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Das Lichtbild ohne Kopf

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 55:

 

Das Lichtbild ohne Kopf[1]

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Verantw. Redakteur: M. Lehmann, Berlin 26.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

1. Kapitel.

Als wir damals auf eine Depesche von Harsts Mutter hin von Rügen nach Berlin zurückkehrten, fanden wir daheim in der Blücherstraße in Schmargendorf einen Herrn vor, der Frau Harst inständig gebeten hatte, uns telegraphisch zurückzurufen, da er als mit den deutschen Verhältnissen wenig vertrauter Engländer es nicht wage, uns auf Rügen aufzusuchen.

„Ich habe nämlich in der letzten Zeit so merkwürdige Dinge erlebt, Master Harst,“ erklärte dieser Thomas Chiplay uns nun persönlich in Haralds Arbeitszimmer, – „so merkwürdige Dinge, daß ich mich kaum mehr recht auf die Straße traue.“

Der magere, kleine, blondbärtige Herr mit den weit vorstehenden Vorderzähnen und der spiegelblanken Glatze machte denn auch einen recht nervösen und bekümmerten Eindruck.

„Dabei bin ich ein so harmloses Menschenkind, Master Harst, daß ich einfach nicht begreife, wie diese Leute gerade mich mit ihren üblen Scherzen so in Schrecken setzen können,“ fuhr er nach kurzer Pause lebhaft fort.

„Sie sind Apothekenbesitzer, Master Chiplay,“ warf Harald ein.

„Woher wissen Sie das?“

„Meine Nase sagt es mir. Daß Sie nicht lediglich Angestellter in einer Apotheke sind, zeigt Ihre äußere Aufmachung. Sie tragen sehr wertvolle Ringe, Ihr Anzug verrät einen ersten Schneider, und trotzdem entströmt ihm ein feineren Geruchsnerven deutlich wahrnehmbarer Duft nach Apotheke. Nur ein Apothekenbesitzer wird so tadellos angezogen sich in seiner Apotheke bewegen.“

„Ja – ich bin tatsächlich Eigentümer der Schiffer-Apotheke in Dover, Master Harst. Ich darf Ihnen doch wohl meine Geschichte vortragen, obwohl Detektivinspektor Wurbson in Dover meint, es handele sich dabei lediglich um eine Fopperei. – Die Sache begann folgendermaßen.

Am 18. Mai dieses Jahres, also vor etwa vier Wochen, war ich bei Bekannten zum Abendessen eingeladen, die außerhalb der Stadt eine hübsche Villa besitzen. Die Leute heißen Sapaton. Der Mann ist Reeder und läßt seine Frachtdampfer hauptsächlich nach Ostasien laufen. Damals war bei Sapatons ein vornehmer Inder als Logiergast[2] im Hause, ein Kaufmann aus Singapore. Dieser Tamasiru, ein Hindu aus der vornehmen Brahmanenkaste, brachte bei Tisch das Gespräch auf die Künste der indischen Yogis, der Zauberer, fand aber im ganzen wenig Glauben mit seinen Münchhausiaden. Ich selbst habe vier Jahre in Indien, in Benares gelebt, wo ich Angestellter in der Albert Edward-Apotheke war. Sie kennen Indien ja ebenfalls, Master Harst. Haben Sie dort einen Yogi getroffen, der andere Kunststücke zeigte, als sie hier in Europa jeder bessere Zauberkünstler gleichfalls fertig bringt?! Ich nicht! Ich erlaubte mir daher auch, meine Zweifel diesem Tamasiru gegenüber recht laut zu äußern. Er sprach insbesondere von dem sogenannten Wischnuprana, von der Fähigkeit der –“

„Ist mir bekannt, Master Chiplay. Die Yogis des Pandschabgebiets können Menschen sozusagen den Kopf wegzaubern. Sie nehmen irgend einen der Zuschauer, hüllen ihn in eine Decke, stellen ihn auf eine Art Schemel, zünden darunter ein stark qualmendes Feuer an und reißen dem Manne die Decke dann plötzlich herunter, worauf der Betreffende ohne Kopf sich der Menge präsentiert. Der Kopf erscheint glatt abgeschlagen und meistens sind am Halsstumpf frische blutige Rinnsale zu sehen. Der Yogi hüllt den Kopflosen dann wieder ein, reißt die Decke abermals ab, und der Mann zeigt sich wieder wie vordem – mit seinem Kopf. Fragt man ihn, was er denn gespürt habe, als er in der Decke steckte, so erwidert er stets dasselbe: „Nichts! Mir war nur zu Mute, als hätte ich das Bewußtsein verloren.“ – Die Bezeichnung Wischnuprana für dieses Kunststück rührt daher, daß in den ältesten Zeiten der Gott Wischnu vielfach ohne Kopf dargestellt wurde. Prana aber bedeutet so viel wie „ein Besessener, ein Verzückter“. – Ich habe dieses Wischnuprana dreimal miterlebt und halte es für Schwindel, für einen Trick, bei dem der starke Qualm eine große Rolle spielt, der den Kopflosen ziemlich undeutlich macht. Ich behaupte, der scheinbar uneingeweihte Zuschauer, der sich zum Wischnuprana hergibt, ist stets ein Freund des Yogi. Freilich – ein Rest von Unerklärlichem ist doch dabei, denn die Hindu, die sich dem Yogi für dieses Kunststück zur Verfügung stellen, haben stets um den Hals einen roten, feinen Strich wie eine Narbe.“

„Erschöpfender hätte auch ich dieses Thema nicht behandeln können,“ meinte Chiplay eifrig. „Doch – nun hören Sie weiter. – Um Mitternacht ging ich von Sapatons allein zur Stadt zurück. Es war eine köstliche Nacht. Mondschein, schwacher Wind, laue Luft. Wir hatten ziemlich viel getrunken. Als ich mich der weißgestrichenen Brücke des Pilly-Baches näherte, sah ich links am Geländer einen Menschen stehen, der genau so angezogen war wie ich: Zylinder, hellen Paletot, weiße Gamaschen.

Mit jedem Schritt, der mich dem Manne näher brachte, erkannte ich deutlicher, daß er auch sonst mir wie mein Spiegelbild glich. Er hatte sogar denselben Stock mit langer weißer Elfenbeinkrücke in der Hand und im Munde gleichfalls eine Zigarre.

Ich blieb stehen. Ich bin kein Angsthase, Master Harst. Aber diese Begegnung mit mir selbst jagte mir doch das Blut schneller durch die Adern.

Der Mann schritt langsam auf mich zu. Als er noch fünf Schritt entfernt war, da geschah das noch Seltsamere –“

„Er war plötzlich kopflos –“

„Ja! Und schritt ruhig weiter. – Mir brach jetzt der Angstschweiß aus allen Poren. Ich wollte fliehen. Ich glaubte, ich sei plötzlich wahnsinnig geworden –“

„Das weitere kann ich mir denken, Master Chiplay. Sie konnten kein Glied rühren. Die kopflose Gestalt machte vor Ihnen halt, Sie verloren das Bewußtsein, und als Sie dann wieder zu sich kamen, war der Mann verschwunden.“

Thomas Chiplay betupfte sich mit dem Taschentuche die feuchte Stirn, nickte und sagte leise:

„Es war aber noch nicht alles, Master Harst. Als ich daheim anlangte – ich bin Junggeselle und wohne über der Apotheke – legte ich beim Zubettgehen meine Brieftasche wie immer unter das Kopfkissen. Dabei dachte ich unwillkürlich: „Halt – ob man Dich etwa bestohlen hat, als Du ohne Bewußtsein dalagst?“ – Ich sah also die Brieftasche durch. Und da entdeckte ich im rechten Fach dieses hier –“

Er griff in die Tasche und hielt uns eine unaufgeklebte Photographie hin, die einen elegant gekleideten Mann ohne Kopf darstellte.

„Das bin ich – ohne Zweifel,“ erklärte Chiplay seufzend. „Nur der Kopf fehlt. So war ich damals angezogen, als ich von Sapatons kam.“

Der Hintergrund der Photographie zeigte nichts als Wolkengebilde. Der Mann schien in den Wolken ohne Kopf zu schweben.

„Ja – und dieselbe Sache ereignete sich dann noch vier Mal. Dreimal traf ich mein kopfloses Ebenbild im Freien, stets an einsamen, wenig besuchten Stellen in der Umgegend von Dover. Ich bin nämlich großer Naturfreund und leidenschaftlicher Fußgänger. Das zweite Mal aber trat mir mein Spiegelbild nachts vor meiner Apotheke entgegen. Hin und wieder übernehme ich den Nachtdienst, damit meine drei Angestellten häufiger auch die Nacht frei haben. Um Mitternacht läutete es. Ich öffnete die Türklappe. Und – vor mir stand mein kopfloses Konterfei – genau so angezogen wie ich: Hausjoppe, helle Weste. – Und wieder fiel ich prompt in Ohnmacht.“

„Was sehr wichtig ist, Master Chiplay,“ meinte Harald und nahm eine frische Mirakulum-Zigarette. „Im ganzen begegnete Ihnen Ihr Konterfei also fünf Mal. Sie wurden jedesmal ohnmächtig?“

„Ja. Und jedes Mal fand ich nachher auch die entsprechende Photographie in meiner Brieftasche, – das heißt: das Bild zeigte genau den Anzug und so weiter, den ich gerade trug. Und ich war alle fünf Mal verschieden gekleidet. Bitte – hier sind die vier anderen kopflosen Bilder. Ich habe sie auf der Rückseite numeriert.“

Harald legte die Photographien, die sämtlich Abzüge einer 9 mal 12-Platte waren, auf den Tisch und sagte:

„Die Bilder darf ich wohl vorläufig behalten. Einige Fragen noch, Master Chiplay. – Diese Begegnungen mit Ihrem zweiten Ich spielten sich also sämtlich derart ab, daß der „Mann“ erst den Kopf noch hatte, wenn er Ihnen entgegenkam, und dann plötzlich ohne Kopf war?“

„Ja – bis auf die Begegnung an der Nachtklappe der Tür meiner Apotheke. Da war der „Mann“ sofort kopflos.“

„Sie waren durch diese Abenteuer sehr nervös geworden?“

„Sehr – sehr! Ich traute mich nach der dritten Begegnung kaum noch ins Freie. Und jetzt gehe ich überhaupt nicht mehr über die Straße, sondern benutze stets einen Wagen oder mein Auto. Deshalb mochte ich Ihnen auch nicht nach Rügen nachreisen.“

Es war inzwischen im Zimmer immer dunkler geworden. Harald drehte das Licht an, zog die Vorhänge zu und setzte sich wieder in die Sofaecke.

„Master Chiplay,“ sagte er dann, „denken Sie nun mal bitte scharf nach. Ist Ihnen seit der ersten Begegnung mit Ihrem Doppelgänger noch etwas irgendwie aufgefallen? – Es kommt hier auch die geringste Kleinigkeit in Betracht. Denn ich gebe zu: bisher möchte ich beinahe selbst annehmen, daß hier ein übler Scherz vorliegt oder vielleicht ein Racheakt des Inders Tamasiru, der sich durch Ihre abfällige Kritik der Yogis verletzt gefühlt haben könnte.“

„Oh – Tamasiru reiste ja schon am Tage nach jenem kleinen Souper bei Sapatons nach Indien zurück und ist dort längst eingetroffen. Mit demselben Dampfer, den er benutzte, fuhr auch mein bester Freund, Wolper, nach Kairo, und beide, die sich von Sapatons her kannten, schickten mir von Alexandria eine Karte.“

„Denken Sie nach – jede Kleinigkeit!“ mahnte Harst nach einer Weile.

Chiplay starrte vor sich hin. Man merkte, er strengte sein Hirn nach Kräften an.

Dann lachte er plötzlich kurz auf.

„Es fällt mir nur eine einzige Beobachtung ein, Master Harst,“ erklärte er, schnell wieder ernst werdend. „Etwas, das einer gewissen Komik nicht entbehrt und das mit meinem kopflosen Spiegelbild nicht das geringste zu tun hat.“

„Was abzuwarten bleibt! – Erzählen Sie.“

„Meine Bulldogge Charlie frißt keinen Käse mehr, obwohl Charlie vordem geradezu Käseliebhaber war.“

„So so. Und seit wann besteht die Käseabneigung.“

„Seit drei Wochen etwa, also nach meiner zweiten Begegnung mit dem Kopflosen.“

Harald rauchte ein paar Züge. Dann –

„Traten die Ohnmachten plötzlich ein, Master Chiplay? Sahen Sie, daß die Gestalt, wenn sie dicht vor Ihnen war, den Arm etwa hob oder sonst eine verdächtige Bewegung machte, die den Schluß zuläßt, daß Sie durch irgend ein Mittel betäubt wurden?“

„Ausgeschlossen, Master Harst, ganz ausgeschlossen. Von Betäuben kann keine Rede sein. Mir schwanden jedes Mal vor Angst die Sinne.“

„Wie sah denn der Halsstumpf der Gestalt aus?“

„Er war blutig. Das Blut glänzte ordentlich.“

„Die vier Begegnungen im Freien fanden stets bei Nacht statt?“

„Nein, nein. Nur zwei. Zwei in der Abenddämmerung, und die eine vor der Ladentür der Apotheke.“

„Sind Sie sehr reich, Master Chiplay?“

„Nun ja – mehrfacher Millionär.“

„War der Hund bei Ihnen, als der Kopflose vor der Türklappe auftauchte?“

„Ja. Er stand neben mir.“

„Wie lange waren Sie durchschnittlich ohne Bewußtsein.“

„Vielleicht anderthalb Stunden. Dreimal fanden mich Leute, die zufällig vorüberkamen.“

„Die Polizei in Dover hat sich nicht weiter mit der Sache beschäftigt?“

„Nein. Ich hatte mir aber einen Privatdetektiv genommen, der mich auf meinen Ausgängen heimlich begleiten sollte. War der Detektiv dabei, dann passierte nichts.“

„So, ich weiß genug. Reisen Sie jetzt wieder nach Hause. Ihr Fall interessiert mich. Ich werde zu Ihnen nach Dover kommen. Weiß jemand, daß Sie mir Ihre Sache vortragen wollten?“

„Niemand, Master Harst. Ich bin angeblich in Nizza, bin auch über Paris-Köln hierher gereist.“

„Dann schweigen Sie auch weiter über diesen Besuch bei mir, obwohl ich überzeugt bin, daß –“

Er führte den Satz nicht zu Ende.

Chiplay hatte sich schon erhoben. – „Dann also auf Wiedersehen, Master Chiplay,“ meinte Harald nun und reichte ihm die Hand.

