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Das Haus auf Abbruch

 

 

Walther Kabel

 

Das Haus auf Abbruch.

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte, einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. – Copyright 1923 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

„Ein Uhr!“ sprach der Mann im langen Gummimantel gegen die morsche Haustür …

Ein Mann, der einen Schlapphut trug und einen blonden langen Vollbart hatte, wie ihn heute nur noch Künstler und Leute von unmodernem Geschmack sich wachsen lassen …

Die morsche Tür öffnete sich – der eine Flügel … Der Mann schlüpfte hinein … Der Türflügel schloß sich … –

Links von der Haustür war ein niederes vergittertes Kellerfenster. Hinter der einen zerbrochenen Scheibe wurde im matten Schein der nächsten Straßenlaterne flüchtig ein blasses Antlitz wie ein wesenloses Schemen sichtbar …

In der Ferne schlug eine Turmuhr elf müde klirrende Schläge …

Genau zwei Minuten später tauchte derselbe Mann abermals vor der Tür des baufälligen, unbewohnten Hauses auf …

„Zwei Uhr!“ sprach er dumpf, aber deutlich gegen die Haustür …

Die Tür öffnete sich … Der Mann trat ein … Die Tür klappte zu …

Hinter dem zerbrochenen Kellerfenster war schemenhaft ein blasses Gesicht für Sekunden zu erkennen …

Zwei Minuten später …

Derselbe Mann … dasselbe Spiel …

Nur daß der Mann nun „drei Uhr“ gegen die Tür sprach …

* * *

Eine Stunde später blitzte in dem Kellerraum, der zu dem zertrümmerten, vergitterten Fenster gehörte, ein schwacher Lichtschein auf.

Ein ärmlich gekleideter hagerer Mensch mit eingefallener Brust arbeitete sich hinter einem Berg Gerümpel lautlos hervor und kroch dann durch das Kellerfenster auf die Straße hinaus, nachdem er das verrostete Eisengitter herausgehoben hatte.

Vom Bürgersteig der stillen Straße aus fügte er das Gitter wieder ein, klemmte es mit Mörtelstücken fest und richtete sich halb auf … Mit flinken Bewegungen glitt er über die Straße und betrat ein Häuschen, in dem zwischen Vorhang und Rahmen eines Fensterchens eine helle Linie gleißte … Der dürftige geflickte Vorhang schloß nicht vollkommen …

In diesem Stübchen saß unter einer Gaslampe mit defektem Glühstrumpf an einem Tische mit schäbigem Glanzleinwandbezug ein kränkliches junges Weib, das einen in schmierige Tücher gehüllten Säugling an die flache Brust drückte und ganz leise dazu ein melancholisches Lied summte …

Im Hintergrunde des Stübchens glühte das rote Auge eines dunklen Zyklopen …

Ein windschiefer Kachelofen mit offener Feuerungstür …

Durch die knarrende Tür neben dem Ofen erschien der Blasse[1], das Schemen …

Die Frau wandte den blonden Kopf …

„Nun, Fritz?!“

„Dasselbe, Luzie … Dasselbe wie vorgestern …“

Er setzte sich zu seinem jungen Weibe … Legte den Arm um ihre Schulter … Ein Lächeln flog über sein vergrämtes Antlitz … Der Säugling krähte vergnügt … Das Bübchen war dick und gut genährt …

Die Frau hob das Kind höher …

„Glückliches Alter …!“ – Sie seufzte …

Der Blasse preßte sie leicht an sich …

„Es werden auch wieder bessere Tage kommen, Luzie … Vielleicht …“

Er zögerte, den Satz fortzusetzen …

„Vielleicht bringt mir der Mann von drüben etwas ein … Es muß doch etwas hinter alledem stecken … muß …! Gerade solche Ereignisse soll man nicht unterschätzen …“

„Du liest zu viel Romane, Fritz …“

„Was soll ich als abgebauter Bankbeamter anderes tun, nachdem mir nun auch der letzte Verdienst, die Bewachung der Bude drüben, genommen worden ist?! Vor- und nachmittags auf Stellenjagd – abends lesen … Man wird wenigstens nicht unzufrieden und stumpf.“

Frau Luzie gähnte verstohlen und hielt die schmale Hand vor den Mund …

„Ich denke, wir gehen schlafen, Fritz …“

„Gewiß, Luzie … Ich will nur noch eine Pfeife rauchen … Ich komme sofort nach …“ –

So war denn Fritz Trebbin nun allein in dem armseligen Wohnstübchen …

Er schritt auf dem löcherigen Läufer auf und ab – vom Ofen zum Fenster, vom Fenster zum Ofen …

Rastlos – tief in Gedanken …

Das Haus drüben, das nun auf Abbruch verkauft war, ging ihm nicht aus den Kopf …

Fritz Trebbin kämpfte seit acht Monaten gegen Not und Elend. Am ersten April war er entlassen worden. Am ersten September hatte er seine Dreizimmerwohnung in der Dennewitzstraße möbliert vermietet und hier dieses Häuschen bezogen, das einem Bekannten von ihm gehörte … Von der Dreizimmerwohnung lebte er jetzt mit den Seinen …

Fritz Trebbin war ein wenig Phantast. Gerade genug Phantast, um immer wieder zu hoffen, daß irgendwie doch noch eine günstige Wendung, etwa eine Anstellung … Nein, damit rechnete er nicht mehr … Dazu waren seine Zeugnisse zu sehr Durchschnitt … Nur gerade Durchschnitt … Und heutzutage nahm man nur Leute mit erstklassigen Empfehlungen. Man konnte wählen … Entlassene Bankbeamte gab es zu Hunderten …

Nein – keine prosaische Besserung der Verhältnisse … Vielmehr etwas Ungewöhnliches … Wie es in Romanen zu geschehen pflegt und auch im wirklichen Leben zuweilen … –

Fritz Trebbin rauchte Pfeife, rauchte kalt … Das Feuer war erloschen … Das Feuer in seinem eigenen Kopf brannte weiter, lohte immer kräftiger …

Das Haus drüben … Das Haus, das nun auf Abbruch an den Grundstücksagenten Bikowzer verkauft war, der es dann sofort an einen Ausländer weiterveräußert hatte – einen Engländer Tom Morris …

Und dieser Tom Morris hatte Fritz Trebbin um den geringen Verdienst gebracht, um die zwanzig Mark, die er bisher für die Überwachung des Grundstücks erhalten hatte …

Tom Morris …! – Ja – vor fünf Tagen war der kleine o-beinige Engländer zu Fritz Trebbin gekommen und hatte ihn abgelohnt, hatte ihm noch zwanzig Mark für den Monat November bezahlt, ihm aber die Schlüssel des Hauses abgefordert und erklärt, Trebbin möge sich um das Haus nicht weiter kümmern …

Das war am 25. Oktober gewesen … Gerade als Trebbin zum dritten Male einen Sherlock Holmes-Roman verschlungen hatte …

Tom Morris platzte also ausgerechnet in eine Stimmung hinein, in der Fritz Trebbin sich als Sherlock Holmes fühlte …

Und deshalb nur war dem braven jungen Ehemann und Vater so manches an Mr. Morris auffällig erschienen …

Nicht nur die O-Beine …

Nein – eine übergroße Nervosität, eine blaugraue Brille, ein fuchsiger spröder Haarwuchs und die Eigentümlichkeit, niemals die Augen auch nur einen Moment auf demselben Fleck ruhen zu lassen …

Außerdem: Mr. Morris betonte beim Abschied nochmals in seinem unglaublichen Kauderwelsch, daß Herr Trebbin sich also in keiner Weise mehr um das Haus Nr. 58 bekümmern möge …

Und das war in der Tat auffällig gewesen … Deshalb hatte Fritz Trebbin auch abends am dunklen Fenster des Schlafstübchens nebenan gestanden und eine volle Stunde das Haus drüben beobachtet …

Und da waren dann oben genau wie heute und vorgestern in Abständen von zwei Minuten zwölf Männer in der Haustür des unbewohnten Gebäudes verschwunden, in dem der Hausschwamm unendliche Verwüstungen angerichtet hatte, so daß die Baupolizei das Haus von der Liste der bewohnbaren Grundstücke streichen ließ … –

Trebbin blieb mit einem Male stehen …

Da – es klopfte abermals ganz leise gegen das Fenster … Und die schlecht verkittete Scheibe klirrte leise …

Trebbin drehte die Gaslampe aus und trat an das rechte Fenster …

Langsam schlug er den Vorhang zur Seite …

Undeutlich erkannte er eine Frauengestalt …

Eine helle Stimme rief:

„Bitte – lassen Sie mich ein … schnell!“

Das Häuschen hatte keine Doppelfenster. Es war einst nur als größere Sommerlaube gebaut worden … zu einer Zeit, als Berlin-Friedenau seine Straßenzüge noch nicht so weit gen Dahlem ausgestreckt hatte … wie die Beißzangen einer gierigen Spinne, die alles grüne Land verschlingen möchte.

Trebbin zauderte …

Eine Dame … Breite Pelzstola, schickes Hütchen, Reiherstutz, Schleier …

Das alles zeigte die geringe Laternenbeleuchtung.

Trebbin öffnet nun ganz leise das Fenster, beugt sich hinaus …

„Sie wünschen?“

„Haben Sie ein Zimmer zu vermieten?“

„Wie – jetzt um halb zwölf Uhr nachts?! – Außerdem: das Häuschen enthält nur drei Stuben …“

Zarter Parfümduft umweht ihn … Seine Stimme klingt gereizt … Er denkt an einen frechen Scherz einer Straßendirne …

„Herr Trebbin, ich zahle zweihundert Mark monatlich … Ich brauche Luft, Felder, Einsamkeit … – Damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben: ich bin Gilda Gilden …!“

Fritz Trebbin ist nur ein Durchschnittsmensch …

Er muß sich erst von seinem Erstaunen erholen …

Zweihundert Mark – – und Gilda Gilden …!!

Das ist kein Trug … Das erhoffte Wunder ist eingetreten …!!

Und als Bankmensch, Zahlenmensch fragt er:

„Für wie lange und von wann, gnädiges Fräulein?“

„Sechs Monate … Von sofort …“

„Sofort …? Also morgen …“

„Nein heute – unverzüglich …! Dort hinten wartet ein Auto mit meinen Koffern …“

Fritz Trebbin ist jetzt gänzlich verwirrt …

Und daher ehrlich – stottert:

„Ich … ich muß erst meine Frau fragen …“

„Tun Sie es … schnell …! – Ich warte … Schnell …!“

Trebbin schließt das Fenster …

Hört Luzie schon von nebenan rufen:

„Fritz, mit wem sprichst Du dort?“

Luzie liegt bereits im Bett … Neben dem Bett steht der Kinderwagen … Der Junge schläft, den linken Daumen im Munde.

Fritz sitzt auf dem Bettrand … Ihm ist nicht behaglich zu Mute … Er fürchtet, Luzie könnte den Glückstraum zerstören …

Aber er irrt sich …

Luzie und Fritz leben nur für ihr Kind … Mustereltern, die darben und hungern, nur damit ihrem Kinde nichts abgehe …

„Die Gilden …!“ sagt Luzie … „Eine Filmdiva! Zweihundert Mark … Du, wir geben ihr das Wohnzimmer … Heute noch muß sie auf dem Diwan schlafen … Ich werde mich wieder anziehen, Fritz … – Zweihundert Mark …! Dann können wir unserem Liebling morgen einen Teddybär kaufen … Und dann … – – aber geh nur … Sag ihr Bescheid …“ –

Fritz Trebbin zittert förmlich … Der Glückstraum kann inzwischen vielleicht auf andere Art zerronnen sein … Vielleicht ist die Gilden nicht mehr vor dem Fenster …

Er reißt es auf …

Gott sei Dank …

„Nun!“ fragt die Diva hastig …

„Meine Frau ist einverstanden …“

„Dann werde ich meinen beiden Dienern Bescheid sagen … In wenigen Minuten sind sie mit den Koffern hier … Sie werden über die Felder gehen … Und – noch eins, Herr Trebbin: Sie müssen meine Anwesenheit hier bei Ihnen geheimhalten … Ich werde ja auch nur abends mich einfinden …“

„Wie Sie wünschen, gnädiges Fräulein …“

„Und meine beiden Diener finden wohl oben in der Bodenkammer eine Schlafstelle …“

Trebbin nickt mechanisch …

Ihm ist wieder ganz wirr im Kopfe …

Koffer – – Diener …

Da sagt Gilda Gilden:

„Die Schlafstelle für meine Diener bezahle ich extra mit fünfzig Mark … Genügt das …?“

„Ja … Aber … aber die Bodenkammer ist nicht heizbar …“

„Schadet nichts … – In fünf Minuten also – durch die Hintertür …“

Sie eilt durch den kleinen Vorgarten davon …

Trebbin schließt das Fenster …

Murmelt: „Zweihundertfünfzig Mark – – sechs Monate … Das sind … tausendfünfhundert … tausendfünfhundert …“

Er ist völlig benommen …

Frau Luzie erscheint … Er erzählt … Sie nimmt auch die Diener mit in Kauf … –

* * *

Eine halbe Stunde später …

Oben in der Bodenkammer, deren Dachreiterfenster nach der Straße hinausgeht, stehen die beiden Diener Gilda Gildens im Dunkeln, haben soeben die Scheiben des kleinen Fensters blank geputzt – im Dunkeln …

Der eine nimmt jetzt ein Fernglas …

Der andere sagt:

„Ein verteufelt kaltes Loch hier …!“ Reibt die Hände …

Im Dunkeln …

Man sieht nichts von den beiden … Nur das etwas hellere Fensterviereck … Die Oktobernacht ist wolkig und kalt … Wind streicht über die flachen Felder …

Der erste hat das Fernglas eingestellt …

„Das Haus ist dunkel,“ meint er leise …

„Und die ganze Geschichte Blödsinn!“ brummt der andere …

„Ein Blödsinn, der wahrscheinlich vor Gericht endet,“ läßt der mit dem Glas sich vernehmen …

Er späht unausgesetzt hinüber …

Eine geraume Weile vergeht.

Der andere friert und flucht …

Es wird ein Uhr …

Da gibt auch der erste die Sache für diese Nacht auf.

Er verhängt das Fensterchen mit einer dicken mitgebrachten Wolldecke sehr sorgfältig … Dann erst macht der andere Licht …

Eine Karbidlaterne bestrahlt den kahlen Raum … Nur ein Koffer steht mitten darin …

Den öffnet der Mißmutige … Steppdecken, zwei dünne Matratzen, Luftkissen und anderes packt er aus.

