Sie sind hier

Die Kiste des Kapitäns

 

 

Walther Kabel

 

Die Kiste des Kapitäns.

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Auktion …

… Wenn Peter Karsen die Augen schloß, sah er stets dasselbe Bild: die unter Tränen lächelnde und ihm mit dem Tüchlein nachwinkende Lore, und neben ihr die hagere Gestalt seiner Schwiegermutter mit dem verbitterten, verkniffenen Gesicht, das jetzt nur ein ganz klein wenig froher ausschaute, weil ihn, Peter Karsen, dort in Zoppot die kleine Erbschaft erwartete …

Stets dasselbe Bild …

Und wenn er die Augen öffnete, dann war das Leben und Treiben des Ostsee-Monakos um ihn her …

Zoppot …

Dann wurde er sich mit qualvoller Deutlichkeit bewußt, daß er in unverantwortlichem Leichtsinn in der verflossenen Nacht die ganzen ererbten achtzehntausend Mark dem Moloch Spielhölle in den Rachen geworfen hatte, daß er gerade nur noch so viel Geld besaß, um vierter Klasse nach Berlin zurückzukehren …

Auf der oberen Terrasse des Kurhauses hatte er seinen Platz in der prallen Sonne …

Unten rauschte die große Fontäne, spielte die Kurkapelle einen Walzer, flutete eine geputzte Menge hin und her …

Und dort draußen der lange, prächtige Seesteg, – das Meer, die Danziger Bucht …

Dieses Bild quälte ihn fast noch ärger als das andere: der Charlottenburger Bahnhof, der Fernbahnsteig, die winkende, weinende Lore und die säuerliche Schwiegermama …!

Er … schloß die Augen wieder …

Nur nicht denken – nur nicht sehen …!

Achtzehntausend Mark …!!

Achtzehntausend …!!

Ein kleines Vermögen … Der Zoppoter Spielbank geopfert …!!

Wahnsinn war’s gewesen …! Wahnsinn!! Wenn er nur nicht gestern abend die Flasche Sekt im Metropol sich geleistet hätte …!

Wahnsinn …!!

Konnte – durfte er denn überhaupt nach Berlin zurückkehren?! Würde er den Mut aufbringen, Lore und der Geheimrätin die Wahrheit zu berichten?!

Ja – wenn er nicht gestern früh Lore den Eilbrief geschickt hätte …! Wenn er ihr nicht in diesem Briefe mitgeteilt hätte, daß die Erbschaft der Tante Antonie doch ansehnlicher sei als er geahnt hatte …!

Diese achtzehntausend Mark hätten eine baldige Hochzeit ermöglicht – eine Wohnung, eine Einrichtung.

Und – all das dahin – – zerflattert, verspielt verspielt …!!

Peter Karsen, Prokurist der Berliner Bank, riß die müden, entzündeten Augen wieder auf …

Oh – nur nicht denken – nur sich ablenken – – irgendwie …! Sonst wurde er verrückt über alledem … verrückt!! Halb war er’s schon …

Er erhob sich … Fluchtartig verließ er den Kurgarten, bog in den Südpark ein …

Wanderte weiter …

Ein paar kleine blitzsaubere Fischerhäuschen träumten da im Sonnenglast … In dem einen Vorgarten drängten sich schlichte Gestalten, Männer, Frauen …

Aus den offenen Fensterlein kam eine Stimme dröhnend und ärgerlich …:

„Eine Schiffskiste … geschnitzt, ausländische Arbeit!“ brüllte der Auktionator … „Wer bietet?!“

Peter Karsen war stehengeblieben …

Horchte …

In seinem wirren, müden Hirn – seit gestern früh hatte er keine Minute geschlafen – sprang ein unsinniger Gedanke auf …

Unsinnig, weil er von dem Rest seines Geldes kaum mehr die Hotelrechnung und die Rückfahrt bezahlen konnte …

Und doch – er war leidenschaftlicher Sammler von allerlei antiken Nichtigkeiten …

Betrat den Vorgarten – war in dem Stübchen des vor drei Tagen beerdigten Kapitäns Gustav Grotjahn und sah die Schiffskiste vor dem Auktionator auf dem langen Tische stehen …

Einen Augenblick zögerte er noch …

Dann … rief er:

„Zehn Mark …!!“

„Zehn Mark zum ersten …“

Stille …

„Zehn Mark zum zweiten …“

Stille …

„Und zehn Mark zum dritten und letzten …!“ brüllte der schwitzende Auktionator …

Im selben Moment, als der Hammer auf den Tisch schlug und Peter Karsen wie im Traum einen Zehnmarkschein dem Versteigerer hinschob, rief von der Tür her eine helle Frauenstimme:

„Zwanzig Mark …!!“

Alles drehte sich um …

Die Leute hatten der eleganten Dame unwillkürlich Platz gemacht …

Peter Karsen starrte die Frau mit ungläubigen Blicken an …

Er hatte Verständnis für Frauenschönheit und Toiletten …

Der Auktionator sagte schon achselzuckend: „Zu spät … Der Zuschlag ist erfolgt … Der Herr ist Eigentümer der Schiffskiste …“

Und er hob eine große Vase auf den Tisch …

„Hier – ein Prachtstück aus Japan … Wer bietet?“

Die Dame war rasch ganz dicht an Peter Karsen herangetreten …

„Könnte ich Sie draußen sprechen, mein Herr …?“ flüsterte sie merkwürdig hastig …

Karsen verbeugte sich …

„Bitte …“

Dann standen sie vor dem Häuschen. Karsen schaute in ein Paar dunkle Augen, die ihn jetzt kühl und prüfend musterten …

„Mein Herr, würden Sie mir die Schiffskiste verkaufen?“ fragte die Dame sehr ruhig. „Ich sammele Raritäten … Ich biete Ihnen hundert Mark …“ –

Peter Karsen war Berliner …

Peter Karsen hatte einen hellen Kopf … Die Dame beherrschte sich jetzt mühsam – er merkte es … Soeben war sie noch seltsam erregt gewesen, als sie ihr Gebot von zwanzig Mark dem Versteigerer zurief. Jetzt wollte sie ohne weiteres das Fünffache zahlen … Hier stimmte etwas nicht …!

Karsen verbeugte sich …

„Auch ich bin Sammler, meine Gnädige … Die Schiffskiste ist offenbar chinesische Arbeit – Sandelholz … – Ich bedauere wirklich …“

Die dunklen, leuchtenden Augen flammten noch mehr auf …

„Fünfhundert Mark …!“ sagte die Dame kurz …

Peter Karsen schüttelte den Kopf …

„Nicht für fünftausend, meine Gnädige … Es tut mir leid … Ich behalte die Kiste …“

„Sechstausend!“ – und sie öffnete ihr goldenes Handtäschchen …

Karsen stutzte …

Dachte: „Jetzt gerade nicht!!“ – Dieses rätselhafte Spiel begann ihn zu interessieren …

Verneigte sich …

„Es ist zwecklos, meine Gnädige …“ Und tat, als ob er in das Häuschen zurückkehren wollte …

„Zehntausend …!“ und die elegante Frau bekam eine scharfe Falte über der Nasenwurzel …

Jetzt begann Peter Karsen doch anderen Sinnes werden …

Zehntausend Mark …!!

Schon wollte er zustimmend nicken …

Da – ein neuer Entschluß … Er mußte doch einmal sehen, wie weit diese schöne Frau das Spiel treiben würde …

„Zwecklos!“ sagte er sehr energisch …

Die Dame biß sich auf die Lippen …

Wandte sich um und schritt davon …

Peter Karsten aber machte ein Gesicht, als ob er soeben einen eiskalten Kübel Wasser über den Leib bekommen hätte …

Dann … eilte er der Dame nach …

Zauderte …

Es war ja so beschämend für ihn, jetzt gleichsam zu bitten, daß sie ihm die Schiffskiste abnehme …

Zauderte…

Schon bog die schlanke Frau in den Südpark ein …

Karsen ließ ihr Vorsprung … Er hatte sich’s überlegt … Er wollte ihr nachher wie rein zufällig begegnen und sie dann ansprechen, harmlos lächeln und sagen: „Meine Gnädige, die alte Matrosenkiste steht Ihnen zur Verfügung … Ich bin ungalant gewesen … Einer schönen Frau soll man keine Bitte abschlagen …“

So schlich er denn hinter ihr her. Die Parkwege waren belebt. Er brauchte nicht zu fürchten, daß sie ihn bemerkte, falls sie sich einmal umdrehte …

Sie drehte sich nicht um …

Mit ruhigen elastischen Schritten und in der ihr eigentümlichen stolzen Haltung ging sie weiter – nach rechts hinab zum Strande, wo am Parksaum die langen Bänke standen …

Gebüsch deckte Karsen …

Er sah, wie ein Herr von südländischem Äußeren sich von einer Bank erhob und der Dame rasch entgegeneilte.

Sie sprachen miteinander … Karsen erkannte an der raschen Folge von Fragen und Antworten, an Gesten und Mienenspiel, daß die Unterredung leise, aber überaus erregt verlief.

Dann trennte sich das Paar.

Der Südländer, sehr modern angezogen und ganz der Typ einer jener fragwürdigen Balkangestalten, wie sie in den eleganten Cafés und Bars des Berliner Westens ständige Gäste sind, wandte sich dem Südbade zu, während die Dame den Kurgarten betrat. An der Sperre löste sie eine Eintrittskarte.

„Also kein Kurgast,“ sagte sich Peter Karsen, der ihr gefolgt war. – Ein Kurgast hätte die Kurkarte vorgezeigt …

Auch er nahm eine Eintrittskarte.

Sie ging auf den Seesteg hinaus.

Vorn an der Spitze, wo die Anlegerampen für die Dampfer sich befinden, war ein schlankes Ruderboot vertäut. Zwei Matrosen saßen darin.

Die Dame stieg die Treppe hinab, rief den beiden Leuten etwas zu und sprang leichtfüßig in das saubere Boot, an dessen Heck ein kleiner Bootsmotor angeschraubt war.

Während die Matrosen die Taue lösten, setzte die Dunkelhaarige den Motor in Gang … –

Peter Karsen stierte dem enteilenden Boote mit geradezu blödem Gesichtsausdruck nach …

Zehntausend Mark …!!

Zehntausend Mark …!! Und – durch eigene Schuld wieder eingebüßt!!

Er war in einer Stimmung, daß er am liebsten sich selbst geohrfeigt hätte … –

Das Boot legte dreihundert Meter vor dem Stege an einer dort ankernden Schonerjacht an.

Die Jacht war nur mittelgroß, vielleicht zwölf Meter lang … Ihr schneeweißer Rumpf wiegte sich träge auf den schwachen Wellen …

Karsen war verzweifelt …

Er wußte nicht, was er tun sollte …

Dann – ein Entschluß …

Ja – so würde er die Sache doch noch wieder einrenken …

Und hastig schritt er den Steg hinab … Hastig betrat er fünf Minuten drauf das Häuschen Kapitän Grotjahns …

Es war jetzt halb ein Uhr mittags …

 

2. Kapitel.

Die Depesche.

Des Auktionators Stimme bot gerade eine Sammlung exotischer Waffen an … Karsen wartete, schaute nach seiner Schiffskiste aus …

Fand sie nicht …

Trat noch weiter vor …

Wo war die Kiste?! Hinter dem langen Tische des Versteigerers standen und lagen noch eine Unmenge Dinge – nur die Kiste fehlte …

Da bemerkte der Auktionator den Herrn, der die Kiste erworben hatte. Peter Karsen war hier inmitten der einfachen Leute eine auffallende Erscheinung …

Der Versteigerer nickte ihm zu …

„Es gibt sofort noch mehr antike Sachen, mein Herr,“ meinte er vertraulich. Er glaubte, Karsen würde noch etwas erstehen.

Der Prokurist fragte stockend:

„Verzeihen Sie – wo ist die Schiffskiste …?“

„Nun – Sie haben sie doch vorhin durch einen Dienstmann abholen lassen …,“ erwiderte der Versteigerer verwundert. „Es sind kaum vier Minuten her …“

Karsen schoß das Blut zu Kopfe …

„Ich habe niemand geschickt …,“ rief er förmlich fiebernd. „Sie hätten dem Dienstmann die Kiste nicht aushändigen dürfen …“

„Nanu – der Mann hatte ja Ihre Visitenkarte mit … Hier ist sie …“

Karsen griff nach der Karte … Ihm war ganz wirr im Kopfe …

Las:

Ernst v. Felitsch,

Syndikus.

Berlin W3.

Elsholzstraße 3.

„Ich heiße nicht Felitsch!“ stieß er hervor … „Ich bin der Bankprokurist Peter Karsen aus Berlin …“

Der Versteigerer hob die Schultern …

„Sie entfernten sich so schnell mit der Dame, Herr Karsen, daß ich nicht Zeit fand, Sie nach dem Namen zu fragen … Mich trifft keine Schuld … Übrigens kenne ich den Dienstmann … Er steht am Haupteingang des Kurhauses, Nummer 5 hat er …“

Die Leute ringsum hatten gespannt zugehört. Ein alter Fischer meldete sich nun:

„Der Franz Schiemeck, was der Dienstmann is, Herr Karsen, der hat die Kiste im Park einem Matrosen gegeben … Das sah ich …“

Karsen fragte:

„War ein Herr im hellen Flanellanzug bei dem Matrosen?“

„Ja – das stimmt …“

Peter Karsen stürmte davon … – –

* * *

Der Besitzer des Hotels Danziger Hof am Zoppoter Bahnhof meldete am folgenden Morgen der Polizei, daß einer seiner Gäste, der Bankprokurist Peter Karsen aus Berlin, seit vorgestern abend unter Zurücklassung eines eleganten Handkoffers eines Schirmes und eines modernen Gummimantels verschwunden sei.

Die Polizei öffnete den Koffer und fand darin einen Brief und eine Photographie mit Widmung. So ermittelte sie Lore Markerts Adresse. –

Am Nachmittag erhielt Lore aus Zoppot folgende Depesche:

Ihr Verlobter Peter Karsen seit vorgestern abend nicht ins Hotel zurückgekehrt. Da Adresse anderer Angehöriger des Karsen unbekannt, ergeht an Sie Mitteilung.

Polizeiverwaltung
Ostseebad Zoppot.

Lore Markert war erst vor einer Viertelstunde müde und abgespannt aus dem Dienst heimgekehrt. Sie hatte es als Stenotypistin bei Rechtsanwalt Sommerfeldt wahrlich nicht leicht. Wer bei Sommerfeldt nicht Vorzügliches leistete, wurde gekündigt.

Lore hielt die Depesche in beiden Händen über dem Teller mit der dünnen Obstsuppe und wurde bleich und bleicher …

Die Geheimrätin, die dem Boten das Telegramm abgenommen hatte, stand hinter ihrem Stuhl und hatte die verhängnisvolle Nachricht mitgelesen …

Ihr mageres verbittertes Gesicht wurde noch strenger und verschlossener …

„Auch das noch!“ sagte sie scharfen Tones … „Das hast Du nun von dieser Verlobung, Kind …! Ein Prokurist einer Winkelbank, ein Mensch aus Kreisen, in die Du nicht hineingehörst …! – Auch das noch – – verschwunden! Unser Name wird durch die Zeitungen in aller Mund kommen und …“

Lores aschblonder feiner Kopf schnellte hoch …

„Mama, ist das alles, was Du zu sagen weißt …!!“

Sie stand auf …

Sie würde ja doch keinen Bissen mehr essen können.