Chiplay blickte ihn bittend an. „Was wollten Sie soeben sagen?“ fragte er. „Verhehlen Sie mir nichts. Sie vergrößern dadurch nur meine Nervosität.“

„Ich wollte sagen: – „obwohl ich überzeugt bin, daß ich diese Geschichte auch dann aufdecke, wenn Sie darüber gesprochen hätten, daß Sie Harald Harst konsultieren wollten.““

Chiplay bedankte sich vielmals für Haralds liebenswürdige Hilfsbereitschaft. Wir geleiteten ihn bis an die Gartenpforte.

„Gehen Sie nach rechts hinunter, dort treffen Sie gleich in der Querstraße auf eine Straßenbahnhaltestelle,“ sagte Harst zu dem Apotheker, der etwas ängstlich um sich blickte. „Sie brauchen hier nichts zu fürchten. Dort wird noch ein Möbelwagen abgeladen, und dort weiter steht ein Polizeibeamter, wie Sie sehen –“

Chiplay eilte davon. Wir blickten ihm[3] noch ein paar Sekunden nach und kehrten dann in Haralds Arbeitszimmer zurück.

Harald hatte eine frische Zigarette angezündet, stand neben dem Sofatisch, rief nun plötzlich:

„Du – die Photographien sind verschwunden! Hier lagen sie. Man hat sie gestohlen!“

 

2. Kapitel.

Ich hatte mir gerade aus der Kiste vor dem Rauchschränkchen eine Zigarre genommen, drehte mich schnell um.

„Dann war also jemand hier, während wir Chiplay hinausgeleiteten,“ meinte ich zweifelnd. „Hm – hast Du die fünf Bilder vielleicht auch eingesteckt?“

„Keine Rede!“ – Er ging auf die Portieren zu, die vor der Tür der Bibliothek hingen. Harald schaltete in der Bibliothek das Licht ein. Eine Perserbrücke bedeckte den Fußboden bis zum Afghan-Teppich[4] hin, der fast die ganze Bibliothek einnahm.

Harald hatte schon die Taschenlampe in der Hand, kniete nieder und beleuchtete den Teppich.

„Da,“ meinte er, „hier hat jemand längere Zeit regungslos auf demselben Fleck gestanden und zwar mit Schuhen mit Gummisohlen. Die Wärme der Sohlen hat das Gewebe etwas dunkler schattiert. Bitte – von der Seite siehst Du die beiden Spuren deutlicher.“

Er hatte recht. Ich erkannte die dunkleren Stellen und sagte: „Sehr kleine Füße offenbar –“

„Ja –“ – Harst öffnete die nur angelehnte Tür zu seinem Schlafzimmer. Hier standen beide Fenster offen, und über den linken Fensterkopf ragte von außen die Spitze einer Leiter hinweg.

„Frechheit!“ murmelte Harald. „Der Mensch ist in aller Seelenruhe hier eingestiegen und hat unser Gespräch mit Chiplay fraglos zum größten Teil belauscht. Er muß mindestens eine Stunde auf dem Afghan wie angewurzelt gestanden und gehorcht haben. Ich werde meine Fenster vergittern lassen müssen. Leider – die Bilder sind weg, und der Dieb auch. Wenn –“

In demselben Moment rasselte die elektrische Glocke der Flurtür.

Wir eilten in den Flur, öffneten.

Zwei Arbeiter schleppten den bewußtlosen Chiplay herein.

Es waren Ziehleute, die den Möbelwagen abgeladen hatten. Sie hatten plötzlich einen gellenden Schrei gehört, hatten der Ursache nachgeforscht und so Chiplay auf dem Bürgersteige vor dem Hause Nr. 15 liegend gefunden.

Eine Frau, die Harsts Mutter kannte, hatte ihnen geraten, den Ohnmächtigen zu uns zu bringen, wo er am besten aufgehoben sei.

Chiplay lag auf dem Diwan. Harald beugte sich ganz tief über ihn und sog prüfend die Luft ein, wollte feststellen, ob der Apotheker nach einem Betäubungsmittel roch.

„Nichts!“ meinte er und nahm Chiplay die Brieftasche aus dem Rock.

„Ah – nun haben wir doch eins der Lichtbilder ohne Kopf,“ murmelte er mit einem drohenden Lächeln. „Nun wird das Bild uns wohl so einiges verraten.“

Er fühlte nach Chiplays Puls. „Sehr schwach, aber regelmäßig.“

Wir setzten uns an den Sofatisch. Das Bild zeigte Chiplay genau in der Kleidung, wie er jetzt dort auf dem Diwan ruhte, – ganz genau, nur – der Kopf fehlte.

Harald nahm ein Vergrößerungsglas und betrachtete die etwas undeutliche Photographie, bei der auch der Wolkenhintergrund nicht fehlte, sehr eingehend, sagte dann:

„Dieses Bild ist erst gestern, jedenfalls vor kurzem, hergestellt. Man hat den Mann ohne Kopf photographiert und nicht etwa den Kopf wegretuschiert.“

„Das hilft uns nicht viel,“ meinte ich.

„Nein. Es bestätigt aber meine Vermutung, daß es sich hier um alles andere als einen Scherz handelt. Der Schlüssel dieses Geheimnisses liegt in der Türklappe.“

„Worin?“

„In der Klappe der Ladentür der Apotheke.“

„Mir unklar –“

„Glaube ich gern, mein Alter, obwohl Du bei einigem Nachdenken selbst auf den springenden Punkt kommen könntest.“

Er hatte das Bild jetzt umgedreht. Auf der weißen Rückseite war nichts zu sehen. Dann schaltete er seine Taschenlampe ein und hielt es gegen den Lichtkegel.

Das Papier war dünn. Ich beugte mich über Harsts Schulter und sah nun etwas, das man nur auf diese Weise sichtbar machen konnte.

In den Wolken über dem Rumpfe war der Kopf einer Frau mit einem diademartigen Schmuck so hineinkopiert, daß er nur bei durchscheinendem Licht sichtbar wurde.

„Ah –!“ machte Harst. „Welche Überraschung, mein Alter! Die Geschichte wird noch verzwickter. Es ist nur scheinbar ein kopfloser Rumpf. In Wahrheit sitzt auf dem Halse gut verborgen der Kopf einer Inderin – denn es soll fraglos eine Inderin sein. Die großen, dunklen Augen und das Diadem, ebenso die langen Ohrgehänge beweisen das zur Genüge. – So, nun störe mich bitte nicht. Schließe aber im Schlafzimmer die Fenster – für alle Fälle, und laß auch die Stabjalousien herab.“ –

Gegen halb elf regte Chiplay sich. Ein Glas Portwein half ihm schneller wieder auf die Beine.

Er erzählte uns dann, daß sein Spiegelbild aus der Tür eines Hauses auf ihn zugekommen sei – mit Kopf, daß die Umwandlung in den kopflosen Rumpf blitzschnell wie immer vor sich gegangen und er auch ebenso blitzartig umgesunken sei. –

„Sagen Sie, Master Chiplay,“ begann Harald dann, „Sie waren doch in Indien. Wie alt sind Sie jetzt? Ich schätze auf fünfundvierzig.“

„Nein – erst vierzig. Mein Aufenthalt in Indien liegt zwölf Jahre zurück.“

„Hm – haben Sie in Benares damals Beziehungen zu einer Eingeborenen gehabt?“

„Nie. Ich verkehrte ausschließlich im Union-Klub und mit Engländerinnen.“

Harald beleuchtete das Bild von hinten und sagte:

„Bitte – das sind Sie in Ihrem heutigen Anzug mit dem Kopfe einer Inderin –!“

Chiplay stierte auf die Photographie.

„Unglaublich!“ murmelte er. „Und doch – ich habe nie etwas mit einer Inderin zu tun gehabt – nie!“

„Ich zweifle nicht daran. – Ihr Fall ist mit der eigenartigste, der mir je vorgekommen ist. – Sie werden jetzt von uns in Ihr Hotel begleitet werden. Morgen reisen Sie mit dem Mittagszuge nach Rotterdam. Wir werden Sie – maskiert – begleiten. Sie können also ohne Furcht die Fahrt zurücklegen.“

Ich holte ein Auto, und gegen Mitternacht waren wir beide wieder daheim, nachdem wir Chiplay bis an die Hoteltür gebracht hatten. –

Am nächsten Tage bestieg ein sehr bescheiden aussehendes Ehepaar denselben Zug, den auch Apotheker Chiplay benutzen sollte. Das Ehepaar waren Harald und ich.

Wir reisten bescheiden dritter Klasse. Unser Koffer sah recht schäbig aus. In unserem Abteil Nichtraucher entspann sich bald mit den anderen Mitreisenden eine lebhafte Unterhaltung.

In unserem Abteil war nur noch ein Platz frei. Oder besser: er war belegt, aber der Platzinhaber saß wohl im Speisewagen.

Es war recht heiß. Da wir zwei ältere Damen als Mitreisende hatten, wurde das Fenster dicht verschlossen gehalten. Ich saß dem belegten Platz gegenüber an der Tür; Harald links von mir. Erst hinter Hannover fand sich der Platzinhaber ein; es war ein kleiner Herr mit blondem Spitzbart und Klemmer auf der Nase. Er kümmerte sich um niemand und sprach mit dem Schaffner in etwas gebrochenem Deutsch.

Als wir beide nachher im Gang des D-Wagens standen, fragte ich Harald, ob ihm dieser Blonde nicht ebenfalls verdächtig vorkäme.

„Er war doch vor uns schon im Abteil, mein Alter,“ meinte Harst. „Du siehst Gespenster. Wenn er nach uns den Platz belegt hätte, würde ich ihn gleichfalls beargwöhnen. So aber ist das überflüssig.“

Er schritt dann durch den ganzen Zug und teilte mir mit, Chiplay säße in einem Abteil erster mit einem Herrn und einer Dame zusammen.

Es wurde dunkel. Als wir die Grenze passiert hatten, waren wir nur noch zu vieren im Abteil. Der Blonde schlief seit Stunden, nachdem er recht häufig aus einer Kognakflasche sich gestärkt hatte.

Und doch – ich traute ihm nicht. Er behandelte uns zu sehr als Luft. Harald schlief jetzt ebenfalls. Ich aber hatte die Augen nur geschlossen und blinzelte hin und wieder nach dem Blonden hinüber.

In Kulenborg stieg die Frau, die vierte im Abteil, aus. Harald war munter geworden, nickte aber wieder ein.

Ich wurde das Gefühl nicht los, daß der Blonde diesen festen Schlaf nur vortäuschte. Da – jetzt hatte ich genau gesehen: er hatte die Augen für einen Moment geöffnet, hatte uns prüfend gemustert.

Er schloß die Augen wieder, rutschte nun aber wie im Schlaf halb von der Bank herab und lehnte mit der Schulter an der Tür. Seine rechte Hand hatte er in die Beinkleidtasche gesteckt.

Vorhin hatte er leise geschnarcht. Jetzt schien er den Atem anzuhalten.

Ich ahnte: es würde sich etwas ereignen.

Da – mir wurde plötzlich schwindelig.

Und dann wußte ich nichts mehr. –

Ich lag wie auf einer Schaukel; der Boden unter mir hob und senkte sich unregelmäßig. Das war das erste, was mir mein wiedererwachtes Hirn von äußeren Eindrücken vermittelte.

Und der nächste Gedanke: Ein Schiff – eine Schiffskajüte!

Ja – dort brannte schräg über mir eine Pendellampe; dort lag ja auch Harst auf einem schmalen Wandsofa – wie ich. Und dort – dort saß der Blonde in einem Klappstuhl, hatte eine Zigarette im Munde und spielte mit einem kleinen Revolver.

Ich richtete mich auf. In demselben Moment tat es auch Harst.

Ich fühlte mich noch sehr benommen. Der Kopf war mir schwer wie ein Zentner.

Der Blonde reichte Harst eine schmale Flasche.

„Trinken Sie! Es ist Whisky!“ sagte er mit unangenehm krächzender Stimme. „Vor Gift brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Ich hätte Sie beide ja schon im Zuge abtun und mir die Arbeit ersparen können, Sie als meine angeblich guten Bekannten, die leider zu viel getrunken hätten, in Rotterdam in einen Wagen zu verfrachten und nachher in diese Segeljacht zu verstauen. Ich will Ihnen nicht ans Leben. Nur – kaltstellen will ich Sie für einige Zeit – auf einem Inselchen – irgendwo!“

Harald trank und gab auch mir die Flasche. Dann meinte er:

„Die Sache wäre anders gekommen. Aber das Zeug wirkte zu schnell. Ihre Schlipsnadel verriet Sie.“

Jetzt erst schaute ich mir diese Nadel genauer an. Und – da schämte ich mich! Es war genau dieselbe Nadel, wie sie auch Thomas Chiplay und sein Spiegelbild trug – auch auf der letzten Photographie. Chiplay schien dies Schmuckstück, einen Kranz von kleinen Brillanten, die einen Smaragd umgaben, sehr zu lieben.

Der Blonde nickte. „Ja – es wirkt sehr schnell!“ Er sprach das Deutsche mit etwas fremdländischen Akzent, aber fehlerfrei. „Und nun habe ich Ihnen all Ihre Sachen abgenommen, auch Ihre Clementpistolen, und wenn Sie verständig sind, dann passiert Ihnen nichts.“

„Wer sind Sie?“ fragte Harald kurz.

„Das Spiegelbild Chiplays –“

Harst beugte sich vor und schaute sich die Füße des Blonden an.

„Hm – es könnten ganz gut diese zierlichen Füße gewesen sein, die auf dem Afghan in meiner Bibliothek gestanden haben,“ meinte er.

„Stimmt. Und die zu den Füßen gehörigen Hände stahlen die fünf kopflosen Bilder,“ erwiderte der Blonde krächzend.

Harald lächelte mit einem Male.

„So – so! Sie stahlen die Bilder, und nachher spielten Sie den Mann ohne Kopf –“

„Ja. Und ich beobachtete auch noch, wie man Chiplay zu Ihnen ins Haus trug.“

„Sie lügen!“ sagte Harald scharf. „Weshalb Sie lügen, weiß ich noch nicht. Aber ich werde es wissen.“

„Sie wollen mich aushorchen, Herr Harst. Ich kenne Ihre Tricks. Und – ich schieße sehr gut. Es sollte mir leid tun, wenn Sie mich zwängen, Ihnen die Hand zu durchlöchern, falls Sie eben Dummheiten machen.“

„Keine Sorge! Nicht so große Dummheiten wie Sie! Sie können entweder nicht der Dieb der Bilder oder nicht Chiplays Spiegelbild sein, da Sie unmöglich durch meinen großen Garten schnell genug wieder die Straße erreichen konnten, um den Kopflosen zu spielen. Ich halte Sie für den Dieb und für einen Genossen des anderen, der den Doppelgänger mimt.“

„So?! Und der Apparat?! Und die dazu gehörige Krawattennadel?“

„Ja – die mit dem dünnen Gummischlauch und dem Strahlloch, aus dem das Teufelszeug hervordringt, wenn man in der rechten Hosentasche auf die richtige Stelle des zugehörigen Gasbehälters drückt!“ lächelte Harald überlegen. „Ja – dieser Apparat, der bei Chiplay die Ohnmachten genau so rasch erzeugte wie bei uns! Diesen Apparat haben Sie beide jetzt also ausgetauscht, Sie und Ihr Genosse –“

„Es gibt zwei solche Apparate!“ rief der Blonde unwirsch.