Ein Spirituskocher beginnt Wärme auszustrahlen … In dem Aluminiumkessel dampft Tee aus einer großen Flasche …

Die beiden Diener Gilda Gildens tragen warme Ulster und eine Art Sportmütze, haben kurzgeschnittene blonde Vollbärte und tadellos gepflegte Hände …

Sie trinken Tee, essen belegte Brötchen[2], rauchen, reden leise …

Es sind sehr merkwürdige Diener … – –

 

2. Kapitel.

Das Leben in dem kleinen Häuschen am äußersten Ende der Durlacher Straße in Berlin-Friedenau nimmt vom nächsten Morgen einen anderen Verlauf.

Frau Luzie, die aus Sparsamkeit bisher die urältesten Fähnchen getragen, wird wieder eitel, macht etwas umständlich Toilette und zwingt auch ihren Fritz, einen besseren Anzug anzuziehen.

Gilda Gilden hat noch in der Nacht für einen Monat vorausbezahlt: wirklich zweihundertfünfzig Mark!

Frau und Herr Trebbin schleichen im Schlafzimmer nur auf Fußspitzen umher, damit der Schlaf der Diva nicht gestört werde. Das Bübchen ist in die dritte, fast leere Stube umquartiert worden, denn er ist gesund und kräftig und kräht munter wie ein Gockelhahn.

Gegen acht Uhr morgens lauscht Frau Luzie dann zum dritten Male an der Tür nach Gilda Gildens Stube … Nichts rührt sich dort …

Gegen halb neun lauscht Fritz Trebbin. Schüttelt den Kopf.

Um neun geht er dann um das Häuschen herum und äugt nach den Fenstern der Gilda Gilden-Stube …

Sieht die Vorhänge offen, auch einen Fensterflügel.

Da wird ihm klar, daß die Diva das Haus längst verlassen hat. Er eilt zu Luzie in die Küche und trägt ihr den Fall vor. Frau Luzie erlaubt sich nun an die Verbindungstür zu pochen. Pocht stärker. Als niemand sich meldet, öffnet sie …

Das Stübchen ist hell und freundlich. Auf dem Diwan liegen die Betten … schneeweiß … Auf dem Tische, der jetzt bedeckt ist leuchtet ein Zettel:

Geehrter Herr Trebbin, ich werde wahrscheinlich erst um halb elf Uhr abends zurückkehren. Ich klopfe dann an das Fenster. G. G.

Fritz Trebbin wundert sich … Gilda Gilden hat sich geradezu davongestohlen. Und das Lager auf dem Diwan, behauptet Frau Luzie, kann kaum recht benutzt sein.

Das Ehepaar frühstückt dann. Frau Luzie hat das Kind im Arm … Ihre Wangen sind zart gerötet … Man erkennt, daß sie hübsch und zart ist. Fritz Trebbin macht ebenfalls einen ganz anderen Eindruck als in der Nacht … Er fühlt sich wieder als Mensch … Man leistet sich Butter zum Frühstück, Eier, etwas Aufschnitt … Die Zukunft erscheint rosig und hell … Es wird alles schon wieder gut werden …

Das Ehepaar ist trotzdem etwas zerstreut …

„Ob die beiden Diener vielleicht auch schon auf und davon sind?!“ meint Fritz nachdenklich. „Oben ist alles so totenstill … Überhaupt …“ – Aber er verschluckt den Rest des Satzes. Luzie würde sonst wieder eine gutmütig-spöttische Bemerkung über Romanlektüre machen … –

Es wird zehn Uhr …

Trebbin steht hinter dem Häuschen und schaut zum trüben Herbsthimmel empor. Luzie ist in die Stadt gefahren, um Einkäufe zu erledigen und um auch gleich von den Ausländern, die die Dreizimmerwohnung gemietet haben, die hundertfünfzig Mark für November einzukassieren. Das Bübchen schläft.

Trebbin hat sich eine Zigarre angezündet und läßt nun nochmals in Ruhe die Ereignisse der letzten Tage in seinem Geiste kritisch vorüberziehen.

Ein unbestimmter Argwohn erfüllt ihn … Eine innere Stimme sagt ihm, daß Gildas Gilden mit den beiden Dienern lediglich hierher gekommen, weil sie etwas mit den nächtlichen Vorgängen in dem Hause drüben, dem Hause auf Abbruch, zu tun hat … Es muß da einen Zusammenhang zwischen der Diva und den Leuten geben, die an jedem zweiten Tage um elf sich in dem leeren Hause treffen und denen jemand erst auf ein Kennwort hin die Haustür öffnet …

Zwölf Männer … Alle gleich gekleidet, so daß man annehmen könnte, derselbe Mann erschiene stets nach zwei Minuten von neuem vor der Haustür …

Fritz Trebbin ist überzeugt: es sind natürlich ein Dutzend Männer, nicht nur immer derselbe. Und der, der sie einläßt, dem sie das geheime Kennwort zurufen, kann nur Tom Morris sein, der so nachdrücklich verlangt hat, Trebbin solle sich nunmehr um das baufällige Haus in keiner Weise mehr kümmern.

So ist denn Trebbin wieder bei seiner geistigen Lieblingsbeschäftigung angelangt: er spielt Detektiv!

Nimmt sich vor, die Augen gut offen zu halten … Oh – er wird Gilda Gilden schon hinter ihre Schliche kommen …! Wird aber natürlich weiter den Harmlosen spielen …

Er raucht und wartet …

Die beiden Diener sind doch noch oben in der Dachkammer. Vorhin ist er auf weichen Morgenschuhen die Treppe emporgeschlichen und hat da das tiefe Atmen der Schlafenden gehört …

Wartet … Sie werden ja wohl Kaffee und Frühstück verlangen, die beiden … Und dann wird er sie sich bei Tageslicht genauer ansehen. Denn in der verflossenen Nacht hat er sie kaum recht zu Gesicht bekommen …

Er schrickt jetzt leicht zusammen, als er durch das Vorbodenfensterchen von oben angerufen wird …

„Morgen, Herr Trebbin … Könnten wir Frühstück bekommen? Tee, vier weiche Eier, Schinken und vier Brötchen?“

Trebbin hat sich rasch umgewandt und sieht hinter dem verstaubten Dachfenster undeutlich ein bärtiges Gesicht …

„Sehr gern … In zehn Minuten …,“ ruft er zurück …

Das Gesicht verschwindet …

Fritz Trebbin spielt in der Küche Herbergsvater …

Auf einem großen Teebrett trägt er dann das Frühstück die schmale Treppe empor, klopft an die Kammertür …

Jemand gähnt laut …

„Stellen Sie das Tablett nur auf die Kiste neben die Tür … Wir sind noch beim Anziehen … Vielleicht bringen Sie uns noch eine Waschschüssel und eine Kanne Wasser und einen Eimer …“

Fritz Trebbin gewinnt den Eindruck, daß die beiden sich bei Tage nicht gern sehen lassen wollen …

Aber er irrt sich.

Eine halbe Stunde drauf kommen die Logiergäste die Treppe herab und begrüßen ihn …

Bescheidene Leute … Tragen eine Art Schofförjacken …

Man steht zu dreien in der Küche …

„Unsere Herrin ist wohl schon weg …?“ meint der eine …

Da sagt der andere: „Was fragst Du?! Sie hat doch schon morgens um acht Aufnahme …“

„Stimmt … Ich besinne mich … – Herr Trebbin, unsere Herrin wünscht, daß sie hier in keiner Weise von Reportern, Lieferanten und Freunden belästigt wird … Sie und Ihre Gattin müssen also unbedingt unsere Anwesenheit geheimhalten …“

„Keine Sorge, Herr Wendland … Luzie und ich sind froh, daß wir wieder etwas verdienen …“

Wendland und Holsten nennen sich diese seltsamen Diener … Holsten ist etwas kleiner als sein Kollege und auch stiller.

Man spricht über allerlei …

Fritz Trebbin stellt fest, daß Bärte und Kopfhaar dieser Diener niemals echt sein kann … Das Haar hat eine stumpfe, tote Farbe, und bei Holsten kommt am linken Ohr ein winziges Büschelchen schwarzer Haare unter der blonden Scheitelperücke zum Vorschein. Außerdem – und das ist ebenso vielsagend – erklärt Wendland beiläufig, daß Fräulein Gilden befohlen habe, er und Holsten sollten sich hier von niemandem überraschen lassen …

„Eine Filmdiva hat stets einen kleinen Fimmel, Herr Trebbin …,“ witzelt er und lacht breit … „So reichen Damen, denen das Geld scheffelweise zufliegt, muß man vieles nachsehen … Wir haben es gut bei ihr … sehr gut … Zuweilen spielen wir auch mit – in der Komparserie – als Statisten … Auch heute nachmittag, als Briefträger … Wir werden unser Kostüm gleich hier anlegen …“

Dann verschwinden sie wieder in ihre Bodenkammern.

Trebbin saugt nachdenklich an dem erloschenen Zigarrenstummel …

Unbehaglich ist ihm plötzlich zu Mute …

Diese Leute sind niemals das, was sie scheinen wollen …

Und … und … Briefträger?! Er ahnt: die beiden wollen eben in einer unauffälligen Maske das Haus verlassen …! Briefträger fallen nicht weiter auf. –

Um halb zwölf kehrt Luzie heim, beladen mit Paketen, heiter, vergnügt …

Gibt ihrem Fritz einen langen Kuß …

Trebbin heuchelt sorglose Fröhlichkeit, dankt für das halbe Kistchen Zigarren, wickelt den Teddybär aus …

Aber nachher beginnt Bübchen entsetzlich zu kreischen, als er das braungelbe zottige Ungetüm sieht.

Das Elternpaar ist enttäuscht …

„Er wird sich schon daran gewöhnen,“ sagt Fritz Trebbin … Aber seine Gedanken sind anderswo …

* * *

Gilda Gilden geht im gelben Salon ihrer Wohnung am Viktoria-Louise-Platz nervös auf und ab …

Die Stutzuhr hat soeben erst viele helle, dann einen tieferen Ton geschlagen … Es ist ein Uhr …

Der Diva hohe schlanke Gestalt, umflossen von einem dunklen, schlichten Hauskleid, das entgegen jeder Mode sehr lang ist und in eine halbe Schleppe ausläuft, verharrt plötzlich regungslos, als draußen im Flur die Glocke schrillt …

Sie lauscht …

Die Glocke schrillt ein Signal: kurz, kurz, lang, lang, – – nochmals: kurz, kurz, lang, lang …

Gilda Gilden schaut flüchtig in den hohen Eckspiegel. Sie sieht, daß sie bleich geworden …

Oh – nur das nicht …!

Nur nicht verraten, daß sie diesen Elenden fürchtet!

Sie atmet tief und ruhig, geht langsam zu der nur angelehnten Tür und betritt den langen Korridor …

Der kurze Weg bis zur Flurtür gibt ihr die volle Ruhe zurück …

Sie späht durch das Guckloch …

Dann hakt sie die Sicherheitskette aus und öffnet …

„Bitte, Mr. Morris,“ sagt sie leise und läßt den Gast ein … –

Tom Morris kleine sehnige Figur flegelt sich gleich darauf in einem der Sesselchen des gelben Salons …

Auf dem faltigen Fuchsgesicht liegt ein widerliches Grinsen …

„Verdammt fein hier, Gilda …,“ meint er und schaut sich um … „Dein jetziges Geschäft bringt etwas ein … Man merkt’s …“

„Was wünschest Du von mir?“ fragt die Diva kalt …

Sie sitzt Tom Morris gegenüber.

Nur ein kleines Tischchen trennt die beiden …

„Nicht so eilig, Gilda …,“ sagt Morris und lümmelt sich noch bequemer in den Sessel … „Zunächst: Du hast Dich lange bitten lassen, bevor Du mich hier bei Dir empfingst … Vier Briefe mußte ich schreiben … Acht Tage sind seit dem ersten verflossen … Ich habe viel Geduld mit Dir gehabt …“

„Was wünschest Du?! Deine schriftlichen Belästigungen …“

Sie schweigt unter dem Zwange seiner drohenden Blicke …

„Lächerlich!! Spiel nicht Komödie, Gilda … Was ich will, weißt Du ganz genau …“

„Bedauere … Die Andeutungen in Deinen Briefen sind mir unverständlich …“

Tom Morris beugt sich weit über den Tisch …

Beginnt zu flüstern …

Schon nach den ersten Sätzen erscheinen auf den Wangen der Diva weiße Flecken … Die Blässe zieht sich weiter … Gilda Gilden zittert …

Unbekümmert flüstert Tom Morris, teilt vernichtende Streiche aus …

Seine Augen flimmern vor Genugtuung …

Und dann schließt er den Angriff mit einem kurz hervorgestoßenen:

„Also …?!“

Gilda Gilden hat den Kopf gesenkt …

Schweigt …

Ihre Kehle ist wie verriegelt … Die Zunge gehorcht ihr nicht …

Ihr ist, als ob sie auf hohem grünen Berge inmitten einer entzückenden Landschaft stände und all dies schöne plötzlich versänke und aus finsteren Schlünden scheußliche Dämonen emporstiegen …

„Also?!“ wiederholt Morris noch drohender … „Erkläre Dich … Ich spaße nie, Gilda …! Ich – – werde Dich vernichten und dennoch bei alledem unbeschadet …“

Da hat die Gequälte wieder Macht über Hirn und Stimme …

„Es … ist nicht wahr!“ ruft sie leidenschaftlich … „Man hat Dich belogen, Tom … Niemals ist …“

Er fährt dazwischen …

Seine schmale nervige Hand donnert auf das Tischchen …

„Komödiantin …!! Leugnen willst Du … leugnen?! Ich …“

Aber er hat Gilda Gilden unterschätzt … Sie ist vorbereitet …

Ein Zug unsäglicher Verachtung erscheint auf dem bleichen Frauenantlitz …

„Geh!“ ruft sie wieder und deutet auf die Tür … „Geh …! Ich fürchte Dich nicht – nicht mehr! Wenn Du den Kampf willst – nun gut …!“

Er lächelt …

Ein Lächeln voll unheimlicher Tücke …

„Oh – also so fest glaubst Du hier in Berlin im Sattel zu sitzen …! Du wagst es, mich hinauszuwerfen … mich?!“

Und er steht auf …

So, als ob ein Tiger sich geschmeidig und beutelüstern zum Sprunge anschickt …

Und mit denselben Bewegungen geht er zur Tür, legt die Hand auf den Drücker …

Gilda Gilden hat die Augen einen Moment geschlossen …

Öffnet sie wieder …

„Tom …!!“

Er dreht sich um …

„Also?!“

„Ich … ich … werde Dir … einen Scheck über hundertfünfzigtausend Mark ausstellen … Es sind das meine gesamten baren Ersparnisse …“

„Bin ich ein Erpresser?!“ sagt er eisig … „Du beleidigst mich … Du bist eine kindische Närrin … Du glaubst, daß …“

Gilda Gilden lacht schrill dazwischen …

„Dann … nimm noch meine Juwelen … nimm mir alles – – alles! Nur …“

Jetzt ist sie am Rande ihrer Kräfte … Die Stimme versagt ihr …

Mit einem Aufschluchzen läßt sie den Oberleib über das Tischchen fallen, vergräbt den Kopf in die Arme.