In ihren langen Wimpern hingen Tränen … Aber sie war tapfer … Daß sie hier bei der eigenen Mutter weder Trost noch Rat finden würde, wußte sie …

„Ich werde zu den Schwiegereltern fahren …,“ erklärte sie fest … „Es muß Peter etwas zugestoßen sein … Es muß etwas geschehen …“

Die Frau Geheime Sanitätsrat Markert nickte kühl.

Es war ihre Art, alles Unangenehme nach Möglichkeit von sich zu weisen. Sie hatte genug eigene Sorgen … Das große Vorderzimmer war seit Juni vermietet, und die Mieter der beiden anderen Zimmer hatten sich als außerordentlich unzuverlässige Zahler herausgestellt … Der erste August war nahe, und sie wußte nicht, wie sie das Geld aufbringen sollte, nur das Nötigste zu begleichen … –

Lore nahm die Depesche und fuhr mit der Straßenbahn von der nächsten Haltestelle in der Potsdamer Straße nach der Laubenkolonie Freudenau im Vorort Schmargendorf hinaus. Dort besaßen ihre Schwiegereltern eine große Wohnlaube mit sauber gepflegtem Gärtchen. Dort wohnte der Tischlermeister Karsen mit seiner Frau den ganzen Sommer über, hatte sich auch eine kleine Werkstatt eingerichtet und fertigte hier die zierlichen Zigarrenschränkchen an, die er regelmäßig für[1] ein paar Berliner Warenhäuser lieferte.

Lore durchschritt hastig den Hauptweg der Kolonie.

Viele der Kleingärtner kannten sie und riefen ihr einen Gruß zu … Sie dankte zerstreut … Ihr Herz war schwer und voller Angst …

Bellend kam ihr dann auf dem Grundstück ihres Schwiegervaters der große Schäferhund entgegen … War bitter gekränkt, als Lore ihn nicht beachtete.

Vater Karsen kniete an einem Bohnenbeet und pflückte Bohnen in ein Körbchen … Die Nickelbrille war ihm bis auf die rote Nasenspitze gerutscht, und über den Gläserrand hinweg schaute er seine Schwiegertochter ahnungslos und vergnügt an …

„Nett von Dir, Loreken, daß Du uns mal wieder …“

Jetzt war’s jedoch mit Lores Fassung vorbei …

Hier brauchte sie sich keinen Zwang aufzuerlegen.

Sie brach in Tränen aus …

Frau Karsen kam aus der weinumrankten Veranda des Häuschens herbeigelaufen …

Vater Karsen hatte die Weinende in die Arme genommen … Zart und lieb führte er sie in die Veranda … Mutter Karsen war energischer …

„Kind, so rede doch endlich … Was ist denn geschehen?“ –

Die beiden alten Leutchen, deren Einziger Peter war, lasen immer wieder kopfschüttelnd die Depesche …

Bis der Tischlermeister erklärte:

„Ich werde an die Polizei in Zoppot mit bezahlter Rückantwort telegraphieren … – Mutter, bring’ mal Tinte, Feder und Papier … Wir werden der Polizei dort mitteilen, was Peter in Zoppot zu erledigen hatte … Man muß der Polizei Anhaltspunkte für Nachforschungen geben …“

Lore beruhigte sich langsam. Frau Karsen brachte ihr eine Tasse Kaffee und ein paar belegte Brötchen, zwang die Schwiegertochter zum Essen …

Vater Karsen schrieb folgendes, nachdem er sich die Sache gründlich überlegt hatte:

„Polizeiverwaltung Zoppot,
Freistaat Danzig.

Sohn Peter Karsen als einziger Testamentserbe meiner dort am 20. d. Mts. verstorbenen Schwester Antonie Karsen, Danziger Straße 15, zum Begräbnis und zur Erbschaftsregulierung nach dort gereist. Ein Brief von ihm enthielt Mitteilung, daß er achtzehntausend Mark von Filiale Ostbank Zoppot abgehoben habe. Bitte um umgehende Nachforschungen nach Verbleib meines Sohnes und um Nachricht an Tischlermeister August Karsen, Laubenkolonie Freudenau, Berlin-Schmargendorf, Nr. 52.“

Dieses Telegramm brachte er sofort zum nächsten Postamt.

Auf dem Wege dorthin kam er an der Rückseite der Blücherstraße und an einem Gemüsegarten vorüber, in dem ein schlanker Herr gerade einen mächtigen Komposthaufen umgrub, wobei ein kleinerer mit Hornbrille ihm half.

Vater Karsen sah die beiden, blieb stehen, grüßte …

„’n Tag, Herr Harst …“

„Tag, Herr Karsen … – Nun, wie schaut’s … Was machen die neuen Zuchthühner …“

Der Tischlermeister lehnte sich auf den Staketenzaun.

„Eine Schwindelfirma, Herr Harst … Die beiden Hühner kümmern … – Hm – einen Augenblick, Herr Harst …“

Die beiden Herren traten näher[2] und tauschten mit dem Meister einen Händedruck …

„Sie sehen so sorgenvoll aus …,“ meinte Harst freundlich. „Ist Ihnen etwas zugestoßen?“

„Ja … Mein Sohn … ist verschwunden …“

So kam’s, daß Meister Karsen sich mit seiner Seelenlast hier gleich an die richtige Adresse wandte.

Als er dann alles berichtet hatte und hinzufügte, ob Herr Harst vielleicht, falls es nicht zu kostspielig würde, den „Fall“ übernehmen wolle, erwiderte der berühmte Detektiv herzlich:

„Wir kennen uns seit sieben Jahren, Meister … So lange haben Sie drüben Ihre Laube … und Schraut und ich kennen auch das Brautpaar. Ich würde gern nach Zoppot reisen – sehr gern … Aber Schraut und ich müssen noch heute abend nach Stettin … Wie lange wir dort zu tun haben werden, weiß ich nicht … Falls Ihr Sohn sich inzwischen nicht wieder einfindet oder sein Verschwinden nicht aufgeklärt wird, werde ich alles aufbieten, Ihnen behilflich zu sein, lieber Meister. Und da Sie mit irdischen Gütern nicht gesegnet sind, sollen Ihnen keinerlei Unkosten erwachsen … – Keinen Dank, Meister … – Zeigen Sie mir mal Ihren Depeschenentwurf …“

Er las bedächtig …

Sein hageres Gesicht blieb wie meist ohne bestimmten Ausdruck …

„Gut so,“ nickte er. „Sollten Sie bis abends neun Uhr noch eine Nachricht aus Zoppot erhalten, so kommen Sie bitte zu uns … Möglich, daß man nochmals an Ihre Schwiegertochter depeschiert …“

Meister Karsen fragte scheu:

„Und – wie denken Sie über die Sache, Herr Harst?! Achtzehntausend Mark hatte der Junge abgehoben … Mein Gott, wenn man ihn etwa ermordet und beraubt hätte …!“

Harald Harst erwiderte:

„Jede Vermutung über das tatsächlich Vorgefallene wäre müßig … – Nur eins: war Ihr Sohn Spieler?“

„Der Peter – – Spieler?! Nein, Herr Harst … Der war und ist für sowas nicht zu haben … – Ich weiß schon: Sie denken an die Zoppoter Spielbank …! Ausgeschlossen, Herr Harst …!“

Dann verabschiedete er sich. –

Um drei Viertel neun Uhr abends erschien er jedoch abermals im Harstschen Hause mit einem langen Telegramm …

 

3. Kapitel.

Miß Bessy Lindsaer.

Lore hatte kaum die Wohnung verlassen gehabt, als vor dem Hause Luitpoldstraße 19 ein Mietauto vorfuhr, dem eine dunkelhaarige, mit schlichter Eleganz gekleidete Dame entstieg.

Die Dame befahl dem Schofför zu warten und läutete im zweiten Stock links, wo an der Flurtür ein großes Messingschild:

Dr. Karl Markert,
Geheimer Sanitätsrat

befestigt war. –

Die verwitwete Geheimrätin öffnete selbst. Bedienung hielt sie nicht. Nur vormittags kam eine Aufwartefrau für zwei Stunden.

Die Dame fragte nach dem freien Vorderzimmer … Besichtigte es, hatte zwar einiges auszusetzen, mietete aber dann doch für einen Monat mit voller Pension.

Erklärte im Laufe der Unterhaltung, sie sei Deutschamerikanerin und wolle hier als Malerin in den Museen Studien machen. Sie war sehr liebenswürdig und zugänglich, bezahlte sofort für den halben Monat voraus und sagte beim Abschied, daß sie in einer Stunde mit ihren Koffern einziehen würde.

Die Geheimrätin war überglücklich … Dieser Miß Bessy Lindsaer aus Chikago kam es offenbar auf Geld gar nicht an. –

Eine Stunde war noch nicht vergangen, als Miß Lindsaer, die im übrigen das Deutsche fehlerfrei und fließend sprach, mit zwei Kabinenkoffern wieder erschien.

Sie bat die Geheimrätin, ihr doch beim Einräumen der Wäsche behilflich zu sein …

„Ich bin an derartige Arbeiten so gar nicht gewöhnt, gnädige Frau,“ plauderte sie mit bezaubernder Offenheit. „Mein Pa daheim in Chikago hält mir eine Zofe … Ich kümmere mich um nichts … Pa hat eine Schweineschlächterei und beschäftigt neunhundert Leute. Im September kommen meine Eltern mit unserer Jacht nach Hamburg. Dann nehmen sie mich nachher mit nach Hause. Pa hat streng verlangt, daß ich hier in Berlin nur mit Familienanschluß wohne … Nicht wahr, gnädige Frau, Sie werden doch mit mir Ausflüge machen? Ich freue mich schon, Ihre Tochter kennenzulernen … Wir werden uns schon vertragen …“ Sie lachte heiter … „Ich bin ein Mensch, der sich mit jedem zu stellen weiß gnädige Frau …“

Die Geheimrätin seufzte …

„Meine Tochter Lore hat heute leider eine sehr beunruhigende Nachricht erhalten, Miß Lindsaer … Ihr Verlobter ist in Zoppot verschwunden … Zoppot, das Ostseebad …“

„Ja – ich weiß … – O, das arme Fräulein Lore …! Verschwunden …?! Wie ist denn so etwas möglich, gnädige Frau …?! Und – wenn so etwas geschieht, bei uns nimmt man dann einen guten Detektiv …“

„Dazu fehlen uns leider die Mittel …,“ erklärte die Geheimrätin zerstreut … Sie hatte jetzt hier zu viel zu bewundern … Wäsche und Kleider besaß diese Miß …!! Der Vater mußte Millionär sein …

„Geld?!“ sagte Miß Lindsaer fast verächtlich … „Oh – ich werde es Ihnen geben, gnädige Frau … Oder noch besser: ich werde einen Privatdetektiv mit Nachforschungen betrauen, den mein Pa hier einmal in Anspruch genommen hatte … Es war ein sehr tüchtiger Mensch … Ich werde mich schon auf den Namen besinnen … Wir werden den Verlobten Fräulein Lores finden, gnädige Frau …“

„Aber … aber das können wir doch gar nicht von Ihnen annehmen, Miß Lindsaer …“

Die lachte … „Die Deutschen sind so schwerfällig, gnädige Frau … So … so … empfindlich …! Weshalb können Sie das nicht annehmen?! Ich bekomme von Pa monatlich tausend Dollar Taschengeld … Ich mache jeden Monat noch tausend Dollar Schulden … Mir kommt es auf Geld gar nicht an … Pa ist sehr reich …“

Die Geheimrätin war sprachlos …

Miß Bessy plauderte weiter … Und plötzlich rief sie:

„Jetzt ist mir der Name des Detektivs eingefallen …: Felix Reutter …! Er ist aber nur im geheimen Detektiv … Für die Öffentlichkeit nannte er sich Versicherungsagent … – Sie haben ja Fernsprecher, gnädige Frau … Ich werde ihn sofort anrufen …“

Die Geheimrätin holte das Teilnehmerverzeichnis …

Felix Reutter hatte Moritzplatz Nr. 10 335 …

Und Bessy hatte auch Glück. Er war daheim … Er wollte sich in einer Stunde Luitpoldstraße 19 einfinden … –

Als Lore gegen acht Uhr heimkehrte, war soeben eine neue Depesche aus Zoppot eingetroffen …

Sie lautete:

Lore Markert,

Berlin W, Luitpoldstraße 19.

Peter Karsen nicht gefunden. Festgestellt, daß er hier auf Auktion Kapitän Grotjahns Matrosenkiste kaufte, die ihm dann abhanden kam. Zuletzt im Auktionslokal gesehen. Seitdem verschwunden. – Nachforschungen werden fortgesetzt.

Polizeiverwaltung Zoppot,

Freistaat Danzig.

Lore traf ihre Mutter und die ihr noch unbekannte Amerikanerin beim Abendbrot an. Das Telegramm lag geöffnet auf dem Tisch.

Bessy Lindsaer begrüßte Lore überaus herzlich und betonte immer wieder, welchen Anteil sie an ihren[3] Sorgen um Peter Karsen nehme.

Als Lore dann erfuhr, daß die junge Amerikanerin sich bereits mit einem Privatdetektiv in Verbindung gesetzt habe, hatte sich die leise Abneigung, die sie vom ersten Augenblick an gegen die überschwängliche Miß Lindsaer empfand, schon derart verstärkt, daß sie aus einem ihr selbst unklaren Gefühl des Mißtrauens heraus kein Wort von der Unterredung ihres Schwiegervaters mit Harald Harst erwähnte.

Sie erklärte auch, daß sie die Depesche unbedingt sofort ihren Schwiegereltern bringen müsse, und ihr Mißtrauen steigerte sich noch, als Bessy in geradezu aufdringlicher Art sie bat, mit nach dem Laubengelände kommen zu dürfen …

Um nicht unhöflich zu sein, war sie schließlich damit einverstanden, nahm sich aber vor, Vater Karsen heimlich zu warnen, ja nicht Harsts Namen zu nennen … –

Bessy Lindsaer rief auf der Straße ein Auto an … Sie war in allem, was sie tat, so bestimmt und doch auch so fürsorglich und herzlich, daß es Momente gab, in denen sich Lore wieder fast schämte, in ihren geheimsten Gedanken die neue Mieterin so völlig grundlos zu beargwöhnen. Es war ja ausgeschlossen, daß diese Millionärstochter irgendwie zu Peters Verschwinden in Beziehung stehen könnte. …

Und doch – als die beiden jungen Mädchen gegen ein Viertel neun die Laube des Tischlermeisters erreichten, eilte Lore voraus und flüsterte den auf der kleinen Veranda bei der Abendmahlzeit sitzenden Schwiegereltern hastig zu, Harald Harst in keiner Weise zu erwähnen … –

Miß Bessy war auch hier von harmloser Herzlichkeit. Meister Karsen hatte an ihr nichts auszusetzen, und seine Frau noch weniger.

Die beiden jungen Mädchen blieben nur kurze Zeit. Kaum hatten sie sich entfernt, als August Karsen unverzüglich sich zu Harst begab.