„Das ist wieder gelogen, Freundchen!“ meinte Harst gemütlich.

Der Blonde fuchtelte aufgeregt mit dem Revolver umher. „Halten Sie jetzt den Mund, oder – es knallt!“ drohte er krächzend.

Er saß mit dem Rücken nach der Tür der kleinen Kajüte hin. Vor ihm stand der schmale, lange Drehtisch, dessen Platte er vorsichtigerweise so verschoben hatte, daß sie sich als Hindernis zwischen ihm und uns befand.

Auf der Platte des Tisches lag der ganze Inhalt unserer Taschen.

 

3. Kapitel.

Oben auf dem Deck der kleinen Segeljacht waren des öfteren schwere Schritte zu hören. Jetzt polterte jemand die Kajüttreppe herab. Dann erschien in der Tür ein alter Fischer und sagte zu dem Blonden, nachdem er uns kurz gemustert hatte:

„Ein Motorboot kommt hinter uns her, Master.“ Er sprach das Englische in jener besonderen Art, wie es die holländischen Seeleute zu tun pflegen. „Überhaupt Master, – die ganze Sache gefällt mir nicht. Sie haben sich uns gegenüber zwar als englischer Polizeibeamter ausgewiesen, der die beiden da nach Maasluis bringen soll (Stadt am rechten Ufer der Lekmündung. Rotterdam liegt an der Lek). Aber mein Sohn meint, irgend was stimme hier nicht. Und jetzt jagt das Motorboot hinter uns her.“

Der Blonde war aufgesprungen, ließ uns aber nicht aus den Augen.

„Fünfzig Gulden mehr, wenn Sie vor dem Motorboot das Ufer erreichen!“ rief er. „In dem uns verfolgenden Boot befinden sich die Genossen dieser beiden Verbrecher! Vorwärts! Sie bekommen Unannehmlichkeiten mit der Polizei, wenn Sie nicht gehorchen!“

Ich konnte hierzu nicht schweigen. Das Temperament ging mit mir durch.

„Sie verdammter Lügner!“ brüllte ich den Blonden an. „Sie –“

Aber der rief schon: „Hören Sie, Kapitän – es ist ein verkleideter Mann – ein ganz gefährlicher Bursche!“

„Schweig!“ sagte Harald da.

Der Seemann stampfte davon.

Der Blonde hatte sich an die Tür gelehnt, hatte den Revolver erhoben.

„Legen Sie sich lang auf die Wandbänke – sofort!“ befahl er. „Ich werde dafür sorgen, daß Sie eher –“

Haralds Lachen schnitt ihm den Satz entzwei.

„Ah – also der sind Sie!“ meinte er. „Schau an – die Maske ist gut. Sie hätten aber Ihr krächzendes Organ beibehalten sollen. Dieser Befehl jetzt soeben verriet Ihre wahre Stimme!“

„Hinlegen!“ kreischte der Kerl jetzt.

Ein Knall, und Haralds Reisemütze samt der grauen Perücke flog ihm vom Kopf.

„Sie treiben den[5] Scherz zu weit,“ meinte Harald gelassen. „Das Blättchen wird sich sehr bald wenden. Sie haben mit der Sache überhaupt nichts zu tun. Sie mischen sich hier in Dinge, die Sie nichts angehen. Ich höre den Bootsmotor schon knattern, Freundchen.“

Ich begriff von alledem herzlich wenig. – Wer in aller Welt war dieser Blonde, der jetzt ängstlich lauschend dastand und nervös die Unterlippe kaute?!

Das Knattern kam näher. Wir hörten ein paar laute Zurufe, dann erzitterte die Jacht unter einem leichten Stoß, und gleich darauf – ich prallte vor Schreck zurück – dröhnte von oben her durch das Oberlicht der Kajüte ein Schuß. Die Scheibe zersplitterte. Und des Blonden Revolver flog ihm aus der Hand.

Er hatte aufgeschrien. Seine Finger bluteten.

Dann eine Stimme: „Hände hoch, Ihr drei! Verdammt – wird’s bald!“

Ein Arm hatte sich durch das eine schmale Oberlichtfenster hereingeschoben.

Wir gehorchten. Die Tür flog auf. Ein zweiter Mann erschien, – bartlos, klein, hager, in einer Art Touristenanzug. Er trug eine goldene Brille und hatte stark vorstehende Vorderzähne. Mit blondem Bart hätte er Thomas Chiplay auf ein Haar geglichen.

Wortlos holte er aus, schmetterte dem Blonden die Faust gegen die Schläfe. Und wie ein Klotz sank der Blonde um.

Dann nahm er ein paar gelbe Riemen aus der Tasche, kam um den Tisch herum und band uns die Arme auf dem Rücken zusammen. Gegenwehr war unmöglich. Sein Genosse zielte von oben auf uns.

Schweigend ging er wieder hinaus, kam sofort zurück und schleppte den Blonden weg. Dann mußten wir auf das kleine, offene Motorboot übersteigen. Der Blonde lag vorn im Boot und war mit einem Gummimantel halb zugedeckt.

Der Genosse des Kleinen brachte auch unseren Koffer an Bord, ebenso eine große lederne Reisetasche.

Das Motorboot wandte sich weiter flußaufwärts. Wir saßen in der Mitte auf dem Boden. Der Genosse des Kleinen war ein älterer, sonnverbrannter Mann mit intelligenten Zügen. Er machte sich jetzt irgend etwas mit dem Blonden zu schaffen, hatte uns vorher befohlen, uns nicht umzudrehen. Der Kleine steuerte.

Mit einem Male rief der andere: „Es ist ein Weib! Verdammt – was bedeutet das nun wieder?“

„Oh – das kann ich Ihnen leicht erklären,“ meldete sich Harst. Die beiden waren Engländer, wie man ihrer Sprache sofort anhörte. Und Harald fuhr ebenfalls auf englisch fort: „Das junge Weib ist die Witwe eines Verbrechers, den ich vor Monaten in Asien entlarvte und der bei einer etwas aufregenden Gelegenheit den Tod fand. Sie hat mir Rache geschworen, will jetzt aber neuerdings aus besonderen Gründen meine Detektivarbeit mir nur erschweren.“

Der Kleine mit den Kaninchenzähnen, der bisher kein Wort gesprochen hatte, sagte nun auflachend:

„Da habe ich mich von einem Weibe hineinlegen lassen! Schäme Dich vor Dir selbst, Tom Chiplay!“

Nun – er hätte diesen Namen gar nicht zu nennen brauchen. Es war genau auch des Apothekers Organ. Er war es eben selbst.

Ich starrte ihn ganz fassungslos an.

Und wieder lachte er und sagte zu Harald:

„Nicht wahr, die Sache wird immer dunkler, Master Harst?!“

Harald schwieg eine Weile. „Nichts wird dunkler. Man kommt schrittweise vorwärts. Mir genügt das,“ meinte er dann. „Das junge Weib – übrigens heißt sie Daisy O’Brien – hat Ihnen im Zuge wohl einen Streich gespielt, Master Chiplay?“

„Allerdings. Dicht vor Rotterdam war ich dumm genug, mir von ihr Feuer für meine Zigarre geben zu lassen. Und da bekam ich einen Jagdhieb vor die Herzgrube, der mich auf die Polster fallen ließ. Chloroform gab mir den Rest. Bill saß im Speisewagen. Und ehe er mich bei der Ankunft in Rotterdam dann wach gerüttelt hatte, war das Satansweib mit Ihnen beiden verschwunden, auf die wir sehr genau achtgegeben hatten.“

Der Genosse Chiplays kam nun wieder nach hinten und flüsterte mit dem Apotheker eine Weile. Dann hielt das Motorboot auf das linke Ufer zu, bog in einen der zahlreichen Kanäle ein und machte an einem kleinen Holzstege fest. Chiplay stieg aus und verschwand hinter den Erlenbüschen. Als er zurückgekehrt war, wurden Harst und ich gezwungen, auszusteigen. Im Schutz der Büsche stand eine leere Bretterbude, offenbar eine Schäferhütte. Die beiden Engländer fesselten uns hier auch die Beine, setzten unsren Koffer neben uns, und „Bill“ erklärte darauf, man würde uns abends die Freiheit wiedergeben. Damit wir uns nicht gegenseitig befreien könnten, fesselten sie uns noch an ein loses Brett, so daß wir nun etwa 2 Meter voneinander entfernt auf dem Boden der Hütte saßen. Das Brett lief unter unseren Armen im Rücken hindurch.

Die beiden verließen nun die Hütte, schlugen die Tür zu und legten von draußen die Krampe vor, die sie mit einem Pflock befestigten. Die Tür hatte breite Ritzen. Man konnte genau sehen, was sie taten.

Dann waren wir allein.

Ich blickte Harald an. Da sagte er kühl:

„Rutsche mal nach rechts hinüber –“

Auf diese Weise saß er sehr bald vor unserem Koffer.

„Hm – wenn wir ihn öffnen könnten,“ flüsterte er. „Die Kerle haben ja den Inhalt unserer Taschen schon im Motorboot hineingelegt und ihn wieder abgeschlossen. Den Schlüssel behielt Bill.“

Er hob die gefesselten Füße und begann mit den Stiefelhacken das Kofferschloß zu bearbeiten. Ein Erfolg blieb aus.

„Na – dann auf andere Weise, mein Alter,“ sagte er zuversichtlich, biß in den einen Ledergriff des Koffers hinein, hob ihn mit den Zähnen hoch, richtete sich auf und ließ ihn zu Boden fallen. Nachdem er dies dreimal wiederholt hatte, prallte der Koffer mit einer Ecke auf den Boden – und das Schloßplättchen schnellte leise klirrend hoch.

Das weitere war eine Kleinigkeit. Harald hatte sehr bald sein Taschenmesser in den Händen, öffnete es, sägte seine Handfesseln durch, und kaum zehn Minuten nach dem Verschwinden Bills und Chiplays waren wir frei.

Vorsichtig näherten wir uns dem Kanal. Die Hüttentür hatten wir durch ein paar Schulterstöße aufgesprengt. Das Motorboot war verschwunden. Harald untersuchte den Grasboden vor den Sträuchern, deutete auf eine frische Spur, die weiter nach rechts in die Büsche führte, und hier fanden wir denn auch unsere hartnäckige Feindin Daisy O’Brien, die an einen dicken Weidenstumpf aufrecht angebunden war.

Harald schnitt die Witwe O’Briens los und sagte:

„Sie sehen, Frau O’Brien, wie unklug es von Ihnen war, sich in diesen Fall Chiplay einzumischen. – Wann wurden Sie zuerst auf Chiplay und Bill aufmerksam?“

„In Berlin. Ich wollte Ihnen irgend einen Streich spielen, als Sie noch auf Rügen weilten. Chiplay suchte Ihre Mutter auf. Und hinter ihm waren wieder dieser Doppelgänger und Bill her.“

„Ganz recht, es war nur Chiplays „Spiegelbild“, sein Doppelgänger, der Sie in der Kajüte niederschlug. Er gab sich für den Apotheker aus, um den Tatbestand noch mehr zu verwirren. Sie hörten des echten Chiplays Schilderung bei mir mit an – Afghan-Teppich!“ – Daisy nickte. – „Und Sie haben das Geheimnis der Ohnmachten des Apothekers durchschaut gehabt und dem Doppelgänger im Zuge den Apparat weggenommen, um uns damit betäuben zu können. Ihre Maske als Blonder war vortrefflich. Erst als Sie plötzlich wieder mit der Nadel in der Krawatte unser Abteil betraten – vorher hatten Sie keine Krawattennadel –, wurde ich argwöhnisch. Das Gas wirkte jedoch so blitzartig, daß ich nicht mehr Zeit fand, Sie niederzuschlagen. So – und was wird nun zwischen uns werden, Frau O’Brien?“

Sie schaute zu Boden. Ihre Lippen preßten sich fest zusammen. Ich merkte: sie war unversöhnlich.

„Sie sind mir unbequem,“ fuhr Harald ernst fort. „Ich rate Ihnen, meinen Weg nicht mehr zu kreuzen. Die beiden wollten Sie und uns hier fraglos verhungern lassen, falls eben nicht zufällig jemand uns befreit hätte.“

Wir schritten davon, holten unsern Koffer und erreichten nach einer halben Stunde einen großen holländischen Bauernhof. Der Besitzer brachte uns in seinem Motorfrachtkutter nach Rotterdam zurück, wo wir mittags eintrafen. Um 2 Uhr nachmittags ging ein Dampfer nach London ab. Die Zwischenzeit genügte uns zu einigen Einkäufen. Wir betraten das Schiff einzeln, jeder mit Handtasche und Koffer, beide als blondbärtige Holländer, die einander nicht kannten.

In der kommenden Nacht langten wir gegen ein Uhr bereits in Dover an – jeder in einem anderen Abteil. Im Wartesaal fanden wir uns wieder zusammen, nahmen einen Imbiß ein, und Harst erzählte mir, daß auch Warton und Albner[6], tadellos maskiert, denselben Zug von London hierher benutzt hätten.

 

4. Kapitel.

Unweit Chiplays Apotheke lag ein bescheidenes Hotel. Dort stiegen wir, wieder getrennt, ab, nahmen aber benachbarte Zimmer.

Als ich morgens gegen neun Uhr unten im Speisesaal saß und frühstückte, kam auch Harst sehr bald und begrüßte mich wie einen alten Bekannten. Um zehn gingen wir in kurzen Abständen zu Chiplay in die Apotheke.