Tom Morris schleicht auf sie zu … Legt ihr die Hand auf die Schulter …

„Gilda, – – also?!“

Ein halbes Wimmern – halbe Worte …:

„Ich … ich … werde … gehorchen …“

„Endlich nimmst Du Vernunft an … endlich! – Sei pünktlich, Gilda … Das Haus ist leicht zu finden … Das letzte rechter Hand in der Durlacher Straße … Und sei vorsichtig …“

Sie hebt den Kopf … Steht auf … Mehr Automat als Mensch …

„Ich werde vorsichtig sein … Geh jetzt …“

Die Stimme klingt ganz fremd …

Tom Morris meint nachlässig:

„Im übrigen möchte ich Dich vor Dummheiten warnen … Du verstehst wohl …! Vor … Hinterlist! Ihr Weiber seid für gefährliche Intrigen wie geschaffen … Ich … habe mich … sichergestellt, Gilda …“

„Das glaube ich, Tom … Geh nun … Auf Wiedersehen …“

Sie schreitet zur Salontür – ihm voran in den Flur …

Tom Morris flüstert noch: „Punkt zwölf, Gilda.“

Dann verläßt er die Wohnung und das Haus … –

 

3. Kapitel.

Draußen auf dem Viktoria-Louise-Platz stehen zwei Briefträger … Zwei, die niemandem auffallen … Zwei, die ungewohnte Pfade wandeln …

Der größere erwidert soeben auf eine Bemerkung seines Freundes:

„Lieber Bert, wir konnten es Gilda nicht gut abschlagen … Dankbarkeit ist …“

„… begrenzt wie jedes Gefühl … Man soll aus Dankbarkeit nichts übernehmen, was über die Kraft eines Durchschnittsmenschen geht … Mehr als dies sind wir nicht … Seit sieben Tagen spielen wir für Gilda Geheimpolizei … Du wirst es erleben, mein guter Udo: wir verbrennen uns die Finger bei alledem! Und – – blamieren uns unsterblich und schaden Gilda nur …!“

Udo Wendland wird ärgerlich …

„Gestatte mal: haben wir nicht tadellos das Postamt überwacht? Haben wir nicht festgestellt, daß der Abholer des postlagernden Briefes sich nach der alten Baracke dort in der Durlacher Straße begab? Haben wir nicht heute bei Trebbins die Geschichte tadellos gedeichselt und …“

„Still – – da ist er …“

Tom Morris hatte die Straße betreten, blieb am Rande des Bürgersteiges stehen und zündete sich umständlich eine Zigarre an …

Dann schlenderte er über den Fahrdamm auf die beiden Briefträger zu …

Ganz gemächlich …

Der weite Ulster schlotterte um die knabenhafte Gestalt … Die dunkle Sportmütze mit dem steifen großen Schirm bedeckte fast die Augen …

„’n Tag, die Herren …,“ sagte er zu Holsten und Wendland … „Auch wieder da?! Wie lange wollen Sie eigentlich noch diesen Spaß weitertreiben?!“

Die beiden machten äußerst betretene Gesichter …

Udo Wendland reißt sich zusammen und fragt patzig:

„Was wollen Sie eigentlich?! Sie …“

Tom Morris unterbricht ihn …

„Heute vor sieben Tagen waren Sie in derselben Maske hinter mir her – bis zur Durlacher Straße … Ich habe selten zwei Verfolger hinter mir gehabt, die sich so ungeschickt benahmen wie Sie beide … Jetzt möchten Sie mir gern abermals folgen … möchten herausbekommen, wo ich wohne … Jedenfalls nicht in der Durlacher Straße … Das Haus dort, in dem ich damals verschwand, ist unbewohnt und vollkommen baufällig … Sie können sich ja erkundigen … Und nun – leben Sie wohl, meine Herren …“

Ein Auto fährt langsam vorüber, ein kleiner Tourenwagen … Vorn sitzt ein vermummter Schofför … Morris springt hinein … Das Auto jagt die Motzstraße hinab …

Engelbert Holsten sagt kläglich:

„Siehst Du, Freund Udo …: Adieu Marie …, ich seh Dich nie … mehr wieder …!“

Wendland flucht leise …

Aber er ist zäh … Er gibt so leicht nichts verloren …

„Jetzt gerade!!“ meint er ingrimmig … „Jetzt erst recht …! Ich lasse Gilda nicht im Stich … Ich …“

Vor ihnen taucht ein armseliger alter Hausierer auf. Eine Menge neuer Hosenträger hängt ihm um den Hals, in jeder Hand hält er ein Bündel Schnürsenkel … Diese Hände sind unglaublich schmutzig …

„Bitt’ schön, – koofen die Herren mir doch wat ab,“ röchelt er heiser …

Fuselduft umgibt ihn …

Wendland greift in die Tasche …

„Da … – Belästigen Sie uns nicht weiter …“

Der zahnlose Mund des Alten, bedeckt von gelb-fahlem ungepflegtem Bart, öffnet sich … klappt wie der zu …

Dann sagt er mit einem schlauen Grinsen:

„Herr Wendland, wir wollen uns einigen …“

Udo Wendland schaut den zerlumpten Kerl verblüfft an …

„Einigen?! Und – woher kennen Sie meinen Namen?!“

„Herr Wendland, ich kenne alles,“ erklärt der nach Schnaps stinkende Hausierer sehr stolz … „Unsereiner kommt weit herum … Man ist bald hier, bald da … Bald in der Durlacher Straße vor dem Trebbin-Häuschen, bald anderswo … – Herr Wendland, von dem Jeschäft, das Sie da für Gilda Gilden übernommen haben, verstehen Sie nischt … Entschuldigen Sie schon meine Offenheit … Aber – ich versteh mehr davon … In meiner Jugend besseren Tagen war ich Kriminalwachtmeister … Kein Mensch sieht mir das heut noch an … Weil keiner in mein Hirn schauen kann … Das ist jung geblieben – trotz dem Suff, der bekanntlich ein schönes Laster ist … – Also, Herr Wendland: ich war heute in der Durlacher Straße … Da kamen Sie beide gerade aus dem Häuschen … Meine Polizeiaugen durchschauten Ihre Verkleidung … Auf der Straßenbahn stand ich neben Ihnen … hörte so Ihren Namen aus dem Munde Ihres Freundes Bert Holsten … Und jetzt soeben sah ich, wie der kleine Kerl Ihnen auskniff … Auf den hatten Sie es abgesehen … Und daß Sie bei Herrn Trebbin wohnen, der mir schon zweimal was abgekauft hat, ist nicht schwer zu erraten … Und daß Sie für Fräulein Gilden aus Gefälligkeit tätig sind, fühlt ein Blinder mit ’m Stock … Drüben wohnt ja die berühmte Gilden … Sehen Sie: sie steht oben am Fenster … Und von dort kam der kleine Kerl, der dem ganzen Äußeren nach ein Engländer ist – Ich erreiche bestimmt mehr wie Sie, Herr Wendland … Habe schon mehr erreicht … Denn daß Sie beide hier auf jemand lauerten, reimte ich mir unschwer zusammen. Und ich sah das Auto längst, das auf den Kleinen wartete … Da bin ich denn drüben zur anderen Ecke gehumpelt, wo mein Freund Streichhölzer verkauft … Dem geht es noch schlechter als mir … Nur daß er besser in Kluft ist, wie der Berliner sagt … Und er sauft nicht … Also meinem Freund habe ich mein ganzes Betriebskapital, zehn Mark, in die Pfote gedrückt. Seinen Kasten hat er einem Zeitungshändler in Verwahrung gegeben, und er selbst hat sich in ein Taxameterauto gesetzt und aufgepaßt … Als dann der kleine Kerl mit seinem Auto ausriß, ist mein Freund, dem ich ein Zeichen gab, hinterdrein … – Sie sehen, meine Herren, von dem Kram verstehe ich also mehr als Sie … Und Sie, Herr Wendland, handeln nur richtig, wenn Sie mir einen Zettel für Herrn Fritz Trebbin schreiben, daß mein Freund Glatze und ich, Karl Nüchtern, sozusagen die Ablösung sind …“

Und Wendland und Bert Holsten staunen, schweigen.

Es dauert einige Zeit, bis sie den langen Vortrag des Schnapsbruders verdaut haben – geistig … Sie sind eben zu verblüfft …

Am meisten über den Namen dieser wandelnden Schnapsbuddel[3]: Karl Nüchtern!

Dann meint Holsten mißtrauisch:

„Herr Nüchtern, – und wenn Sie nun womöglich einer von Tom Morris’ Spionen sind?!“

Der Hausierer zieht ein Stück zusammengefaltete Glanzleinwand aus der Tasche und entnimmt dieser Ersatzbrieftasche eine bedruckte Karte mit Photographie und drei Stempeln …

„Bitte – lesen Sie … Eine Empfehlung von der Polizei, die mich noch hin und wieder als Vigilant beschäftigt und meine Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit betont …“

Wendland und Holsten prüfen den Ausweis … Es stimmt alles …

Sie blicken sich fragend an …

Sie wären froh, wenn sie mit der ganzen Morris-Geschichte nichts mehr zu tun hätten …

Überlegen …

Karl Nüchtern sagt da: „Besprechen Sie sich doch mit Gilda Gilden … Gehen Sie nach oben zu ihr … Ich warte hier … Nehmen Sie den Ausweis nur mit …! Fräulein Gilden kann bei der Kriminalpolizei anrufen … Man wird nur Gutes von mir berichten …“ – –

 

4. Kapitel.

Inzwischen hat die Diva sich längst wieder vom Fenster zurückgezogen …

Sie hat die schmähliche Niederlage ihrer Verbündeten mit beobachtet …

Wendland und Holsten kommen ihr nur recht … Die Dinge treiben jetzt einem gewaltsamen Ende entgegen …

Und [mit][4] der unter den Leuten vom Film üblichen Vertraulichkeit begrüßt die Diva die beiden Kollegen dritten Ranges …

„Sprechen Sie nur unbesorgt ganz laut,“ sagt sie zu Wendland. „Ich habe meine Köchin und meine Zofe weggeschickt … Wir sind allein in der Wohnung.“

Udo Wendland erzählt … Gilda Gilden liest den Ausweis des Kriminalwachtmeisters a. D. Karl Nüchtern …

Dann erklärt sie: „Hier, geben Sie dem Manne diese fünfzig Mark … Die Sache Morris ist erledigt. Ich brauche auch Sie beide nicht weiter zu bemühen … Ich danke Ihnen herzlich …“

Und sie reicht jedem einen verschlossenen Briefumschlag, drückt jedem die Hand …

„Mit Herrn Trebbin werde ich die Angelegenheit ebenfalls persönlich ordnen,“ fügt sie hinzu. „Wenn Sie nur den Koffer holen wollen, der oben in der Bodenkammer benutzt wurde …“

Man trennt sich durchaus freundschaftlich. Wendland und Holsten fragen nichts … Sie wissen auch jetzt nicht, was Tom Morris und Gilda Gilden miteinander auszufechten haben. Sie wissen nur, was alle wissen: daß die Gilden aus Neuyork vor zwei Jahren nach Deutschland kam und daß sie hier in Berlin in kurzem berühmt geworden …

Sie treffen auf dem herbstlich kahlen Schmuckplatz draußen Herrn Karl Nüchtern … Der nimmt die fünfzig Mark und seufzt …

„Nun werde ich wieder eine Woche lang Tag und Nacht mit zu den schärfsten Alkoholgegnern gehören und den Sprit vertilgen bis die fünfzig Mark alle sind … Das heißt: zehn Mark Betriebskapital brauche ich … Die lege ich zurück … Das andere aber leg ich in Schnäpsen an … – Morgen, die Herren …“

Und er schlurft davon … –

Wendland und Holsten besteigen eine Straßenbahn … Wandern über die Felder auf die Rückseite des Häuschens der Trebbins zu und finden Fritz Trebbin beim Holzzerkleinern vor. Der junge Bankbeamte hat sich warm gearbeitet … Er ist überaus vergnügt und frisch …

Aber das ändert sich, als Wendland ihm nun erzählt, daß Fräulein Gilden befohlen habe, sie beide sollten wieder ihren Dienst in der eigentlichen Wohnung der Künstlerin aufnehmen …

Sie gehen in die Bodenkammer und packen den Koffer.

Trebbins Glückstraum erlischt. Er ahnt, daß auch die Diva ausziehen wird …

Und traurig geht er in das Stübchen neben der Küche, wo Frau Luzie mit dem Bübchen und dem Teddybär auf dem Teppich spielt. Bübchen hat sich bereits an den Anblick des zottigen Untiers gewöhnt und kreischt vor Vergnügen …

Das Ehepaar bespricht das vorschnelle Ende der goldenen Herrlichkeit mit Wehmut und stiller Resignation. Man wird nun wieder Margarine essen … Man wird vielleicht morgen wieder die alten Kleidungsstücke hervorsuchen, um die besseren Sachen für bessere Zeiten zu schonen … Hier draußen hat man es nicht nötig, Staat zu treiben … Hier lebt man wie auf dem Lande.

Und doch sind sie nicht unzufrieden, die Trebbins. Nein, sie haben einander lieb, und sie haben ihr Kind, ihren Sonnenschein …

Aber Fritz Trebbin wälzt im regen Hirn noch andere Gedanken. Die verschweigt er seinem Frauchen.

Als die beiden Diener Gilda Gildens dann mit dem Koffer wieder über die Felder davonwandern, erklärt Fritz Trebbin seiner Luzie, er wolle ein wenig gen Dahlem spazieren gehen … Den Rucksack würde er mitnehmen und im Walde Holz sammeln. Vielleicht fände er auch ein Gericht Pilze.

So verläßt er das Häuschen durch die Vordertür, schließt die Lattenpforte des Vorgärtchens und bleibt einen Augenblick vor dem baufälligen Hause stehen.