Harst und Schraut waren beim Kofferpacken. Meister Karsen bekam zunächst einen Kognak, eine Zigarre und ein paar liebe Worte, mußte sich setzen und überreichte die Depesche, erzählte frisch von der Leber weg und meinte, die Lore täte der freundlichen und mitleidigen Miß aus Chikago doch bitter unrecht, indem sie ihr so absolut grundlos mißtraue – absolut grundlos, zumal die Millionärstochter (und diese Bezeichnung sprach Meister August geradezu voller Hochachtung aus!) doch auf ihre Kosten den Herrn Felix Reutter, der am Moritzplatz wohne, nach Zoppot senden wolle, was auf alle Fälle ein Beweis eines goldenen Herzens sei …

„Ohne Zweifel!“ nickte der Detektiv Harst. „Schraut und ich freuen uns außerordentlich, daß die Sache Ihres Sohnes nun bereits in bewährten Händen liegt … Sollte der Kollege Reutter trotzdem nichts ausrichten, so werden wir immer noch in die Bresche springen, Meister Karsen. Hierüber wollen wir jedoch nichts verlauten lassen … Grüßen Sie Ihre liebe Gattin und Fräulein Markert … Und Fräulein Lore soll guten Mutes sein … Daß man ihren Verlobten der achtzehntausend Mark wegen beseitigt hat, glaube ich nicht … Er ist zuletzt am hellen Tage gesehen worden … Das gibt mir Hoffnung, daß er aus anderen Gründen vielleicht nur sehr in Eile Zoppot verlassen hat …“

Meister Karsen wanderte seiner Laube wieder zu.

Die beiden Detektive fuhren im Auto zum Stettiner Bahnhof …

Während dieser Fahrt gaben sie genau acht, ob sie verfolgt würden. Es war jedoch weder ein anderes Auto noch ein Radler hinter ihnen her. So konnten sie denn vor dem Bahnhof dem Schofför getrost Befehl geben, sie nach dem Moritzplatz zu bringen.

Hier stellten sie fest, daß Herr Felix Reutter in einem Privathotel dritten Ranges wohnte.

Gegen halb elf Uhr hatte Max Schraut am stillen Elisabethufer aus dem einen Koffer allerlei entnommen, was er dazu brauchte, um sein Äußeres gründlich zu verändern.

Um elf Uhr belegte er in dem Privathotel ein Zimmer neben dem des Agenten Reutter. Harald Harst aber bestieg um Mitternacht im Flughafen Tempelhofer Feld einen Dorner-Doppeldecker und ließ sich nicht nach Stettin, sondern nach Danzig bringen, wo er morgens ein Viertel sechs in der Maske eines blondbärtigen Korrespondenten einer Berliner Zeitung landete, angeblich um seinem Blatte über die Zoppoter Waldfestspiele zu berichten. –

So wurde der Kampf um eines der eigenartigsten Geheimnisse eingeleitet, das jemals einen größeren Kreis von Menschen in Atem gehalten hat … – –

Als aber Lore und Miß Bessy Lindsaer von ihrem Besuch bei Vater Karsen nach der Luitpoldstraße zurückkehrten, saß dort im Salon der Geheimrätin ein dunkelhaariger, etwas stark südländisch aussehender Herr in einem der verschossenen Brokatsessel und hatte sich mit Frau Markert bereits stark angefreundet.

Es war Felix Reutter vom Moritzplatz …

Er begrüßte Miß Lindsaer mit außerordentlichem Respekt, erkundigte sich nach dem Ergehen ihres Vaters und war bescheiden genug, als Angeld für seine Bemühungen nur tausend Mark zu fordern, die Miß Bessy ihm auch ohne Zögern hinzählte, worauf er betonte, er sei durch die Frau Geheimrat schon so eingehend von den Vorfällen und den Depeschen unterrichtet, daß er den Nachtzug über Stettin nach Danzig benutzen und sich daher verabschieden wolle.

Miß Bessy drückte ihm dann noch ein winziges Zettelchen in die Hand, das er in der Straßenbahn sofort las:

„Lore ein sehr mißtrauischer Mensch. Bisher kein Anlaß zur Beunruhigung. Ich werde Sie über alles, was die Gegenpartei unternimmt, sofort telephonisch verständigen.“

Den Zettel benutzte Herr Reutter daheim in seinem bescheidenen Hotelzimmer als Fidibus für seine kurze Pfeife. Immerhin blieb noch ein Eckchen unversehrt und lag in der Aschenschale …

Was Max Schrauts geschärften Augen nicht entging, der in die Verbindungstür der beiden Zimmer längst über dem Schranke, der auf der Seite Reutters diese Tür verdeckte, ein Löchlein gebohrt hatte … –

Als Felix Reutter morgens sein Zimmer für wenige Minuten verließ, holte der Detektiv Schraut den verkohlten Rest des Zettels und konnte gerade noch die Worte entziffern:

Lore mißtr … Gegenpartei … verständigen …

Es genügte ihm … –

Am Vormittag brachte er in Erfahrung, daß Felix Reutter bereits zwei Jahre hier wohne und daß er allerlei Agenturgeschäfte betreibe und sich bei der Polizei eines tadellosen Leumunds erfreue. Das letztere setzte[4] ihn sehr in Erstaunen …

 

4. Kapitel.

Die Sache klärt sich etwas …

An demselben Vormittag war auch Harald Harst in Zoppot eifrig an der Arbeit. Unschwer ermittelte er den Auktionator, der des verstorbenen Kapitäns Nachlaß versteigert hatte. Durch den Auktionator wieder erfuhr er den Namen des Fischers, der beobachtet hatte, wie der Dienstmann die Kiste einem Matrosen übergab, der sich in Gesellschaft jenes dunkelhäutigen Herrn befand, dessen Visitenkarte auf den Namen Ernst v. Felitsch gelautet hatte.

Diesen Fischer suchte er gleichfalls auf und fragte ihn über den Matrosen aus. So stellte er fest, daß der Matrose offenbar zu jener Privatjacht gehört habe, die fünf Tage vor dem Zoppoter Seesteg ankerte. Auch den Namen der Jacht brachte er heraus: „Ellide“, Heimathafen Stettin.

Abends erhielt er dann von Schraut einen Flugpostbrief, der folgendermaßen lautete:

„Lieber H.,

Beweis vorhanden, daß Felix R. mit Miß L. im Bunde. – Felix R. im übrigen gutbeleumundet. – Mittags soeben Lore M. auf Heimweg von Dienststelle angesprochen und zu erkennen gegeben. Sagte, daß Felix R. versprochen hatte, gestern abend nach Z. zu reisen. Felix R. noch hier. Mithin Miß L. und er nur zu Überwachungszwecken für Lore M. anscheinend tätig. – Felix R. mittelgroß, schlank, Aussehen wie Spanier, Ungar oder Italiener. Schwarze, etwas stechende Augen. Geht elegant gekleidet. – Miß L’s Äußeres Dir bekannt. – Gruß – Schr.“

Daraufhin schickte Harst folgende Depesche an Herrn Moritz Scharfer, Heises Privathotel, Berlin, Moritzplatz:

„Kehre über Stettin zurück. Die L. und R. bestimmt hiergewesen. R. genau beobachten. – Horten.“

Harst benutzte dann abermals einen Dorner-Doppeldecker zur Fahrt nach Stettin und traf in aller Frühe ein. Sein erster Gang galt dem Hafenamt. Hier erfuhr er den Namen des Besitzers der Jacht „Ellide“. Sie gehörte einer Reederei, die die Jacht an Privatleute zu Kreuzfahrten in der Ostsee vermietete.

Um zehn Uhr befand er sich im Büro der Reederei und sprach den Ersten Prokuristen, dem gegenüber er sich mit der Bitte um Diskretion auswies und nun ganz genauen Bescheid erhielt.

Die Jacht war für vierzehn Tage an ein Ehepaar Rauter aus Berlin vermietet gewesen und hatte auch die Danziger Bucht besucht. Herr Rauter hatte 20 000 Mark Sicherheit hinterlegt gehabt, da er eine eigene Besatzung für die „Ellide“ hatte mitnehmen wollen. Es waren dies fünf Seeleute gewesen, offenbar Amerikaner. Die Jacht sei vorgestern nachmittag zurückgekehrt und das hinterlegte Geld an Herrn Rauter zurückgezahlt worden. – Mehr konnte der Prokurist nicht angeben. Seine Beschreibung Rauters entsprach genau den brieflichen Angaben Schrauts über Felix Reutter. Die Gattin Rauters hatte der Prokurist nicht zu Gesicht bekommen. –

Harst reimte sich jetzt bereits so ungefähr die Ereignisse in Zoppot zusammen – ungefähr.

Er wußte, daß Miß Lindsaer gleichfalls die Schiffskiste hatte erwerben wollen, aber zu spät gekommen war, daß sie dann vor dem Häuschen des Kapitäns mit Peter Karsen verhandelt hatte und fraglos über die Matrosenkiste … Offenbar hatte Karsen abgelehnt, sie ihr zu überlassen, und deshalb war die Kiste durch Felix Reutter auf sehr schlaue Art gestohlen und an Bord der „Ellide“ gebracht worden, wo sich nur Leute befanden, die mit Miß Lindsaer und Reutter unter einer Decke steckten. Vielleicht, kombinierte der Detektiv weiter, war dann Peter Karsen an Bord der „Ellide“ gelockt worden.

Jedenfalls: die Schiffskiste Kapitän Grotjahns war der Mittelpunkt dieser immer noch recht unklaren Ereignisse. Diese Kiste mußte für Miß Lindsaer (falls diese wirklich so hieß!) von außerordentlichem Werte gewesen sein. Anderseits hatte Miß Lindsaer aber ein großes Interesse daran, den Diebstahl der Kiste unbedingt zu verschleiern. Aus diesem Grunde hatte sie Peter Karsen entweder beseitigt oder hielt ihn gefangen.

An einen Mord mochte Harst nun nicht recht glauben. Ihm erschien es weit wahrscheinlicher, daß man Karsen irgendwo streng bewachte. Man würde ihn vermutlich erst freilassen, nachdem irgendwelche noch zu erwartende Vorgänge, die mit der Schiffskiste irgendwie zusammenhingen, für die Beteiligten günstig verlaufen waren, so daß dann Peter Karsens Angaben ihnen nicht mehr schaden konnten. –

Da Harald Harst in Stettin kaum noch etwas ausrichten konnte, kehrte er mit dem Nachmittagszuge nach Berlin zurück.

In der Reichshauptstadt angelangt, begab er sich sofort nach einem Restaurant in der Nähe des Moritzplatzes und rief von hier aus Heises Privathotel an und ließ Herrn „Scharfer“ an den Fernsprecher bitten.

Schraut-Scharfer war soeben erst heimgekehrt. Schleunigst eilte er in die nahe Kneipe, wo Harst, der noch immer als blondbärtiger Berichterstatter maskiert war, in einer stillen Ecke beim Abendbrot[5] saß.

Die Freunde begrüßten sich durch einen stummen herzlichen Händedruck.

Schraut war sehr ernst. Kaum hatte er Platz genommen, als er auch schon traurig erklärte:

„Harald, hier haben die Dinge eine böse Wendung genommen. Lore Markert, die sich bisher so tapfer gezeigt, ist seit heute mittag erkrankt – Nervenfieber … Ich habe vor anderthalb Stunden Meister Karsen gesprochen … Er kam gerade von Markerts. Er weiß nun, daß wir den angeblichen Stettiner Auftrag nur vorgeschoben hatten … Der arme alte Herr ist ganz gebrochen. Lore soll es sehr schlecht gehen. Sie hat bisher mit zu großer Energie ihre Verzweiflung bekämpft. Nun ist der Rückschlag da … Bessy Lindsaer pflegt die Kranke – geradezu rührend, wie der Meister betonte. Die junge Amerikanerin soll über Lores Erkrankung fast noch unglücklicher sein als die Geheimrätin. Sie hat sofort Professor Langfeld auf ihre Kosten hinzugezogen. Der Professor war abends sieben Uhr zum zweiten Male am Krankenbett. Lebensgefahr soll nicht bestehen.“

Harst hatte inzwischen seine Mahlzeit beendet, nahm nun eine Zigarette …

„Und Reutter?“ fragte er leise …

„Ist hier in Berlin und benimmt sich vollkommen harmlos, geht seinen Agenturgeschäften nach und … ist trotzdem ein Halunke …!“

„Ein sehr schlauer …!“ nickte Harst. „Du hast also nicht gemerkt, mein Alter, daß er irgendwie heimlich mit Leuten zusammentrifft?“

„Nein … – Nur dies nahm ich ihm ab …“ – Und er zeigte Harst den halb verkohlten Zettelrest mit den wenigen noch lesbaren Worten …

„Außerdem aber,“ fügte er hinzu, „habe ich an die Detektivfirma Bratt in Chikago eine Radiodepesche geschickt und um Angaben über Lindsaer gebeten. Die Antwort erhielt ich heute halb sieben abends postlagernd. Bratt hat mich sehr prompt bedient … Hier ist das Telegramm …“

Harst schüttelte unzufrieden den Kopf …

„Du solltest Derartiges nicht mit Dir herumtragen, mein Alter … Man kann nie wissen, ob dieser doch offenbar mit allen Salben gesalbte Reutter nicht schon auf Dich aufmerksam geworden ist …“

„Ausgeschlossen, Harald …!“

„Bitte – nicht so sehr sicher sein!“

Dann las er die Depesche:

„Thomas Lindsaer vielfacher Millionär. Nur eine Tochter Bessy. Zur Zeit in Europa. Vor vier Wochen von hier abgereist. Zur Zeit Berlin. Lindsaer gestern von ihr Radiodepesche erhalten. Inhalt ermittelt. Nur: „Objekt erworben. Einige Weiterungen. Brief folgt. Bessy.“ – Bratt.“

Harsts Stirn legte sich in Falten …

„Objekt erworben, – das ist die Matrosenkiste,“ meinte er gedämpft. „Und die Weiterungen: das ist Peter Karsens Entführung! – Du wirst das sofort verstehen, mein Alter …“

Und nun berichtete er von seinen Erfolgen in Zoppot und Stettin …

„… Es ist nach alledem wohl klar,“ schloß er seine kurzen übersichtlichen Angaben, „daß Thomas Lindsaer seine energische Tochter Bessy nach Europa geschickt hat, nachdem er irgendwie von Kapitän Grotjahns schwerer Erkrankung erfahren hatte. Grotjahn hat vier Wochen lang mit dem Tode gerungen. – Mithin muß Thomas Lindsaer Grotjahn von früher her kennen und auch genau wissen, daß die Schiffskiste für ihn einen bestimmten Wert hat. Ich möchte Dir, mein Alter, noch mitteilen, daß Kapitän Grotjahn nach der Schilderung des Auktionators und der Fischer ein sehr merkwürdiger mißtrauischer Kauz gewesen ist … Er hielt sich in seinem Häuschen zwei riesige Schäferhunde und schlief oben im Bodenkämmerchen, das[6] er förmlich verbarrikadiert hatte. Es soll auch wiederholt bei ihm eingebrochen worden sein. Dann schaffte er sich die an … – Das alles tritt jetzt aber gegenüber Lore Markerts Erkrankung in den Hintergrund. Wir müssen Peter Karsen unbedingt finden und befreien – schleunigst! Das wird für Lore die beste Medizin sein. Ich behaupte, daß die fünf Matrosen, die mit in Zoppot waren, Peter Karsen irgendwo bewachen …“

„Wo aber?!“ – Und auch Schrauts Stirn legte sich in Falten … „Wäre es nicht am besten, Harald, wenn wir Herrn Felix Reutter einfach die Pistole gleichsam auf die Brust setzten?! Das Material gegen ihn genügt zu seiner Verhaftung. Wir können ihm drohen und …“

„… würden nichts erreichen, lieber Alter …! Vergiß nicht, daß hier ein vielfacher Millionär die Hand mit im Spiele hat … Geld ist noch immer die größte Macht … Reutter würde sich einsperren lassen und leugnen. Und bevor er überführt ist, können Tage vergehen … – Nein, so schaffen wir’s nicht … Nur List kann zum Ziele führen … Laß mich nachdenken …“

Inzwischen hatte Schraut sein Glas Echtes geleert und bestellte ein zweites.

