt und ihm auch die Farbe abgewaschen. Da Lord Roxanoor genau wie Harst bartlos war, eine starke Nase hatte und durch die Gefangenschaft mager wie ein Hering im Februar geworden, da ferner der Polizeichef erst vor vier Wochen nach Bombay versetzt war und Roxanoor nicht persönlich kannte, wurde der Personenschwindel nicht entdeckt.
Der Polizeichef erhielt im übrigen von „Harst“ nicht eine einzige Antwort. Auch ich hüllte mich in beleidigtes Schweigen. Der Polizeichef verlor die Geduld, wurde grob und ließ uns wieder abführen.
Wir hatten den Tag über Ruhe und holten den versäumten Nachtschlaf gründlich nach. Die Verpflegung war gut.
Um neun Uhr abends kam Malcolm zu mir in die Zelle Nr. 8, kratzte sich bedenklich den Kopf und flüsterte:
„Schraut, die Geschichte kann mich meine Stellung kosten … Der Polizeichef ist wie ein gereizter Bulle … Er glaubt den beiden Derblys kein Wort. Nun hat er für morgen Lord Roxanoor zur Vernehmung vorladen lassen. Und – stellen Sie sich vor: Roxanoor, also Harst, der nun dort in der Villa den Hausherrn spielt, hat telephonisch mitgeteilt, daß er heute nacht elf Uhr sich einfinden werde und daß er bäte, in Harsts Zelle vernommen zu werden … – Schraut, Schraut, mir ist sehr schwül zu Mute …!“
Ich konnte das verstehen, tröstete Malcolm aber durch den Hinweis auf Haralds absolute Zuverlässigkeit.
„Wenn er Ihnen versprochen hat, daß Sie keinerlei Nachteile durch diese Personenschiebung haben werden, so wird auch nichts geschehen, was Ihnen die Stellung kosten könnte. Im Gegenteil: Sie werden Ihrem Lorbeerkranz ein neues Blatt hinzufügen, lieber Malcolm!“
Etwas weniger bedrückt verließ er mich. –
Elf Uhr nachts …
Der Schließer öffnet meine Zelle. Ich hatte mich in Kleidern auf das Bett gelegt, erhebe mich.
Der Schließer führt mich nach Nr. 9.
Hier große Versammlung:
Auf dem Bettrand sitzen Lilian, ihr Vater und der falsche Harst.
Am Tischchen ein Protokollführer.
Auf Stühlen der echte Harst, der Polizeichef, Malcolm und dessen Kollege Jenning. Für mich ist ebenfalls noch ein Stuhl bereitgestellt.
Der Polizeichef wendet sich nun an den echten Harst, den er für Lord Roxanoor hält.
„Mylord, Sie sehen, ich habe Ihren Wünschen entsprochen, obwohl diese Wünsche hinsichtlich …“
Harst unterbricht ihn.
„Entschuldigen Sie, Mr. Gardenac[3], wir wollen zunächst einen Irrtum berichtigen. Bitte, fragen Sie mal Mr. Jenning, der mich persönlich kennt und der ein unglaublich verblüfftes Gesicht ob dieser Szene macht, wer ich bin …“
Mr. Gardenac reibt sich die Stirn …
„Hm – ich verstehe nicht ganz, Mylord … Sie … Sie …“
„Ja – ich bin nicht Lord Roxanoor. Seine Lordschaft sitzt dort auf dem Bettrand. Ich bin Harald Harst …“
Mr. Gardenac reibt sich noch immer die Stirn, offenbar um sein Hirn durch Reibungselektrizität anzuregen …
„Sie scherzen, Mylord …“
Da meldet sich der echte Mylord vom Bett her …
„Mr. Gardenac, Sie gestatten: ich bin Lord Roxanoor! Ich habe mich nur für Harst einsperren lassen, damit er den weißen Tiger fangen kann …“
Nun glaubt Gardenac und sagt zu Malcolm:
„Na – Sie haben sich schön anführen lassen, Malcolm!“ Seine Stimme schwillt … Er fühlt sich in seiner Autorität bedroht … „Wußten Sie etwa von diesem Betrug?!“
Harst fällt ein …
„Mr. Gardenac, ich denke, hier handelt es sich um die endliche Festnahme eines vielfachen Mörders, den ich als den weißen Tiger bezeichne. Hier steht anderes auf dem Spiel als ein an sich harmloser …“
Aber der Polizeichef, übrigens ein Mann, der sich schon in diesen vier Wochen seines Hierseins gründlich unbeliebt gemacht hat, brüllt jetzt (und der echte Lord lächelt mitleidig über diesen Schifferkneipenton):
„Mr. Harst, hier habe ich zu befehlen … Ich allein …! Hier habe ich zu fragen – ich allein …!“
„Sie irren, Mr. Gardenac … Über Ihnen steht Seine Exzellenz der Gouverneur von Bombay …“
„Seine Exzellenz ist nicht hier … Mithin …“
„Bitte …!!“
Harst reicht ihm einen Bogen Papier …
Mr. Gardenac blickt hin … Sein Gesicht wird blaß…
Er liest … liest …
„Allerdings …,“ murmelte er …
Harald nimmt ihm das Papier ab, sagt zu uns übrigen:
„Dieser Kriminalfall des weißen Tigers war mit den gewöhnlichen Mitteln nicht zu erledigen. Ich bin deshalb heute bei Seiner Exzellenz gewesen und habe Exzellenz Vortrag gehalten. Der Erfolg war dieses Schreiben …“
Er liest vor …
„An
den Polizeichef Mr. Gardenac.