Das Haus auf Abbruch … Früher ein Gutshaus – zweistöckig, schlicht, mit geschweiftem Ziegeldach, – jetzt unbewohnbar, mit zerbrochenen oder erblindeten Fenstern … Der Holzzaun nur noch stellenweise vorhanden, die Ställe und Nebengebäude nur noch Schutthaufen …

Trebbin geht weiter durch die Felder – immer rascher …

Der neue rote Ziegelbau der Schokoladenfabrik Mawetti leuchtet mitten im fahlen Gelb der abgeernteten Felder …

Trebbin hat Frau Luzie so etwas beschwindelt. Er nimmt eine andere Richtung … Drüben zieht sich der Bahndamm der Berliner Ringbahn entlang … Er biegt in bebaute Straßen ein, kommt in ein weites Laubengelände und erreicht die Hinterfront eines großen Gemüsegartens. Durch die entlaubten Bäume sieht er ein altes behagliches Haus, blanke Fenster.

Die Pforte des Gartenzaunes ist nicht versperrt. Trebbin steht nicht zum ersten Male zögernd an dieser Gartentür. Schon vorgestern war er hier, ist aber wieder umgekehrt, hat sich nicht hineingetraut …

Jetzt zaudert er nicht länger. Blickt sich nochmals um …

Er ist mißtrauisch … Man kann nicht wissen … Vielleicht wird er beobachtet …

Dann betritt er den Garten …

Hinter der Baumkulisse, die den Garten von dem Hofraum trennt, trifft er eine alte weißhaarige Dame, die gerade die Hühner und Tauben füttert …

Er grüßt, stellt sich vor …

„Fritz Trebbin … – Verzeihung – Frau Harst?“

„Ja … Sie wünschen, Herr Trebbin?“

Das freundliche Matronengesicht macht ihm Mut …

„Ich möchte Herrn Harald Harst sprechen, gnädige Frau, – Ihren Herrn Sohn … Ich habe ihm allerlei mitzuteilen, was ihn vielleicht interessiert …“

„Harald und Schraut sind leider in London, Herr Trebbin … Wann sie zurückkehren, ist ganz ungewiß … Lord Salmour hat sie dorthin berufen … Sie haben vielleicht in den Zeitungen von dem Verbrechen auf Salmour-Castle gelesen …“

Fritz Trebbin nickt enttäuscht …

„Gewiß, gnädige Frau … Dann entschuldigen Sie die Störung …“

„Bitte, Herr Trebbin … Handelt es sich denn um eine ernste Angelegenheit … Vielleicht schreiben Sie an meinen Sohn und bringen mir den Brief, den ich dann befördern werde …“

Trebbins gute ehrliche Augen leuchten ein wenig auf …

„Oh – das will ich tun, gnädige Frau … Sehr gern sogar … und ganz ausführlich … In zwei Stunden kann ich wieder hier sein …“

„Schicken Sie besser einen zuverlässigen Boten … Es ist vielleicht ratsam, Sie lassen sich hier nicht so oft sehen, Herr Trebbin … Unser Haus wird ja so oft von Leuten umlauert, die gern wissen möchten, was Harald gerade treibt …“ –

Fritz Trebbin wandert heim und überlegt ganz genau, wie er den Brief abfassen wird … Nichts wird er verschweigen … Alles soll Harald Harst erfahren …

Inzwischen hat Frau Luzie Besuch bekommen … Keinen von den lieben Verwandten, denen es allen so gut geht … Nein, die liebe Verwandtschaft hat Trebbins völlig vergessen, seitdem der Bankbeamte abgebaut worden ist …

Nein – ein alter schmieriger Hausierer fand sich ein … Luzie kennt ihn schon. In der vergangenen Woche war er zweimal bereits hier.

Jetzt sitzt er in der Küche und klagt Frau Luzie sein Leid: er hat kein Unterkommen … Sein Dachstübchen ist ihm gekündigt worden … Ob man ihn und seinen Freund Glatze nicht hier aufnehmen würde …

Und er zeigt Luzie den Ausweis. Er versteht es, Mitleid zu erregen und für sich einzunehmen. Er ist bescheiden und offen …

„Dreißig Mark könnten wir für das Dachkämmerchen zahlen, mehr nicht … Daß es nicht heizbar ist, tut nichts … Wir heizen innerlich ein … Wir tippeln ja auch am Tage umher … Der Glatze verkauft Zündhölzer und Hosenknöpfe … Ich mache in Hosenträgern und Schnürsenkeln …“

Zwischenein trinkt er einen Schluck Kaffee …

Frau Luzie begreift nicht recht, wie es möglich ist, daß dieser alte Vagabund ihr immer sympathischer wird – ein früherer Kriminalwachtmeister, ein Gesunkener, Enterbter – – wie sie, die Trebbins … Sie fühlt sich ihm innerlich verwandt … Sie sagt:

„Ich kann Ihnen keinen endgültigen Bescheid geben, Herr Nüchtern … Ich muß erst mit meinem Manne sprechen … Darf ich Ihnen nochmals die Tasse füllen?“

„Wenn Sie so liebenswürdig sein wollen, Frau Trebbin …“

Sie sprechen dann über andere Dinge … Bübchen krabbelt auf den Dielen umher und spielt mit dem Teddy …

Dann kehrt Fritz Trebbin zurück … Er mustert Herrn Nüchtern argwöhnisch. Aber der Ausweis zerstreut den Bedenken … Und dann: dreißig Mark!

Das Ehepaar tritt in die Nebenstube und berät sich flüsternd …

Trebbin denkt in der Hauptsache an den Titel Kriminalwachtmeister a. D.

Vielleicht – vielleicht könnte man Herrn Nüchtern als Verbündeten gewinnen … Auf dem Ausweis sind ja Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit besonders betont und amtlich bescheinigt. –

So kommt es, daß Karl Nüchtern gegen fünf Uhr nachmittags Mieter der Bodenkammer wird … Er bezahlt dreißig Mark … Sein Freund Max Glatze würde sich wohl erst abends einfinden, meint er … –

Es wird dunkel … Der alte Hausierer sitzt beim Lichte einer Petroleumlampe in der kalten Dachstube. Trebbins haben einige Einrichtungsgegenstände gespendet: Tisch, zwei Stühle, ein paar Decken, leere Säcke, eine Bettmatratze …

Und dem Alten gegenüber sitzt Trebbin … erzählt – – alles das, was er Harald Harst hat schreiben wollen …

Karl Nüchtern sagt zunächst gar nichts … läßt Trebbin reden …

Nachher beginnt er zu fragen …

Ob Herr Trebbin denn nie versucht habe, festzustellen, was die zwölf Männer und der dreizehnte, der ihnen die Tür des „Hauses auf Abbruch“ öffne, in dem baufälligen Gebäude trieben …

„Nein, das wagte ich nicht, Herr Nüchtern … Ich weiß nur, daß sie es nicht wieder verlassen … Einmal habe ich bis zum Morgen aufgepaßt – dort im Keller.“

Der Hausierer saugt an der Zigarre, die Trebbin ihm gespendet hat …

„Wenn Glatze erst hier ist, werde ich mit ihm beraten … Glatze hat Mut, … wenn er eine halb Flasche Kognak intus hat …“

Unten hört man Stimmen …

Jemand poltert die Treppe empor …

Max Glatze erscheint …

Ein bleiches schwammiges Gesicht, Nickelbrille, rotes struppiges Haar, löchrigen Pelerinenmantel …

Immerhin: er hat in den Augen nichts Scheues, hat sogar Humor, trägt im linken Arm einen kleinen Petroleumofen und in der rechten Hand einen großen vielfach umschnürten Pappkarton … –

Max Glatze nimmt an der Unterhaltung teil. Dabei stellte er den Petroleumofen auf, füllt das Bassin der Ofenlampe und meint:

„Wenn die zwölf Herren in Schlapphüten nur jeden zweiten Tag sich einfinden, hat man ja in dieser Nacht die beste Gelegenheit, die alte Bude einmal gründlich zu besichtigen …“

„Stimmt,“ sagt Karl Nüchtern. „Akkurat dasselbe habe ich mir gedacht. – Du, Maxe, Deine elektrische Dampfpetroleum-Heizanlage stinkt aber mächtig …“

„Gestatte, – nur so lange sie brennt … Das is eine berechtigte Eigentümlichkeit aller Petroleumöfen … – Wir werden dann also in dieser Nacht drüben uns ein bißchen umsehen … Wie ist’s – kommen Sie mit, Herr Trebbin?“

Er bückt sich und schraubt die Ofenlampe niedriger. Und kommt dabei der Ecke der großen Holzkiste, die hier nun als zweiter Tisch dient, allzu nahe. Da ist ein frecher Nagel im Holz … Der hakt sich in Max Glatzes roten Haarwald ein und – schwupp – hängt die rote Perücke an besagtem Nagel …

Glatze beschaut das Malheur … Lächelt Trebbin harmlos an und meint: „Ja – ich trage meinen Namen Glatze mit Recht … Wenn ich mit ’n Kopp in ’n Kinderbett liege, und wenn nur mein Schädel zu sehen ist, denkt jeder, ein Säugling liegt auf ’m Bauch und zeigt nur die Sitzpolster …“

Trebbin lacht …

Glatze hakt die Perücke vom Nagel und streift sie sich[5] wieder über den Schädel …

Trebbin lacht – gewiß … Aber das Lachen klingt etwas gezwungen …

Sherlock Holmes regt sich in ihm … Mit einem Male traut er den beiden gemütlichen Vagabunden nicht mehr so recht …

Und nachher sagt er unten im warmen Stübchen neben der Küche zu Frau Luzie:

„Weißt Du, wir hätten diese … diese Kerle doch nicht aufnehmen sollen … Der kleine Dicke trägt eine Perücke … Das reimt sich und ist doch wahr, Luzie … Ich sollte nachts mit ihnen hinüber ins Morris-Haus … Ich habe abgelehnt …“

Frau Luzie hat andere Sorgen …

„Viele Leute tragen Perücken, Fritz … Mir ist die Frage viel wichtiger, ob Fräulein Gilden wirklich noch länger als diesen einen Monat bei uns bleiben wird.“

Fritz läßt ein merkwürdiges Auflachen hören …

„Die?! Aber Luzie, hast Du denn noch nicht bemerkt, daß sie mit ihren sogenannten Dienern nur des Hauses drüben …“

Und – schweigt … Vorn im kleinen Flur keift die Zugglocke …

Das Ehepaar schaut sich an …

Frau Luzie flüstert: „Vielleicht ist’s die Gilden … Fritz, geh öffnen …“

Er geht …

Als er die Tür aufschließt, glaubt er draußen Schritte zu hören, die sich eilig entfernen …

Er öffnet … Draußen alles dunkel … Nur der Schein der nächsten Laterne leuchtet schwach durch die herbstliche Finsternis …

Undeutlich erkennt Fritz Trebbin eine enteilende Männergestalt …

Er tritt in den Vorgarten hinaus … Will den Ausreißer schärfer beäugen. Stolpert …

Da steht dicht vor der Tür ein Holzkistchen, umwickelt mit schwarzer Leinwand. Etwas Helles ist auf der Oberseite sichtbar …

Trebbin hebt das Kistchen empor und geht in den Flur zurück. Hier hat er die Küchenlampe auf ein Tischchen gestellt …

Das Helle auf der schwarzen Leinwand ist ein Zettel, mit vier Stecknadeln befestigt …:

„Bewahren Sie es mir bitte sorgfältig auf. Ich komme abends gegen elf Uhr. G. G.“

Mit Bleistift sind die Zeilen geschrieben.

Die schwarze Leinwand aber ist an den Rändern zugenäht und versiegelt.

Trebbin schließt die Haustür wieder ab und trägt das schwere Kistchen – es mag fünfzig Zentimeter im Quadrat groß sein, und man fühlt das Holz durch die Leinwand hindurch – in das Hinterstübchen …

Frau Luzie – sie ist eben Weib – plagt die Neugier …

„Was mag wohl darin sein, Fritz?“

Sie schüttelte das Kistchen … Aber es bewegt sich nichts … Nichts klappert im Innern …

Trebbin schließt es dann in den Kleiderschrank ein und steckt den Schlüssel in die Tasche …

„Jedenfalls sie kommt!“ meint Frau Luzie …

Fritz geht sinnend auf und ab …

Und sagt wie zu sich selbst: „Es war ein Mann, Luzie … Vielleicht war’s Wendland oder Holsten, der das Kistchen brachte … Nur – weshalb blieb er nicht?! Weshalb lief er davon?!“

Luzie ist jetzt mit dem Bübchen beschäftigt, füttert es zur Nacht … Der Teddy sitzt possierlich auf der Tischkante … Es ist ein friedliches Bild. Nur Trebbins Gesichtsausdruck paßt nicht hinein …

Er grübelt …

Selbst ihm wachsen jetzt die seltsamen Geschehnisse über den Kopf …

Er leistet sich eine Zigarre und spürt das Verlangen, mit Karl Nüchtern über die Kiste zu sprechen. Anderseits aber: Max Glatze mißfällt ihm – nur der Perücke wegen! Und so kommt er schließlich dazu, ehrlich zu bedauern, den Brief an Harald Harst unterlassen zu haben … Er hätte dem berühmten Detektiv die Dinge ausführlich schildern sollen … Dann würde Harald Harst ihm vielleicht schriftlich einen Rat erteilt haben … Leider, leider ist Harst ja in London …

„Woran denkst Du: Fritz?“ weckt ihn sein Frauchen aus unzufriedenem Brüten …

Und ihm entfährt unwillkürlich:

„An Harst …“

„Harst?! – Wer ist das?!“

„Aber Luzie …!“

„Ach so – – richtig, Harald Harst …“ Sie schaut auf … … „Du, Fritz, der würde bestimmt erraten, was das Kistchen enthält …“

Er lacht gutmütig … „Fünfzig Pfund Juwelen, Luziechen!! – Nicht wahr, Du denkst an Juwelen?!“

„Ja …“

„Nun also …! Ich wußte es … Ihr Frauen habt ja doch nur Garderobe oder Schmuck im Kopf …“

„Gestatte – – und Kinder …! Mein Bübchen geht mir über alles … Juwelen habe ich nur in Schaufenstern und auf der Bühne gesehen …“

„Auf der Bühne?! Das sind zumeist Imitationen[6].“

Seine Gedanken sind schon wieder oben in der Dachkammer bei Karl Nüchtern und Max Glatze …

Er fragt sich, ob es nicht doch richtiger sei, mit den neuen Verbündeten auch diese geheimnisvolle Sendung zu besprechen … …

Frau Luzie bringt den Kleinen[7] zu Bett und singt ihn in Schlaf … Das leise eintönige Lied stört Fritz Trebbin … Er öffnet die Tür nach der Küche und steigt die schmale Treppe empor … Klopft gegen die Kammertür …

„Herein …“

Herr Max Glatze liegt auf dem Strohlager und nickt Trebbin zu …

„Bitte – nur immer herein, Herr Trebbin … Ist’s hier nicht sehr behaglich warm …?! Der Petroleumofen benimmt sich anständig und stinkt nicht mehr. Ich habe soeben gelüftet …“

„Wo ist denn Herr Nüchtern?“ meint Trebbin erstaunt … „Ich habe doch gar nicht gehört, daß er weggegangen ist …“

„Nüchtern ist nüchtern sehr leise, Herr Trebbin … Er ist unterwegs, und zwar hinter dem Manne her, der das Kistchen brachte …“

Fritz Trebbin setzt sich rasch auf einen der beiden Stühle …

„Wie – – Sie wissen …?!“

„Wir wissen alles … Bedenken Sie, mein alter Freund ist Kriminalist … Der hat vier Augen … Zwei außen, zwei innen … Man hört die Türglocke ja bis hier oben. Und da hat Nüchtern hier zum Fenster hinausgeschaut … Er meint, der Überbringer des Kistchens war ein verkleidetes Weib, vielleicht Gilda Gilden selbst …“

Fritz Trebbin ist noch immer halb benommen … Diese Strolche – nein, diese Gescheiterten sind schlauer und rühriger als er je geglaubt …

Max Glatze sagt halb ironisch:

„Dja – wir leisten mehr, als man uns von außen ansieht …!“

„Allerdings …“

„Sie werden noch mehr staunen, Herr Trebbin … Am besten ist, Sie gewöhnen sich das Staunen ab, sonst bekommt es Ihnen nicht …“

„Scheint so …“

„Bitte lesen Sie doch mal zum Beispiel den rot angestrichenen Artikel in der auf dem Tische liegenden Nummer der Filmwelt … Er wird Sie interessieren.“

Trebbin rückt die Petroleumlampe näher und beugt sich über die illustrierte Zeitschrift …

Liest:

Dichtung und Wahrheit über Gilda Gilden.