Harst rauchte sinnend. Sein schmales Gesicht verriet, wie intensiv sein Geist arbeitete …

Nach etwa fünf Minuten schaute er den Freund lebhaft an …

Fragte: „Hat Reutter außer dem Zimmer in dem Privathotel noch ein Büro?“

„Ja – unten im selben Hause … Es ist ein ganz kleiner schmaler Laden … War früher Barbierstube … Er beschäftigt dort einen alten buckligen Schreiber. Er befaßt sich mit allem: Wohnungstausch, Zimmervermittlung, Versicherungen …“

„Und – wann ist er in seinem Büro anzutreffen?“

„Morgens um neun … Eine Stunde bleibt er dort … Dann beginnt er seine Gänge … Ich bin eigentlich ununterbrochen hinter ihm her gewesen …“

„Gut – – dann morgen vormittag, mein Alter … – Höre genau zu. Morgen früh verläßt Du das Privathotel und reist ab – vom Görlitzer Bahnhof. Um sieben Uhr geht ein Eilzug nach Breslau, wenn ich nicht sehr irre. Gib genau acht, ob Dir jemand zum Bahnhof folgt. Ich werde dasselbe tun. Ich werde vor halb sieben vor dem Privathotel sein – am besten als Schofför eines Mietautos … Ich halte mit dem Auto in der Nähe … Rötlicher Vollbart, Nickelbrille, – daran erkennst Du mich. Du nimmst dieses Auto. Unterwegs kleine Panne … Damit ich mal rückwärts schauen kann. … – Alles weitere findet sich von selbst. Wirst Du nicht belauert, so kannst Du in dem Auto Dich verändern – recht gründlich … Dann fahren wir um ein Viertel zehn vor Reutters Büro vor … Und …“

Harst sprach immer leiser und eindringlicher.

Schraut nickte wiederholt …

Der Plan gefiel ihm … –

Um halb zwölf verließen die Freunde die Kneipe und trennten sich. Harst fuhr zu einem Autoverleiher, den er schon häufiger in Anspruch genommen hatte.

 

5. Kapitel.

Der Herr mit dem Auftrag …

Reutters buckliger Schreiber Gustav Hocker blickte seinen Chef, vor dessen vielseitiger Geschäftstüchtigkeit er eine unbegrenzte Hochachtung besaß, verständnisvoll an …

Die beiden standen in dem kleinen Büro hinter der Schranke an dem mit Papieren bedeckten Tische …

„Die anderen machen’s jetzt auch alle so,“ fuhr der Agent achselzuckend fort. „Also hängen Sie ein Schild ins Fenster, daß Teilzahlungen bei Wohnungsvermittlungen gestattet sind …“

„Wird geschehen, Herr Reutter …“

„Dann noch etwas, lieber Hocker … Sollte Sie jemand fragen, wohin ich letztens gereist war, so sagen Sie getrost die Wahrheit: nach Swinemünde …!“

„Gewiß, Herr Reutter … Aber wer sollte fragen?!“

„Hm – die Kriminalpolizei scheint durch eine anonyme Anzeige auf uns scharf gemacht worden zu sein.“

„Oho – bei uns ist doch alles reinlich …“

„Allerdings … Aber ich möchte den Kerl gern herausfinden, der mir diesen Streich gespielt hat … Halten Sie also die Augen und Ohren gut offen, Freund Hocker … Wenn Leute kommen, – prüfen Sie sie auf Herz und Nieren … Und sollte ein Kunde Ihnen irgendwie faul erscheinen, dann – – heimlich hinterher … Sie kennen das ja …“

„Und es macht mir Spaß, Herr Reutter! Wenn’s nach mir ginge, würden wir nur Detektive sein …!“

„Und dabei verhungern! – Also – Achtung, Gustav Hocker …!“

Dann setzten sie sich an die Arbeit …

Es war erst wenige Minuten nach neun Uhr morgens. Zwei Frauen erschienen: Wohnungstausch …

Ein jüngerer Herr kam und bezahlte seine Feuerversicherung.

Dann fuhr draußen ein Mietauto vor …

Hocker konnte von seinem Platz durch das Türfenster die Straße beobachten …

Ein kleiner etwas korpulenter Herr mit grauem dicken Schnurrbart und Kneifer entstieg dem Auto …

Betrat das Büro …

Der Bucklige erhob sich, trat an die Schranke …

Der Herr schob den Hut ins Genick … Eine blanke Glatze wurde so enthüllt …

„Sie erledigen auch Beobachtungen?“ fragte er kurz …

„Jawohl, mein Herr …“

„Sind Sie selbst der Inhaber der Detektei Reutter?“

„Nein … Bitte – dort der Chef …“

Reutter kam heran …

„Ich möchte Sie unter vier Augen sprechen … – Hier, bezahlen Sie das Auto …“ Er gab dem Buckligen zehn Mark …

„Wenn ich bitten dürfte,“ sagte Reutter und öffnete die Tür der Schranke, führte den Herrn in das winzige Hinterzimmer und schaltete das Licht ein …

Der Herr schaute sich um …

„Nun – sehr großartig sind Sie nicht gerade eingerichtet …“ Und nach dieser halben Grobheit setzte er sich in einen Korbsessel …

Reutter lehnte sich gegen den hellen Kiefernschreibtisch …

„Womit kann ich dienen?“ fragte er kühl …

„Beobachten sollen Sie jemand … Der Preis spielt keine Rolle … – Auf dem Polizeirevier empfahl man sie mir als zuverlässig …“

Felix Reutter verbeugte sich knapp …

„Ich bin zuverlässig …“

„Gut … Eine Bedingung: Sie dürfen nicht nach meinem Namen fragen, mir selbst nicht etwa nachspionieren …“

„Wie Sie wünschen, mein Herr …“

„Es handelt sich um eine Dame … Ich bin vom Lande … Man hat da wenig Gelegenheit, Damenbekanntschaften zu machen … Ich habe gestern nachmittag in der Luitpoldstraße eine junge Dame getroffen, die mir gefiel … Eine sehr elegante Dame … Sie betrat das Haus Nr. 19 … Nachher sah ich sie im zweiten Stock einen Moment am Fenster … – Ich möchte wissen, wer die Dame ist und ob ihr Ruf tadellos … Alles möchte ich über sie wissen … Ich will heiraten, aber nur gute Familie … Sie verstehen …“

„Ich verstehe, mein Herr …“ – Felix Reutter blieb vollkommen ruhig … Äußerlich …

„Sie dürfen mir also, was die Dame angeht, keine unsicheren Nachrichten zukommen lassen … Ich mache mich nicht gern lächerlich … Ich will wissen, ob eine ernsthafte Bewerbung Aussicht hätte …“

„Ich bin vollständig im Bilde, mein Herr … vollständig …“ – Felix Reutter schöpfte keinerlei Argwohn. Die Art, wie der Herr sich hier bei ihm eingeführt hatte, schloß jeden Zweifel an den ehrlichen Absichten dieses ländlichen Grobians aus … Wahrscheinlich ein Gutsbesitzer, dachte Reutter … Und grinste innerlich … Dieser Kahlkopf und Bessy Lindsaer[7] – – zum Lachen!! Natürlich war’s Miß Lindsaer …

„Würden Sie mir die Dame etwas genauer beschreiben …,“ bat er höflich …

„Schlank, dunkelhaarig, dunkle Augen, schmale Nase, leicht gepudert, … und … lange Wimpern, stolze Haltung … Sieht sehr unnahbar aus … Das hat mir gefallen … Wo und wann könnten wir uns treffen? Schreiben geht nicht … Ich habe da so eine liebe Verwandtschaft auf dem Halse, die mich dauernd belauert, weil ich … nicht heiraten soll … Erbschleicher – – Sie verstehen …! – Könnten Sie mir schon heute abend etwas melden?“

„Gewiß, mein Herr …“

„Und dann – nicht in Berlin selbst, Herr Reutter … Oder doch an einem Orte, wo ich vor der Bande sicher bin … Vielleicht spioniert jetzt mein Herr Neffe schon draußen vor Ihrem Büro umher … Zuzutrauen ist der Gesellschaft alles …!“

Reutter lächelte diskret …

„Mein Herr, wenn es Ihnen nicht zu spät ist … – heute nacht zwölf Uhr …“

„Hm – na ja … Und wo?!“

„Kennen Sie die Umgebung von Berlin?“

„Leidlich …“

„Ich werde um zwölf vor dem Bahnhofsgebäude in Wannsee sein …“

Der Herr nickte …

„Verkleidet …!“ fügte Reutter hinzu …

„So?! Verkleidet?! Dann … erkenne ich Sie ja nicht …!“

„Aber ich Sie, mein Herr!“ Und Reutter dachte: Ländlicher Idiot!!

„Wieviel?“ fragte der Klient und zog seine Brieftasche …

„Dreihundert …“

„Donnerwetter … – Na – hier haben Sie’s … Billig sind Sie nicht …“

„Aber zuverlässig …!“

Der Herr nahm seinen Hut …

Zögerte … „Wenn nun aber einer von der Bande wirklich hinter mir her ist …?! Sie glauben ja gar nicht, was das für eine Sekte ist …!“

„Dann … dann schnäuzen Sie sich vor dem Bahnhofsgebäude in Ihr Taschentuch und folgen dem Herrn, der einen Panamahut in der linken Hand trägt … Das bin ich nämlich … Wir steigen in ein Boot … Die Sekte hat das Nachsehen …“

„Famos!!“ Der Klient lachte dröhnend … Verabschiedete sich und betrat die Straße, schaute sich hier mehrmals mißtrauisch um …

Winkte einem vorüberkommenden Auto …

Wurde von Felix Reutter scharf beobachtet …

Und der sagte zu dem buckligen Schreiber:

„Stoppelhopser!! – Hier, Hocker, haben Sie zehn Mark extra … Dieses Geschäft eben war schmerzlos und einträglich …!“ –

Das Auto mit Schraut und Harst als Schofför fuhr auf Umwegen zu dem Verleiher. Die Freunde kehrten zu Fuß nach ihrem Heim in der Blücherstraße 10 in Schmargendorf zurück. Unterwegs hatten sie Zeit genug, Schrauts Besuch bei Reutter eingehend zu besprechen.

„Niemand ist Dir gefolgt, also hat Reutter auch keinen Verdacht geschöpft,“ meinte Harald Harst. „Im übrigen ist es gekommen, wie ich’s vermutet hatte, mein Alter … Reutter hat Dich dorthin bestellt, wo er selbst noch anderes zu erledigen hat. Ich behaupte, daß Peter Karsen irgendwo in Wannsee steckt und daß Felix Reutter dieses Gefängnis entweder vorher oder nachher besuchen wird … Ich werde von neun Uhr abends den Bahnhof Wannsee bewachen … Es ist eine Spur, wenn auch eine ganz geringe … Man muß vorläufig zufrieden sein …“

Sie betraten das Harstsche Grundstück von der Rückseite. Vorher überzeugten sie sich noch, ob in dem Laubengelände jenseits des Feldweges keine verdächtige Gestalt zu sehen war … –

Sie fanden einen Brief von Meister Karsen vor, in dem dieser mitteilte, daß in Lores Zustand eine Besserung eingetreten sei …

„Wie dies so plötzlich gekommen, weiß niemand,“ schrieb August Karsen weiter. „Oder – vielleicht weiß es nur die junge Amerikanerin, die unsere Lore mit solcher Aufopferung pflegt, daß selbst der Professor erklärt hat, eine gelernte Krankenschwester könnte sich nicht so zart und umsichtig zeigen, wie Miß Lindsaer. Lore ist wieder bei klarem Bewußtsein, und ich durfte sogar für ein paar Minuten zu ihr hinein. Da hat sie denn, als ich heute vormittag so gegen zehn neben ihrem Bett saß, meine Hand genommen und mich so strahlend angesehen und mich tiefer zu sich herabgezogen und ganz, ganz leise geflüstert: „Vater, Peter lebt … All meine Angst ist nun vorüber … Er lebt und ich werde ihn wiedersehen …“ – Ja, so flüsterte sie … Und Miß Bessy stand gerade am offenen Fenster und stellte die Stabjalousie anders ein … – Woher unsere Lore diese frohe Gewißheit geschöpft hat, daß mein Junge noch am Leben, – ich kann es nicht sagen … Aber seltsam ist, daß von dem Augenblick an auch meine Herzensangst sich legte und daß ich nun wie Lore mit gläubiger Zuversicht die völlige Aufklärung der rätselhaften Angelegenheit und Peters Wiederauftauchen abwarte …“

So schrieb Vater Karsen an Max Schraut.

Harst las den Brief mehrmals sehr langsam durch und sagte dann zu seinem Freunde:

„Mein Alter, wie denkst Du über diese Besserung in Lores Befinden?!“

Schraut zauderte … Dann erwiderte er bedächtig: „Man könnte fast auf den Gedanken kommen, daß Miß Lindsaer Lore gebeichtet hat …“

„Oh – genau dasselbe nehme ich an – genau dasselbe! Und Lore weiß nun eben, daß Peter Karsen nur verborgen gehalten wird … Mehr noch: Bessys Beichte muß derart gewesen sein, daß Lore ihrer liebevollen Pflegerin alles verziehen hat …“

Kurze Pause …

Und noch nachdenklicher fügte er hinzu: „Ein ganz merkwürdiges Geheimnis muß mit dieser alten Matrosenkiste verknüpft sein … Ich habe schon viel darüber nachgegrübelt … Aber – immer finde ich in dem, was ich mir zusammenreime, so scharfe Widersprüche, daß diese meine Kombinationen nicht stimmen können – unmöglich stimmen können. Anfänglich dachte ich, daß die Matrosenkiste vielleicht in einem Geheimfach Kostbarkeiten enthalten könnte. Dann aber sagte ich mir, daß ein Millionär wie Thomas Lindsaer wohl kaum sein einziges Kind zu einer Tat verleitet oder veranlaßt haben würde, die sich letzten Endes als Diebstahl oder Raub kennzeichnet. Wir werden also „Schatz“, „Juwelen“, dergleichen unbedingt streichen müssen, stehen mithin vor der Frage: weshalb wollte Thomas Lindsaer die Schiffskiste an sich bringen, was enthielt sie, das für ihn so überaus wichtig war?! – Und weiter: war er es, der etwa schon früher Leute abgeschickt hatte, die in Kapitän Grotjahns Häuschen eindringen sollten?! Und – hat etwa schon damals Felix Reutter diese Diebstahlsversuche geleitet, bestehen seit damals diese Beziehungen zwischen Lindsaer und dem intelligenten Reutter, den ich, offen gesagt, nicht für einen Deutschen halte?! – All das, mein Alter, sind Fragen, die wir vielleicht nie werden beantworten können, falls wir nicht eben mit Ausdauer, Vorsicht und einem Maß von Schlauheit, wie wir sie selten nötig gehabt haben, diesem Rätsel weiter nachspüren …“

Die beiden Freunde saßen jetzt in Harsts Arbeitszimmer, einem behaglichen, vornehm ausgestatteten Raume, dessen Fenster nach der Blücherstraße hinausgingen …

Es war ein glühend heißer Tag, dieser vorletzte Juli … Windstill und drückend … Die Luft förmlich überladen mit Elektrizität …

Müde schlichen die wenigen Menschen in dieser Mittagsstunde auf der Schattenseite der Blücherstraße dahin … Nicht einmal der Lärm spielender Kinder, die sonst die Ferienzeit auf der Straße durchtollten, war vernehmbar.