Dann waren wir mit ihm in seinem elegant eingerichteten Arbeitszimmer allein. Harald erzählte unsere Abenteuer. Chiplay war ganz sprachlos, erwiderte nun aber sehr bestimmt auf eine Frage Harsts:

„Nein, ich habe keinen Bruder oder näheren Verwandten, der mir, den Bart abgerechnet, so ähnlich sieht. Und diesen Albner kenne ich ebenfalls nicht.“

„Die Türklappe,“ fuhr Harald fort, „ist zu eng, als daß ein Mensch sich hindurchzwängen könnte.“

Chiplay fragte sehr erstaunt: „Hindurchzwängen? Ich verstehe Sie nicht ganz, Master Harst.“

Harald lächelte etwas. „Freund Schraut kann Ihnen das nähere erklären.“

Und – Freund Schraut versagte diesmal nicht. – Ich führte kurz aus, daß der Kopflose damals, als Chiplay im Flur der Apotheke bewußtlos umsank, doch notwendig in den Flur eingedrungen sein müsse, da Chiplay nachher in der Brieftasche wieder eines der Lichtbilder fand. „Er muß mithin entweder durch die Türklappe eingestiegen sein oder, da diese zu eng ist, die Tür dadurch geöffnet haben, daß er durch die Klappe hindurchgriff und mit Hilfe des fraglos von innen steckenden Schlüssels einfach auf- und nachher wieder zuschloß.“

Der kleine Apotheker schüttelte den Kopf. „Dem Kerl wäre es miserabel ergangen, wenn er sich zu mir hineingewagt und meine Brieftasche hervorgeholt hätte. Charlie war bei mir. Er hätte den Mann zerrissen. Er ist auf den Mann dressiert und ungeheuer klug.“

Ich schaute Harald etwas betreten an. Und der sagte nun: „Glaube ich gern, daß Charlie zugesprungen wäre. Aber – die Käseabneigung kommt hier in Betracht. Der „Kopflose“ hat Charlies Käseliebhaberei gekannt, ihm einen Käseleckerbissen hingeworfen und den Hund betäubt.“

„Himmel!“ rief Chiplay da. „Sie haben recht! Deshalb war Charlie auch bis zum nächsten Mittag kaum von seinem Lager im Flur wegzulocken. Er war eben noch halb betäubt.“

„Ja – und weil der Käse ihm so schlecht bekam, hat er ihn nun abgeschworen,“ nickte Harst. „Jedenfalls ist jener Mann, der damals in die Apotheke auf diese Weise eingedrungen war, mit den Verhältnissen hier im Hause sehr genau vertraut. Er kannte Charlies Leidenschaft für Käse, und er wird wohl auch noch mehr wissen. – Wie lange haben Sie damals im Flur bewußtlos gelegen?“

„Etwa eine Stunde, Master Harst. Nein – doch länger. Etwa anderthalb Stunden.“

„So – so! Da hatte dieser Albner mithin reichlich Zeit, hier im Hause so allerlei zu erledigen.“

Diese Bemerkung war für mich wie ein Blitzstrahl, der das Dunkel erhellte: dieser Albner hatte hier stehlen wollen! – Leider war diese „Erleuchtung“ falsch, denn Chiplay erklärte eifrig:

„Sie denken an Diebstahl, Master Harst! Es ist aber nichts – nichts gestohlen worden, obwohl ich gerade die Kasse in Ordnung gebracht und im Zimmer hinter der Apotheke auf dem Tische gegen 3000 Pfund liegen hatte. Auch der Geldschrank stand noch dazu auf. Der Kerl hätte mit einer reichen Beute davoneilen können. Aber – nichts fehlte!“

„Ich möchte das Zimmer sehen,“ bat Harald dann. „Auch den Tresor.“

Wir gingen hinab. – Es war ein bescheiden eingerichteter Raum. Der Panzerschrank, ein etwas unmoderner Tresor mit doppeltem Schloß, war halb in die Wand eingemauert. Der untere Teil diente als Giftschrank. In dem oberen bewahrte Chiplay seine Papiere auf, dazu Geld, eine Briefmarkensammlung und anderes.

„Bitte legen Sie alles aus dem Oberteil hier auf den Tisch,“ meinte Harald.

Chiplay tat es, wenn auch erst nach einem erstaunten Blick auf Harsts undurchdringliches Gesicht.

Es fehlte nichts.

„Ich danke,“ sagte Harald nachher.

Chiplay füllte den Schrank wieder und schloß ab.

„Wir werden uns nun verabschieden,“ flüsterte Harald vorsichtig. „Gegen Abend gehen Sie zu Ihren Freunden Sapaton hinaus, Master Chiplay. Nehmen Sie Charlie ein Stück mit. Dann kehren Sie wieder um, bringen den Hund nach Hause und wandern allein über die Brücke des Pilly-Baches zu Sapatons.“

„Hm – muß das sein?!“ meinte der kleine Apotheker ängstlich.

„Ja – es muß sein! Vielleicht haben wir Glück und fangen den Kopflosen.“

„Ah – das ist eine andere Sache! Sie werden also in der Nähe aufpassen.“

„Das werden wir. Auf Wiedersehen.“

Wir entfernten uns einzeln durch den Eingang der Apotheke. Wir konnten so kaum auffallen, da der Verkehr im Laden sehr lebhaft war.

In unserem Hotel kam Harald dann auf mein Zimmer. Wir setzten uns an das Fenster.

„Ich weiß jetzt alles – nur die „Hauptmacher“ kenne ich noch nicht,“ sagte er leise. „Es war ein interessanter Fall. Er war es, denn er ist bis auf die Ergreifung der „Hauptmacher“ erledigt.“

„Du meinst Bill Warton und Horace Albner?“

„Ja. Sie heißen natürlich ganz anders. – Frage im übrigen nichts. Die Schufte werden heute vielleicht den Hauptstreich wagen. Sie glauben sicher, wir seien noch in Holland. Und sie werden eben Schluß machen wollen, bevor wir – ihrer Ansicht nach hier wieder auftauchen können. Besorge jetzt in der Stadt zwei Matrosenanzüge. Wir werden nachmittags angetrunkene Seeleute spielen, die sich Dovers Umgebung ansehen.“

Gegen neun Uhr abends verließ Chiplay sein Haus – mit der Dogge, brachte sie dann aber wieder zurück.

Zwei Matrosen folgten ihm Arm in Arm. Sie waren leicht bezecht – scheinbar – und begannen außerhalb der Stadt zu singen.

Harald flüsterte mir jetzt zu: „Da – auf dem Seitenwege hält sich ein Kerl im Gummimantel stets mit Chiplay auf einer Höhe. Schau’ nur genau hin: er trägt denselben grauen Filzhut wie Chiplay, ist nur viel hochschulteriger und sieht beinahe buckelig aus. Biegen wir links ab. Die Büsche kommen uns sehr gelegen. – Die beiden haben Daisy O’Brien den Ohnmachtsapparat wieder abgenommen und werden nun unseren kleinen Apotheker –“

Er schwieg. Wir konnten von einem Hügel aus jetzt gerade die Brücke durch eine Lücke in den Sträuchern wahrnehmen.

„Vorwärts – laufen wir!“ meinte Harald. „Albner läuft ja ebenfalls. Die Geschichte geht los –“

Plötzlich sahen wir dann ein paar Schritt vor uns einen Mann aufspringen, der uns offenbar gehört hatte und nun nach rechts hin entfloh. Es war ein langer, rotbärtiger Mensch mit einem Anzug und einer Mütze, wie sie die Kapitäne oder Steuerleute der Handelsdampfer tragen. Der Mann hatte ein längliches Paket in der Hand, das in einem grüngrauen Futteral steckte. Er verschwand blitzschnell. Ihn zu verfolgen war zwecklos. Der Kerl war der reine Schnelläufer.

Harald blickte ihm nach. „Mag er jetzt entwischen! Wir kriegen ihn schon noch. Es war Bill Warton in anderer Aufmachung. Übrigens trug er damals auf dem Motorboot ebenfalls einen falschen Bart und eine Perücke. Vielleicht ist er sogar der Impresario dieses seltsamen Schauerstücks.“

Wir schlichen weiter. Nun hatten wir die Brücke dreißig Meter vor uns. Linker Hand lag der Weg, auf dem Chiplay daherkam. Jenseits der weißen Holzbrücke drängte sich das Gesträuch bis an die Brücke heran.

„Noch näher!“ meinte Harald. „Auf allen Vieren. Die Brombeerbüsche dort geben genügend Schutz, wenn wir kriechen.“

Chiplay pfiff sehr unbesorgt ein Lied und schlug mit dem Stock Lufthiebe.

Nun hatte er die Brücke erreicht. Wir hörten das Dröhnen seiner Schritte auf den Bohlen.

Dann – tauchte vor ihm aus den Sträuchern sein Ebenbild auf – mit Kopf.

Chiplay blieb stehen. Sein Doppelgänger war mit drei langen Schritten gleichfalls auf der Brücke.

Mit einem Male ging es wie ein Ruck durch den Körper des zweiten Chiplay, – und der Kopf war verschwunden.

Der Apotheker hatte den Stock erhoben, wollte wohl zuschlagen.

Jetzt Haralds Stimme: „Halt – oder –“

Der Doppelgänger hatte sich schon herumgeworfen und wollte in die Büsche flüchten. Aber Thomas Chiplay war schneller, packte ihn hinten bei dem kurzen Sportpaletot, riß ihn zurück.

Da waren auch wir beide schon neben ihm, packten den Kopflosen.

Ich starrte neugierig auf den Halsstumpf. Er erschien blutig. Aber es war nur roter glänzender Lack.

Harald hatte dem Kerl die Arme nach hinten gedrückt. Ein Taschentuch genügte als Fessel.

Dann sagte Harst befehlend: „Stecken Sie den Kopf aus dem Pappbrustkasten nur wieder heraus! Das Spiel ist für Sie verloren, Freundchen!“

 

5. Kapitel.

Der Hals klappte samt Kragen und Krawatte, in der die Nadel steckte, hoch, und durch das Loch fuhr der Kopf hindurch.

Der Kerl stierte uns entsetzt an. Es war der angebliche Albner mit blondem Bart und goldener Brille.

„Schuft!“ schrie der Apotheker, „Schuft – und auf den plumpen Schwindel –“

Da – er taumelte.

Wir hatten in der Nähe einen Schuß gehört.

Und jetzt sank auch Albner vornüber. Im gleichen Moment war ein zweiter Schuß gefallen.

Chiplay lehnte am Brückengeländer.

„Ich – bin – verwundet!“ stöhnte er. Blutiger Schaum trat ihm auf die Lippen. – Ich sprang zu und ließ ihn zu Boden gleiten, stützte ihm den Kopf.

Harald hatte Albner etwas aufgerichtet, dessen Gesicht sich bereits im Todeskampf veränderte. Die Kugel war ihm von der Seite durch die Brust gegangen.

„Mann – wer sind Sie?“ fragte Harald eindringlich. „Beichten Sie. Sollte Chiplay heute hier ermordet werden? Wer ist Ihr Genosse?“

„Kenne – ihn nicht. Nennt sich – Warton,“ flüsterte der Sterbende mit sichtlicher Anstrengung. „Lernte ihn – vor sechs Wochen in – in London zufällig kennen. Es ging mir schlecht. Heiße wirklich Albner, war – war Pferdepfleger bei – Lord Stafford. Entlassen – wegen Unredlichkeiten. Warton – hat mich sehr gut bezahlt. Lieferte Kleider – alles zu der Maskerade. Sagte, er – wolle sich nur rächen auf diese Weise. Von Mord nichts, so wahr Gott mir – gnädig sein wird –“

„Wo wohnt Warton?“

„Weiß – nicht. War sehr – vorsichtig. Weiß nichts – nichts – mehr –“

Sein Kopf sank zurück. Er war tot.

Harst griff ihm in die Tasche, holte eine Anzahl jener Photographien hervor, steckte sie zu sich und nahm dem Toten dann auch den höllischen Gasapparat ab, dessen Schlauch bis zu der Krawattennadel unter dem Oberhemd hinauflief. Es war nur eine kleine Blechdose mit einem Gummiball daran und einem beweglichen Schieber, diese satanische Erfindung. Die Blechdose enthielt, wie später festgestellt wurde, ein feuchtes Schwämmchen und ein chemisches Gemenge, das ein der Wissenschaft bisher unbekanntes Gas erzeugte. –

Eine halbe Stunde später war die Polizei an Ort und Stelle. Der bewußtlose Chiplay wurde in ein Krankenhaus gebracht. Albners Leiche kam in das Leichenschauhaus.

Wir lernten jetzt auch Detektivinspektor Wurbson kennen, der diesen Mann ohne Kopf lediglich für eine Fopperei gehalten hatte. Nachdem die Ärzte Chiplay untersucht und uns erklärt hatten, daß Lebensgefahr nicht vorliege, begaben wir uns mit Wurbson nach Chiplays Wohnung.

Harst war schweigsam.

„Später, Master Wurbson, später!“ erwiderte er auf dessen Fragen. „Ich muß mir erst noch die Gewißheit verschaffen, daß mein Verdacht auch zutrifft.“

In Chiplays Wohnung, der sich eine ältere Wirtschafterin und zwei Hausmädchen hielt, bat er uns im Eßzimmer Platz zu nehmen, reichte uns die Lichtbilder ohne Kopf und meinte: „Da – es ist eine reiche Auswahl – in allen möglichen Anzügen, Hüten und Mänteln. Jener Warton hat eben stets ein passendes Bild zur Hand haben wollen. Nur in Berlin war es eine ganz neue Aufnahme.“

Er selbst schlenderte dann durch die ganze Wohnung. Nach einer halben Stunde war er wieder bei uns.

„So – es stimmt!“ sagte er. „Gehen wir nach einem Dampferbüro. Ich möchte die Fahrpläne durchsehen.“

Wurbson bat abermals, Harald möge ihm doch endlich sagen, um was es sich handele. „Es kann nur ein Racheakt sein,“ fügte er hinzu. „Ich behaupte, Chiplay hat in Indien doch mit einer Eingeborenen irgendwie etwas zu schaffen gehabt und sich dadurch die Feindschaft von Leuten zugezogen, die –“

Harst winkte lässig mit der Hand. „Alles falsch! Der Kopf der Inderin, der in die Lichtbilder hineinkopiert ist, dient nur zur Verschleierung des Ganzen. Ein äußerst raffinierter Verbrecher war hier am Werke. Er kannte das sogenannte Wischnuprana, und er baute darauf einen phantastischen Plan auf, wobei ihm zustatten kam, daß er Chemiker ist und das Gas schon vorher erfunden hatte. Er wollte Chiplay ermorden, wollte diesen Mord aber mit einer solchen Fülle von rätselhaften Begleitumständen umgeben, daß der Verdacht niemals auf ihn gefallen wäre, wenn er nicht einen ganz groben Fehler gemacht hätte: er stahl nichts, als er mit Hilfe des nun toten Albner damals nachts hier eindrang. Er stahl nichts, obwohl das Geld offen dalag, und obwohl er sich sagen mußte, daß ein findiger Detektiv notwendig auf den Gedanken kommen würde, zum mindesten der Kopflose sei damals in den Räumen der Apotheke gewesen. Er war eben zu vorsichtig, wollte den Tatbestand zu sehr verwirren.“

Inspektor Wurbson zuckte die Achseln. „Alles sehr schön, Master Harst. Weshalb wollte Warton Chiplay aber erschießen? Denn es ist ja wohl klar, daß der Rotbärtige, der vor Ihnen in die Büsche floh, ein zerlegtes Gewehr bei sich trug, daß es also Warton war, der die beiden Schüsse abgab, – den einen, um Albner stumm zu machen, den anderen, um – ja – weshalb dieser Mordversuch, weshalb?!“

Wir standen in Chiplays Speisezimmer um den Eßtisch herum. Harald holte jetzt aus der Brusttasche zwei Postkarten hervor.