Streng geheim.
Ich ersuche Sie, den Anordnungen Mr. Harsts, was den Fall des weißen Tigers betrifft, in allen Punkten nachzukommen und über diese Dinge das allerstrengste Schweigen zu bewahren.
Lord Robert Sellmoor,
Gouverneur.“
Harst steckt das Papier zu sich …
„Mr. Gardenac, Sie sind verheiratet … Meine erste Anordnung geht dahin, daß Sie auch in Ihrer Familie nicht mit einer Silbe erwähnen, was hier vorgefallen …“
Gardenac verbeugte sich …
„Das ist selbstverständlich, Mr. Harst …“ Er gibt sich redliche Mühe, höflich zu sein …
„Meine zweite Anordnung betrifft die Festnahme des weißen Tigers …“
„Ich werde alles tun, was Sie für richtig …“
„Pardon: was ich anordne, also befehle, Mr. Gardenac … – Ich pflege mit anderen Mitteln zu arbeiten als andere Detektive … Ich brauche eine junge Dame, die mir hilft. Diese Dame muß tadellos reiten und schießen können, muß mutig und schlau sein, dazu noch fähig, nötigenfalls auch ihre Kugeln gegen Menschen abzufeuern, also etwas brutal. Sie selbst leben in kinderloser Ehe, Mr. Gardenac, wie ich gehört habe. In Ihrem Hause befindet sich jedoch Ihre Nichte Marry Gaspon, die mir als eifrige Jägerin gerühmt wurde …“
„Zu eifrige!“ meinte Gardenac finster. „In dem Weibe steckt ein Mann, Mr. Harst …! Ja, Marry entspricht Ihren Wünschen …“
„Dann werden Sie sofort Miß Gaspon von hier aus telephonisch anrufen … Sie wohnen wie Lord Roxanoor auf dem Malabar Hill im eigenen Bungalow … Erklären Sie Ihrer Nichte, daß Sie sie gern auf einer dienstlichen Autofahrt mitnehmen möchten … Sagen Sie weiter, es handele sich um die Verhaftung einiger Helfershelfer des weißen Tigers. Mehr sagen Sie nicht. – Dann noch eins: die Verhafteten sind frei. Seine Exzellenz hat eingesehen, daß Miß Lilian den Mord an der Inderin nie verübt hat und daß es auch keine Tat in der Notwehr war …“
Und Harst wendet sich nun an Lilian …
„Nein, Miß Derbly, Sie haben die Inderin nicht erstochen … Ein anderer ermordete das Mädchen …“
Schweigen … Totenstille …
Ungläubiges Schweigen …
„Ich werde das nachher beweisen,“ fügt Harald hinzu …
Und zu Gardenac: „In Ihrem Dienstzimmer versammeln wir uns jetzt … Ihre Nichte wird im Auto kommen … Erwarten Sie sie vor dem Polizeigebäude und bringen sie nach oben … Miß Gaspon wird sich wohl kaum weigern, mir bei der Festnahme des weißen Tigers zu helfen …“
„Oh – gewiß nicht, Mr. Harst …! Marry liebt Abenteuer … Sie ist erst gestern von einer Jagdstreife zurückgekehrt …“
Gardenac geht hinaus, um zu telefonieren …
Seine Schritte verklingen im Flur …
Malcolm ruft jetzt: „Harst, ich bin nicht derart mit Blindheit geschlagen wie der Herr Chef: Marry Gaspon steht mit den Verbrechern im Bunde!“
Wieder Schweigen … Totenstille …
Ich vermute genau dasselbe: Marry hat hier den Scheck kassiert!