In diese Stille drang plötzlich von fern her ein rasch anwachsendes Geräusch … Ein Auto nahte – ein Mietauto älterer Konstruktion mit ausgeleiertem Motor …

Der Kraftwagen hielt vor dem Harstschen Hause.

Die Freunde waren an das eine Fenster getreten …

Die Tüllstores deckten sie …

Sie sahen auf dem Rücksitz einen Herrn zusammengesunken lehnen – mit auf die Brust gesenktem Kopf.

Sahen, wie der Schofför sich umdrehte und den Herrn anrief …

Wie der Mann rasch aus dem Wagen sprang und den Herrn rüttelte – dann erschrocken zurückprallte …

Harst eilte schon aus dem Zimmer – in den Flur – in den Vorgarten …

Schraut folgte ihm …

Jetzt erkannten sie den Herrn im Auto …

Es war Felix Reutter, der Agent …

Und – er war tot …

Der entsetzte Schofför konnte kaum antworten, als Harst ihn ausfragte …

Sehr bald wußten die Freunde, daß Reutter und noch ein zweiter Herr das Auto in der Potsdamer Straße bestiegen hatten … wo der zweite Herr geblieben, konnte der Schofför nicht sagen … Er sprach lediglich die Vermutung aus, daß dieser Herr am Nollendorfplatz, wo es eine kurze Verkehrsstockung gegeben hatte, ausgestiegen sein müsse … –

Als Harst dann die Jacke Reutters etwas lüftete (eine Weste trug der Agent nicht), zeigte sich das bunte Oberhemd in der Herzgegend handgroß gerötet: Blut – frisches Blut … –

Felix Reutter war durch zwei Stiche mit einem schmalen Dolchmesser getötet worden …

 

6. Kapitel.

Wertpapiere.

Harst ließ den Schofför das Verdeck des Autos schließen.

Er und Schraut stiegen ein. Die Fahrt ging zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz …

Bereits zwei Stunden später war durch die Beamten der Mordkommission folgendes festgestellt worden:

Um drei Viertel zwölf war im Büro Reutters ein älterer schlanker Herr mit grauem Vollbart erschienen und hatte Reutter allein zu sprechen gewünscht. Beide waren in das kleine Hinterzimmer gegangen, dort etwa zehn Minuten, wie der bucklige Schreiber angab, geblieben und hatten dann gemeinsam das Büro verlassen, wobei Reutter dem Buckligen zurief, er würde erst nachmittags sich wieder einfinden.

Der Begleiter Reutters war derselbe Herr, der nachher, wahrscheinlich am Nollendorfplatz, aus dem Auto ausgestiegen sein mußte, nachdem er Reutter die beiden tödlichen Stiche versetzt hatte. – Im Auto war noch ein Zigarettenrest gefunden worden. Der Tabak war präpariert. Offenbar hatte der Fremde dem Agenten die Zigarette angeboten und ihn so betäubt … – Der Mörder wurde von dem buckligen Schreiber und dem Schofför gleichlautend beschrieben: etwas über Mittelgröße, hager, grauer Spitzbart, rotbraune Gesichtsfarbe, etwas dicke Nase und graue, scharfe Augen. Anzug dunkelblau, doppelreihig, schwarzer Selbstbinder, hellgrauer Filzhut. – Stimme tief und energisch, Haltung etwas vornübergebeugt. –

Harald Harst hatte aus verschiedenen Gründen vor der Kriminalpolizei die Angelegenheit „Schiffskiste“ verschwiegen und betont, daß auch er der Meinung sei, der Fremde habe Reutter unter dem Vorgeben, mit dem Agenten den Detektiv in der Blücherstraße aufsuchen zu wollen, aus dem Büro gelockt und dann ermordet. –

Um halb vier nachmittags waren die Freunde wieder in ihrem Heim angelangt … Beide müde, abgespannt und überhungert … Beide überzeugt, daß auch dieser Mord im offenen Auto irgendwie zu den bisherigen Ereignissen in allerengster Beziehung stände …

Schweigend nahmen sie ihre verspätete Mittagsmahlzeit ein. Harst grübelte beständig darüber nach, wer dieser Mörder sein könnte, der fraglos nach einem vorher genau überlegten Plane das Verbrechen begangen hatte.

Als die beiden Freunde dann in Harsts Arbeitszimmer die Verdauungszigarre rauchten, als nach den aufregenden letzten Stunden jene Stimmung sich einstellte, in der die Gedanken müde zerflattern, bevor sie noch vollendet sind, klopfte es zaghaft, und die alte Köchin des Hauses steckte ihren grauen, von einem Spitzenhäubchen gekrönten Kopf durch die Türspalte …

„Herr Tischlermeister Karsen ist da …,“ meldete sie mit der ihr eigenen vertraulichen Formlosigkeit. „Soll er reinkommen, Herr Harald?“

„Gewiß …“

Die Freunde schauten sich an …

Die Müdigkeit war wie weggewischt …

Gleichzeitig erhoben sie sich …

Legten die Zigarren weg …

Ahnten, daß noch etwas geschehen …

August Karsen erschien in der halb offenen Tür …

Vollkommen verstört … Das blasse Gesicht von Schweiß triefend … Tastend sich am Türpfosten haltend.

Harst trat rasch auf ihn zu, führte ihn zum Sessel.

„Schraut, einen Kognak für den Meister …“

August Karsen trank fast gierig … Leckte die Lippen … Gab sich förmlich einen Ruck …

Stieß hervor: „Miß … Miß Bessy ist … ist … entflohen …“

Dann holte er aus der Außentasche seiner leichten gelben Leinenjacke einen zerknitterten Zettel hervor …

„Das … das … hat sie … zurückgelassen, Herr Harst … Ich … ich … verstehe nichts … von alledem … gar nichts …“

Harst strich den Zettel glatt …

Schraut blickte ihm über die Schulter …

Da stand, – Bleistiftzeilen, flüchtig hingeworfen – stellenweise kaum leserlich:

„Lore, ich muß fliehen … Entsetzliches ist geschehen … Sei Du jedoch außer Sorge … Ich halte mein Versprechen … Halte Du auch das Deine und bedauere mich …! – Deine Bessy …“

Harst las nochmals, nickte leicht … Meinte: „Schraut, noch einen Kognak für den Meister … Er bekommt schon etwas Farbe … – Trinken Sie nur, lieber Herr Karsen, dieser alte Kognak ist Medizin für alles … – – So, und nun erzählen Sie bitte …“

August Karsen betupfte sich mit dem Taschentuche Stirn und Gesicht …

„Da gibt’s nicht viel zu erzählen, Herr Harst … Was ich weiß, ist mit ein paar Sätzen erledigt … – Miß Bessy wurde gegen Mittag telephonisch angerufen … Von wem, kann die Geheimrätin nicht sagen … Jedenfalls entfernte Miß Bessy sich dann in wilder Hast, kam nach etwa vierzig Minuten halbtot zurück, schrieb in ihrem Zimmer den Zettel, nahm ihre Handtasche und verließ ganz leise die Wohnung. Den Zettel hatte sie auf den Drücker von Lores Tür gelegt …“

Der Detektiv Harst nickte wieder … Sein Gesicht war konzentrierteste Anspannung aller Geistesfunktionen.

Und mehr wie zu sich selbst sagte er:

„Sie hat den toten Reutter hier vor dem Hause gesehen …“

Meister Karsen fuhr halb aus dem Sessel hoch …

„Wen … wen hat sie gesehen, Herr Harst?!“

„Felix Reutter … Er ist tot, Meister Karsen … Ermordet …“

Karsen sank mit einem Aufstöhnen zurück …

„Er…mor…det …?! Mein Gott – – weshalb denn?!“

„Wenn man das wüßte, Meister! – Bessy Lindsaer wollte zu mir – das ist wohl sicher … Der Mord wurde hier vor meiner Haustür entdeckt … Im offenen Auto lehnte der tote Reutter … Und Miß Bessy sah uns neben dem Auto, merkte, was geschehen, und … entfloh, weil sie den Mörder kennt und ihn schützen will …“

Karsen und Schraut machten recht verständnislose, ungläubige Gesichter …

Harst erklärte weiter: „Man geht wohl kaum fehl, wenn man annimmt, daß Miß Bessy von Reutters Büro aus angerufen wurde … aus dem kleinen Hinterzimmer, als der Mörder bei Reutter weilte … Und in diesem Telephongespräch wurde Miß Lindsaer hier zu mir bestellt … – Ihr Entsetzen und ihre Flucht wären nun unerklärlich, wenn sie den Mörder nicht kennen würde … Aber sie weiß eben, wer bei Reutter war, wer mit ihm im Auto zu mir wollte … Und deshalb – – verlor sie völlig die ruhige Überlegung … stürmte davon – – entfloh … – Ich werde sofort einmal Reutters Büro anrufen. Vielleicht ist der bucklige Schreiber dort … vielleicht …“

Und – Gustav Hocker, der Pflichtgetreue, war im Büro …

„Kommen Sie sofort her! Auf meine Kosten – Auto … Blücherstraße 10 … Sofort … Keine Widerrede … Schluß …“

Harst hängte ab …

„So, nun wollen wir uns bis zum Eintreffen Hockers ausruhen … Niemand spricht ein Wort … Hier eine Zigarre, Meister … Bitte … – Kein Wort, Schraut … Und wenn Hocker da ist: ich allein rede!“

Stille …

Draußen brütete die Julihitze über dem Häusermeer …

Hier im Zimmer war’s angenehm kühl …

Meister Karsen schaute sich um … Er hatte nichts Besseres zu tun als die tadellose Zigarre zu genießen und die Zimmereinrichtung zu bewundern …

Schraut putzte die Gläser seiner Hornbrille … Sehr langsam, tief in Gedanken …

Dann blickte er Harst bittend an …

Der lag in der einen Ecke des Klubsofas und schien zu schlafen …

„Harald …!“

Harst rührte sich nicht …

„Harald, wenn’s einer der fünf Matrosen gewesen ist …“

Da ruckte Harst hoch, öffnete die Augen …

Starrte Schraut ins Gesicht …

„Also auch Du …!“ meinte er nur und lehnte sich wieder zurück …

Stille wie vordem …

Die Zeit verrann … Bis draußen ein Auto nahte … hielt … – Schraut ließ den Buckligen ein …

Das arme Männlein hatte verweinte Augen … Reutter war stets gut zu ihm gewesen … Bei Felix Reutter hatte er seit zwei Jahren sein sicheres Brot gehabt …

Wie ein Häuflein Unglück klebte er in dem hochlehnigen Stuhl …

„Schraut, einen Kognak für Herrn Hocker … Und dann eine Zigarre … – Wir wollen uns hier in aller Freundschaft über Ihren toten Chef unterhalten, Herr Hocker … Trinken Sie und rauchen Sie … Und – seien Sie ehrlich … Vorhin, als die Kriminalpolizei Sie vernahm, waren Sie offenbar sehr zerstreut und haben mancherlei zu sagen vergessen … Was hier gesprochen wird, bleibt zunächst unter uns …“

Gustav Hocker lächelte traurig. „Es ist jetzt ja auch alles so gleichgültig, Herr Harst … Ich bin ohne Stellung … Ich werde elend hinterm Zaun verrecken … Wer nimmt heute einen Schreiber von fünfundfünfzig Jahren?! An mir … an mir liegt ja auch nichts, Herr Harst … Aber … aber … ich … habe …einen Hund … Und … das … das Tier ist mein einziger Freund …“

Er schluckte ein paar Tränen hinunter …

„Ich werde Ihnen eine neue Anstellung besorgen, Herr Hocker … Beruhigen Sie sich … Ich verlange nur eins: rückhaltlose Ehrlichkeit …“

„Bitte – fragen Sie, Herr Harst …“

„Glauben Sie, daß Ihr toter Chef wirklich Reutter hieß?“

Hocker erschrak sichtlich …

„Nein …,“ erwiderte er trotzdem ohne Zögern. „Als er vor zwei Jahren sein Büro eröffnete, sprach er recht gebrochen deutsch … Ich glaube, er war Amerikaner …“

„Dasselbe nehme ich an, Herr Hocker. – Was wissen Sie über Reutters Beziehungen zu dem Millionär Lindsaer in Chikago?“

„Fast nichts … Nur soviel, daß Reutter sehr bald nach Eröffnung seines Büros längere Zeit für Lindsaer nach Danzig reiste …“

„Nach Zoppot, meinen Sie …“

„Nein, nach Danzig …“

„Nun gut, – das ist in diesem Falle dasselbe … – Was können Sie mir über Reutters Einkünfte angeben? Erhielt er vielleicht regelmäßig Geld aus Amerika?“

„Ja – aus Neuyork von einer Bank – monatlich zweihundert Dollar …“

„Dachte ich mir … – Für Lindsaer ist Reutter seitdem nicht mehr tätig gewesen?“

„Nein …“

„Auch jetzt nicht?“

„Jetzt?! Meines Wissens nicht …“

„Sie kennen also Miß Bessy Lindsaer nicht?“

„Nein … Ich weiß nicht einmal, daß es eine Dame dieses Namens gibt …“

„Nun zu etwas anderem … – Der Herr, der heute mittag bei Reutter war, der Graubart, – hatten Sie den schon einmal gesehen?“

„Nein …“

„Aber hatten Sie nicht vielleicht das Gefühl, daß Reutter ihn kannte, obwohl er in Ihrer Gegenwart so tat, als wäre dies nicht der Fall …?“

„Ja, Herr Harst, – ich glaube auch, er kannte ihn … Zuerst war er ihm von Ansehen wohl fremd. Aber als er die Stimme hörte, da … da prallte er etwas zurück …“

„Was meinen Sie, Herr Hocker, – ob der Fremde, der Mörder wohl ein Seemann gewesen sein kann?“

Der Bucklige nickte eifrig … „Ja, Herr Harst, das kann schon sein … Jetzt, wo Sie mich auf diese Berufsart aufmerksam machen, fällt mir ein: der Herr hatte auch sehr sonnverbrannte Hände …“

„Und – ob der graue Bart echt war?“

Hocker machte eine zweifelnde Handbewegung … „Das kann ich nicht entscheiden, Herr Harst …“

„Und jetzt noch das Telephongespräch, Herr Hocker … Während der Fremde bei Reutter im Hinterzimmer war, hat entweder dieser oder der spätere Mörder eine Dame angerufen …“

Hocker nickte. „Ja – es wurde telephoniert … Ich mußte vorn im Büro umstöpseln …“

„Ob das Gespräch lange dauerte?“

„Immerhin eine ganze Weile … Ich weiß jedoch nicht, mit wem gesprochen wurde …“

Harst schwieg ein paar Minuten …

Dann: „Die Kriminalpolizei hat Sie gefragt, ob etwa zwischen Reutter und dem Fremden ein Wortwechsel stattfand, Herr Hocker. Sie haben dies weder verneint noch bejaht und erklärt, Sie wären gerade mit einem Kunden beschäftigt gewesen und hätten daher nicht hingehört, was im Hinterzimmer vorging … Vielleicht ist Ihr Gedächtnis jetzt besser …“

Der Bucklige errötete …

„Unter uns, Herr Harst: ich habe einiges gehört … Ja, die beiden stritten … Oder besser, der Fremde war sehr erregt, sprach sehr laut … Ich verstand trotzdem nur ein paar Worte … Es schien sich um Papiere, um Wertpapiere zu handeln … Reutter hatte diese anscheinend in Verwahrung, wollte sie aber nur in Zeugengegenwart dem Fremden aushändigen …“