„Bitte – diese beiden Ansichtskarten sind an Chiplay gerichtet und in Alexandria aufgegeben,“ sagte er. „Die eine ist zwischen 12 und 1 Uhr mittags abgestempelt, die andere zwischen 6 und 7 Uhr abends. Die erste hat der Inder Tamasiru mit unterschrieben. Die zweite, die ebenfalls von Chiplays bestem Freunde Wolper, der mit Tamasiru zugleich nach Kairo abreiste, herrührt, enthält außer Grüßen noch den Zusatz: „Werde doch wohl acht Wochen hierbleiben. Ich schreibe Dir noch meine nähere Adresse in Kairo.“ – Schon in Berlin hatte ich diese Karten in Chiplays Brieftasche gefunden. Als Schraut für den wieder aus der Betäubung Erwachten damals einen Imbiß aus der Küche holte, fragte ich Chiplay, um über Tamasiru näheres zu erfahren, ob Wolper nochmals an ihn geschrieben hätte und ob Tamasiru und Wolper sich schon längere Zeit kannten. Er verneinte beides. Wolper hatte seinem „besten Freunde“ Chiplay seine Adresse in Kairo also nicht angegeben. Schon damals fiel mir dies auf. –“

„Ah – das Dunkel lichtet sich!“ rief Wurbson. „Wolper ist Chemiker. Und er ist nebenbei eine Jeuratte und ein wilder Spekulant, hat Schulden und –“

„– und wußte sehr wahrscheinlich, daß Chiplay ihn in seinem Testament bedacht hat,“ ergänzte Harald. „Dieses Testament liegt in dem Tresor, der in jener Nacht offenstand. Und – wenn er verschlossen gewesen wäre, dann hätte Wolper ja bei Chiplay die Schlüssel gefunden. Er wollte eben Einsicht in das Testament nehmen. Möglich, daß er es in jener Nacht auch irgendwie gefälscht hat, da er damit rechnete, daß Chiplay es nicht mehr aus dem versiegelten Umschlag herausnehmen würde, wenigstens nicht so sehr bald. Und inzwischen sollte Chiplay sterben. Ich habe den Umschlag mit dem Testament in der Hand gehabt, als Chiplay den ganzen Panzerschrank ausräumen mußte. Ich war eben notwendig auf die Vermutung gekommen, die beiden Leute, Albner und Warton, könnten in jener Nacht hier im Hause wohl nur etwas ausgeführt haben, das nicht sofort entdeckt werden konnte – eben eine Urkundenfälschung oder dergleichen. Ich bemerkte dann sofort, daß die Siegel des Testaments nicht die ursprünglichen und daß der Umschlag geöffnet worden war. Es war dasselbe Petschaft benutzt worden. Aber die zweiten, die neuen Siegel paßten nicht genau auf die alten, gebräunten Stellen hinauf. Jedenfalls: Das Tatmotiv ist Geldgier! Wolper wollte recht bald die Erbschaft antreten. Jetzt wird er natürlich schleunigst nach Ägypten abreisen, wohin er in Wahrheit nicht gereist war. Die beiden Ansichtskarten hat Tamasiru für ihn in Alexandria aufgeben müssen. Wolper wird dem Inder irgend etwas vorgeredet und damals den Dampfer in Boulogne oder sonst einem nahen Hafen gleich wieder verlassen haben. – Gehen wir und erkundigen uns, wann ein Dampfer aus London nach Alexandria ausläuft. Ich wette, Wolper wird das erste Schiff nach dorthin benutzen, damit er für alle Fälle so tun kann, als wäre er schon wochenlang in Kairo.“ –

Um elf Uhr hatten wir drei in Erfahrung gebracht, daß der Luxusdampfer Standard morgen früh London verließ.

Um vier Uhr morgens waren wir in London, um halb fünf auf dem Standard.

Aber – Wolper erschien nicht an Bord.

Wurbson benachrichtigte nun durch Runddepesche alle in Betracht kommenden Häfen. Nachmittags waren wir wieder in Dover. Chiplay war vernehmungsfähig. Wir holten das Testament. Als Chiplay es geöffnet und überflogen hatte, knüllte er es wütend zusammen.

„Gefälscht – gefälscht!“ keuchte er. „Meine Handschrift ist tadellos nachgeahmt. Ich hatte Wolper die Hälfte meines Vermögens hinterlassen, die andere Hälfte für wohltätige Zwecke bestimmt. Hier aber ist Wolper als Universalerbe eingesetzt und auch das Datum des Testaments ist verändert. Dieser Schurke – dieser Schurke!“

Harst beruhigte den Erregten. „Sie schaden sich selbst, Chiplay. Sie wollen doch recht schnell gesund werden. Die Geschichte mit dem „Kopflosen“ ist nun ja erledigt.“

Gleich darauf wurde Wurbson eine Depesche in das Krankenhaus nachgeschickt. Sie kam aus dem kleinen Hafenorte Shenton an der Südküste Englands und lautete:

Wolper hier entflohen und von der Shenton-Klippe unten auf die Riffe gesprungen, wo gänzlich zerschmetterte Leiche geborgen wurde. – Polizeichef Dreablar.

„Also hat ihn doch das Schicksal ereilt,“ meinte Harald ernst. „Ein überaus gefährlicher Verbrecher ist damit unschädlich gemacht. Er hätte wahrscheinlich noch sehr viel Unheil angerichtet –“ –

Wir ahnten in jener Stunde nicht, was sich sehr bald ereignen sollte. Hätte Harald es geahnt, würde er die letzten Sätze anders geformt haben.

 

 

Ein Todessprung.

 

1. Kapitel.

Als wir damals aus dem Krankenhause kamen, wo Thomas Chiplay die Fälschung seines Testaments festgestellt hatte, sagte Inspektor Wurbson zu uns auf der Straße:

„Hektor Wolper wohnt hier ganz in der Nähe in einem kleinen Häuschen, das er von seinen Eltern geerbt hat. Wir könnten vielleicht bei ihm eine Haussuchung abhalten. Möglich, daß er bereits andere Schandtaten verübt hat und daß wir dort die Beweise hierfür finden. Sie würden mir einen Gefallen tun, Master Harst, wenn Sie und Ihr Freund mich begleiten wollten.“

Das Häuschen, ein Backsteinbau mit spitzem Dach, lag in einem verwilderten Garten.

Als wir uns der Haustür näherten, sahen wir, daß linker Hand zwei Fenster erleuchtet waren. Über die Vorhänge glitt auch dreimal schnell ein Schatten hin – der einer Frau.

„Wolper hat eine alte Verwandte als Wirtschafterin bei sich,“ flüsterte Wurbson. „Sie soll taubstumm und lahm sein.“

Harald war stehen geblieben.

„Einen Moment,“ meinte er. „Ah – da ist der Schatten abermals. Ja, es ist ein hageres Weib mit einem Häubchen. – Gut denn – läuten wir! Wenn die Alte taub ist, wird das freilich nicht viel helfen.“

„Ganz taub ist sie wohl doch nicht, Master Harst. Kollege Knoof erzählte von einer Klingel im Flur, so halb Kirchenglocke.“

Er stieg die fünf Stufen der Steintreppe hinan und riß an dem neben der Tür angebrachten Klingelzug.

Allerdings – diese Glocke war für eine Schwerhörige berechnet! Das merkte[7] man. Das Gebimmel mußte bis auf die Straße zu hören sein.

Nach einer Weile wurde ein Riegel drinnen zurückgeschoben und ein Schlüssel umgedreht. Dann traf uns der blendende Lichtschein einer mit einem Glasreflektor versehenen einfachen Küchenlampe, die eine weißhaarige Greisin mit der Linken hochhielt.

Wurbson brüllte ihr ins Ohr: „Polizei! Wir wollen eine Haussuchung vornehmen!“

Die Alte nickte nur und gab den Weg frei. Wir traten ein.

Linker Hand lag Wolpers Studierzimmer. Hier waren die Fenster erleuchtet gewesen. – Wurbson zündete die Gaskrone an, nachdem er der alten Frau bedeutet hatte, daß wir auf ihre Anwesenheit gern verzichteten.

Harald setzte sich sofort in einen alten Plüschsessel und rauchte eine Zigarette, sah zu, wie Wurbson den Schreibtisch durchwühlte und wie ich dabei half. Er schien merkwürdig zerstreut zu sein und nahm schließlich ein Photographiealbum von einer nahen Etagere, blätterte darin und legte es nachher wieder beiseite.

Mit einem Male sagte er: „Würden Sie im Juni noch heizen, Wurbson?“

Wir traten näher.

„Da – die Ofentür ist warm,“ fügte Harald hinzu. „Man wird hier etwas verbrannt haben –“

Wurbson riß die Tür schon auf. Im Ofen glühte noch ein Haufen Asche. – Ja – man hatte Papiere vernichtet. Das ganze Ofenloch mußte damit vollgestopft gewesen sein.

„Holen Sie mal die Alte,“ meinte Harst. „Nur sie kann dies getan haben.“

Wurbson schaltete seine Taschenlampe ein und verschwand.

Harald stocherte mit dem Feuerhaken in der Glut umher, sagte dazu leise:

„Es ist hier alles nicht so, wie es sein soll –“

„Weshalb?!“

Er antwortete nicht, sondern schob nun ein Päckchen halb verkohltes Papier aus der Glut, trat die noch glühenden Teile mit dem Fuße aus und legte das Päckchen auf einen Holzschemel.

Ich nahm das halb verkohlte Päckchen und schaute es mir unter der Gaskrone an. Es waren die Reste von fünfzehn Zetteln aus starkem Papier, alle von gleicher Größe. Es waren auf jedem Zettel nur noch wenige Worte zum Teil erhalten geblieben, und diese Worte waren sämtlich mit lila Tinte geschrieben gewesen. Das Papier, durch die Hitze gebräunt, hatte auch die Farbe der Tinte verändert. Aber das Lila war doch noch zu erkennen.

Dieser Fund war wertlos. Ich warf die Blätter, die fest aufeinander lagen, auf den Tisch.

In demselben Moment stürzte Wurbson herein.

„Sie hat sich aufgeknüpft!“ rief er. „In der Küche. Ich bekam keinen schlechten Schreck, als ich die Alte am Lampenhaken von der Decke herabbaumeln sah.“

Harald hatte sich aufgerichtet.

„Sie haben sie abgeschnitten?“ fragte er schnell.

„Natürlich. Aber sie ist tot. Sie ist von der Tischecke herabgesprungen, hat dabei noch einen Topf mit Milch umgeworfen.“

Wir gingen in die Küche. Die Greisin lag lang auf den Fliesen. Wurbson hatte die Schlinge gelockert. Als Harst nun der Toten ins Gesicht leuchtete, prallte ich zurück.

Ich habe noch nie im Antlitz einer Leiche einen solchen Ausdruck von Todesangst, Wut und teuflischer Wildheit gesehen wie bei dieser Greisin.

Der Körper war noch warm. Sie mußte sich sofort nach unserem Erscheinen erhängt haben.

Harald fühlte nach dem Puls, besichtigte den Hals, den Strick, kletterte auf den Tisch und knotete das noch am Haken hängende Ende der Waschleine ab.

Inzwischen war Wurbson nach vorn in Wolpers Arbeitszimmer gegangen, um den Polizeiarzt und den Leichenwagen telephonisch herzubeordern.

„Ein Schulfall,“ sagte Harst leise, als wir allein waren.

„Die Alte hat sich nicht selbst aufgeknüpft,“ meinte ich rasch. „Der Gesichtsausdruck spricht dagegen. – Hast Du noch –“

„Still – nichts zu Wurbson davon!“

Wir gingen gleichfalls nach vorn und setzten uns an den Sofatisch. Der Inspektor stand noch vor dem Schreibtisch und sprach durch den Apparat mit dem Arzt.

Harald sah sich die verkohlten Blätter an. Ich saß dicht neben ihm. Er legte die fünfzehn Blätter mit der Schriftseite nach oben nebeneinander.

Da erst fiel mir auf, daß die Schrift auf allen fünfzehn genau an derselben Stelle stand. Von den Blättern waren nur die oberen linken Ecken etwas erhalten geblieben. Bei acht fanden sich folgende Wortreste:

Shen

Spe

Flei

Rin

Ha

Che

Mo

Das andere war mit verkohlt.

Bei den übrigen sieben Blättern war das „Shen“ und das „Spe“ ebenfalls zu entziffern; die anderen Wortanfänge lauteten anders oder aber es waren nur vier von diesen Anfängen vorhanden. –

Wurbson trat zu uns an den Tisch.

„Was haben Sie denn da, Master Harst?“ fragte er.

„Etwas recht Alltägliches, das ich noch aus der Ofenglut rettete.“

„Hm – etwas Alltägliches verbrennt man doch nicht! Die Alte muß diese Blätter für irgendwie belastend für ihren Neffen Wolper gehalten haben.“

„Ja – alltäglich und doch wichtig,“ nickte Harald. „Wenn man nur wüßte, weshalb diese Blätter Wolper hätten belasten können.“

Wurbson prüfte jedes einzelne.

„Natürlich Reste von Briefen,“ sagte er.

Harald schwieg.

„Sind Sie anderer Ansicht?“

„Ja. Sehr sogar. Es sind – Speisenkarten.“

„Wie – Speisenkarten?! – Hm – Sie könnten recht haben. Das „Spe“ ist auf allen sehr dick geschrieben –“

„Und ist der Anfang von Speisenkarte. Die anderen Anfänge sind Gerichte des Menüs, zum Beispiel bei diesen acht Karten: „Fleischbrühe, Rinderfilet, Hammelbraten, Chesterkäse, Mokka“, – sehr einfach zu ergänzen. – Darf ich die Blätter mitnehmen, Wurbson? Ich möchte sie mir in unserem Hotel noch in Ruhe ansehen.“

„Bitte gern!“ –

Gleich darauf kam der Arzt. Um Mitternacht waren wir wieder in unserem Hotel.

Wir setzten uns in Haralds Zimmer.

„Lieber Alter, Du hast doch gemerkt, weshalb ich die Blätter mitnahm?“ sagte er.