Dann erwidert Harald:
„Marry Gaspon hat die Inderin im Grand-Hotel in Dehli ermordet!“
Lilian stößt einen hellen Schrei aus, beginnt zu weinen …
Vor … Glück …
Dann gehen wir alle ins Hauptgebäude hinüber, in Gardenacs großes elegantes Dienstzimmer …
Wir alle gehen: die Derblys, der Lord, die beiden Detektivinspektoren und wir …
Wir nehmen um den großen Mitteltisch Platz …
Ich musterte die Gesichter …
Nervöse Spannung überall …
Nur Harst raucht seine Mirakulum mit behaglichem Genuß … Sagt zu Malcolm:
„Lieber Malcolm, ich habe noch einen Extraauftrag für Sie …“
Er zieht ihn in eine Ecke. Sie flüstern. Dann eilt der Inspektor hinaus. –
Die Zeit schleicht …
Schleicht wie immer, wenn man auf Nadeln sitzt, wenn die Nerven prickeln, wenn die Gedanken das umspielen, was vielleicht geschehen kann …
Die Uhr auf dem Riesenschreibtisch Mr. Gardenacs schlägt Mitternacht …
Lilian hält die Hände ihres Vaters. Nathanael Derbly schwitzt vor Aufregung …
Lord Roxanoor zündet seine Zigarre zum neunten Male wieder an, da er sie immer wieder vergißt …
Harst steht am Fenster und schaut auf die Straße hinab …
Vom Hafen her schrillen Dampfersirenen … Autos tuten unten … Die Straßenbahn rattert … Hin und wieder dringen verwehte Musikklänge herüber …
Über der seltsamen Stadt, die von drei Seiten vom Meere umspült wird, glänzt das milde Licht des Firmaments …
Wir schweigen … alle …
Horchen … Lauern auf die Schritte, die den breiten Flur entlangkommen müssen: Gardenac und seine Nichte, die Mörderin!
Sie kommen …
Es gibt unseren Nerven einen schmerzlichen Stoß, als die Tür sich öffnet …
Marry Gaspon tritt ein …
Prallt zurück … beherrscht sich …
„Ah – welche Versammlung!“ ruft sie, Erstaunen heuchelnd …
Es ist nicht Erstaunen … Es ist Angst …
Miß Gaspon trägt einen leichten Automantel, Automütze mit dichtem Schleier und wildlederne Stulpenhandschuhe. Sie ist hager, mittelgroß. Als Harst auf sie zugeht, starrt sie ihm regungslos entgegen …
„Wollen Sie sich setzen,“ sagt er und zeigt auf den freien Polsterstuhl neben mir. „Auch Sie, Mr. Gardenac … Eine Vorstellung erübrigt sich …“
Marry Gaspon wendet sich an ihren Onkel …
„Was soll dies hier?!“
„Ich weiß es nicht …“ – Er ist mit einem Male fahl und verstört. Er beginnt zu ahnen …
„Setzen Sie sich!!“ Harsts Stimme befiehlt …
Sie gehorchen …
Miß Gaspon mit einem Achselzucken …
Lilian weint leise vor Erregung … Nath Derbly atmet pustend …
Die Luft im Zimmer scheint dick und schwer … –
Harst steht Miß Marry gegenüber an der anderen Tischseite …
„Ihr Onkel war bis vor einem Monat Polizeichef in Agra, Miß Gaspon,“ sagt Harald ohne besondere Betonung. „Von Agra bis Dehli fährt man mit dem Schnellzug etwa acht Stunden … Nicht wahr?“
„Bedauere, – ich war nur einmal in Dehli mit meinem Motorrad …“ – Die Stimme klingt eigentümlich dunkel … Man könnte sie für eine Männerstimme halten.
„So – nur einmal …?!“ sagt Harst etwas lauter. „Das ist nicht ganz richtig, Marry Gaspon. Ich möchte Ihr Gedächtnis ein wenig auffrischen … Ich habe im Laufe des verflossenen Tages verschiedentlich mit der Polizei in Dehli telephoniert. Dabei kam heraus, daß Sie zum ersten Male vor drei Jahren in Dehli eine Nacht im Fremdenheim Bablotte gewohnt haben. Ihre Besuche in Dehli wiederholten sich in längeren und kürzeren Abständen. Sie nannten sich in dem Fremdenheim stets Marry Gibson …“
Gibson – – Gibson …!!