„Wertpapiere? – Fiel dieser Ausdruck, Herr Hocker?“

„Nein, das nicht … Aber es können wohl nur Wertpapiere gemeint gewesen sein …“

„Und – was hatte es mit den Zeugen auf sich?“

„Reutter rief einmal – und das verstand ich genau: „Gut – aber nur in ihrer Gegenwart und im Beisein von einwandfreien Zeugen …““

„So – dann sollten wohl Schraut und ich diese Zeugen sein … Und „in ihrer Gegenwart“ – damit war eben die Dame gemeint … – Das Telephongespräch fand nach diesem Wortwechsel statt?“

„Ja …“

„Dann wissen wir abermals einiges mehr … – Wir danken Ihnen nun, Herr Hocker … Sie werden ja später diese Angaben vor der Polizei wiederholen müssen … Aus dem Widerspruch in Ihrer jetzigen und den früheren Aussagen wird Ihnen keinerlei Vorwurf gemacht werden. Dafür werde ich sorgen. – Haben Sie noch etwas zu bemerken?“

Der Bucklige hatte sich schon erhoben …

„Ja, Herr Harst, – ich möchte jetzt mit nichts mehr hinter dem Berge halten … Reutter war letztens verreist, angeblich nach Swinemünde. Er hat sich jedoch keine Post nachschicken lassen und mir auch seine dortige Adresse nicht angegeben. Ich erhielt von ihm lediglich eine Ansichtskarte aus Stettin von einem Ausflug. Außerdem – er … fürchtete die Kriminalpolizei … Ich sollte alle Kunden genau prüfen, ob nicht etwa ein Spion darunter sei …“

Harst reichte dem verwachsenen Männchen jetzt die Hand …

„Ich sehe, Sie sind ehrlich gewesen … Ich werde weiter für Sie sorgen, Herr Hocker … Auf Wiedersehen … Hier haben Sie zwanzig Mark – – Autoauslagen … Auf Wiedersehen …“

Gustav Hocker verließ das Harstsche Haus. Seine Rolle bei diesem Drama war hiermit erledigt. Er hat nachher noch jahrelang ebenso treu, fleißig und gewandt einen gut bezahlten Posten bei einer Holzfirma bekleidet, deren Inhaber ein Bekannter Harsts war.

 

7. Kapitel.

Die Flasche am Draht.

Der Detektiv Harst war nun wieder mit seinem Freunde Schraut und mit Meister Karsen allein …

„Lieber Herr Karsen,“ sagte er zu diesem mit seiner gewinnenden Herzlichkeit, „Sie haben hier soeben mit angehört, wie sich dieses Geheimnis abermals ein Stück weiter aus dem Dunkel herausgeschält hat … Ich möchte Hockers Angaben kurz dahin zusammenfassen, daß ich über die letzten Vorgänge in Verbindung mit den früheren Ereignissen folgendes unterstelle:

Der Millionär Thomas Lindsaer hat den Kapitän Grotjahn genau gekannt. Sie waren Feinde geworden, und Grotjahn hatte Wertpapiere im Besitz, die Thomas Lindsaer ihm auf rechtlichem und geradem Wege nicht abnehmen konnte. Mit diesen Papieren muß es eine ganz besondere Bewandtnis haben. – Lindsaer schickt dann vor zwei Jahren einen Vertrauten hier nach Berlin, der unter dem Namen Reutter eine kleine Agentur eröffnet, in Wahrheit aber lediglich als Aufpasser für Kapitän Grotjahn anzusehen ist. Reutter läßt Grotjahn durch ebenfalls zuverlässige Leute in Zoppot dauernd beobachten, versucht auch, die Matrosenkiste zu stehlen, die ein Geheimfach besitzt, in dem die Wertpapiere liegen … – Als Grotjahn erkrankt, kommt Bessy Lindsaer von Chikago nach Deutschland … Aber sie und Reutter haben Pech. Bessy erscheint zur Auktion zu spät. Deshalb stehlen sie die Kiste und nehmen Ihren Sohn gefangen. Um festzustellen, was hier in Berlin zur Wiederauffindung Ihres Sohnes getan wird, mietet Bessy sich bei Frau Markert ein. Lore erkrankt. Bessy packt die Reue. Sie beichtet Lore und hat ihr dabei fraglos versprochen, daß Peter in kurzem frei sein würde. Leider aber bekamen die Dinge da durch Reutters Treulosigkeit eine böse Wendung. Wahrscheinlich hatte Reutter die Wertpapiere in Verwahrung genommen. Einer der anderen Vertrauten der Lindsaers muß gemerkt haben, daß Reutter irgendwie Verrat plane. Er ging zu Reutter und verlangte die Herausgabe der Papiere. In Wahrheit hatte er bereits die Absicht, den nicht mehr zuverlässigen Agenten für immer stumm zu machen. Reutter schlug vor, die Papiere Miß Bessy in meiner und Schrauts Gegenwart zu übergeben. Die beiden fuhren im Auto zu mir, nachdem sie Miß Bessy telephonisch verständigt hatten, die ja auch sofort die Wohnung der Geheimrätin verließ. – Alles weitere ist bekannt, Meister Karsen … Und ich frage Sie nun, um die Sache rasch noch weiter fördern zu können: Wie hat Lore Bessys Flucht hingenommen? Können wir Lore sprechen?“

August Karsen schaute gedankenvoll vor sich hin … Meinte dann:

„Ja, das ist eben das Eigentümliche[8] bei alledem, Herr Harst: Zuerst war Lore über Miß Lindsaers Flucht sehr entsetzt. Sie beruhigte sich jedoch schnell … Der Zettel, den Bessy zurückgelassen, gab ihr offenbar Trost und Mut … Und wenn Sie Lore nicht gerade durch allzu viele Fragen aufregen, Herr Harst: ich glaube nicht, daß eine Unterredung ihr schaden kann … Nur … geben Sie sich keine Mühe, von ihr etwa zu erfahren, was Bessy ihr anvertraut hat … Sie kennen Lore nicht … Sie hat Bessy Stillschweigen gelobt, und das hält sie unter allen Umständen … Frau Markert, meine Frau und ich haben schon alles Mögliche versucht, das Kind zum Reden zu bringen … Sie hat immer nur den Kopf geschüttelt und leise gesagt, Bessy täte ihr unendlich leid und Peter würde schon wieder zu uns zurückkehren … – Nein, Herr Harst, mit Lore ist in dem Punkte nichts anzufangen … Da hilft kein Reden und Bitten … Und wenn ich als einfacher Mann mir dies alles so vor Augen halte, Herr Harst, dann … dann will’s mir gar nicht recht in den Sinn, daß es hier um Geld oder Geldeswert gehen sollte. Nein, in der Schiffskiste muß etwas anderes verborgen sein – gewesen sein …“

Harald Harst nickte. „Ja, Meister, das stimmt …! Auch ich habe diese „Wertpapiere“ nie für Geldwerte gehalten … Ihr Wert liegt auf anderem Gebiet – in der Vergangenheit zweier Männer: Lindsaers und Grotjahns! Das ist’s!! Grotjahn besaß Dokumente, die den Millionär bloßstellen, verderben konnten. Deshalb auch Thomas Lindsaers Bemühungen um diese Papiere …! Deshalb hat er auch seine Tochter ins Vertrauen gezogen … Es ging um die Ehre des Namens Lindsaer!!“

Und nach kurzer Pause:

„Wenn Lore schweigt, muß ich die Sache anders anpacken … – Entschuldigen Sie, Meister, daß ich Sie nun bitte, uns allein zu lassen … Ich will mir die Dinge nochmals gründlich überlegen …“ –

Als August Karsen gegangen, sagte Harst zu seinem Freunde:

„Also dann – nach Wannsee …! Ich behaupte, daß dort irgendwo das Versteck sich befindet, wo man Peter Karsen zurückhält und wo auch Bessy Lindsaer jetzt anzutreffen sein dürfte … – Verändern wir uns ein wenig, mein Alter … Seglerkostüm … Das dürfte das passende sein … Und beeilen wir uns … Ich will mit dieser Geschichte reinen Tisch machen …“ –

Ein Auto brachte die Freunde eine halbe Stunde später nach dem idyllischen Vorort.

Halb sechs war’s, als sie ihre Nachfragen bei den Bootsverleihern begannen. Harst war überzeugt, daß die Amerikaner hier ein Hausboot gemietet hatten, das ihnen ja die beste und einfachste Möglichkeit gab, sich von allen anderen Menschen unauffällig abzuschließen und sich am meisten zur Unterbringung eines Gefangenen eignete. Und Schraut hatte Harald Harst in dieser Frage durchaus beigepflichtet, da auch er dabei berücksichtigte, daß Bessy und Reutter sich schon zur Fahrt nach Zoppot einer Segeljacht bedient hatten …

Diese Nachforschungen hier in Wannsee hatten jedoch keinerlei Ergebnis … Hausboote gab es genug. Sie waren jedoch sämtlich an durchaus einwandfreie Berliner Familien vermietet.

Die Freunde nahmen daher ein Segelboot und waren gegen sieben Uhr in dem nahen Dorfe Cladow[9] am Havelufer. Hier in dieser beliebten Sommerfrische hatten sie mehr Glück. Der zweite Bootsverleiher, den sie vorsichtig ausfragten, wußte ihnen zu erzählen, daß der Fischer Guttjahr aus Cladow vor fünf Tagen sein Hausboot an ein paar Ausländer sehr günstig vermietet habe …

Es sei nur ein sehr schlichtes Wohnschiff, erklärte der Mann … Und es liege jetzt drüben nach der Pfaueninsel zu in einer kleinen Bucht … Die Amerikaner seien eifrige Angler … Und es seien Amerikaner … Er habe mit dem einen gesprochen … –

Vier Zigarren lohnten diese Auskunft, und das Segelboot der Freunde stieß wieder ab …

Bei ganz schwacher Brise trieb es langsam weiter …

Es konnte hier auf dem belebten Gewässer, wo gerade gegen Abend so viele Boote unterwegs waren, gar nicht auffallen …

Das Hausboot war bald gefunden …

Die beiden Detektive segelten in einiger Entfernung vorüber … Sahen, daß dieses Wohnschiff lediglich ein alter Prahm[10] war, auf dem man ein weiß und grün gestrichenes niederes Holzhäuschen errichtet hatte – mit kleinen blinkenden Fenstern – mit einer grün umrankten Laube vor dem Eingang … Behaglich und nett wirkte das Hausboot trotzdem … Und die beiden Herren in weißen Anzügen, die am Heck auf Klappstühlen saßen und angelten, schienen sich ebenfalls äußerst behaglich und zufrieden zu fühlen …

Schienen …

Als das Segelboot der Freunde eine Strecke entfernt war, sagte der Detektiv Harst zu Schraut mit ganz besonderer Betonung:

„Sie angeln, weil sie so am besten beobachten können … Es sind Wächter – nichts anderes … – Nun, wir haben Zeit … Auch heute wird es dunkel … Und die Dunkelheit war schon so oft unser Freund, mein Alter … Ein zuverlässiger Freund, der nicht plaudert, der seinen Mantel um Not, Elend und Gerechte und Ungerechte gleich schützend legt … – Wir werden an der Pfaueninsel wenden und an der anderen Seite nach Wannsee zurückkehren, zu Abend essen und um elf wiederkommen … – Oder nein, besser ist’s, wir landen in Cladow, schicken das Segelboot zurück und legen uns in den Wald am Buchtufer auf die Lauer … Vielleicht gibt es auch am Tage mancherlei zu beobachten … –“

Als Harst und Schraut eine halbe Stunde später, ausgerüstet mit einem Paket Eßwaren und zwei Flaschen Selterswasser, auf einem Waldwege sich jener Flußbucht näherten, – als zwischen den Bäumen hindurch das weiße Wohnschiff mit den grünen Zierstrichen friedlich draußen auf dem Wasser zu erkennen war, bemerkten sie auch fast gleichzeitig nach dem Ufer zu unter einem Erlengebüsch einen Stromer, der in aller Gemütsruhe soeben aus seinem Bündel ein halbes Brot und ein Ende Wurst hervorholte.

Der abgerissene, bejahrte Vagabund warf den beiden Herren einen prüfenden Blick zu und zog dann seinen schäbigen Filz und hielt ihnen diese fettige, löcherige Kopfbedeckung bittend hin … Dabei stieß er jene unartikulierten, Mitleid erregenden Töne aus, wie sie den Taubstummen eigen sind.

Schraut warf ihm ein Fünfzigpfennigstück zu …

Harst aber trat näher auf den Landstreicher zu …

Seine grauen Augen glitten über die zerlumpte Gestalt hin …

Dann reichte er dem Alten gleichfalls ein Geldstück.

Sah die Hand des Bettlers – ungepflegt, schmutzig, die Fingernägel schwarz und rissig …

Er war beruhigt … Sein nimmermüdes Mißtrauen hatte auch in diesem scheinbar so harmlosen Menschen einen Spion der Amerikaner gewittert. Aber – dieser Vagabund war echt …

Die beiden Detektive schritten weiter – bis hinter die nächste Bodenwelle, wo Erlengebüsch eine dichte Kulisse bildete.

Hier ließen sie sich nieder …

Der Wind hatte ein wenig aufgefrischt und führte ihnen vom Wasser her etwas Kühlung zu. Sie legten die Jacken ab und machten es sich bequem. Vom Hausboot aus waren sie kaum zu bemerken, während sie selbst es bequem im Auge behalten konnten. Der Lagerplatz war gut gewählt … –

Der Stromer drüben futterte noch immer und packte erst nach einer halben Stunde die Reste seiner Mahlzeit in das fettige Papier, schob dieses in das Bündel und schlenderte davon – den Weg entlang – kam an den beiden Herren vorüber, grüßte und verschwand unter den Bäumen …

Er beschleunigte nun seine Schritte, bog vom Wege ab, kehrte um und erreichte das Ufer an einer Stelle, wo er ringsum vom Buschwerk gedeckt war. Nur von dem Hausboot aus konnte er beobachtet werden.

Seltsam genug: einer der beiden übereifrigen Angler hatte ihn auch sofort erspäht …

Der Strolch schwenkte wie im Übermut seinen Filz und … bückte sich … Zwischen angetriebenen Zweigen und Schilfstücken lag da halb im Wasser eine mittelgroße Flasche – leer – mit neuem Kork … Aber das Eigenartige an dieser Flasche war, daß um ihren Hals ein dünner blanker Draht geschlungen war, der bis zum Wohnschiff hinüberlief. Und das noch Eigenartigere: der Vagabund nahm die Flasche, zog den Kork heraus, schob ein Blatt Papier hinein, drückte den Kork sehr fest in die Halsöffnung, richtete sich wieder auf und … schwenkte wiederum seine Hutruine, worauf er vom Ufer verschwand.

Die Flasche tauchte halb unter und trat die Fahrt zum Hausboote an, wo einer der Angler sie dann ganz unauffällig als „Fischlein“ emporhißte …

Er trug sie sofort in die Wohnkajüte, wo der Inhalt der Nachricht des Vagabunden allgemeine Bestürzung hervorrief.

Hier waren außer Miß Bessy Lindsaer und einem breitschultrigen jüngeren Manne mit typisch amerikanischem Gesicht noch Peter Karsen und der eine Angler anwesend.