„Offen gestanden – nein!“

„Nun – Wolper hat sich in Shenton von der Klippe gestürzt, und ich – halte diesen Todessprung für – unecht.“

„Ah – Wolper lebt noch?! – Aber die Leiche, die man fand?“

„Kann irgend ein anderer Mann gewesen sein.“

„Hm – Wolper wurde doch verfolgt, und seine Verfolger werden wohl Zeugen seines Todessprungs gewesen sein.“

„Vielleicht. Das werden wir alles in Shenton feststellen. Jedenfalls ist dreierlei gewiß: Erstens – die Speisenkarten stammen aus Shenton, denn auf allen fünfzehn ist oben „Shen“ zu lesen, vielleicht „Shenton-Hotel“, wenn man’s ergänzt. – Zweitens – der Schatten auf den Vorhängen von Wolpers Arbeitszimmer war nicht der der alten Frau. Und der Schatten bewegte sich sehr flink und – lahmte nicht!“

„Also war dieser Schatten –?“

„Wolper – vielleicht !“

„Wer öffnete uns denn die Tür?“

„Das war die Tante Wolpers – ohne Frage! Denn sie hinkte, und ihr Gesicht war alt und nicht etwa zurechtgeschminkt.“

„Ja – aber der nicht hinkende Schatten war doch ebenfalls ein Weib – dürr, groß, mit Häubchen –“

„Allerdings. Das kann Wolper gewesen sein, der sich eben für alle Fälle als „Tante“ herausgeputzt hatte, um, falls nochmals die Polizei käme, leichter entwischen zu können. Das Resultat bleibt: die Frau wurde ermordet, und Wolper hat im Ofen Papiere verbrannt, kurz bevor wir kamen. Unter den Papieren waren die Speisenkarten, die beweisen, daß er Shenton gut kannte und daß er die Karten für gefährlich hielt.“

„Aber – er ist doch in Shenton heute gewesen, wie die Depesche beweist! Wie kann er so schnell –“

„– wieder hier sein?! – Bitte – Shenton liegt am Kanal und hat Eisenbahnverbindung mit London. Im übrigen – wir werden ja in Shenton das Nähere erfahren. Morgen früh reisen wir über London dorthin.“

 

2. Kapitel.

Das Shenton-Hotel in dem gleichnamigen Hafenort hatte neue Gäste bekommen: eine ältere, gemütliche Dame mit ihrem kränklichen Sohn.

Sie waren mittags eingetroffen und nahmen die Mahlzeit nun an einem einzelnen Tische in der Glasveranda ein.

Der Oberkellner brachte den Maclears die Speisenkarte. Frau Maclear sah sie flüchtig durch und nickte. „Gut – also zweimal Menü.“

Der Kellner verschwand, und der blasse Sohn flüsterte der Mutter zu:

„Genau dieselbe Karte! Oben „Shenton-Hotel“, dann „Speisenkarte“, dann die Gerichte und mit Hilfe eines Hektographen in Lila abgezogen oder vervielfältigt. Es ist sogar genau dieselbe Schrift.“

Harald blätterte in dem von der Badeverwaltung herausgegebenen Reklameheft, das alle Sehenswürdigkeiten enthielt, auch drei Bilder der berühmten vierzig Meter hohen Shenton-Klippe, die links vom Hafen wie ein Berg die Steilküste überragte.

Der Ober brachte die Suppe. Die Nebentische waren unbesetzt. Wir konnten also ganz ungestört miteinander sprechen.

„Was gedenkst Du zuerst zu tun?“ fragte ich.

„Den Polizeichef Dreablar[8] aufzusuchen, der an Wurbson die Depesche schickte. Wir werden nachmittags spazieren gehen, und vor Dreablars kleiner Villa werde ich ausgleiten und so schwer hinstürzen, daß Du Veranlassung hast, mich in die Villa tragen zu lassen.“

In demselben Augenblick tauchte der Hotelbesitzer Mr. Breakford, ein hagerer, süßlich lächelnder Herr auf und erkundigte sich, wie uns die Speisen zusagten.

Ich ließ mich mit ihm in ein längeres Gespräch ein, fragte, ob er auch im Winter Gäste hätte, und erfuhr so, daß Shenton in der kalten Jahreszeit von Fremden kaum besucht würde. Es verkehrten jedoch im Hotel ein paar Ortseingesessene, und außerdem habe er auch viele dauernde Tischgäste.

Dann empfahl Breakford sich, und ich sagte zu Harald: „Die Auswahl ist zu groß. Wir werden auf diese Weise den Speisekarten-Absender kaum ermitteln.“

Harst nickte nur zerstreut. –

Um fünf Uhr nachmittags erfolgte vor der Villa Dreablars die verabredete Komödie und gelang auch ganz nach Wunsch. Der Polizeichef, ein[9] dicker, großer Herr und ehemaliger Schiffskapitän, war zu Hause und half mir, Harald in den Garten zu führen, wo wir ihn auf eine Bank setzten. Frau Dreablar eilte ins Haus, um ein Glas Wein zu holen. Diese Gelegenheit benutzte Harst und flüsterte dem Polizeichef zu:

„Ich bin Harald Harst, Master Dreablar. Ich muß Sie ohne Zeugen sprechen. Schicken Sie Ihre Gattin nachher wieder weg.“

Dreablar lächelte. Er war nicht im geringsten erstaunt.

„Sie haben sich ja bei mir angemeldet,“ meinte er. „Ich erwartete Sie beide – freilich nicht in dieser Aufmachung.“

„Angemeldet?!“ Harald blickte ihn verdutzt an.

„Allerdings – ein Master Bill Warton tat es telefonisch in Ihrem Auftrage.“

„Welche Frechheit!“ murmelte Harst. „Wissen Sie vielleicht, Master Dreablar, von wo aus dieser Warton mit Ihnen sprach?“

„Ja – vom Shenton-Hotel aus. Er sagte das freilich nicht, aber im Shenton ist neben der Telephonzelle die Küche. Diese Nebengeräusche kenne ich also.“

„Und – was sagte Warton?“

„Nichts als: der deutsche Privatdetektiv Harst und sein Freund werden Sie heute besuchen. Bleiben Sie also daheim, Mr. Dreablar. – Das war alles. – Sie hatten diesen Warton also nicht beauftragt, mich von Ihrem Besuch –“

„Keine Rede! Denn „Warton“ nannte sich jener Wolper, der hier von der Klippe herabgesprungen sein soll!“

„Nicht möglich! Wolper ist tot. Das steht einwandfrei fest.“

„So? Erzählen Sie uns bitte kurz, wie Wolper ums Leben kam,“ bat Harald den behäbigen Dreablar. „Lassen Sie aber alles Nebensächliche weg.“

„Die Sache war so, Mr. Harst. Gestern gegen 12 mittags bemerkte der Geheimpolizist Lostendahl, der einzige Detektiv, den wir hier haben, vor dem Hause des Oberst Munroe, eines alten Sonderlings, einen Mann, auf den, was die Dürre und Länge betrifft, das uns telegraphisch übermittelte Signalement jenes Wolper zutraf. Der Mann machte sich durch sein scheues Benehmen verdächtig. Lostendahl wollte ihn verhaften. Der Kerl entkam aber in den nahen Wald. Munroes Haus liegt nämlich ein Stück außerhalb des Ortes. Lostendahl holte den Polizeihund und unsere beiden anderen Polizeibeamten. Der Hund nahm die Spur auch an, und nach zwei Stunden und vielen Umwegen brachte er die Verfolger von Osten her an die Shenton-Klippe, deren vorspringender höchster Teil mit Felsstücken wie besät ist. Plötzlich erhob sich dicht am Rande der Klippe der Verfolgte, feuerte noch zweimal mit einem Revolver auf die drei Beamten und sprang dann in die Tiefe hinab. – Nun – viel war von ihm nachher nicht mehr übrig. Aber in seiner Tasche befand sich ein Portefeuille mit allerlei Papieren, aus denen hervorging, daß es Wolper war. Außerdem stimmten Haarfarbe mit dem Signalement ebenfalls genau überein. Ich meine, es kann gar kein Zweifel bestehen, daß es Wolper war, der den Todessprung tat, um sich der Verhaftung zu entziehen.“

„Wissen Sie, ob Wolper hier in Shenton schon früher mit jemand verkehrte?“

„Nein. Ich glaube es auch nicht. Die Einwohner Shentons kenne ich sämtlich recht gut. Der Name Wolper war mir ganz fremd.“

Harald rauchte ein paar Züge. Dreablar fragte jetzt:

„Nehmen Sie wirklich an, daß Wolper noch lebt, daß also ein anderer Mensch sich von der Klippe stürzte?“

„Nein. Es stürzte sich kein anderer Mensch von der Klippe,“ erwiderte Harald geistesabwesend. „Ich bin hier nach Shenton gekommen, weil ich glaubte, Wolper lebe noch. Ich werde nun wieder abreisen und mich auch sofort von Ihnen verabschieden, Mr. Dreablar. Leben Sie wohl. Es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.“

Um sieben Uhr abends ging ein Zug nach London ab, den wir noch bequem erreichten. Es war ein Bummelzug, der auf jeder Station hielt. –

Harald hatte auf dem Bahnsteig die Mitreisenden unauffällig gemustert. Wir bekamen ein leeres Abteil, und kaum hatte der Zug sich in Bewegung gesetzt, als Harst auch schon einen unserer Koffer öffnete und mir verschiedene Kleidungsstücke zuwarf.

„In fünfzehn Minuten mußt Du fertig sein,“ meinte er. „Denn dann passieren wir den Doenby-Tunnel und können uns bequem drücken.“

Ich begann mich in einen alten, ziemlich abgerissenen Matrosen zu verwandeln.

Der Tunnel war bald da. Zuerst flogen unsere Koffer hinaus. Dann schwang ich mich tief geduckt vom Trittbrett, stolperte über die eine Schiene des zweiten Schienenstranges und schlug lang hin.

Bevor ich mich noch aufraffen konnte, war der Zug vorübergerollt. Außerdem geschah aber noch etwas: von hinten warf sich jemand in dieser rabenschwarzen Finsternis über meinen Rücken, drückte mich noch tiefer zu Boden und versetzte mir einen Hieb gegen den Hinterkopf, daß ich sofort die Besinnung verlor.

Harald erging es ähnlich. Er war nicht gestolpert. Aber als er seine Taschenlampe eingeschaltet hatte und nach mir suchte, bekam er ebenfalls von rückwärts einen heimtückischen Hieb, der ihn niederstreckte.

Unsere Bewußtlosigkeit währte nicht lange. Als wir wieder zu uns kamen, befanden wir uns in einer gräßlichen Lage. Man hatte uns gebunden und geknebelt und uns nebeneinander so an eine Schiene, Gesicht nach unten, gefesselt, daß, falls ein Zug auf diesem Geleis daherkam, wir in der Gegend des Brustbeins zermalmt werden mußten.

Sehen konnten wir nichts. Wir hörten uns nur: auch unsere Arme berührten sich, mein linker den rechten Harsts.

Harald machte verzweifelte Anstrengungen, die Stricke zu lockern. Ich versuchte dasselbe. Aber die Leute, die uns hier überfallen hatten, waren bei der Fesselung mit großer Umsicht vorgegangen. Es war unmöglich loszukommen.

Und nun – nun in der Ferne jenes dumpfe Rollen, wodurch sich das Nahen eines Zuges ankündigte.

Mir brach der Angstschweiß aus.

Ja – wenn wir wenigstens die Knebel hätten herausstoßen können! Auch das gelang nicht. Sie waren uns im Genick durch Stricke festgebunden.

Dann fühlte ich Haralds keuchende Atemstöße dichter an meinem Gesicht. Ich drehte den Kopf zur Seite. Ich merkte, wie er mit den Zähnen an dem dünnen Lederriemen zerrte, der meinen Knebel festhielt.

Nun glitt der Riemen mir über das Kinn; nun packte ich meinerseits mit den Zähnen Harsts Riemen dicht am Munde.

Zwei Rucke. Auch Haralds Knebel glitt heraus.

„Endlich!“ rief er. „Endlich! Jetzt kommt alles auf unsere Lungenkraft an. Der Tunnel wird unsere Hilferufe verstärken. Die Leute auf der Lokomotive müssen sie hören! Sei also ohne Sorge. Wir kommen mit dem Leben davon.“

Da, aus irgend einer Lichtquelle traf uns von rückwärts ein heller Schein. Dann schnitt man uns von den Schienen los, ließ uns aber die Hände gefesselt.

Wir waren aufgesprungen. Vor uns stand ein bärtiger kleiner Kerl, der reine Strolch, und hielt uns einen Revolver entgegen.

„Vorwärts – nach links hin, – traben bitte,“ grunzte er mit einem scheußlichen Baß.

Hinter uns her kam der Zug. Bevor er uns aber erreichte, stieß der Strolch uns in eine Ausbuchtung der Tunnelwand hinein. Hier gab es in dem Gemäuer eine kleine eiserne Tür. Sie war offen.

„Hinein mit Euch!“ – Noch ein Stoß. Dann knallte die Tür hinter uns zu, und wir hörten deutlich das Kreischen eines verrosteten Schlosses.

„Was bedeutet das nun wieder?!“ fragte ich.

„Der Gegenspieler hat sich gemeldet,“ erwiderte Harald. „Los – Rücken an Rücken, und dann die Handfesseln aufgeknotet!“

Das war bald erledigt. – Ich hatte meine elektrische Taschenlampe noch bei mir. Harsts war im Tunnel verloren gegangen.

Der Lichtkegel zeigte uns einen natürlichen Felsengang von großer Breite und – unsere beiden Koffer, die dicht vor uns auf der Erde standen.

Harald bückte sich, zog die Schlüssel heraus und schloß den einen Koffer auf, reichte mir meine Clementpistole, steckte die seine gleichfalls zu sich und fügte hinzu:

„Es war natürlich Daisy O’Brien, die uns bei dem Polizeichef telephonisch angemeldet hatte. Und sie hat uns jetzt hier eingesperrt – in die Shenton-Grotte, deren Betreten nach den Angaben des Reklamehefts, das ich mittags las, neuerdings verboten worden ist, weil sich häufiger Teile der Deckenwölbungen loslösen und Leute zerschmettern könnten. Diese Höhle zieht sich bis Shenton hin und hat außer diesem noch zwei Eingänge. Der eine liegt nördlich von Shenton, der andere für uns wichtigere mündet unterhalb der Felsenzunge ins Freie, die die Spitze der Shenton-Klippe weit über die Steinwand vorschiebt.

Doch nun vorwärts – jeder nimmt einen Koffer!“

 

3. Kapitel.

Der Marsch durch die zwei Meilen lange Shenton-Grotte war mühselig, aber interessant. Erst gegen Mitternacht spürten wir einen frischeren Lufthauch und hörten das Grollen der Brandung unterhalb der Shenton-Klippe.

Diese Mündung der Höhle war etwa so groß wie eine Scheunentür, nachdem die Grotte sich schon eine Strecke vorher gangartig verengert hatte. Als Ein- oder Ausgang kam sie nicht in Betracht, denn die Klippe stürzte hier 25 Meter tief ab, und von der Seite war diesem Felsloche auch nicht beizukommen. Das stand alles in dem Shenton-Badeführer.

„Was willst Du hier eigentlich,“ fragte ich Harald abermals, als wir in die Tiefe hinabspähten.