Schon diese Überschrift reizt ihn … Er überfliegt die Zeilen:

Die meisten Filmschauspielerinnen hüllen ihre Herkunft in undurchdringliches Dunkel. So gut das große Publikum auch über seine Filmlieblinge unterrichtet ist, was deren Ruhmeslaufbahn und deren Neigungen, Eigentümlichkeiten und kleinen persönlichen Geheimnisse betrifft, – über die Kindertage, Elternhaus, Angehörige, weiß niemand etwas. Zuweilen tauchen wohl unkontrollierbare Gerüchte auf, sterben aber regelmäßig schnell wieder wie dürftige Pflänzchen ab, die niemand pflegt und die auf Sandboden zu raschem Verdorren verurteilt sind. Immerhin ist es ganz interessant, derartigen Gerüchten einmal nachzugehen und zu prüfen, was wohl daran wahr sein könnte.

So erzählt zum Beispiel Frau Fama von Gilda Gilden, daß diese große Filmtragödin aus den dunkelsten Winkeln des dunkelsten Neuyork stammen soll … Ihre Eltern sollen in der berüchtigten Balkry-Street in Neuyork eine Verbrecherkneipe besessen haben. Dort soll Gilda Gilden inmitten des Auswurfs der Menschheit aufgewachsen sein, bis ihre Eltern wegen Hehlerei für viele Jahre ins Zuchthaus kamen. Jedenfalls war Gildas Vater Deutschamerikaner, und Tatsache ist, daß eine Kellerkneipe in der Balkry-Street noch heute über dem Eingang den Namen O. Gilden in halb verwaschener Ölfarbe zeigt. – Weiter geht das Gerücht, Gildas Eltern seien im Zuchthaus gestorben und sie selbst dann mit ihrem Bruder jahrelang bei einer Seiltänzertruppe gewesen …

All das ist wie gesagt dunkel, kann Dichtung oder Wahrheit sein …

Wahrheit ist, daß Gilda Gilden 1919 als Statistin an einem Neuyorker Tingeltangel durch Schönheit, Grazie und Talent einem Filmregisseur auffällt. Dieser Mr. Mallon hat der Gilden dann den Weg geebnet … 1924 bringt Direktor Silberbaum vom Oqua-Film den angehenden Star nach Berlin … Doch – das weiß ja ein jeder … Und wenn man nun noch hier nochmals betont, daß Gilda Gilden zu jenen Filmkünstlerinnen gehört, deren Ruf tadellos ist, deren Privatleben bescheiden und wahrhaft vornehm ist, dann werden all jene Gerüchte, die unserem beliebten Star noch ärgere Dinge aus ihrer Vergangenheit nachreden als die Verbrecherkneipe, gegenüber diesem makellosen Lebenswandel völlig gegenstandslos. Dies muß hier hervorgehoben werden, zumal man jetzt davon spricht, daß Gilda Gilden demnächst ihr Herz für immer an einen hochgeachteten Sohn eines Großindustriellen verschenken wird – für immer …

Fritz Trebbin wirft das Heft auf den Tisch zurück …

Er ist empört …

„Pfui Teufel – dieser Artikel ist nichts als Gift aus dem Hinterhalt …!“

„Freilich,“ nickt Max Glatze von seinem Strohlager her. „Freilich – man wollte dem Bewerber die Diva verekeln, Herr Trebbin … Der Artikel ist keine fünf Tage alt … Es ist die neueste Nummer der Filmzeitschrift … Die Wirkung ist denn auch nicht ausgeblieben … Herr Alfred Stürmer, Firma Stürmer, Nahrungsmittelfabriken, wollte sich die Liebe zu Gilda schleunigst auf Befehl seiner entsetzten Frau Mama aus dem Herzen reißen … eine Operation, die leider oft mißglückt … Liebe hat starke Wurzeln, wahre Liebe …“

Trebbin lächelt glücklich … „Das stimmt, Herr Glatze … Das weiß ich am besten … Meine Luzie war Verkäuferin und Waise … Die liebe Verwandtschaft stand Kopf, als ich mich verlobte …“

Und gerade da geht die Kammertür auf und ein Herr tritt ein, der durchaus modern gekleidet ist, einen blonden Spitzbart hat und nun seinen hellen Filzhut abnimmt …

„Da bin ich wieder …,“ sagt der Herr …

Fritz Trebbin stiert den Fremden an …

Max Glatze sagt: „Sehen Sie, Sie sollten sich doch das Staunen abgewöhnen, Herr Trebbin …! Machen Sie bitte den Mund zu … Es zieht …!“

Trebbin sitzt regungslos …

Der Herr streckt ihm die Hand hin …

„Man verändert sich, Herr Trebbin … Ich habe eine Verjüngungskur durchgemacht … Trotzdem bin ich Karl Nüchtern geblieben …“

Dann legt er den Ulster ab und nimmt am Tische Platz …

„Gefalle ich Ihnen so besser, Herr Trebbin …?“

„Allerdings … Das heißt …“ Und Frau Luzies Gatte kommt ins Stottern …

„Verschlucken Sie sich nicht!“ warnt der humorvolle Glatze vom Bett aus …

Karl Nüchtern beginnt nun zu erzählen …:

„Die ganze Sache verhält sich so, Herr Trebbin … Ich bin Privatdetektiv geworden, nachdem ich den Staatsdienst quittiert hatte … Glatze ist mein Freund und Gehilfe. – Sie haben ja wohl den Artikel hier in dem Filmblatt gelesen. Dieses scheinbar für Gilda Gilden so schmeichelhafte und in Wahrheit doch so heimtückische Geschreibsel hatte zur Folge, daß Frau Kommerzienrat Stürmer mich aufsuchte und mir in blumenreichen Phrasen von der törichten Leidenschaft ihres einzigen Sohnes für die Filmdiva ein langes Klagelied vorsang mit dem Schlußreim: „Fordern Sie jede Summe, Herr Nüchtern, aber klären Sie all diese Dinge gründlichst auf!“ – Ich wollte zunächst ablehnen, da ich derlei Fälle nicht übernehme. Lediglich Alfred Stürmers Person war für mich ausschlaggebend. Ich kenne ihn nämlich persönlich, wenn auch nur flüchtig. Er ist ein Prachtmensch. Und ihm wollte ich Gilda Gilden erhalten. So begannen Glatze und ich denn vor fünf Tagen unsere Arbeit … Es würde zu weit führen, wollte ich Ihnen hier haarklein schildern, wie wir Master Tom Morris als den Verfasser jenes Artikels ermittelten, wie wir auch erfuhren, daß er das alte Gebäude drüben auf Abbruch gekauft hat. Und doch konnten wir eins nicht herausbringen: wo Tom Morris wohnte! Der Mensch ist eben fraglos ein Gauner ganz großen Stils, ein mit allen Salben Gesalbter, ein Verwandlungskünstler, ein Mensch von verblüffender Gerissenheit. Auch heute ist er meinem Freund Glatze wieder entwischt … – Daß dieser Morris gegen Gilda Gilden noch anderes plant, spürten wir gleichfalls aus. Er hat an sie zwei Briefe geschickt und ist jeden Tag zweimal auf dem Postamt in der Motzstraße gewesen und hat dort nach einem postlagernden Brief gefragt … Heute früh erhielt er Antwort … Daraufhin begab er sich mittags ein Uhr zu Gilda Gilden … – Alles andere wissen Sie, Herr Trebbin … Aber – was Glatze und ich nicht wußten, war die merkwürdige Rolle, die das Haus auf Abbruch als Versammlungsort nächtlicher Besucher spielt … Von den zwölf „Schlapphüten“ ahnten wir nichts … Da sind wir ganz ehrlich.“

Fritz Trebbin lächelte stolz …

„Und Sie glauben, meine Beobachtungen sind wichtig, Herr Nüchtern?“

„Unbedingt sind sie es …!“

„Und hängen irgendwie mit Gilda Gilden zusammen?“

„Das kann ich vorläufig nicht genau sagen, Herr Trebbin … – Ich habe nun eine Bitte an Sie … Wollen Sie uns das Kistchen zur Aufbewahrung übergeben … Bei uns hier ist es bis gegen elf Uhr, also bis zum Eintreffen Fräulein Gildens, sicherer …“

Fritz Trebbin zauderte …

„Herr Nüchtern, Sie wollen doch nicht etwa … etwa nachsehen, was das Kistchen enthält …“

„Ja …“

„Oh – das …“

„Das nehme ich auf meine Kappe, Herr Trebbin! Bedenken Sie: es geht hier um das Liebesglück zweier Menschen … Sie selbst wissen am besten, was Lieben und Geliebt werden bedeutet …“

Trebbin nickte …

„Und deshalb: Bringen Sie uns das Kistchen sofort!“

Fritz Trebbin erhob sich …

„Herr Nüchtern, ich möchte dabei sein,“ bat er bescheiden …

„Wie Sie wollen …“

Trebbin eilte die Treppe hinab. Unten in der Küche (die Treppe führte aus der Küche nach oben) stand Frau Luzie am Herde und hatte Bratkartoffeln auf der weißen Emaillepfanne …

Sofort von ihrer Seite die Frage:

„Fritz, wer war der fremde Herr, der den Glatze besuchen wollte?“

„Das war Karl Nüchtern, mein Liebling …“

Sie wurde ärgerlich …

„Du – ich lasse mich nicht durch den Kakao ziehen!“ rief sie und gebrauchte die neueste Berliner Redensart für „Zum Narren halten …“

„Aber Luziechen, wo würde ich das wagen …!!“ Und nun kramte er seine große Neuigkeit aus …

Frau Luzie drehte rasch das Gas aus …

„Ich komme mit nach oben … Ich will sehen, was das Kistchen …“

„Schon gut … Komm mit … Du läßt ja sonst doch die Kartoffeln anbrennen …“

So wurde denn das Kistchen nach oben geschafft.

Max Glatze erhob sich galant von seinem Strohpfühl, als Frau Luzie mit eintrat …

Karl Nüchtern aber stellte die Neugierigen auf eine harte Geduldsprobe. Zunächst besichtigte er die Leinwand, den Zettel, die Nähte und die Siegel … Dann fragte er Fritz Trebbin, ob auch die Küchentür nach dem Hofe verriegelt worden sei …

Luzie erwiderte hastig: „Auch verschlossen …!“

Dann nahm der Detektiv sein Taschenmesser und entfernte sauber die schwarzen Zwirnfäden …

Sehr sauber …

Nun zog er die Leinwand von der Holzkiste …

Der Deckel war aufgenagelt … Man erkannte, daß eine ungeübte Hand die Nägel eingeschlagen hatte …

Der Deckel ließ sich bei einiger Kraftanwendung ohne weiteres abheben …

Zusammengeknüllte Zeitungen kamen zum Vorschein.

Nüchtern legte sie auf den Tisch …

Dann – – ein Pappkarton: von der Schuhfabrik Brüller …

Schnüre darum – versiegelt …

Der Detektiv war beim Ablösen der Siegel genau so sorgsam wie vorher … Mit der erwärmten Messerklinge hob er die Siegel ab…

Der Pappkarton wog etwa fünfundzwanzig Pfund …

Jetzt kam der entscheidende Moment … Jetzt … kam ein in Seidenpapier gewickelter zackiger Gegenstand näher an das Licht der Lampe … Die Hüllen fielen.

Und – – ringsum enttäuschte Gesichter …

Unglaublich enttäuschte Gesichter …

Das große Geheimnis war ein … Stück Gußeisen … schrumpelig, zackig, unansehnlich …

Nur Gußeisen …!