Bessy las jetzt nochmals vor, was der Stromer auf den Zettel in tadellosem Englisch und flotter Handschrift geschrieben hatte:

„Zwei Herren mit falschen Bärten, ein größerer und ein kleinerer, etwas korpulenter, lagern in dem dichten Erlengebüsch links von der hohen krummen Kiefer. Ich vermute, daß es Harst und Schraut sind. Harst hat mich sehr scharf gemustert, besonders meine Hände, scheint aber keinen Verdacht geschöpft zu haben. Meine Maske hat sich wiederum bewährt. Die beiden haben es fraglos auf uns abgesehen. Ich würde vorschlagen, sie ohne brutales Zupacken an Bord zu schaffen. Wir müssen unbedingt bis morgen vormittag in allem freie Hand behalten, andernfalls setzen wir uns den allergrößten Unannehmlichkeiten aus. Um Mr. Karsen[11] nicht noch tiefer in die Sache mit hineinzuziehen, wäre es besser, wenn er sofort nach Eintritt der Dunkelheit das Hausboot verließe. Batson mag ihn etwas verkleiden und drüben ans Ufer rudern. – Falls Ihr einverstanden seid, mag Batson mit seiner Angelrute drei Kreise beschreiben. Ich helfe Euch dann bei der Überwältigung der beiden Herren, die ich weiter beobachten werde.“

Peter Karsen blickte Miß Lindsaer fragend an …

Ihm behagte dieser neue Gewaltstreich keineswegs.

Auch Bessy starrte unentschlossen vor sich hin …

Bis Batson, der Angler, achselzuckend meinte:

„Es hilft nichts, Miß Lindsaer … Wir müssen …! Wir werden im Guten niemals die beiden Detektive nach diesem unseligen Zwischenfall für unsere Sache gewinnen, zumal sich jetzt auch bereits die Kriminalpolizei eingemischt hat … Anderseits: wenn wir es wirklich mit Harst und Schraut zu tun haben, werden wir vor anderen Spionen sicher sein, denn die beiden arbeiten immer allein … Inzwischen wird dann vielleicht der Andere gefunden sein …“

Der breitschultrige Jüngere nahm nun Bessys Hand mit zärtlicher Nachsicht und sagte leise: „Mein armer Liebling, Du darfst nicht so verzagt sein … Haben wir die Sache so weit durchgefochten, werden wir auch noch das Letzte erreichen … – Höre auf Batson … Er hat Erfahrung in solchen Dingen …“

Peter Karsen beugte sich in seinem Rohrsessel etwas vor …

„Mr. Parlam,“ meinte er eindringlich, „ich rate entschieden ab … Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Rudern Sie mich so, wie ich bin, an Land und lassen Sie mich mit den beiden Herren sprechen. Ich bin ebenfalls überzeugt, daß es Harst und Schraut sind. Der eine größer, der andere korpulent: sie sind’s! – Die beiden kennen mich ja persönlich, wenn auch nur oberflächlich …“

Bessy hatte Tränen in den Augen …

„Mr. Karsen, dann … dann müßten Sie ja auch eingestehen, daß Sie die achtzehntausend Mark … verspielt haben …“

„Gewiß, Miß Lindsaer … Das tritt jetzt doch aber gegenüber der größeren Gefahr zurück … Wenn ich die beiden Herren überzeugen kann, daß auf unserer Seite nicht die Schuld liegt, haben wir zwei Verbündete, die …“

Bessy nickte eifrig …

„Ja – auch ich halte dies für die beste Lösung … Nur nicht nochmals irgend einen Gewaltstreich …!“

Parlam und Batson waren nun gleichfalls gewonnen.

Batson verließ den Wohnraum und machte draußen das kleine, an der Schiffstreppe vertäute Boot fertig.

 

8. Kapitel.

Eine Tragödie auf See.

Harst und Schraut hatten derweil mit ihren Ferngläsern das Hausboot unausgesetzt scharf bewacht.

Für zwei Leute von ihrer besonderen Eigenart waren selbst die gewiß recht geschickten Anordnungen der Amerikaner immer noch nicht schlau genug getroffen.

Harst merkte, daß der eine der Angler irgend etwas vom Ufer an das Wohnschiff heranzog. Dann bekam er auch für einen Augenblick die Flasche zu Gesicht …

Sofort legte er das Fernglas hin, flüsterte Schraut ein paar Worte zu und eilte im Walde von Baum zu Baum bis dorthin, woher seiner Schätzung nach die Flasche vom Ufer herangeholt worden war.

Er erblickte den Strolch, der soeben den Waldweg überquerte, und folgte ihm. – Der Stromer ahnte nicht, daß einer, der ihm in allem überlegen, hinter ihm her war. In weitem Bogen kroch er schließlich von Norden auf die Erlengebüsche zu und legte sich hinter ein paar Stauden Farnkraut, die ihn genügend schützten.

Er hatte hier kaum ein paar Minuten nach den Büschen drüben ausgelugt, als eine Stimme hinter ihm leise sagte:

„Was haben Sie Ihren Freunden mit Hilfe der Flasche gemeldet?!“

Der Stromer hatte gute Nerven, richtete sich halb auf und … starrte in die Mündung einer Repetierpistole …

„Verdammt!“

Das war alles, was er zunächst zu erwidern wußte.

„Wer sind Sie?“ fragte Harst ebenso ruhig …

Der Stromer stand auf …

„Ich glaube, es hat keinen Zweck mehr, hier Katz’ und Maus zu spielen, Mr. Harst,“ meinte er schlicht. „Sie sind doch Harald Harst?“

„Ja … Und Sie?!“

„William Bolley, Angestellter der Firma Anderson u. Wecley, Chikago …“

„Ah – Anderson u. Wecley, – also sind wir Kollegen, Mr. Bolley … – Kommen Sie zu unserem Lagerplatz. Ich möchte Sie aber bitten, nicht etwa Dummheiten zu machen … Vorläufig sind wir Gegner … – Bitte – Sie haben den Vortritt … Sie sehen ja Schrauts buntes Oberhemd durch die Büsche schimmern …“

William Bolley erwiderte nur:

„Stecken Sie das Schießeisen ein, Mr. Harst … Ich hoffe, daß wir uns verständigen werden …“

Und er schritt vorwärts, schlenkerte mit dem Bündel in der linken Hand und fügte mit halb zurückgewandtem Kopf hinzu:

„Ich möchte gleich bemerken, daß keiner von uns Felix Reutter ermordet hat, Mr. Harst, – was eigentlich selbstverständlich ist. Wir kennen den Mörder nicht.“

Harst trat neben ihn …

„Ist das wahr?“

Die beiden schauten sich in die Augen … William Bolley meinte ebenso gelassen wie bisher:

„Wenn wir wüßten, wer Reutter erstochen hat, würden wir viel darum geben … Denn der Mörder hat jetzt die Papiere … Und das ist für Thomas Lindsaer schlimmer, als ob Kapitän Grotjahn sie noch besäße, der übrigens ein ganz hartgesottener Lump war …“

Schraut erhob sich, als die beiden nahten …

Sagte hastig: „Soeben stößt das kleine Boot vom Wohnschiff ab … Und – – in dem Boot sitzt Peter Karsen … Ich habe ihn erkannt …“

Der amerikanische Detektiv, der Strolch, stellte sich Schraut vor …

„William Bolley, mein Name, Mr. Schraut … Und mit Mr. Peter Karsen hat das schon seine Richtigkeit … Er ist’s … Mithin haben die Herrschaften drüben meinen Vorschlag verworfen. Ich hatte Miß Lindsaer und ihrem Verlobten John Parlam geraten, Sie beide zu überfallen, damit wir Zeit gewännen, den Mörder Reutters entweder zu ermitteln oder zu fliehen. – Sie sehen, ich halte mit nichts mehr hinterm Berge …“

„Was nur richtig ist,“ meinte Harst und schaute durch die Zweige nach dem Boote aus. „Wer ist der andere, Mr. Bolley?“

„Das ist eben John Parlam, Mr. Harst, Sohn des zweitreichsten Mannes aus Chikago … Vielleicht gehen Sie den beiden bis ans Ufer entgegen … Oder besser: wir alle könnten zum Hausboot hinüber … Es muß jetzt ja doch allseits mit offenen Karten gespielt werden. In der Wohnkajüte ist es behaglicher als hier …“

„Sie gefallen mir, Mr. Bolley,“ nickte Harald Harst … – „Gut, also zum Ufer …!“ –

Und schon fünf Minuten drauf waren in der geräumigen Kajüte Spieler und Gegenspieler um den Tisch versammelt …

Da war das Brautpaar nebeneinander auf dem Rohrsofa. Da waren die drei Detektive von der Firma Anderson u. Wecley: der lange Batson, der mittelgroße Bolley und Ploogeest, der zweite Angler … Und als Hauptpersonen waren da: Peter Karsen, Harst und Schraut …!

Schließlich war noch etwas da – in Wahrheit der Mittelpunkt der ernsten Versammlung: auf dem Tische stand die geschnitzte alte Matrosenkiste Kapitän Grotjahns und erfüllte die Kajüte mit dem angenehmen Geruch, den Sandelholz nie verliert … –

Zuerst erzählte Peter Karsen …

Was er vorbrachte, war nur in einem Punkte für Harst eine Überraschung: der Verlust der achtzehntausend Mark in der Zoppoter Spielhölle …!

„… Ich nahm ein Boot,“ schloß Karsen seine Schilderung, „und ließ mich zur Jacht „Ellide“ hinüberrudern, wo man mich dann mit sanfter Gewalt zurückhielt. Den Fischer, der mich an Bord gebracht, schickte man einfach weg … bezahlte ihn und sagte, ich wolle erst später wieder an Land … So … hatte ich die Kiste und meine Freiheit verloren …“

Bessy Lindsaer begann nun, zuerst noch ein wenig befangen und unsicher, dann immer mehr in eine heilige Erregung geratend …

„Ich muß weit in die Vergangenheit zurückgreifen, damit Sie, Herr Harst, und Ihr Freund Schraut alles richtig verstehen und würdigen können. Ich werde nichts beschönigen … Vor Ihnen hätte das auch wenig Zweck … Sie würden die Wahrheit ja doch herausfühlen. – Mein Vater, geborener Rheinländer namens Lindner, wanderte im Jahre 1885 nach Amerika aus … Er, von Beruf Fleischer, hoffte drüben im Dollarlande als Fleischergeselle schnell reich werden zu können … Das hoffen ja alle, die aus Europa über den Ozean gehen – alle! Und die meisten müssen dann nur zu bald einsehen, daß auch in Amerika die Armen zahlreich wie der Sand am Meere sind … – Um die Unkosten der Überfahrt zu sparen, nahm mein Vater auf einem Frachtdampfer die Stelle eines Kochs an … Der Dampfer hieß „Sturmvogel“ und der jüngste Matrose an Bord war Heinrich Grotjahn – Heinrich Wilhelm Ernst Grotjahn … – Der „Sturmvogel“ war nach New Orleans bestimmt und hatte Maschinen geladen … Es wurde eine Unglücksfahrt … Kaum aus dem Kanal heraus, wurde der Dampfer durch einen Orkan viele Tage lang umhergeworfen, wurde leck geschlagen und hielt sich nur mit Hilfe der Pumpen mühsam über Wasser … Außerdem waren aber auch noch vier Mann der Besatzung, dazu der Kapitän und der Steuermann, über Bord gegangen, so daß der Rest von nur noch fünf Leuten ohne eigentliche Führung war … – Heinrich Grotjahn, trotz seiner Jugend ein Mensch von verblüffender brutaler Energie, riß das Kommando an sich und zwang die Heizer mit dem Revolver, vor den Kesseln auszuharren … – Der Sturm flaute ab … Der „Sturmvogel“ war zum Wrack geworden … Die Überlebenden kaum mehr Menschen vor Übermüdung und ausgestandener Todesangst … Und in dieser Stimmung inmitten der endlosen Wasserwüste machten sich die beiden Heizer und der Maschinist über die Alkoholvorräte her … Betranken sich bis zur Bewußtlosigkeit und lagen wie tot in ihren Kojen … – Grotjahn und mein Vater konnten allein die Feuer unter den Kesseln nicht unterhalten … Die Dampfpumpen arbeiteten nicht mehr … Das Wrack sank – nahm immer mehr Wasser … Nur noch ein Boot war vorhanden – das kleinste … Grotjahn und mein Vater verproviantierten es und trugen die drei Trunkenen hinein, stießen dann von dem Wracke ab und segelten nach Osten zu, weil sie so die englische Küste erreichen zu können hofften … Vier Tage ging alles gut. Der Maschinist und die beiden Heizer wollten jedoch nichts davon wissen, daß man mit den Lebensmitteln und dem Trinkwasser haushalte … Sie glaubten an keine Rettung mehr. Zum Unglück fanden sie dann noch die fünf Flaschen Rum, die mein Vater schon vorsichtshalber gut versteckt hatte. In kurzem waren die drei zu wilden Tieren geworden, eigneten sich mit Gewalt den kärglichen Rest des Proviants an und wollten ihn zusammen mit dem Alkohol zu einem letzten Gelage benutzen … Mein Vater und Grotjahn, die sich dem Hungertode ausgesetzt sahen, ließen es jetzt auf einen Kampf mit den drei Trunkenbolden ankommen … Heinrich Grotjahn wurde jedoch sofort mit einem Ruder niedergeschlagen, so daß mein Vater sich den dreien allein gegenübersah … Ohne Zögern schoß er mit seinem Revolver alle drei über den Haufen … Es war Notwehr – gewiß …! Aber – es war Notwehr ohne jeden Zeugen, denn Grotjahn lag bewußtlos vorn im Boot. Als er wieder zu sich kam, war er mit meinem Vater allein im kleinen Boot … Die drei Toten hatte mein Vater über Bord geworfen … – Acht Stunden später schon – Ironie des Schicksals! – nahm ein nach Neuyork bestimmter Passagierdampfer die beiden Schiffbrüchigen auf … Sie verschwiegen den Kampf mit den trunkenen Kameraden, behaupteten, daß nur sie beide sich von dem Wrack hätten retten können. So gaben sie es denn auch vor dem Seeamt in Neuyork zu Protokoll … – Nachher aber verlangte Grotjahn, daß über den wahren Hergang der Dinge ein Dokument aufgesetzt würde, das beide unterschreiben und von dem ein Duplikat angefertigt werden sollte, damit, wie Grotjahn betonte, jeder von ihnen sozusagen sich für alle Fälle den Rücken decke. – So geschah’s denn auch … Die Schicksalsgenossen trennten sich … Mein Vater arbeitete sich durch eisernen Fleiß und Glück empor, und auch Heinrich Grotjahn brachte es bis zum Kapitän … Dreißig Jahre waren inzwischen verflossen … Längst hatte mein Vater jene Aufzeichnungen, drei eng beschriebene Seiten, verbrannt. Für ihn war die Vergangenheit tot … – Da erhielt er einen Brief von Heinrich Grotjahn – den ersten Erpresserbrief. – Grotjahn hatte seine Adresse ermittelt und bat den einstigen Kameraden unter Hinweis auf das gemeinsame Geheimnis um eine Unterstützung … „… Du bist Millionär,“ schrieb er … „Ich krank und arm …“ – Und mein Vater sandte ihm nun jeden Monat hundert Dollar. Aber Grotjahn, eine neidzerfressene, niedere Seele, forderte immer mehr – forderte offenbar nur deshalb, um meinem Vater das Leben zu verbittern … – Schließlich wollte mein Vater der Sache ein Ende machen. Er wußte, daß Grotjahn eine Matrosenkiste damals besessen hatte, die im Boden ein Geheimfach hatte … Grotjahn erklärte nun in einem seiner niederträchtigen Briefe, daß das Dokument so gut versteckt sei, daß niemand es finden würde … – Offenbar hatte Grotjahn vergessen, daß mein Vater von der Existenz des Geheimfaches Kenntnis hatte …“