„Den Todessprung untersuchen, mein Alter. Denn Hektor Wolper lebt – natürlich lebt er. Er war ja gestern in Dover in seinem Hause.“

„Wer ist aber der Tote?“

„Das weiß ich noch nicht.“ – Er hatte sich gebückt und leuchtete den Boden des Ganges sorgfältig ab.

„Komm’ einmal her,“ sagte er dann. „Was ist dies hier?“

„Eine bereits eingetrocknete, aber noch frische Blutlache.“

„Stimmt. – Suchen wir weiter.“

Zentimeter für Zentimeter drehten wir jedes Steinchen um.

„Hier!“ rief ich. „Hier – was ist dies?!“

Ich hob den winzigen Gegenstand auf.

„Das ist die Spitze eines Einsatzbohrers, wie ihn Zahnärzte benutzen. – Auch sehr wichtig! Wolper hatte in den Vorderzähnen zwei Goldplomben, wie Du weißt. Man hat hier dem Opfer die Goldplomben eingefügt.“

Mir ging ein Licht auf.

„Wie – sollten die Schurken von hier aus etwa einen Menschen –“

„Sie haben’s getan, diese Bestien!“ unterbrach Harald mich dumpf. „Nun – sie werden’s büßen! Sie haben das Opfer hierher gelockt, haben es hier erschlagen und als Wolper zurechtgemacht. Als oben der flüchtende Wolper auf die Beamten schoß, wußte Wolpers Spießgeselle hier: „Nun ist es Zeit!“ und warf den falschen Wolper in die Tiefe. Der echte Wolper hatte fraglos oben ein Versteck vorbereitet, wartete, bis die drei Beamten, die den Toten unten liegen sahen und daher nach dem Flüchtling sich nicht genauer umschauten, verschwunden waren und verduftete. Er hatte den Todessprung also nur vorgetäuscht. Die Sache ist jetzt ganz klar. Er hat sich dem Detektiv Lostendahl vor dem Hause von Obersten Munroe absichtlich gezeigt, hat absichtlich die Verfolger allmählich nach der Klippe gelockt. Er wollte eben für die Welt als tot gelten. Und das hat er ja auch erreicht. Das heißt – nicht ganz. Denn erstens machte er die Dummheit in Dover, in seinem Zimmer nicht zu hinken, so daß sein Schatten auf den Vorhängen es gleichfalls nicht tat, und dann – durchschaute ich diesen Todessprung so ziemlich.“

„Glänzend!“ meinte ich. „Harald, – dies herauszufinden – das soll Dir mal einer nachmachen! – Wer war Wolpers Spießgeselle? Der Hotelier?“

„Wahrscheinlich. – Übrigens ist die Geschichte durchaus nicht so glänzend, mein Alter. Ich habe scheußlichen Hunger. Und – wie kommen wir hier heraus? Der Nordausgang der Höhle ist zugemauert, und der Westausgang im Tunnel durch die Eisentür versperrt.“

„Die sich öffnen läßt! Für uns ist das doch kein Kunststück. Freilich – der weite Rückweg! Ob’s hier nicht noch einen anderen Zugang gibt?“

„Daran habe ich auch schon gedacht. – Sieh, hier ist die Skizze der Höhle. Darüber ist die Lage des Ortes Shenton gezeichnet, so weit sich Abzweigungen der Grotte unter ihm hinziehen. Und hier – hier am Ende der längsten Seitenhöhle nach Nordwest steht ein einzelnes Haus mit einem Stern und einer 14, – also eine Sehenswürdigkeit! Schlagen wir hinten nach. Leuchte mal. – So. Nr. 14: „Altes Erbhaus der Familie Munroe –“ – Aha! Und weiter: „Der jetzige Eigentümer Oberst a. D. Munroe gestattet am Freitag und Sonnabend von 10–1 die Besichtigung seiner wertvollen Orientsammlungen. Kein Eintrittsgeld.“ – Hm – Munroes alter Besitz gerade über dem einen Ausläufer der Höhle! Ob da nicht – Gehen wir!“

Wir nahmen unsere Koffer wieder auf und traten den beschwerlichen Marsch an. Nach einer halben Stunde hatten wir das äußerste Ende der Abzweigung erreicht.

Harald begann nun auch hier den Boden genau abzusuchen. Nach einer weiteren halben Stunde bog er in eine enge Seitenhöhle ein. Er hatte auf dem Boden hie und da Streichhölzchen und Zigarrenasche gefunden. Das war die Spur, die uns in die kluftartige Nebengrotte leitete.

Hier nun war es leicht, an der linken Wand, die nicht sehr steil war, in dem Fels einige durch Menschenhand vertiefte Löcher zu finden, die nur Stufen darstellen konnten.

Harst kletterte voran. Als wir auf der Terrasse standen, sahen wir im Lichtkegel unserer Lampe sofort eine Balkentür, die den Ausgang verschloß.

Harald nahm aus dem einen Koffer ein Bund Dietriche heraus. Der größte genügte. Der Sperriegel schnappte zurück. Die Tür öffnete sich und wir traten – in ein Grabgewölbe!

Etwa zehn Eichensärge standen in dem kalten, düsteren Raum. Im Hintergrunde führte eine Steintreppe nach oben. Es gab hier eine unverschlossene Falltür, die Harald leicht aufdrückte und zurücklehnte. So gelangten wir in eine kleine Kapelle. Die Tür lag dem Altar gegenüber.

Auch sie wurde geöffnet, bewegte sich lautlos in den Angeln. Wir sahen Bäume und Büsche vor uns. Der Morgen dämmerte bereits.

Harald verschloß die Tür. Wir eilten der nahen Parkmauer zu, schwangen uns hinüber, kamen in einen Wald, wo wir in einem Dickicht unsere Koffer abstellten und andere Anzüge, auch andere Bärte und Perücken anlegten.

Wir wanderten ohne Koffer dem Orte zu, trafen eine bereits geöffnete Matrosenschenke und setzten uns in einen Winkel der Gaststube.

Der Wirt, offenbar ein früherer Seemann, blinzelte uns vertraulich an.

„Na – Londoner Jungens – he? Die Scodländer (Londoner Geheimpolizisten) sind Euch wohl unbequem – he?!“ meinte er grinsend.

Harald zog eine Zwanzigpfundnote hervor, sagte nur: „Essen und Trinken!“

Der Wirt nickte und brachte alles, was wir wünschten.

 

4. Kapitel.

Der Mensch hieß Astonblard, ließ sich aber Jimmy nennen. Er hatte sich zu uns gesetzt. Harst tat so, als wären wir flüchtige Londoner Verbrecher.

„Verbirg uns drei Tage, Jimmy. Pro Tag fünf Pfund,“ sagte er.

Der Wirt war einverstanden. Harald schob ihm die fünfzehn Pfund hin.

„Wenn Ihr satt seid, zeige ich Euch Euer Versteck,“ grinste Jimmy. – Dann prüfte er die Banknoten sehr genau und meinte: „Man muß sich vorsehen. Es sind jetzt so viel falsche im Umlauf –“ Er grinste noch vertraulicher. „Gestern war übrigens dieser gefährliche Hund, der Harst hier in Shenton. Ich habe von einem Bekannten ’nen Wink gekriegt, vorsichtig zu sein. Aber inzwischen werden die beiden deutschen Schnüffler wohl für alle Zeit stumm geworden sein.“

Harst zuckte überlegen lächelnd die Achseln.

„Vor den beiden hätten wir nicht Angst gehabt! Die wissen nichts von unseren – Geschäften –“

„Und was treibt Ihr denn?“

Harald beugte sich über den Tisch.

„Jimmy, willst Du Blüten (falsche Banknoten) kaufen? Kriegst sie billig. Tadellose Dinger, sag’ ich Dir.“

Der Wirt schlug sich knallend auf den Schenkel.

„Alter Junge – damit ist bei mir nichts zu wollen! Ne – davon hab’ ich selbst genug.“

„Kommt drauf an, wie sie sind. Unsre sind fehlerfrei. Sogar mit Wasserzeichen –“

Er entnahm der Innentasche seiner Weste einen Umschlag und reichte Jimmy eine Zehnpfundnote.

„Da – das ist unser Fabrikat! Nun such’ mal ’nen Unterschied zu den echten –“

Jimmy prüfte die Note.

„Donnerwetter, die sind allerdings besser als unsre Dinger,“ meinte er. „Jungens – davon nehme ich Euch hundert Stück ab. Kosten?“

„Die Hälfte des Wertes.“

„Hm – hast Du die hundert bei Dir?“

„Bist wohl besoffen, Jimmy! Im Walde haben wir sie versteckt. Wir kamen gestern mit dem Abendzuge im Gepäckwagen an. Wir haben Angst geschwitzt.“

Jimmy horchte auf. „Gestern abend? Hm – passierte denn da unterwegs nichts?“

„Ne – nichts. Was soll denn passiert sein?“

„Oh – ich dachte nur so. – Hattet Ihr nicht im Tunnel vor Shenton ein Fahrthindernis?“

„Weiß nicht. Wir lagen hinter Fässern im Gepäckwagen. Da konnten wir nicht gut auf jeder Station einen Whisky genehmigen, he – he!“ –

Kein Zweifel – dieser Astonblard wußte, daß wir beide – oder besser, daß Harst und Schraut im Tunnel an die Schienen gebunden worden waren. –

Harald gähnte. „Nun zeig’ uns unser Quartier, Jimmy. Sind müde –“

Der Wirt führte uns auf den Hof in den Stall und dort in den Kartoffelkeller, wo in der einen Mauer sich eine glänzend gearbeitete Geheimtür befand. Dahinter lief eine Holztreppe in eine kleine, natürliche Grotte.

„Ist ein Ableger der großen Shenton-Höhle,“ erklärte Jimmy. „Da liegt Heu; die Laterne lasse ich Euch hier.“

„Um fünf nachmittags weckst Du uns,“ sagte Harald noch. „Ich muß zur Post. Es ist gefährlich. Aber es geht nicht anders.“

„Gut – um fünf.“ Und Jimmy verschwand.

Wir legten uns nieder, dicht zusammen. Dann löschte ich die Petroleumlaterne aus.

„So – wieder einen Schritt weiter!“ flüsterte Harald. „Dieser Astonblard ist ein Esel, aber ein nützlicher Esel. Nun wissen wir doch, daß Wolper zu einer Falschmünzerbande gehört. Vermutet habe ich’s ja schon, nachdem es mit Schmuggel nichts war. Er ist Chemiker. Und solche Leute können die Falschmünzer stets brauchen.“

„Ob der Oberst Munroe ebenfalls dazu gehört?“

„Das muß man wohl annehmen. – Doch – schlafen wir jetzt. Ich hoffe, wir werden Wolper hier in Shenton „erledigen“ können und die ganze Fälscherbande mit.“

Ich schlief sofort ein. Mein letzter unklarer Gedanke war, daß meine Müdigkeit etwas Unnatürliches an sich hätte. Mir waren die Glieder wie gelähmt. Ich wollte Harst meinen Argwohn, Jimmy könnte uns einen Schlaftrunk in den Kaffee gemischt haben, noch mitteilen, fand aber nicht mehr die Kraft dazu. –

Ich erwachte nach vielen Stunden.

Ich erwachte, weil mir jemand immer wieder roh gegen die Schienbeine trat. Die Schmerzen ermunterten mich schnell. Ich riß die Augen auf, blinzelte in das Licht einer Petroleumlaterne, die vor mir auf dem Felsboden stand.

Ich lehnte mit dem Rücken an einer Felswand. Ich fühlte den frischen Salzhauch des Meeres, fühlte die brutal fest zugezogenen Stricke an Hand- und Fußgelenken.

„Na – endlich!“ sagte Jimmy höhnisch, der mit untergeschlagenen Beinen dasaß. „Endlich kommst Du auch zur Besinnung, mein Junge! Schraut heißt Du ja, – und Dein Freund Harst sitzt da links neben Dir. Ihr beide glaubtet, der Jimmy wäre so etwas blöde! Ne, Jungens, der Jimmy war Euch über. Als ich Euch nach dem Tunnel fragte, da dachtet Ihr natürlich: „Er weiß nicht, wer wir sind!“ – Er wußte es doch! Der Kaffee war schön stark, und ich trank sogar eine Tasse mit. Nur daß Eure Tassen unten schon mit dem Pülverchen eingerieben waren –“

Er zog eine goldene Kapseluhr hervor und ließ den Deckel springen.

„Noch zehn Minuten habt Ihr zu leben. Dann hat die Flut ihren höchsten Stand erreicht. Dann fliegt Ihr die Shenton-Klippe hinab, und die Strömung wird Eure Leichen mitnehmen. Ja – Jungens, – es ist schade um Euch beide. Ihr habt Euch oft als Männer von Mut gezeigt. Hier aber – hier muß mit Euch Schluß gemacht werden. Unsere Sicherheit verlangt es. Und Er hat es befohlen.“ Dabei zuckte er die Achseln. „Was Er befiehlt – dagegen gibt’s kein Mittel.“

„Der Er ist wohl Hektor Wolper,“ meinte Harald gleichmütig.

„Wolper – Wolper? Kenne ich nicht, Jungens! – Halt, doch – so hieß ja der Mensch, der freiwillig vorgestern das tat, was Ihr heute abend gezwungen tun müßt: den Sprung in die Tiefe! – Ne, Jungens, der Wolper war nur so ein bescheidener Testamentsfälscher, wie heute in den Zeitungen steht. Er ist ’n bißchen was anderes – eben Er!“

„Also das Oberhaupt Eurer Bande,“ sagte Harald. „Sollst Du allein uns denn hinabbefördern, Jimmy? Die anderen sind wohl zu feige dazu!“

„Mich traf das Los!“ brummte der Kneipwirt. „Verdammt – ich tu’s nicht gern. Aber ich muß! Ungehorsam gibt es nicht.“

„Stimmt – die Speisenkarten des Shenton-Hotels!“ flüsterte Harald.

Ich merkte – es war das nur ein Fühler. Er wollte Jimmy aushorchen.

Jimmy blickte Harald scharf an. „Junge – verdammt! – Du weißt wirklich so allerlei!“ knurrte er. „Es ist schade um Euch, das sagte auch Er.“

„Dann laßt uns doch am Leben –“

Jimmy hatte sich offenbar Mut angetrunken. Der Revolver, den er in der Rechten gespannt hielt, änderte häufig die Richtung. Der Lauf zeigte bald hierhin, bald dorthin. –

Er erwiderte nichts auf Harsts letzte Bemerkung, zog wieder seine Uhr mit der Linken aus der Westentasche und schaute auf das Zifferblatt.

Darauf hatte ich gewartet.

Mit einem Ruck streckte ich die Beine lang, schlug mit den Stiefeln nach links.

Der Revolver flog Jimmy aus der Hand.