„Oh …!!“ machte Frau Luzie …

„So was!!“ rief Max Glatze …

„Eisen!!“ meinte Trebbin wegwerfend …

Nur Karl Nüchtern schwieg …

Und wer ihm jetzt in das Gesicht geblickt hätte, würde gesehen haben, wie es in seinen grauen Augen heimlich aufglühte …

Und nochmals machte Frau Luzie:

„Oh …?!“

Karl Nüchtern hüllte das große Stück Gußeisen wieder sorgfältig in das Seidenpapier …

„Ja – man wundert sich manchmal,“ nickte er leise lächelnd … „Was nach Brillanten von außen duftet, zeigt sich schließlich im Innern als …, – nein, das Gleichnis hinkt …“ – Er lächelte stärker …

Und brachte Pappkarton und Kiste wieder in Ordnung …

Frau Luzie enteilte …

Ihr waren die Bratkartoffeln jetzt wichtiger als dieses lächerliche Eisen … –

Auch Fritz Trebbin stand gleichgültig neben dem Tischchen und half dem Detektiv nachher die Leinwandränder zunähen …

„So, nun nehmen[8] Sie das Ding nur wieder mit,“ sagte Karl Nüchtern nachher …

„Und – was bedeutet dieses Stück Gußeisen?“ meinte Trebbin kopfschüttelnd …

„Vielleicht sehr viel …“ Und der Detektiv sprach mit einem Ernste, der gegenüber diesem armseligen Inhalt des Kistchens recht eigenartig wirkte … „Vielleicht … Leben und Ehre …! – Wer kann es wissen …“

Fritz Trebbin schüttelte noch stärker den Kopf …

„Das … verstehe ich nicht, Herr Nüchtern …“

„Morgen!“ nickt der … „Morgen früh, Herr Trebbin … Und jetzt bitten Sie Ihre Gattin, daß sie auch uns etwas zum Abend zubereitet …“ – –

 

5. Kapitel.

Um dieselbe Zeit schrieb Gilda Gilden in einer kleinen stillen Kneipe am Birkenwäldchen in Friedenau einen Brief, einen sehr langen Brief …

Oder vielmehr: es war nicht Gilda Gilden … Es war ein jugendlich aussehender schlanker Herr im tadellos sitzenden blauen Jackenanzug. Die blonde Scheitelperücke verbarg das echte volle Haar der Diva so gut, die ganze Maske war so vorzüglich, daß dem Wirt, der den stillen Gast selbst bediente, auch nicht im entferntesten der Verdacht kam, daß dieser junge Herr ein verkleidetes Weib sein könnte.

Gilda hatte das Abendessen, das[9] sie sich hier bestellt hatte, kaum angerührt. Die Flasche Rotwein aber, die teuerste der Weinkarte, war bereits halb geleert, und auch die Aschenschale füllte sich immer mehr mit den zerdrückten Resten nur halb aufgerauchter Zigaretten.

Gilda Gilden schrieb an Alfred Stürmer …

„Berlin, den 1. November d. J.

Lieber Freund,

Sie dürfen überzeugt sein, daß mir diese Zeilen sehr, sehr schwer werden. Ich habe lange überlegt ob ich Ihnen nicht doch eine letzte Unterredung gewähren sollte. Ich gebe zu: ich war zu feige, nochmals Ihren traurigen fragenden Blicken standzuhalten! Und dann: weshalb sollte ich uns beide unnötig quälen?! Seitdem jener Artikel über mich in der Filmzeitschrift erschienen ist, hat sich zwischen uns eine unüberbrückbare Kluft geöffnet.

Gewiß, Sie waren am Tage nach dem Erscheinen jenes heimtückischen, raffiniert berechneten Geschreibsels bei mir und haben mir beweisen wollen, daß sich in unseren Beziehungen nichts geändert hätte. Sie haben mich nochmals gebeten, die Ihre zu werden … Und wie vor drei Wochen erwiderte ich Ihnen daß ich mich vorläufig nicht entscheiden könnte, nicht etwa, weil Sie mir gleichgültig, sondern weil ich Sie eben zu lieb habe, um Ihr Dasein durch eine Ehe mit einem Weibe zu zerstören, das in Ihren Kreisen stets eine Fremde bleiben wird, stets als Eindringling betrachtet werden wird.

Dieser letzte Besuch bei mir, mein Freund, war jedoch insofern für mich noch ausschlaggebend, als ich sehr wohl merkte, daß Sie insgeheim hoffen, ich würde die Angaben jenes Artikels empört als infame Lügen zurückweisen. Als ich es nicht tat, wurden Sie stiller und stiller. Ihre lieben Augen forschten bang in meinem Gesicht … Ich wußte in diesen Blicken zu lesen. Sie waren enttäuscht, beunruhigt und bedrückt. Beim Abschied bat ich Sie, meine Wohnung vorläufig zu meiden. Dieser Abschied, mein Freund, ist nun der letzte geworden. Wir werden uns nicht wiedersehen. Ich verlasse Europa. Wenn Sie diesen Brief erhalten, bin ich längst unterwegs … Ich kenne eine Stätte, wo ein seelisch zerbrochener Mensch wie ich für immer Ruhe und Frieden findet. Ich habe also meine Beziehungen hier gelöst. Gilda Gilden verschwindet … Niemand wird je wieder von ihr etwas hören.

Ich lösche mich selbst aus, mein Freund … Nicht durch eine Tat, die ich als größte Feigheit bei anderen stets verurteilt habe. Nicht etwa durch Selbstmord. –

Alfred, was jene Zeitschrift über mich veröffentlichte, ist die Wahrheit. Ich bin durch meine Herkunft, durch meine Jugendjahre gezeichnet. Aber – ich bin rein, rein als Weib. … Nicht als Mensch. Meine Vergangenheit weist dunkle Flecken auf, die nichts mehr tilgen kann. Deshalb mein Freund, habe ich Sie auch bei Ihrem ersten Antrag hingehalten. Ich habe mit mir gekämpft … Alfred, ich liebe Sie ja … Aber die Gespenster von Einst fürchtete ich … … Sie könnten von neuem erscheinen … Und sie sind erschienen … –

Mein Freund, erlassen Sie mir eine Beichte … Sie sollen an mich zurückdenken so, wie Sie mich kannten und liebten … Sie sollen sich an unsere gemeinsamen Ausflüge, an die traulichen Abendstunden in meinem Heim und an die Hausherrin, die Ihnen den duftenden Tee einschenkte und das Zündholz für die Zigarette reichte, gern erinnern … Keine bestimmten Schatten sollen Ihnen mein Bild trüben …

Ich verschwinde … Morgen um diese Zeit haben sich Pforten hinter mir geschlossen, die sich mir niemals wieder öffnen …

Dort in der Ferne, inmitten der schneebedeckten Berge, werde ich Ruhe finden … Vielleicht wird man es mir als schwere Sünde anrechnen, daß ich voller Wehmut dort des Mannes gedenken werde, der meines Lebens Inhalt gewesen … Das waren Sie, mein Freund … Und mehr und Besseres habe ich Ihnen nicht zu sagen … – Leben Sie wohl, Alfred … – Ihre Gilda.“

Zwei heiße Tropfen schimmerten in Gilda Gildens Augen, als sie dieses Schreiben nun in einen Umschlag tat und die Anschrift hinzufügte …

Wieder trank sie langsam das Rotweinglas leer.

Verschwommen hörte sie aus dem großen Hinterzimmer der Kneipe Gesang … Dort hatte eine Studentenverbindung ihr bescheidenes Heim aufgeschlagen.

Andre Städtchen, andre Mädchen …
Doch – die eine ist es nicht …
Doch die eine – ist es nicht …!

Eine traumhaft wehmütige Stimmung überkam die einsame Frau …

Jugend … Jugend …!!

Und sie selbst – noch so jung … Sie selbst … innerlich zerbrochen …

Sie lehnte sich zurück …

Drüben an der Wand tickte eine große Uhr …

Halb zehn …

Und ihre Gedanken gingen andere Wege …

Das Kistchen hatte sie vorhin bei Trebbins abgestellt …

Noch zweiundeinehalbe Stunde … Dann … dann …

Ihr Gesicht wurde hart …

Tom Morris … der böse Geist … Abrechnung!

Sie preßte die Lippen zusammen …

Das Einst tauchte in ihrem Geiste auf … Der Verbrecherkeller … Tom Morris – ihre Eltern …

Ein kalter Hauch strich ihr über den Leib …

Johlen, Brüllen, trunkene Gestalten … Nächte, in denen sie als halbwüchsiges Mädel draußen vor der Kellertür jeden Schritt der mißtrauischen Beamten belauert hatte … Nächte, in denen über Dächer und Hinterhöfe das Diebesgut herbeigeschafft wurde …

Andere Nächte, in denen sie vor dem Gesindel getanzt hatte – auf vier zusammengerückten Tischen … Dann hatte Tom Morris am Klavier gesessen … Oh – er konnte alles … Er war bei allem der Anführer – tonangebend, schlau, intelligent, verderbt bis ins Mark …

Hastig füllte sie wieder das Weinglas … trank gierig …

Andere Bilder …

Vor acht Wochen … Erstaufführung im Ufa-Palast … Gilda Gilden in der Loge, Gildas Gilden auf der weißen Leinwand … Beifallsstürme … Blumen … Blumen …

Vor fünf Jahren aber: ein Landstädtchen drüben in Amerika … Eine Seiltänzertruppe … Am fliegenden Reck ein schlankes Mädchen im Trikot … Ein Clown, der gelenkiger als eine Katze: Tom Morris! – Und nach der Abendvorstellung auf finsteren Pfaden meilenweit bis zum Märchenpalast John Lockwellers …

Wie Fieberschauer lief es ihr wieder über den Leib.

Sie … sie hatte Alfred Stürmers Gattin werden wollen – – sie?!

„Herr Wirt – – zahlen …!“

Ihre Stimme klang schrill …

Hinaus in die dunkle Herbstnacht wollte sie …

Nichts mehr hören von den frohen Liedern junger Kehlen …

Sie zog den dunklen Herrenulster an. Der Wirt half, dienerte …

Die wenigen Gäste beachteten sie nicht …

Scheinbar … – Aber einer hatte da in der fernen Ecke gesessen, einer, der ihr vor zwei Stunden gefolgt war, der dann aus dem Häuschen der Trebbins hierher zurückkehrte: blondbärtig, gut gekleidet …

Der blieb hinter ihr wie ein Schatten …

Der sah, wie sie einen Brief in den nächsten Kasten warf … Der tat vieles, was andere nicht wagen …

Am Ende der Bismarckstraße war es so einsam. Im Nu hatte er mit einem verstellbaren Dietrich den Briefkasten geöffnet, hatte den Zipfel des Mantels unter die Klappe gehalten … Nur acht Briefe … Und den einen behielt er – den an Alfred Stürmer …

Holte Gilda Gilden rasch wieder ein …

Noch stiller wurden die Straßen … Ein scharfer Wind umbrauste die Hausgiebel … Wolkenfetzen flogen über das Firmament, verhüllten den Mond, gaben ihn wieder frei …

Dann beeilte Herr Karl Nüchtern sich … wollte vor Gilda daheim sein – bei den Trebbins …

Betrat die Küche, stieg die schmale Treppe empor.

Max Glatze schlief auf dem Strohlager …

Sein Freund setzte sich leise an den Tisch …

Befeuchtete den Kleberand des Briefes und hielt ihn über die Petroleumlampe, öffnete ihn dann und las …

Schüttelte unzufrieden den Kopf … Er hatte mehr zu finden erwartet. Dieses Schreiben besagte nur eins[10]: daß Gilda Gilden der Liebe eines Mannes wie Alfred Stürmer würdig war!

Der Detektiv verschloß den Brief, sann vor sich hin.

Unten schlug die Flurglocke an …

Unten ließ Fritz Trebbin Gilda Gilden ein …

„Ich komme von einer Aufnahme, Herr Trebbin …,“ sagte sie mit müder Freundlichkeit … „Daher dieses Männerkostüm … Ich bin sehr müde …“

Trebbin stieß die Tür der Vorderstube auf und schaltete das Licht ein …

„Haben Sie noch Wünsche, gnädiges Fräulein?“

„Danke … Gute Nacht, Herr Trebbin …“

Sie verschloß die Tür … Die Fenstervorhänge waren bereits zugezogen.

Da war ein billiger Korbsessel – der einzige Luxus des Stübchens. Gilda setzte sich, legte nur den Hut ab.

Schrak leicht zusammen …

Das Kistchen …!!

Erhob sich … Pochte an die Tür des Nebenzimmers.

„Bitte …“ – rief eine helle Stimme …

Gilda Gilden trat ein …

Frau Luzie saß am Bettchen des Kindes …

„Oh – entschuldigen Sie, Fräulein Gilden … Ich bin …“

Sie schämte sich des fadenscheinigen Kleides …

Die Diva reichte ihr die Hand …

Schaute hinab auf Bübchens rosiges Gesicht … Bübchen hatte den Daumen wieder im Munde … Und neben ihm lag der große zottige Teddybär …

Gilda stand minutenlang …

Frau Luzie blickte scheu in das blasse Antlitz …

„Sie … sind wohl sehr glücklich, Frau Trebbin?“ fragte Gilda leise …

„Ja – – sehr glücklich …! Mein Kind und Fritz, – – und wir hungern nicht … Und selbst wenn es uns noch schlechter ginge, Fräulein Gilden: zu zweien trägt sich alles leichter …“

Gilda nickte nur …

Ein schwaches Lächeln einer Sehnsucht, die nie erfüllt werden würde, spielte um ihre Lippen …

Das Bübchen und der Teddybär: dieses Bild würde sie mit hinübernehmen in das neue Leben … –

Fritz Trebbin trat ein. Er hatte soeben die beiden Detektive zur Hintertür hinausgelassen, hatte dann ebenfalls an das Kistchen gedacht und trug es schon im Arm …

„Bitte stellen Sie es doch bei mir auf den Tisch,“ sagte Gilda mit derselben müden Freundlichkeit … „Gute Nacht, Frau Trebbin … Möge Gott Ihnen dieses Glück erhalten …“

Sie gab der jungen Mutter die Hand. Ein letzter Blick nach dem Kinde noch, und sie trat in ihre Stube zurück, schloß die Tür, riegelte ab …

Und es war ihr, als seien nun auch diese Menschen aus ihrem Dasein für immer gestrichen … Sie wußte: sie würde Trebbins nicht wiedersehen.

Am Tische saß sie …

Starrte auf die schwarze Kiste … Die schwarze Leinwand – – wie ein kleiner Sarg …

Wie ein Sarg, der ihr eigenes Lebensschicksal umschloß … –

Dann schrieb sie …

Tat in einen Umschlag fünftausend Mark, klebte den Umschlag zu und adressierte:

Herrn und Frau Trebbin …

Dachte an die anderen Geldspenden, die sie bereits den Kollegen Wendland und Holsten hatte zukommen lassen … Die beiden waren treu gewesen, hatten getan, was sie vermochten … Aber gegen einen Tom Morris richtet man nichts aus … Der war schon früher wie Quecksilber, rann den feinsten Spürnasen der Polizei durch die Finger – entrann stets, ließ andere für sich bluten … – –

 

6. Kapitel.

Die beiden Detektive – Karl Nüchtern war jetzt wieder der alte Hausierer geworden – warteten im Schatten des Häuschens, bis eine größere Wolke den Mond für längere Zeit verbarg. Dann schlüpften sie über die Straße, verschwanden in dem Kellerfenster … Das Gitter wurde wieder festgeklemmt …

Sie standen und lauschten … Sie hatten Geduld. Sie übereilten niemals etwas. Männer von ihrer Erfahrung geizen nicht mit Minuten.