Hier unterbrach Harst die junge Amerikanerin …

„Alles weitere ist mir bekannt, Miß Lindsaer … Vater schickte Reutter nach Berlin, wollte das Dokument stehlen lassen … Reutter behielt Grotjahn ständig im Auge … Dann folgten die Ereignisse in Zoppot, dann die Vorgänge hier in Berlin … – Sie hatten Reutter das Dokument in Verwahrung gegeben …“

„Ja – weil er einen Stahlschrank besaß …“

„Und dann – kam Reutters Ermordung heute mittag – und Ihre Flucht … Sie flohen, weil Sie glaubten, daß vielleicht Ihr Verlobter Reutter ermordet hätte …“

„Ja … John traute Reutter nicht recht … – Reutter hieß tatsächlich so, wenn er auch in Amerika geboren war … John hat ihm nun offenbar unrecht getan … Weshalb der Fremde Reutter ermordet hat und ob es dem Fremden nur um das Dokument zu tun war, wissen wir nicht … Zwei von den Detektiven, die ich mit aus Chikago herübergebracht habe, suchen jetzt nach dem Mörder, der mit dem Dokument noch mehr Unheil anrichten kann, als es Grotjahn jemals getan …“ – Sie schaute Harst jetzt flehend an … Tränen schimmerten in ihren Augen … „Herr Harst, helfen Sie uns …! Vielleicht gelingt es Ihnen, den Mörder zu ermitteln … Es wäre doch entsetzlich, wenn der Name meines Vaters …“

Harst winkte ihr beruhigend zu …

„Eine Frage, Miß Lindsaer … Kennen Sie die Namen der beiden Heizer und des Maschinisten? War einer der drei verheiratet?“

„Ja – der Maschinist … Er hieß Kroppenletter … Die Heizer hießen Böhmer und Schwiedopp …“

„Danke, Miß Lindsaer … – Wir werden nun sofort nach Berlin zurückkehren … Sie, Herr Karsen, begleiten uns wohl … – Seien Sie guten Mutes, Miß Lindsaer … Vielleicht kann ich Ihnen morgen früh das Dokument übergeben …“

 

9. Kapitel.

Der Filmschauspieler.

Die drei Herren nahmen am Bahnhof Wannsee ein Auto und fuhren nach Berlin.

Peter Karsen befand sich in leicht begreiflicher Aufregung … Die Freude, Lore nun wiederzusehen, wurde nur durch die Furcht, ihr Gesundheitszustand könnte sich wieder verschlechtert haben, etwas getrübt … Denn des Spielverlustes in Zoppot wegen brauchte er sich keine Gedanken mehr zu machen … John Parlam, Bessys Verlobter, hatte ihm „als Schmerzensgeld“ einen Scheck über fünfzigtausend Mark in so liebenswürdiger Art aufgedrängt, daß er ihn nicht gut hatte ablehnen können … –

Zunächst schwiegen die drei Herren … Erst als das Auto den Vorort Zehlendorf passierte, fragte Karsen plötzlich:

„Verzeihen Sie, Herr Harst, – es schien mir, als ob Sie einen Zusammenhang zwischen der Ermordung Reutters und einem der drei durch Thomas Lindsaer erschossenen Seeleute vermuten? Die drei sind doch aber tot, und …“

„… tot, – gewiß, Herr Karsen. Aber Sie hörten ja, daß der Maschinist mit dem ungewöhnlichen Namen Kroppenletter verheiratet war. Seine Witwe hat damals natürlich das Protokoll über den Untergang des Dampfers und die Rettung Lindners und Grotjahns zugestellt erhalten … Falls der Maschinist Kinder hatte, mögen diese, die längst erwachsen sind, vielleicht irgendwie Interesse für die näheren Umstände des Todes ihres Vaters gehabt haben … Vielleicht ist eins dieser Kinder zu Grotjahn in Beziehungen getreten … Vielleicht hat Grotjahn Andeutungen gemacht, daß bei der Geschichte etwas herauszuholen sei … – Gewiß, das alles hängt noch völlig in der Luft … Aber in solchem Falle muß man eben jeder, auch der allergeringsten Möglichkeit nachgeben … Schraut und ich werden sofort daheim das Berliner Adreßbuch durchsehen. Wenn wir den Namen Kroppenletter finden, ist schon viel gewonnen – sehr viel …“ –

Das Auto hielt dann vor der Luitpoldstraße 19. Es war jetzt elf Uhr abends. Peter Karsen verabschiedete sich von den beiden Freunden und läutete den Hauswart heraus. Aber an der Markertschen Flurtür mußte er eine geraume Weile warten. Dann öffnete ihm die Geheimrätin, die jetzt durch die Sorge um Lore doch eine andere geworden. Herzlich begrüßte sie den Schwiegersohn, ohne über dessen plötzliches Wiederauftauchen erstaunt zu sein. Lore hatte ja immer wieder betont, daß Peter ihr bald zurückgegeben werden würde.

Und dann … lag Peter Karsen vor Lores Bett auf den Knien, hielt die Geliebte fest umschlungen …

Lore weinte nicht … Nein – in ihren Augen war nur das Leuchten einer übergroßen Seligkeit …

Die Geheimrätin ließ die beiden allein … Und Lores erste leise Frage galt dann Bessy Lindsaer …

„Peterle, ich weiß alles … Bessy hat mir nichts verschwiegen … – Weshalb ist Bessy geflohen? – Die Mama will nicht recht mit der Sprache heraus … Du kannst getrost sprechen, brauchst mich nicht mehr zu schonen … Jetzt, wo ich Dich wiederhabe, bin ich wieder ganz – ganz gesund …“ –

Während Lore nun von der Ermordung Reutters erfuhr, standen Harst und Schraut im Arbeitszimmer des berühmten Detektivs über den dicken Band des Adreßbuches gebeugt …

Lasen da:

Kroppenletter, Anna, Witwe, Näherin, Yorkstraße 109, Gartenhaus, 2 Treppen rechts.

Kroppenletter, Fritz, Filmschauspieler, ebenda.

Kroppenletter, Else, Verkäuferin, ebenda.

„Filmschauspieler – es genügt …!“ sagte der Detektiv Harst und klappte den Band zu. „Vorwärts – – zur Yorkstraße …! Herr Fritz Kroppenletter wird, falls nicht daheim, zu finden sein …“ –

Unten im Hause Yorkstraße 109 befand sich eine kleine Kneipe …

Hier erfuhren die beiden Freunde von dem Wirt so allerlei über den Filmschauspieler, der im übrigen nur Statist war. Allerlei – und nichts Gutes …

„Wenn die Herren den verbummelten Menschen sprechen wollen,“ meinte der Wirt, „dann gehen Sie nur nach dem Café Roland in der Hauptstraße in Schöneberg … Dort ist der Bursche um diese Zeit stets anzutreffen … Bei mir läßt er sich nicht mehr sehen – hat Schulden …“ –

Harst und Schraut betraten das Café. Der Wirt hatte ihnen Fritz Kroppenletter sehr genau beschrieben: sehr blaß, bartlos, lebhafte, durchdringende Augen, dünnes gescheiteltes blondes Haar, abstehende große Ohren …

Im Café Roland war es recht leer. An diesem warmen Sommerabend zogen die Gäste ein Gartenlokal vor.

Ein paar zweifelhafte Damen saßen mit ebenso zweifelhaften Kavalieren in den Nischen … Eine Kapelle, imitiert Jazzband, machte Lärm mit etwas Melodie …

Hinten neben dem Büfett spielten drei Leute Karten. Der eine war fraglos der Gesuchte.

Harst und Schraut nahmen vorn am Fenster Platz … Bestellten Fruchteis und Likör … Sie trugen noch ihre blonden Bärte und ihre Segleranzüge, fielen in diesem Milieu durch Solidität ein wenig auf …

Um Mitternacht verließen die drei Kartenspieler das Lokal. Kroppenletter verabschiedete sich vor der Tür und schritt die Hauptstraße nach rechts hinab … Er ging etwas vornübergebeugt, pfiff vergnügt vor sich hin …

An einem Briefkasten blieb er stehen, zog einen Brief aus der Tasche und las nochmals die Adresse …

Zwei Herren schlenderten an ihm vorbei … Der eine hatte etwas von der Adresse mit raschem Blick erhascht – ein Wort – dick unterstrichen:

Chikago“,

machte kurz kehrt, griff zu … Und der Brief war in seiner Hand …

Kroppenletter wollte sich mit einem heiseren Wutschrei auf den schlanken Blondbärtigen stürzen …

Prallte zurück …

Der Herr hatte ihm zugerufen:

„Harald Harst …!!“

Der Filmschauspieler zitterte … Sein Gesicht war geradezu entstellt vor Entsetzen …

„Kommen Sie!“ befahl Harst. „Schraut und ich nehmen Sie in die Mitte … – Wo haben Sie das Dokument, das Sie Ihrem Opfer aus der Tasche zogen?“

Fritz Kroppenletter ließ alles mit sich geschehen … Schwankend wie ein Trunkener schritt er zwischen den Freunden dahin …

Die bogen in die stillere Grunewaldstraße ein …

„Wo haben Sie das Dokument?“ fragte Harst nochmals …

„Schonen … Sie … mich …,“ wimmerte der elende Mensch … „Ich … ich … will nicht wieder in eine … Irrenanstalt … Ich … soll … geistig minderwertig sein …“

Sein Schluchzen klang wie das eines unartigen Kindes …

Harst musterte ihn scharf …

„Sie waren also schon einmal in einer Irrenanstalt?“ meinte er weniger schroff …

„Ja – ein ganzes Jahr … Aber ich bin gesund … Nur der Neid meiner Kollegen versperrt mir den Weg zum Ruhme … Ich werde jetzt eine eigene Filmfabrik gründen und meine selbstgedichteten Filme drehen lassen …“ Er reckte sich höher, begann in endlosen Phrasen seine Künstlerschaft zu rühmen …

„Wo ist das Dokument?“ unterbrach Harst ihn schließlich … „Sie brauchen es ja nicht mehr, Herr Kroppenletter … Ein Genie wie Sie hat es nicht nötig, von dem Millionär Lindsaer Geld zu erpressen … Das ist Ihrer unwürdig …“

Kroppenletter blieb stehen … „Sie haben recht, Herr Harst …!“ Und mit theatralischer Bewegung zog er aus der Innentasche seiner Weste einen zerknitterten Briefumschlag hervor …

„Hier – bitte …!! – Man kann mir des Mordes wegen nichts anhaben! Wir Künstler sind nicht den trockenen Strafrechtsparagraphen unterworfen … Wir haben unser eigenes Recht …!“

Schraut und Harst tauschten einen Blick … Der Mann war geisteskrank – keine Frage …

„Ich danke Ihnen, Herr Kroppenletter,“ meinte Harst, nachdem er sich überzeugt hatte, daß der Umschlag die Aufzeichnungen wirklich enthielt … „Woher kannten Sie Reutter?“

„Kapitän Grotjahn hatte mich auf ihn aufmerksam gemacht, hatte an mich geschrieben – vor einem Monat – von seinem Krankenbett … Ich solle mich an Reutter wenden, falls er stürbe … Dabei sei Geld zu verdienen … Es gäbe da Papiere, die der Millionär Lindsaer in Chikago teuer bezahlen würde … Dreimal war ich verkleidet bei Reutter … Immer in derselben Maske … Reutter ahnte nicht, wer ich war … Reutter fürchtete mich … Gestern verlangte ich die Papiere von ihm – auf gut Glück … Wußte gar nicht, daß er sie hatte … Er verriet sich … Und dann sollte er sie mir in Ihrer Gegenwart aushändigen …“ – Er plapperte wie ein Kind … Seine Augen strahlten vor Triumph …

Ein Zufall dann, daß gerade zwei Schupobeamte vorüberkamen. Harst winkte sie herbei … Kaum hat Kroppenletter aber die Uniformen erkannt, als er Schraut beiseite stieß und davonrannte … blindlings – – gerade in eine in voller Fahrt befindliche Straßenbahn hinein …

Zu spät bremste der Führer … Die Räder waren Kroppenletter über die Brust gegangen. Er war tot. –

Für die große Menge ist weder Peter Karsens Verschwinden noch Reutters Ermordung aufgeklärt worden. Die Öffentlichkeit mußte sich mit folgender Zeitungsmeldung begnügen, die am nächsten Tage ziemlich gleichlautend in allen Blättern erschien:

„Der Bankprokurist Peter Karsen, der in Zoppot verschwunden war, hat sich wiedergefunden. Der Verlust einer größeren Summe in dem Zoppoter Kasino hatte seine Nerven derart überreizt, daß er ziel- und planlos umhergeirrt war. – Auch die Ermordung des Agenten Reutter ist nun restlos aufgeklärt. Der Mörder ist ein geisteskranker Filmstatist namens Fritz Kroppenletter, der anscheinend von Reutter Geld erpressen wollte. In der verflossenen Nacht wurde Kroppenletter, als er sich seiner Verhaftung durch Flucht entziehen wollte, von einer Straßenbahn überfahren und starb sofort.“

– Als die Abendzeitungen dies ihren Lesern zu berichten wußten, waren auf dem Hausboot in der Havelbucht bei Cladow in der Wohnkajüte alle die versammelt, denen das Schicksal bei der Tragödie der Matrosenkiste Kapitän Grotjahns eine Rolle zugewiesen hatte. Auch Lore Markert fehlte nicht …

Auf dem Tische stand wieder die Sandelholzkiste.

Und über diesem geschnitzten duftenden Kasten verbrannte der Detektiv Harst unter tiefem Schweigen der Anwesenden die vier Papierblätter des unheilvollen Dokuments …

Als nur noch ein Häuflein Asche davon übrig war, konnte auch Thomas Lindsaers Vergangenheit als endgültig begraben gelten … –

Die Sandelholzkiste steht in Harsts Bibliothek unter dem einen Fenster …

Wenn das Ehepaar Peter Karsen zuweilen zum Plauderstündchen sich Blücherstraße Nr. 10 einfindet, dann geht Frau Lore regelmäßig in die Bibliothek und schaut sinnend auf die geschnitzte Kiste hinab …

Gerade für glückliche Menschen ist es mitunter nur gut, sich an trübe Stunden zu erinnern. Das gibt die Kraft, das eigene Glück nicht zu überschätzen und es in dem wechselvollen Auf und Ab dieses neidischen Daseins doppelt festzuhalten …

 

 

Anmerkungen:

  1. Doppeltes Wort „für“ entfernt.
  2. In der Vorlage steht: „taten nähe“.
  3. In der Vorlage steht: „ihre“.
  4. In der Vorlage steht: „setze“.
  5. In der Vorlage steht: „Abendbrod“.
  6. In der Vorlage steht: „daß“.
  7. In der Vorlage steht: „Lindstaer“.
  8. In der Vorlage steht: „Eigentümlich“.
  9. Sehr alte Schreibweise für Kladow, einem Ortsteil vom Bezirk Spandau.
  10. Ursprünglich eine flache Fähre (Prahmfähre) zum Übersetzen von Menschen, Vieh und Wagen; eines der kleinsten Schiffe, das Waren transportierte.
  11. In der Vorlage steht: „Karsten“.