Und im selben Moment hatte Harst mit einem förmlichen Hechtsprung seinen Kopf dem völlig Überraschten vor die Herzgrube gerannt.

Der breitschultrige Kerl sank hintenüber, japste nach Luft.

Harald bückte sich, bekam mit den auf dem Rücken gefesselten Händen den Revolver zu fassen, drehte den Kopf nach rückwärts, – drückte ab. Dreimal, bis der dritte Schuß Jimmys linke Kniescheibe traf.

Der Kerl brüllte, kam aber nicht auf die Beine.

„Lieg’ still, oder ich jage Dir eine Kugel durch den Schädel!“ drohte Harald, noch immer in derselben Stellung eines Schlangenmenschen oder eines Kunstschützen, der mit gefesselten Händen sich produziert. „Wirf Schraut Dein geöffnetes Taschenmesser zu – vorwärts!“

Und – Jimmy gehorchte wirklich.

Ich hob das Messer auf, sägte meine Handfesseln durch. Dann nahm ich schnell den Revolver. Und gleich darauf war auch Harst frei, meinte nun zu dem vor Schmerz leise Wimmernden:

„Du siehst, so sehr einfach ist es doch nicht, uns umzubringen. – Schraut, binde ihn!“

Jimmy wurde mit dem Rücken an die Felswand gelehnt.

„Du wirst jetzt meine Fragen beantworten,“ befahl Harald. „Wer ist dieser Er?“

„Master Harst – ich weiß es nicht. Wahrhaftig – weiß es nicht. Ich sah ihn stets nur als hageres altes Weib verkleidet, mit weißem Haar, dünnem Schleier und vielen Runzeln im Gesicht.“

Harald warf mir einen Blick zu. Ich verstand: der Schatten auf den Vorhängen! –

„Wo hält sich Er jetzt verborgen?“

„Ich weiß es nicht, Master Harst. Er kommt und verschwindet. Wir alle haben Angst vor ihm. Ich verrate nichts mehr, und wenn Ihr mich in die See werft!“

Harald befühlte seine Taschen.

„Wo sind unsere Sachen – unsere Pistolen.“

„In der Grotte unter meinem Keller. Nur Ihre Zigaretten habe ich bei mir –“

„Ah – das freut mich!“ – Harald rauchte mit Behagen die ersten Züge.

„Jimmy,“ meinte er dann, „wir werden Dir jetzt das Knie verbinden und Dich dann irgendwo hinten in der Höhle so an einen Stein fesseln und Dich auch knebeln, daß Du nicht entwischen kannst.“

Harst legte einen kunstgerechten Notverband an. Darauf wollte er Jimmy in die Arme nehmen, um ihn zu tragen. Ich stand mit dem Revolver dabei.

Peng – Ein dünner Knall.

Ich spürte einen Schlag gegen die rechte Hand. Der Revolver war mir aus den Fingern geschossen worden.

Eine tiefe, rauhe Stimme drohte gleichzeitig aus dem Dunkel der Grotte:

„Keine Bewegung!“

Dann tauchte der zerlumpte Strolch auf, der uns von den Schienen losgeschnitten hatte, sagte ironisch:

„Master Harst, ich bin stets rechtzeitig zur Stelle! Sie müssen schon erlauben, daß ich mich hier wieder einmische. Sterben sollten Sie nicht. Hätten Sie mit Jimmy nicht fertig werden können, würde ich Sie gerettet haben. Aber – diese Falschmünzerbande bleibt unbehelligt! Ich werde Sie und Schraut jetzt gleichfalls fesseln. Dann werde ich Breakford warnen und nachher auch Jimmy Ihnen entziehen. – Ich halte eben mein Versprechen: ich bin das lebende Hindernis, das Ihre Erfolge vereitelt!“

„Sie sind eine kleine Närrin, Daisy O’Brien!“ sagte Harald ernst. „Sie helfen hier einer Bande von Mördern, nicht nur einer Bande von Falschmünzern!“

 

5. Kapitel.

Unsere Gegenspielerin trat näher, den Revolver schußfertig erhoben.

„Mördern, Herr Harst?!“ meinte sie zweifelnd. „Das müßten Sie erst beweisen!“

„Das kann ich. Hören Sie zu –“ Und er entwickelte ihr kurz dieses Problem des vorgetäuschten Todessprunges, fügte hinzu:

„Wolper ist also der gefürchtete Er! Das sehen Sie doch jetzt wohl ein. Und Wolper hat gemordet – eben jenen Mann, den man von dieser Grottenmündung aus auf die Riffe bei Ebbe warf. Und Wolper hatte dabei Mitschuldige.“

„Sie haben mich überzeugt –“ – Daisy O’Brien schob den Revolver in die Tasche. „Lassen Sie aber wenigstens diesen Jimmy laufen, Herr Harst. Einen Denkzettel hat er ja bereits weg!“

„Gut – wenn Sie[10] ihn bis morgen mittag bewachen wollen, – hier in der Grotte –, dann mag er flüchten – irgendwie!“

„Einverstanden!“ nickte dieses seltsame junge Weib, das sich jetzt in der Rolle der Gegenspielerin von besserer Seite zeigte als früher. „Tragen Sie Jimmy nur in eine der kleineren Seitengrotten. Er soll mir nicht entwischen.“ –

Als wir die Shenton-Höhle wieder durch die Grabkapelle verlassen hatten, war es genau ein Uhr morgens.

Wir wandten uns der Stadt zu. Eine halbe Stunde drauf saßen wir in Polizeichef Dreablars Villa in bequemen Klubsesseln in einem recht eigenartig eingerichteten Herrenzimmer. Daß Dreablar Kapitän gewesen, sah man auf den ersten Blick. Alles hier in diesem Raum erinnerte an seine seemännische Vergangenheit. Aber auch der steife Grog, den er nun, nur mit einem Schlafrock bekleidet, uns vorsetzte, war nach dem Grundsatz gebraut: Halb auf halb!

Daß wir so überraschend wieder in Shenton aufgetaucht waren und ihn aus dem Bett getrommelt hatten, nahm er sehr ruhig hin.

Harald berichtete nun alles das, was er vorhin Daisy O’Brien auseinandergesetzt hatte.

Dreablar rief dann kopfschüttelnd: „Wie – Breakford soll zu den Schuften gehören?! Wenn Sie das nicht behaupteten, glaubte ich’s nicht!“

Und zum Schluß meinte er ganz kleinlaut:

„Verdammt, Master Harst, – da haben wir uns hier mit dem Todessprung ja fein einwickeln lassen!“

„Ich habe eben etwas mehr Routine in derlei Sachen, lieber Dreablar. – Es bleibt nun zunächst zu untersuchen, ob der Oberst Munroe nicht doch ein Mitglied der Bande ist. Darüber möchte ich mir Klarheit verschaffen. Kennen Sie ihn genauer? Wie alt ist er? Wie sieht er aus? Was treibt er?“

„Er ist lang, mager, grob, voller Schrullen, wechselt mit seinen beiden Hausangestellten, Köchin und Diener, so ziemlich jede Woche, hat wenig Verkehr, ist sehr reich, – kurz, ein Sonderling, eben ein Junggeselle.“

„Hat er besondere Kennzeichen?“

„Ja – eine Narbe auf der Stirn – von einem Säbelhieb wohl. – Master Harst, Sie glauben doch nicht etwa, daß der Oberst dieser Er sein könnte?!“

Harald unterbrach ihn. „Morgen vormittag ist ja das Haus Munroes zu besichtigen – oder besser des Obersten Sammlungen, denn morgen ist Freitag, vielmehr heute ist Freitag, und Freitag ist ein Unglückstag. Wir werden jetzt mit Ihrer Erlaubnis hier ein wenig schlafen. Ihren Hausangestellten schärfen Sie strengste Verschwiegenheit ein. Es darf im Orte auf keinen Fall bekannt werden, daß Sie nächtlichen Besuch bekommen haben. Um 9 Uhr möchte ich dann Ihre drei Beamten sprechen.“

Dreablar wollte uns durchaus in sein Fremdenzimmer nötigen. Harst lehnte jedoch ab.

Als wir beide allein waren, fragte ich Harald:

„Du hast doch offenbar Deine Ansicht gewechselt. Du glaubst jetzt, Munroe und Er seien ein und dieselbe Person, und Wolper lediglich ein untergeordneter Genosse der Bande.“

„Ich habe nichts gewechselt, mein Alter, nichts. Munroe und Er sind allerdings ein und dieselbe Person.“

„Das verstehe ein anderer!“ –

Wir schliefen dann in den Klubsesseln bis gegen 8 Uhr morgens, frühstückten mit dem Ehepaar Dreablar, lernten nachher den Detektiv Lostendahl kennen, dem Harald nahelegte, das Haus Munroes von 10 Uhr ab gut verkleidet zu bewachen. –

Gegen zehn machten wir „Toilette“. Lostendahl hatte uns das Nötige schnell besorgt. Wir sahen nun wie ein paar wettergebräunte Kapitäne aus.

Dreablar sollte zehn Minuten nach uns das Haus Munroes betreten.

Als wir beide uns der Besitzung näherten, kamen uns einige Badegäste entgegen. Ich fing eine Bemerkung auf, daß das Munroe-Museum vorläufig geschlossen sei.

Harald nickte nur. „Dachte ich mir. Munroe wird auf Nachricht von Jimmy gewartet haben, daß wir erledigt seien, wie er befohlen hatte. Da Jimmy ausgeblieben ist, fürchtet er, wir könnten wieder entwischt sein. – Hast Du auch den Revolver entsichert und gespannt in der linken Brusttasche? – So, – gut! – Da ist die Mauerpforte schon. – Aha – ein Zettel über dem Glockengriff: „Die Munroe-Sammlungen bleiben vorläufig für das Publikum gesperrt!“ Das soll uns nicht abhalten, trotzdem Einlaß zu erlangen.“

Er läutete. Es dauerte sehr lange, bevor jemand erschien und die Pforte etwas öffnete. Es war ein Diener in einer verschossenen Livree.

„Der Herr Oberst ist krank,“ sagte er kurz.

„Wie lange sind Sie hier im Hause?“ fragte Harst ebenso kurz.

Der Mann wurde verlegen. Da hatte Harald schon ausgeholt. Der Diener knickte nach dem Schläfenhieb um. Wir banden ihm die Arme und zerrten ihn in ein nahes Gebüsch. – Von dem Hause war noch nichts zu sehen. Es lag hinter einer Baumkulisse. Als wir dann der Freitreppe uns näherten, trat ein langer Mensch mit Knebelbart in die offene Haustür. Er hatte auf der Stirn eine rote Narbe, schnarrte uns wütend an:

„Wo ist mein Diener? Wie konnte er Sie hier einlassen!“

„Ich denke, Sie sind krank, Herr Oberst,“ sagte Harst.

Seine Hand kam unter dem Jackenaufschlag zum Vorschein.

„Sobald Sie auch nur einen Finger rühren, drücke ich ab!“ rief er dann drohend. „Schraut – heraus mit dem Revolver.“

Harald war schon die wenigen Stufen emporgesprungen, riß den Oberst mit einem Ruck von der Tür weg und stieß ihn auf den Kiesweg.

Dann – ein neuer Griff: Munroes Knebelbart war verschwunden.

„Auch Ihre Narbe ist nur Kunst,“ sagte Harald.

Er steckte die Finger in den Mund und pfiff.

„Das Haus ist umstellt, Wolper! – Sie haben den Oberst von der Klippe gestürzt, nachdem Sie ihn als Wolper zurechtfrisiert hatten. Jetzt wollten Sie hier eine Weile Munroe spielen, dann dessen Besitz verkaufen. – Ein feines Plänchen! Es hatte nur einige Fehler.“

Wolper zuckte die Achseln.

„Fehler macht jeder –“

Dann, blitzschnell hatte er die Perle aus seiner Krawatte gerissen und sich die Nadel in den Hals gebohrt, lächelte uns nun höhnisch an und meinte:

„Vergiftet. Ich liebe den Galgen nicht. – Wenn Sie noch etwas fragen wollen, Master[11] Harst, dann beeilen Sie sich. In drei Minuten bin ich tot.“

Dreablar tauchte auf, stutzte, rief dann:

„Das ist ja gar nicht der Oberst! Das –“

„– ist Hektor Wolper!“ ergänzte der Verbrecher mit einer Verbeugung.

„Geben Sie zu, Ihre Tante gleichfalls ermordet zu haben?“ fragte Harst schnell.

„Gewiß gebe ich das zu –“ Er taumelte, setzte sich auf die Steintreppe. In seine Augen trat ein ganz besonderer Ausdruck.

„Harst,“ flüsterte er, „Harst, es sind jetzt schlechte Zeiten für Verbrecher. Sie sind ein –“ – Er war vornüber gefallen, war tot. –

Der Hotelier Breakford verriet die Bande. So konnten so ziemlich alle Mitglieder verhaftet werden. Oberst Munroes letzter Diener und letzte Köchin waren Vertraute Wolpers gewesen. –

Jimmy und Daisy O’Brien entkamen.

 

 

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Kabels Kriminal-Bücher

 

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Ming Tschuan.
Thomas Bruck, der Sträfling.
Die rote Rose.
Das Atlantikgespenst.
Die Schildkröte.
Die grüne Schlange.
Das Teekästchen.
Die Todgeweihten.
Der Krokodillederkoffer.
Treff-As.
Der Wilddieb.
Die leere Villa.
Der Klub der Toten.
Der Mann mit der Narbe.
Die silberne Scheibe.
Die Billionenbeute.
Die Tigerinsel.
John Goodsteaks Hochzeitsreise.
Die roten Briefe.
Das Radiogespenst.
Die Rattenfalle.
Die eiserne Frau.
Das Teufelsriff.
Der Zauberblick.
Die Ladygaunerin.
Der Saal ohne Fenster.
Als Harst verschwand.
Die Hand aus Holz.
Der Geistersucher.
Schraut kontra Harst.
Die Jacht mit den drei Mumien.

– Preis pro Band 40 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hefttitel auf der Umschlagseite: „Ein Lichtbild ohne Kopf“.
  2. In der Vorlage steht: „Logirgast“.
  3. In der Vorlage steht: „ihn“.
  4. „Afghan-Teppich“ / „Afghanteppich“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Afghan-Teppich“ geändert.
  5. In der Vorlage steht: „der“.
  6. Woher kommen jetzt diese Namen „Warton“ und „Albner“? Hat etwa der Verlag den Text des Manuskripts gekürzt? Oder hat Herr Kabel hier nicht aufgepaßt? – Text so belassen.
  7. In der Vorlage steht: „merkt“.
  8. In der Vorlage steht: „Dreabler“.
  9. In der Vorlage steht: „en“.
  10. In der Vorlage steht: „ich“.
  11. In der Vorlage steht: „Masser“.