Dann nahm der Größere die Taschenlampe … Ein dünner Lichtstrahl, zwischen den Fingern hervorgleitend, irrte umher und erlosch …

Leuchtete abermals auf – weiter nach der Tür hin, die in den Kellergang führte …

Ein fauliger Dunst erfüllte hier die leeren Gewölbe – das Zeichen der vernichtenden Kräfte des gefährlichen Hausschwamms, der das Gebälk zermürbt, der weiter und weiter kriecht wie ein gefräßiges Ungetüm …

Schutthaufen hier im Kellergang … Die Gewölbedecke eingestürzt … Balkenstücke und Bretter ragen durch die Löcher wie drohende Spieße …

Die beiden Freunde sind jetzt oben im Flur dicht vor der Haustür …

Die ist verschlossen … Die Dielen auch hier mürbe und verfault, nur noch stellenweise menschliche Last tragend …

Karl Nüchtern leuchtet die Dielen ab … Kriecht dann vorwärts … Es hat in den letzten Nächten geregnet, und hier sind überall Sandkrümchen zu finden.

Zu finden für den, der Augen hat. Karl Nüchtern hat vier Augen, behauptet Max Glatze.

Diese Spur zieht sich bis zur Hintertür des Hauses … Immer über Stellen der Dielen hin, die der Schwamm noch nicht zerfressen hat … eine vielfach geschlängelte Fährte …

Nüchtern erhebt sich … flüstert:

„Sie haben das Haus nur als Durchgang benutzt, mein Alter …“

Dann zieht er die Taschenuhr …

„Drei Viertel elf …! Falls heute etwas sich ereignet, müßte Tom Morris sehr bald erscheinen … Ich denke, wir warten hier hinter dem Kellereingang … Nach elf sind wir dann sicher … Dann brauchen wir keine Überraschung mehr zu befürchten …“

Sie wissen mancherlei, die beiden … Nicht alles … Nicht, daß Gilda Gilden das Kistchen punkt zwölf hier im Hause auf Abbruch dem übergeben soll, der ihr eins nie vergißt: daß sie seine Sklavin gewesen, aber nie seine Geliebte!

Sie stehen auf der zweiten Stufe der Kellertreppe … Die Tür dicht vor ihnen hat der Hausierer geölt … Die rostigen Gelenke kreischen nicht mehr …

Der unheimliche, stets von neuem erwachende Lärm des Herbststurmes, der in wilden Stößen gegen das einsame Gebäude grollt, erfüllt die leeren Räume mit seltsamen Lauten …

Lose Regenrinnen klappern, bilden für die Windsbraut Schalltrichter … Heulende Schreie erklingen – ersterben … Fenster klirren … Polternd fallen zerbrochene Ziegel vom Dach …

Dann wird es für Sekunden still …

Bis all die Geräusche mit doppelter Kraft wieder aufleben … –

Die beiden Freunde sind derartige Nächte gewöhnt … Für sie ist all das nur die Begleitmusik ihres abenteuerlichen Berufes … Andere Nächte kennen sie, wo der Tod neben ihnen lauerte, wo die Hände sich um die kühlen Kolben der Pistolen krallten und das Leben schließlich nur von einem raschen Schuß abhing …

Diese Nacht – – Spielerei …

Und Max Glatze gähnt denn auch verstohlen …

Karl Nüchtern hört’s und meint leise:

„Es wird Dir vergehen, mein Alter …! Du ahnst nicht, wer Tom Morris ist …“

„Ein Gauner …“

Nüchtern lacht ironisch lautlos …

„Das Stück Gußeisen war wie eine Visitenkarte.“

Sie stehen im Finstern …

Max Glatze fragt – und die Klangfarbe der Stimme hat sich geändert:

„Visitenkarte?! Ein Stück Gußeisen?!“

Der Sturm hat gerade wieder eine Pause gemacht.

Der unheimliche Lärm schweigt …

Und in diese Stille hinein dringt ein anderer Ton … Pflanzt sich von der Haustür durch den Flur fort … das Kreischen eines Schlüssels im Schlüsselloch … Dann das Zurückschnappen des Schloßriegels …

Abermals da die Windsbraut mit ihren lärmenden Fanfaren …

Minutenlang …

Die beiden Freunde starren in das Dunkel – dorthin, wo die handbreite Spalte der Kellertür klafft … Man sieht diese Spalte nicht … Aber man fühlt sie … Zugluft streicht hindurch …

Wenn jemand mit einer Laterne, die er auf drei Viertel abgeblendet haben könnte, den Flur hinabschliche, mußten die Freunde ihn sehen …

Es kommt niemand …

Und deshalb schiebt Karl Nüchtern langsam die Tür so weit auf, daß er den Kopf vorstrecken kann …

Er zieht ihn rasch wieder zurück …

Flüstert Glatze zu: „Morris …!! Er erwartet die anderen … Auf den Dielen steht eine Laterne, die mit einem Schleier bedeckt ist …“

Max Glatze drängt den Freund etwas zur Seite …

Und – sieht dasselbe Bild: eine matt beleuchtete Gestalt … wie die unklare Figur einer Laterna Magika.

Nüchtern hat auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr geschaut …

Drei Minuten vor elf …

Nun wird sich ja zeigen, was diese Leute hier treiben.

Die dreizehn …

Wahrscheinlich dreizehn, Morris eingerechnet … –

Die drei Minuten verrinnen …

Ein Zufall, daß gerade punkt elf Uhr der Sturm schweigt …

Der Schlüssel meldet sich – der Riegel …

„Ein Uhr!“ spricht der Mann mit dem Schlapphut gegen die Tür … – genau wie Fritz Trebbin es bereits in zwei Nächten belauscht hat …

Das Geheimnisvolle beginnt … Das, wofür selbst Karl Nüchtern noch keine Erklärung hat …

Der Sturm setzt wieder ein …

Nun aber gleitet ein Schatten an der Kellertür vorüber … ein Schatten, der vor sich hin einen matten Lichtkegel wirft …: ein Mann mit einem kleinen Leuchtstab in der Hand …

Die Hintertür des Hauses auf Abbruch läßt den Schatten ins Freie … Die Tür knarrt … Ein Windstoß fährt in den Flur … Die Kellertür schlägt krachend zu.

Die Freunde fahren zusammen … Aber die anderen Geräusche ringsum machen den Knall der zufallenden Tür zu einem nichtssagenden einzelnen Laut in dieser Sinfonie der Herbstnacht …

Nüchtern raunt Glatze ins Ohr:

„Pech …! – Ob wir es wagen, die Tür wieder zu öffnen?!“

Er wagt es … Er tut es mit Überlegung … Seine Uhr weicht nicht um Sekunden von der Normalzeit ab … Und gerade als vier Minuten verstrichen, als an der Vordertür der dritte der zwölf sich meldet und Einlaß begehrt, drückt er die Tür auf und behält die linke Hand an der Klinke, damit der Wind nicht nochmals das lärmende Spiel wiederhole …

Im Flur aber – – wiederholt sich das Spiel …

Genau in Abständen von zwei Minuten erscheinen zwölf Schatten, gleiten durch den Flur, verschwinden nach dem Hofe des alten Gebäudes …

Neun von diesen Schatten hat Karl Nüchtern beobachtet, soweit er etwas beobachten konnte … Aber seine Augen sind gut, sind die Augen eines Jägers, der gewöhnt ist, sein Wild selbst im Halbdunkel zu erkennen …

Karl Nüchtern weiß jetzt Bescheid … Nur Zweck[11] und Ziel dieser Kumpane des Amerikaners, der hier in Berlin Engländer sein will, bleiben ihm ein Rätsel …

Max Glatze flüstert: „Jetzt muß Tom Morris erscheinen …“

„Ja … Und ihm folgen wir …“

Tom Morris bleibt aus …

Eine volle Viertelstunde vergeht …

Glatze wird ungeduldig …

„Der Kerl ist vielleicht zur Vordertür hinaus …,“ raunt er Nüchtern zu … „Ich denke, wir …“

Was er denkt, bleibt ungesagt …

Hinter den beiden ist jäh eine Lichtflut aufgezuckt – wie ein greller Blitz … erlischt sofort wieder …

Die sekundenkurze Beleuchtung genügt …

Nüchtern und Glatze taumeln nach hinten, werden aufgefangen … Die heimtückischen Hiebe mit dicken Gummiknüppeln lähmen sie gerade so lange, als die Angreifer brauchen, die Wehrlosen zu fesseln und zu knebeln …

Tom Morris geht dann voran … Nur einer der Kellerräume bietet mit seinem Kistengerümpel ein paar Sitzgelegenheiten: der, in dem sich auch Fritz Trebbin versteckt hatte, als er in zwei Nächten das Haus auf Abbruch besuchte …

Morris hängt seinen Mantel vor das kleine Kellerfenster … Seine Kumpane drücken die beiden halb Bewußtlosen auf eine Kiste, die vor einem Berg halb verfaulter Fässer steht …

Die elektrischen Taschenlampen der drei Verbrecher leuchten nun unverhüllt …

Morris steht vor den Detektiven[12] – breitbeinig – geschwollen ob seines leichten Sieges …

Seine zusammengekniffenen Augen begegnen denen des Hausierers …

„Eine tadellose Maske, Mr. Harald Harst …!“ höhnt er frech … „Sie scheinen Ihre fünf Sinne ja bereits wieder so weit beieinander zu haben, daß Sie den Sinn meiner freundlichen Begrüßung erfassen können …“

„Allerdings, Tom Morris allerdings,“ erwidert der berühmte Detektiv … Seine Stimme klingt noch unsicher, belegt … Aber mit jedem Wort gewinnt sie an Festigkeit …

„Sie und Ihr Intimus Max Schraut sind mir also gerade noch rechtzeitig in die Falle gegangen … Bei diesem Millionengeschäft mußte ich mich doppelt und dreifach sichern … Berlin ist ein gefährlicher Boden für unsereinen … Sie verderben hier die Gemütlichkeit, Mr. Harst. Auf die Polizei pfeife ich … Aber Sie – Sie sind der Störenfried … Sie mußte ich erst kaltstellen, bevor[13] ich das letzte unternahm … Und nun habe ich Sie beide … Das wollte ich … …“ –

Max Schraut überwindet gleichfalls die Folgen des brutalen Hiebes … Nicht wenig trägt zu dieser schnellen Rückkehr seiner körperlichen und geistigen Spannkraft das aufreizende Benehmen Tom Morris’ bei …

Morris hat von einer Falle gesprochen, hat Namen genannt, die den beiden Freunden weit mehr gebühren als Nüchtern und Glatze …

Und Schraut hebt den wirren schmerzenden Kopf und horcht gespannt, was Harst erwidern wird …

Der aber bleibt stumm …

Morris lacht … Dasselbe scheußliche Lachen wie im gelben Salon Gilda Gildens …

„Hat’s Ihnen die Rede verschlagen, Mr. Harst?!“ höhnt er von neuem … „Sie glaubten wohl, es hier mit einem Anfänger zu tun zu haben …?!“

„Keineswegs, Tom Morris … keineswegs …!“

„Ah – Sie bequemen sich zu einer Antwort … Immerhin etwas, Mr. Harst … Immerhin werden wir dann einig werden …“

„Wohl kaum, Tom Morris … Oder vielmehr: einig in meinem Sinne, und das dürfte anders ausfallen als Ihre Absichten …“

Morris grinst … Die beiden anderen in ihren Regenmänteln, Schlapphüten und blonden Bärten sind stumme Zuhörer …

Morris sagt: „Ihre Reise nach London, Mr. Harst, – daran habe ich nie geglaubt … Ich hatte als angeblicher Klient bei Ihnen angerufen, und Ihre Mutter erklärte am Telephon, Sie seien in England … Da wußte ich, daß ich auf der Hut sein müßte … Da habe ich … die Falle vorbereitet …“

„Ich weiß, Tom Morris: die zwölf Leute und hier das Haus auf Abbruch … Ich weiß … Es waren nicht zwölf, sondern nur zwei, die immer wieder erschienen … Ein ganz netter Scherz … Und Sie rechneten damit, daß Herr Trebbin von gegenüber darauf aufmerksam werden würde, was ja auch geschehen ist … Der sollte sich dann an mich wenden … – Und doch: erst in dieser Nacht merkten Sie, wie und wo wir hinter Ihnen her waren … Da … funktionierte die Falle, das gebe ich zu …“

„Und ob …!! Sie funktionierte – prächtig! Wir hatten im Flur drei ganz dünne Seidenfäden gespannt … ganz dünne … Die waren zerrissen … Die Sache ist als Trick sehr alt … sehr alt sogar … Und bewährt sich immer wieder, besonders wenn noch eine Kellertür durch die Zugluft zuklappt …“ – Er lachte – lachte.

Und Harald Harst … lachte mit … Heiter und harmlos, wie über den besten Scherz … Lachte und meinte:

„Freilich, daß gerade ich mich derart hineinlegen ließ, ist sehr merkwürdig …“

Tom Morris wurde urplötzlich ernst …

Diese Heiterkeit der Berühmtheit erschien ihm sehr verfänglich – sehr …!