Der Name wirkte …!! Doktor Morris Gibson – das war der Tote aus dem Luxuszug, der Verschwundene, der Begleiter der unglückseligen Jagdexpedition auf den weißen Tiger …!!
Alle, die hier um den Tisch herumsaßen, alle, deren Gesichter von dem elektrischen Kronleuchter bestrahlt wurden, beugten sich weit vor. Es machte den Eindruck, als ob jeder sich gleichsam sprungbereit hielte.
Marry Gaspon erwiderte leichthin: „Nun ja – – ich will es nicht leugnen … Ich hatte einen Geliebten in Dehli. Deshalb sollten meine Verwandten das Ziel meiner Ausflüge nicht erfahren.“
Harst schüttelte wie in unwilligem Erstaunen über diese neue Lüge den Kopf …
„Derartiges müssen Sie nicht mir aufzubinden suchen, Marry Gaspon … – Wer war denn Ihr Geliebter? Etwa der Inder, der sie zuweilen bis zum Fremdenheim Bablotte begleitete und mit dem man Sie auch im Eingeborenenviertel wiederholt zusammensah?! Dieser Inder, auch das ist bereits erwiesen, ist derselbe, der sich unter Mißbrauch des Namens des Tigerjägers Tafiru an reiche Touristen heranmachte und ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilte, er könne Ihnen zu dem Fell eines weißen Tigers verhelfen – genau wie er’s mit Mr. Derbly tat … – Dieser weiße Tiger aber tauchte vor drei Jahren auf, zu derselben Zeit, als Ihre Besuche in Dehli begannen, Marry Gaspon. Der weiße Tiger ist Ihre Erfindung gewesen …!“
„Lächerlich!!“ rief die Angeschuldigte ironisch. „Haben Sie noch mehr von solchen geistvollen Kombinationen in Bereitschaft?“
„Ob die Kombinationen geistvoll sind, darauf kommt es nicht an … Jedenfalls kann ich beweisen, daß Sie zuletzt in Dehli als Doktor Morris Gibson auftraten … – Lüften Sie jetzt Ihren Schleier, Marry Gaspon! Nehmen Sie auch die Mütze ab …!“
Es ging wie ein krampfhafter Ruck durch ihren Körper …
Sie zögerte … Dann gehorchte sie …
„Gibson …!!“ schrillte Lilian Derblys Stimme …
Und … „Bei Gott – – Gibson!!“ brüllte Nathanael Derbly … –
Marry Gaspon trug das Haar kurz geschnitten … Wenn man sich das kleine Schnurrbärtchen hinzudachte, war es so zweifellos Gibson, daß jeder weitere Beweis sich eigentlich erübrigte.
Dieses Mädchen von vielleicht siebenundzwanzig Jahren, diese eigenartige Verbrecherin hielt all den forschenden, bohrenden und verächtlichen Blicken mit beispielloser Abgebrühtheit stand … Sie lächelte sogar höhnisch … Sie hatte das Spiel verloren und gab dies auf ihre Weise zu.
In die geradezu unheimliche Stille, die den Ausrufen der beiden Derblys folgte, drang vom Flur her der Schall fester Schritte hinein – aufreizend – wie ein Signal, daß noch mehr sich sofort ereignen würde.
Malcolm trat ein …
Zwei Inder mit Stahlfesseln an den Händen schob er vor sich her in das Zimmer …
Ich beobachtete Marry Gaspon von der Seite. Ich brauchte nur die Hand auszustrecken, und ich konnte alles verhindern, was sie vielleicht unternehmen wollte.