„Weshalb – – lachen Sie?!“ fragte er drohend … „Sie denken wohl, daß ich aus Ehrfurcht vor Ihnen, Mr. Harst, mich höflichst entschuldigen werde, Sie so unhöflich behandelt zu haben …!“

„Keineswegs nehme ich das an, Tom Morris … Vielmehr vermute ich, daß Sie einen Streich vorhaben, der durch mich hätte verhindert werden können … Sie werden nun eben Schraut und mich hier so lange festhalten, bis Ihre Sache erledigt ist …“

„Sehr richtig, Mr. Harst: drei Tage! Drei Tage werden Sie fasten müssen … Drei Tage nur … Mr. Schraut wird das nichts schaden … Er ist gut genährt … sehr gut sogar … Wir haben ein Quartier für Sie vorbereitet … Und Sie werden dort sogar Damengesellschaft vorfinden … Wir sind darauf bedacht, daß Sie sich nicht langweilen, meine Herren …“

Pause …

Tom Morris blickte Harald Harst lauernd an … Er wollte feststellen, welchen Eindruck diese seine Drohungen hervorgerufen hatten, wollte auch ergründen, ob der berühmte Detektiv etwa allzu gut unterrichtet sei …

Harst blieb stumm …

„Behagt Ihnen die Damengesellschaft nicht, Mr. Harst?!“ begann Morris in demselben niederträchtigen Tone von neuem …

„Das käme darauf an, wer die Dame ist,“ meinte der Detektiv gemütlich. „Wollen Sie denn die Dame etwa ebenfalls drei Tage hier gefangenhalten?“

„Hier nicht … Das wäre zu unsicher … Denn Herr Trebbin, der drüben jenseits der Straße wohnt, hat diesen Raum wiederholt benutzt, um mir nachzuspionieren … Heute ist Herr Trebbin daheim … Ich habe vorhin an seinen Fenstern gelauscht … Heute glaubt er, das Dutzend geheimnisvoller Gestalten wird sich hier nicht einfinden … Und dasselbe glaubten Sie, Mr. Harst …“

„Allerdings … Ich …“

Da schwieg der Detektiv – mitten im begonnenen Satz … Freilich nur einen Moment … Nur ein paar Sekunden brauchte er, um sich von dem leichten Schreck zu erholen … Ein Schreck, der diese Bezeichnung verdiente und berechtigt war … Denn – seine auf den Rücken gefesselten Hände waren von eiskalten Fingern berührt worden … mit leichtem Druck …

Im ersten Augenblick hatte er an seinen Freund Schraut gedacht … hatte gehofft, Schraut hätte vielleicht irgendwie die Hände freibekommen. Sofort verwarf er diesen Gedanken wieder … Die Kerle hatten die dünnen Stricke sehr kunstvoll geknotet … Diese Schlingen abzustreifen war unmöglich …

Nein – es konnte sich hier nur um eine Person handeln, die in dem Haufen alter Fässer steckte … Und diese Person mußte Fritz Trebbin sein … Trebbin war fraglos hier in den Keller eingedrungen, nachdem Tom Morris das Haus auf Abbruch bereits betreten hatte …

Und – Harst sprach weiter, nachdem er sich kurz geräuspert hatte …

„Ich … würde mich freuen, wenn wir der Dame insofern nützlich sein könnten, daß wir ihre Angst ein wenig zerstreuen …“

Morris unterbrach ihn …

„Oh – die hat keine Angst, Mr. Harst … Die hat schon andere Dinge in ihrem Leben durchgemacht … Die ist Studienobjekt für Sie …“

Wieder spürte der Detektiv da den Druck der eiskalten Finger auf seinem Handrücken … Er konnte sich unschwer ausmalen, in welcher Erregung sich Fritz Trebbin angesichts dieses ungewohnten Abenteuers befinden müßte … Diese Eiseskälte der Fingerspitzen sprach deutlich genug …

„Studienobjekt?!“ sagte er kopfschüttelnd. „Das glaube ich nicht, Tom Morris … Die Dame wird wohl Ihresgleichen sein, Verbrecherin mit Durchschnittsintelligenz – oder noch weniger …“

Morris war nun überzeugt, daß der Detektiv von Gilda Gilden und all dem, was mit der Filmdiva zusammenhing, nichts ahnte …

Und so meinte er in überlegenem Tone:

„Sie schätzen mich also lediglich als Durchschnittsverbrecher ein …! Nun, ein wenig schlauer als Sie bin ich doch … Ich habe Sie beide … geklappt … Und das ist die Hauptsache …“

Dann zog er seine goldene Taschenuhr, ließ den Deckel springen …

„Oh – höchste Zeit …!“ Und zu dem einen seiner Helfershelfer: „Ben, Du bleibst hier … Bewachst die berühmten Herren … Wir wollen jetzt die … Dame in Empfang nehmen … Es fehlen nur noch drei Minuten an Mitternacht …“

Und die zwei verließen den muffigen Kellerraum … Ben aber zog eine Browningpistole hervor und setzte sich auf eine andere Kiste …

Das gab einiges Geräusch …

Gerade laut genug, um ein anderes leises Geräusch zu übertönen: ein Rascheln in den alten Fässern …

Und Harald Harst spürte nun, wie eine Messerklinge vorsichtig die Schlingen um seine Handgelenke zertrennte … –

 

7. Kapitel.

Von dem Häuschen der Trebbins her huschte eine Gestalt über die Straße … Gilda Gilden, die wieder Frauenkleidung angelegt hatte – ein ganz schlichtes Gewand, dazu einen langen Damenulster, – Dinge, die der bei Trebbins untergestellte Koffer enthalten hatte.

Im linken Arm trug Gilda das Kistchen … In ihrer rechten Manteltasche aber war ein kleiner Damenrevolver verwahrt – eine Erinnerung an frühere Zeiten … Seit Jahren hatte diese Waffe mit Elfenbeinschaft in einem Geheimfach des Schreibtisches der Diva gelegen, – neben dem wertlosen Stück Gußeisen …

Gilda Gilden pochte kräftig gegen die Tür des leeren Hauses … Das Kistchen hatte sie auf die Schwelle gestellt … Die rechte Hand war in der rechten Manteltasche verschwunden – für alle Fälle …

Die Tür ging auf …

Ein Laternenschein glitt über Gilda hin …

„Tritt ein …!“ befahl Morris …

Gilda erwiderte: „Dort steht das Kistchen – zu Deinen Füßen … Wir haben nichts mehr miteinander gemein, Tom Morris … Ich habe alle Brücken hinter mir abgebrochen … Gilda Gilden verschwindet …“

„Tritt ein!“ rief er drohend. „Ich lasse mich nicht betrügen … Ich muß sehen, was das Kistchen enthält.“

„Ich betrüge niemand … Mir hat nie etwas an dem Stern des Südens gelegen … Dieser Stern hat mir nur Unheil gebracht …“

Sie wollte weiter zurück – aus dem Bereich Tom Morris …

Ein Schatten glitt hinter sie …

Eine Hand umkrallte ihren rechten Arm … Jemand stieß sie vorwärts …

Und da – ein dumpfer Knall …

Ein Knall einer Waffe, die sich in einer Stoffumhüllung entlädt … in einer Tasche …

Kein beabsichtigter Schuß …

Ein Schuß, den das Schicksal vorher bestimmt …

Und – in der offenen Tür des Hauses auf Abbruch ein leiser Schrei … Morris taumelt zurück … Die kleine Laterne fällt klirrend auf das Kistchen …

Tom Morris wird aufgefangen … Wird emporgehoben …

Gleichzeitig fast schnellt sich eine Gestalt dem Manne in den Rücken, der Gilda Gilden gepackt hat …

Harst sagt drohend:

„Loslassen …! Und keinen Fluchtversuch …! Gehen Sie vor mir her in den Keller hinab … Auch Sie bitte, Fräulein Gilden … Ich bin Harald Harst, und ich möchte … Ihnen helfen, Vergangenes auszulöschen.“

Der Mann hat jäh den Kopf gewandt … Starrt in eine Pistolenmündung … gehorcht …

In dem elenden Kellergelaß sitzt jetzt Ben, der Wächter, gefesselt auf der großen Kiste … Vor ihm steht Fritz Trebbin, blaß vor Erregung …

Auf dem Fliesenboden aber liegt schwer atmend Tom Morris, die Linke auf die Brust gepreßt … Blutiger Schaum quillt ihm aus dem Munde … Nur noch röchelnd und pfeifend arbeitet die zerschossene Lunge.

Schraut hat ihn hier hinabgetragen … Schraut sieht, wie das fahle Gesicht des Verbrechers immer mehr verfällt …

Ben stiert auf den Sterbenden …

Der Herbststurm draußen schweigt … Man hört nur das Röcheln, das qualvolle Atmen des Todwunden.

Dann Schritte …

Gilda Gilden … und der dritte – und Harst …

Harst mit dem Kistchen …

Er stellt es nieder … Ein Blick nach Tom Morris hin …

Die Diva lehnt an der Mauer … Ihre Augen sind stumpf …

Fritz Trebbin zittert … Hält sich kaum mehr auf den Füßen …

Der Sturm braust von neuem auf … Lärm erfüllt das alte Gebäude …

Harst beugt sich über den Sterbenden …

„Tom Morris …!!“

Der öffnet matt die halb geschlossenen Lider …

„Tom Morris, vor fünf Jahren wurde nachts aus dem Palast des Milliardärs John Lockweller der Stern des Südens gestohlen, ein schwarzer Diamant, der eine Seltenheit, in ein Stück vulkanischen Eisens halb eingeschmolzen war … In Südafrika war er gefunden worden. John Lockweller kaufte ihn … Ich glaube, er zahlte eine Million Dollar … – Dieser Diebstahl wurde von drei Mitgliedern einer Seiltänzergesellschaft ausgeführt … Der eine, ein Clown, war ein gefährlicher Neuyorker Verbrecher, wie die Polizei ermittelte … bekannt als „der kleine Tom.“ – Tom Morris! Die beiden andern waren Geschwister, nannten sich Gildano … Die Polizei verhaftete Tom Morris und Allan Gildano … Gildanos Schwester entkam mit der Beute. Dieser Gildano verstarb im Zuchthaus von Sing Sing … Der „kleine Tom“ aber wurde vor zwei Monaten nach Verbüßung seiner Strafe entlassen … – also Sie, Tom Morris … Und jenes Allan Gildano Schwester ist … Gilda Gilden …“

Harald Harst macht eine Pause … Der Sturm tobt um das Haus, übertönt Tom Morris immer schwächer werdendes Röcheln …

Harst beugt sich tiefer …

„Tom Morris, geben Sie zu, daß Sie damals Gilda Gilden gezwungen haben, draußen im Park des Milliardärs Schmiere zu stehen …? Geben Sie zu, daß Sie die Geschwister Gildano dadurch völlig in Ihrer Gewalt hatten, weil Sie deren bereits zu Zuchthaus verurteilten Eltern jederzeit noch schwerer belasten konnten?“

Morris will sprechen …

Seine Hände fahren in die Luft … Die weit aufgerissenen Augen suchen Gildas blasses Gesicht … Die Hände scheinen um Vergebung zu flehen … Sinken schwer herab …

Ein Zucken geht durch den Leib – ein letztes Aufbäumen …

Dann liegt Tom Morris still …

Der Sturm schweigt …

Morris ist tot … –

Harst richtet sich auf …

„Schraut, nimm dem Manne die Fesseln ab …“

Und dann zu Morris’ beiden Kumpanen:

„Sie werden Europa verlassen und die Vorgänge dieser Nacht aus Ihrer Erinnerung streichen … Dann will ich nicht wissen, wer Sie sind, was Sie sonst noch begangen haben …“

Ben stammelt scheu:

„Mr. Harst, wir …“

„Verschwindet …!“

Die beiden schleichen hinaus …

Oben fällt die Haustür ins Schloß …

Harald Harst wendet sich an Gilda Gilden:

„Gnädiges Fräulein, was wir noch zu besprechen haben, erledigen wir besser drüben in Ihrem Zimmer.“

Er bietet ihr den Arm …

„Kommen Sie … Ihre Vergangenheit ist tot …“

Sie stützt sich schwer auf den zerlumpten Hausierer – auf diesen Mann, der ein Detektiv und doch ein Mensch mit warmem Herzen ist …

Sie schluchzt leise …

So kommen sie in das Häuschen, in das warme, schlichte Zimmer, in die trauliche Behausung des stillen Glückes der Trebbins …

Gilda Gilden sitzt in dem Korbsessel … Fritz Trebbin hat das Kistchen auf einen Stuhl gestellt …

„Ihre Gattin wird sich um Sie sorgen, lieber Trebbin,“ meint Harst …

Trebbin versteht den Wink und geht hinaus …

Die beiden Freunde und die Diva sind allein.

„Gnädiges Fräulein,“ sagt Harst gütig, „ich habe mir erlaubt, den an Alfred Stürmer gerichteten Brief … abzufangen … Bitte – hier ist der Brief. Ich werde ferner Frau Kommerzienrat Stürmer, meiner Auftraggeberin, mitteilen, daß die Angaben jenes Schandartikels in keiner Weise der Wahrheit entsprechen und daß Sie nach meiner Überzeugung dem Namen Stürmer keine Unehre machen werden. Da die Dame offenbar auf mein Urteil sehr viel gibt, dürften ihre Ansichten eine gründliche Wandlung erfahren. Schließlich werde ich noch meine Freunde bei der hiesigen Kriminalpolizei bestimmen, den Tod des … Unbekannten im Hause auf Abbruch als Selbstmord gelten zu lassen und werde als Letztes den Stern des Südens, dessen sichtbarer Teil jetzt mit schwarzer Farbe überzogen ist, dem Eigentümer ohne jede nähere Erklärung zustellen. – Herrn Alfred Stürmer können Sie, gnädiges Fräulein, die Wahrheit mitteilen. Er wird diese Wahrheit ertragen, und – alles verstehen heißt alles verzeihen … Wenn Sie ihn dann noch bitten wollten, Herrn Trebbin eine entsprechende Anstellung zu verschaffen, würden Sie dem jungen Paare den besten Dank abstatten …“

Gilda Gilden weint …

Als sie aufblickt, ist das Zimmer leer …

Über die Felder wandern Harst und Schraut dem eigenen Heim wieder zu, das sie seit Tagen nicht mehr betreten haben …

Der Sturm fegt über die kahlen Äcker … Aber das Firmament ist wolkenfrei … Sterne blinken … Die Mondsichel leuchtet …

„Man muß als Detektiv ein gutes Gedächtnis haben, mein Alter …,“ sagt Harald Harst … „Als ich das Eisenstück sah, wußte ich Bescheid … Es war wie eine Visitenkarte – die eines Menschen, der nun gebüßt hat …“ – –

Sechs Wochen später reist das junge Ehepaar Stürmer nach Argentinien. Alfred Stürmer will dort die Leitung der Konservenfabriken der Weltfirma persönlich übernehmen.

Das Häuschen gegenüber dem Hause auf Abbruch steht wieder leer … Trebbins haben ihre Stadtwohnung bezogen. Fritz Trebbin ist Prokurist bei der Stürmer-A.-G.

Und drüben jenseits des Atlantik im Palast des Milliardärs ruht unter Glas der Stern des Südens – der schwarze, in Eisen eingebettete Diamant …

Es ist alles gekommen, wie Harald Harst es versprochen: Gilda Gildens Vergangenheit starb in jener Herbstnacht im Hause auf Abbruch …

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „blasse“.
  2. In der Vorlage steht: „Brödchen“.
  3. In der Vorlage steht: „Schnappsbuddel“.
  4. Fehlendes Wort „mit“ ergänzt.
  5. In der Vorlage steht: „sie“.
  6. In der Vorlage steht: „Imititationen“.
  7. In der Vorlage steht: „kleinen“.
  8. In der Vorlage steht: „enhmen“.
  9. In der Vorlage steht: „daß“.
  10. In der Vorlage steht: „ein“.
  11. Zwei doppelte Worte „nur Zweck“ entfernt.
  12. In der Vorlage steht: „Detiktiven“.
  13. In der Vorlage steht: „bovor“.