Ihr Gesicht war jetzt leichenähnlich. Die großen braunen Augen ohne jeden Glanz … erloschen …
Mit diesem erloschenen Blick musterte sie ihre beiden Helfershelfer … –
Malcolm schloß die Tür. In der linken Hand trug er ein Paket, das mit grauer Leinwand umhüllt war …
„Ich danke Ihnen, lieber Malcolm,“ sagte Harald … „Wir sind hier bereits so weit gediehen, daß Marry Gaspon alles eingesteht … Freilich – Leugnen wäre auch zwecklos … – Ich möchte nun den Anwesenden noch einige weitere Aufschlüsse geben. Zunächst über den wahren Grund dieser seltsamen Verbrechen, bei denen der frei erfundene weiße Tiger die Hauptrolle spielte. Marry Gaspon hatte in Agra vor drei Jahren kurze Zeit einen Bewerber, den Sohn des dortigen Großkaufmannes John Pargell, der ebenfalls John mit Vornamen hieß. Dieser John wandte sich wieder von ihr ab, weil das stark Männliche im Wesen Marrys ihn abstieß. Er verlobte sich mit einer anderen. Und – – er ist der erste der drei Männer, die dann bei der Jagdstreife nach dem „weißen Tiger“ verschwanden. Der dritte, Lord Roxanoor, ist gerettet worden. John Pargell wurde im Dschungel aus Rache ermordet – durch Marry Gaspon …!“
Jetzt rief diese Verbrecherin – und ihre Glieder flogen in einer nicht zu meisternden Erregung:
„Oh – – beweisen Sie mir das …!! Beweisen Sie mir das!! Sie …“
„Ja – Sie … vergessen, daß der Inder dort, der Tafiru spielte, bereits als Kronzeuge sich angeboten hat, Marry Gaspon … – Genug: Pargell war das erste Opfer aus Eifersucht! Und durch die Geldsummen, die man ihm abnahm, wurde Marry Gaspons Hirn erst so recht auf die volle Ausbeutung dieser verbrecherischen Idee eingestellt. Was als Racheakt eingeleitet war, wurde als gemeine Räubereien fortgesetzt. Marry war auf den Geschmack gekommen … Sie liebte das Geld jetzt …“ –
Bedauernswerter Gardenac …!!
Der Polizeichef tat mir unendlich leid. Er war keine sympathische Persönlichkeit, aber das, was hier auf ihn einstürmte, trug ihm sicherlich das Mitleid aller ein …
Harald wandte sich denn auch jetzt nach kurzer Pause an ihn und sagte sehr höflich und mit deutlich spürbarer Anteilnahme:
„Mr. Gardenac, ich stelle Ihnen anheim, dieser Abrechnung nicht weiter beizuwohnen.“
Der Polizeichef erhob sich denn auch und wankte hinaus – ein gebrochener Mann, der wohl einsah, daß es mit seiner Beamtenlaufbahn nun vorbei …
Wir anderen warteten voller Spannung auf Haralds weitere Aufklärungen. Es gab ja in dieser Verbrechertragödie noch übergenug dunkle Punkte. Wie war Harald auf die Person Marry Gaspons gekommen?! Wie hatte er, ohne es mich auch nur im geringsten wissen zu lassen, all diese Ermittlungen erledigen können?! Wo hatte er die beiden falschen Tigerjäger entdeckt?! –
Die Tür hatte sich hinter dem Polizeichef geschlossen … Wir warteten …
Harst blickte unverwandt Miß Marry, der Mörderin, ins Gesicht … Unverwandt … Es war wie ein Kampf zwischen zwei Augenpaaren, die in der Größe sich glichen, in der Farbe verschieden waren.
Marrys vorhin glanzloser Blick hatte Leben und Feuer bekommen … Der Kampf zog sich in die Länge … Bis Harst dann mit jener jähen Unvermitteltheit, die ihm so oft eigen, sehr laut erklärte:
„Sie haben Ihren Diener Ali damals hypnotisiert, Marry Gaspon, und deshalb kroch er im hohen Grase auf den Köder zu, deshalb wurde er erschossen, damit seine nicht existierenden Eltern die Erpressungen beginnen könnten …“
Pause …
Die Mörderin hatte den Kopf gesenkt …
„Und Sie haben auch Lilian Derbly hypnotisiert, Marry Gaspon – im Fahrstuhl im Grand-Hotel, damit Lilian glauben sollte, sie habe die junge Inderin niedergestoßen … Was Lilian erlebte, waren Einbildungen, die Sie ihr suggeriert hatten … Die Inderin war schon tot, als Lilian ihre Zimmer betrat … Und dieses arme braune Mädchen ist ebenfalls eins Ihrer Opfer, mußte sterben, um neue Erpressungen einleiten zu können. Die Leute, die Sie holten, damit die Tote weggeschafft würde, waren Tafiru und der andere Mann dort … Es war ein einträgliches Geschäft …“
Marry Gaspon regte sich nicht …
Ihr Kopf blieb gesenkt …
„Und Sie waren es, die im Rauchsalon des Luxuszuges den Erpresserzettel über die Scheidewand werfen ließ … Sie saßen dabei – als Gibson –, wie der Zettel herabflatterte, Sie holten den Scheck aus dem Klubsessel, Sie merkten dann, daß Schraut und ich im Luxuszuge weilten. Da leiteten Sie die Komödie Ihrer Ermordung ein – und nicht schlecht!“
Die Totenstille im Zimmer, die diesen Sätzen folgte, wurde durch einen leisen Seufzer unterbrochen … Lilian Derbly, an die Schulter ihres Vaters gelehnt, hatte ein Strahlen wie eine Erlöste auf dem blassen Gesicht.
Abermals Harst:
„Nun zu Charlie Granvell … Wenn Granvell nicht seine Liebe zu Lilian so offen zu erkennen gegeben hätte, wäre er niemals das Opfer jener Nacht in der Bauernhütte der Bawalar-Wüste geworden … Granvell war Ihre zweite Liebe, Marry Gaspon …“
Marry blieb Bildsäule … sitzende Statue, Bildnis eines Weibes von so abgrundtiefer Verruchtheit, daß man solche seelische Fäulnis kaum begreifen konnte …
„Und jetzt das letzte, Marry Gaspon … Auch Lilian sollte sterben – auf der Titania … Tafiru und der andere Inder sollten, als indische Polizeibeamte verkleidet, Lilian abholen und dann … verschwinden lassen … Ein anderer holte Lilian: ich! – Der weiße Tiger ist jetzt zur Strecke gebracht … Es war eine weiße Tigerin: Marry Gaspon!“
Wiederum Stille …
„Zum Schluß nun,“ fuhr Harald fort, „noch eine Erklärung: Ihr Schicksal war in dem Moment entschieden, als Lilian mir mitteilte, daß in ihrer Erinnerung an die Vorgänge in den Hotelzimmern eine Lücke klaffte … Dies brachte mich auf die Vermutung, Lilian müsse hypnotisiert worden sein. Doktor Gibson war im Fahrstuhl mit Lilian allein gewesen. So wurde ich auf Gibson aufmerksam. Daß er ein verkleidetes Weib war, sah ich schon vorher im Hotel. Und hier am Hafen, wo die Titania lag, beobachtete ich eine Verschleierte, die für die Jacht ein merkwürdiges Interesse hatte. Ich folgte Ihnen. So fand ich Marry Gaspon, Nichte des neuen Polizeichefs, früher in Agra … Ihre Haupthelfershelfer erwischte ich vier Stunden später nach einer geheimen Unterredung mit Ihnen. All das wickelte sich ab wie ein fortlaufendes Band, nachdem ich den Anfang der Spur entdeckt hatte …“ –
Durch die Fenster drang das Zwielicht des neuen Tages herein …
Die Nacht des weißen Tigers war vorüber …
Marry Gaspon erhob sich …
Ihr Blick flog durch die Fenster zum Himmel empor, der bereits die kommende Sonne ahnen ließ …
Malcolm und sein Kollege führten Marry hinaus … Sie behielt den Kopf gesenkt … Sie ging, ohne ein Wort gesprochen zu haben … –
Wer ihr das Gift verschafft hat, mit dem sie sich dann am selben Tage den Tod gab, ist nicht aufgeklärt worden. Sie war eine Verbrecherin abstoßendster Art. Ungeheure Geldgier, vielleicht krankhaft, hatte sie zu diesen letzten Untaten getrieben. In ihrem Safe[4] der India-Bank wurden an zwei Millionen, außerdem Schmuckstücke und ungefaßte Diamanten gefunden. Harst nahm es für gewiß an, daß sie noch mehr Verbrechen auf dem Gewissen gehabt haben müßte, als bekannt geworden. –
Lilian Derbly hat einen Angestellten ihres Vaters geheiratet. Nathanael Derbly soll erst gewütet, dann aber aus Klugheit nachgegeben haben. Ich wünsche Lilian von Herzen Glück in ihrer Ehe, denn sie hat viel gelitten. Daß sich in ihrem Heim ein Tigerfell als Schmuck befindet, glaube ich nicht. Wer mit dem weißen Tiger zu tun gehabt hat, wird kaum an die Nächte des Unheils durch einen solchen Schmuck erinnert sein wollen.
Anmerkungen: