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Der Kirchhof von Lanken

 

 

Walther Kabel

 

Der Kirchhof von Lanken.

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der Dritte …

Der klare, windstille Junimorgen goß all seine Schönheit über Meer und Strand … Die Dünen leuchteten förmlich, das junge Grün der Gärten des Badeortes Karsien jauchzte der strahlenden Sonne förmlich entgegen …

Gerda Gaard trat auf die Terrasse hinaus und stützte die Hände leicht auf die Steinbrüstung. Andächtig schaute sie über die flimmernde See hin, wo in der Ferne die weißen Segel der Fischerkutter wie tief ziehende Wölkchen zu schweben schienen … –

Die blaue große Wirtschaftsschürze kleidete Gerda Gaard besser als ein prächtiges Festgewand. In diesem ernsten, stillen Mädchengesicht mit dem herben Zug um den Mund waren Charakter und Seele ausgeprägt … In diesen graublauen klaren Augen lag nichts von der verdorbenen Eitelkeit und Gefallsucht der Großstadtjugend.

Gerda Gaards Leben war seit dem fünfzehnten Jahre nur Pflichterfüllung und Arbeit … Einziges Kind einer Witwe, die sich durch ihr kleines Pensionat hier in Karsien schlecht und recht durchschlug, wußte sie wenig von der Schlechtigkeit der großen Welt da draußen. Was sie hiervon während der Saison beobachten konnten hatte ihre Seele noch verschlossener gemacht. –

Sieben Uhr morgens war es jetzt … Um halb neun mußte das Frühstück für die Gäste in der Glasveranda bereitstehen. Die Pension Glückauf war schon jetzt am zehnten Juni vollbesetzt. Es gab in Karsien kein Fremdenheim, das so feste, treue Besucher besaß wie das Haus Glückauf. Nirgends wurde man so gut verpflegt, nirgends wurde man so wenig übervorteilt wie bei Frau Anna Gaard … – Oder nein: im Glückauf wurde man überhaupt nicht übervorteilt! Die Preise waren eben nicht niedrig. Dafür brauchte man aber auch nichts während der Sommerfrische zu entbehren … nichts! –

Gerda wandte sich langsam um … Frau Gaard war in der offenen Flügeltür erschienen …

Rundlich, klein, blitzsauber wie ihr Haus – blanke, kluge Augen in einem feinen gütigen Gesicht …

Und doch lag heute eine dunkle Wolke auf der faltenlosen Stirn Frau Anna Gaards …

Sie schaute ihre Einzige an, nickte …

„Was tun wir nur, Kind …?!“ meinte sie leise … „Herr Löbel ist nun der dritte in einem Monat …“

Gerda nickte ebenfalls …

„Es … muß ja ein Zufall sein, Mama …“

„Dreimal dasselbe – und Zufall?!“ Frau Gaard seufzte und zog einen Brief aus der Tasche, den sie gestern abend aus dem nahen Swinemünde erhalten hatte …

„Ich habe die Handschrift mit der im Fremdenbuch verglichen, Kind … Es ist fraglos Löbels Handschrift … Und doch – – dreimal genau dasselbe … Ich begreife das nicht …“

Sie wurde leicht erregt … „Und dann, Kind, vergiß nicht, daß Herrn Münzers und Frau Meierfelds Verwandte sich mit unserer Auskunft nicht zufrieden gegeben haben …!“

Sie faltete den Brief auseinander, überflog ihn nochmals …

Geehrte Frau Gaard,

ich habe mich plötzlich entschlossen, abzureisen. Anbei hundertzwanzig Mark für die noch fehlende Woche. Schicken Sie bitte meinen Koffer und meine sonstigen Sachen an meine Berliner Adresse. – Indem ich Ihnen versichere, daß ich mich bei Ihnen überaus wohl gefühlt habe, bin ich Ihr

ergebener

Fritz Löbel,

Bankdirektor.

Für Portoauslagen und Trinkgelder füge ich noch dreißig Mark diesem eingeschriebenen Briefe bei.

Wieder seufzte Frau Anna …

„Ach, Kind, – es ist fast derselbe Inhalt wie der in den Briefen Herrn Münzers und der Frau Meierfeld … Bedenke, dreimal dasselbe Unerklärliche … Die Gäste reisen ganz unerwartet ab, lassen sich ihre Sachen nachschicken … Und es unterliegt doch keinem Zweifel mehr, daß Herr Münzer nicht in Stettin und Frau Meierfeld nicht in Berlin eingetroffen sind … Weshalb sonst diese merkwürdig vorsichtigen Nachfragen der Polizei?! Unser Glückauf wird noch in Verruf kommen …! Wenn die anderen Gäste heute nun hören, daß der Herr Bankdirektor …“

Sie schwieg …

Gerda hatte ihr warnend zugewinkt …

In der Tür, die aus der Vorhalle auf die Terrasse führte, war ein kleiner alter Herr erschienen, blinzelte durch die Brillengläser in das grelle Licht des Junimorgens, erkannte dann Mutter und Tochter und zog grüßend den großen brauen Schlapphut …

„Ich wünsche einen gesegneten guten Morgen …,“ sagte er langsam nähertretend …

Frau Anna schob schnell den Brief in die Tasche …

„Guten Morgen, Herr Doktor …,“ erwiderte sie freundlich seinen Gruß. Und auch Gerda nickte dem alten Männchen vertraulich zu … –

Doktor Herbert Siegmar wohnte seit vier Wochen im Glückauf, hatte das kleinste Zimmer hinten im Anbau inne und war zum ersten Male in Karsien, machte niemandem gegenüber ein Hehl daraus daß er sich seit Jahren zum ersten Male eine Badereise leisten konnte. Er war Privatgelehrter, Botaniker … Seinen Lebensunterhalt verdiente er durch etwas Schriftstellern und die Herstellung von Herbarien, die er mit ebenso viel Sauberkeit und Sachkunde anlegte und an Schulen und Privatpersonen verkaufte …

Hier im Glückauf erfreute der wunderliche Alte sich allgemeiner Beliebtheit. Er war vielseitig gebildet, hatte große Reisen in früheren Jahren unternommen und wohl auch viel Trauriges erlebt …

„Jetzt kommt also mein Morgenspaziergang an die Reihe,“ sagte er mit seinem verträumten, bescheidenen Lächeln zu den beiden Damen … „Sollte Herr Löbel nach mir fragen – ich warte auf ihn unten am Strande … Er scheint heute unpünktlich zu sein … – Auf Wiedersehen, meine Damen …“

Und mit trippelnden Schritten ging er davon, überquerte die Strandpromenade und verschwand in den Dünen …

Mutter und Tochter blickten ihm nach …

„Mein Gott!“ rief Frau Gaard aufstöhnend … „Doktor Siegmar wird Herrn Löbel zuerst vermissen … Schon gestern abend bei Tisch fragte er nach ihm … – Kind, ob wir den Doktor nicht am besten ins Vertrauen ziehen …? – Ja – ja, wir tun’s … Laufe ihm nach … Rasch … Nimm hier den Brief mit … Frage ihn, ob wir nicht dem Amtsvorsteher melden sollen, daß …“

Gerda eilte schon die Treppe hinab … Prallte auf der Strandpromenade fast mit einem kleinen Manne zusammen, der in jeder Hand einen Koffer trug …

Sie lief durch ein kleines Dünental … Nun lag der flache Strandstreifen zu ihren Füßen …

Sie stand still …

Von Doktor Siegmar war nichts mehr zu erspähen.

Merkwürdig war das …

Ob er sich etwa dort am Ufer hinter einen der aufs Trockene gezogenen Fischerkutter gesetzt hatte?!

Und Gerda hastete weiter …

Wandte sich um …

Ah – dort rechts in den Dünen stand der alte Herr, sprach mit einer Dame …

Gerda hatte gute Augen …

Die hellgekleidete Frau dort war ja die Malerin, die sich in diesem Frühjahr hier ein Häuschen erworben hatte … –

Gerda wartete … Die Malerin verabschiedete sich von Siegmar, der jetzt zum Strande hinabkam. Gerda ging ihm entgegen …

„Ah – Sie sind’s, Fräulein Gerda,“ meinte er, als sie dicht vor ihm stand … „Schickt Löbel Sie etwa her …? Will er auf den Morgenspaziergang ganz verzichten?!“

Gerda schaute ihn hilflos an …

„Herr … Herr Direktor Löbel … ist abgereist …“ – Es wollte ihr gar nicht über die Lippen …

Der alte Herr zog die grauen buschigen Augenbrauen hoch …

„Abgereist?! Das … kann wohl nicht stimmen, Fräulein Gerda … Als er gestern nachmittag nach Swinemünde wanderte – mir ist diese Fußtour ja leider zu weit –, hat er mir gegenüber auch nicht mit einer Silbe geäußert, daß er seinen Aufenthalt hier vorzeitig beenden wolle. Nein, er …“

Gerda Gaard unterbrach ihn. Sie hatte nun auch die letzte Scheu überwunden, den allzeit liebenswürdigen Gelehrten in alles einzuweihen, und es entsprach durchaus ihrem Charakter, daß sie ihrer Mutter und ihre eigenen Sorgen und Gedanken jetzt in ruhiger, klarer Weise vorbrachte.

Doktor Herbert Siegmar hörte still und aufmerksam zu, nahm den Brief Löbels, las ihn und erklärte:

„Ich werde Sie zum Amtsvorsteher begleiten, Fräulein Gerda … Sie müssen auch ihm die Angelegenheit vortragen. Er ist hier für Karsien Polizeibehörde. Kommen Sie, Fräulein Gerda …“

Sie schritten der Strandpromenade zu, kamen dann an der Pension Glückauf vorüber … Gerda sah, daß in der Vorhalle der Mann mit den zwei Koffern stand, dem sie vorhin begegnet war. Also offenbar ein neuer Gast, der mit dem Frühzuge eingetroffen sein mußte. –

Amtsvorsteher Weichbrand saß in der Laube seines Häuschens beim Frühstück …

Der Doktor war ihm bereits persönlich bekannt … Und Gerda Gaard war sogar sein erklärter Liebling …

„Na, Deern, wat gefft’s?“ fragte er in gemütlichem Platt … – „Morgen auch, Herr Doktor … Sie machen ja so’n verdammt offizielles Gesicht … Wo drückt der Schuh? – Nehmen Sie Platz … Meine Frau ist schon wieder beim Reinemachen … Unsere Sommergäste kommen heute abend, der Regierungsrat … Wohnen schon zum vierten Male bei uns …“

Doktor Siegmar erzählte …

Der Amtsvorsteher stutzte …

„Dunner und Dübel!“ entfuhr es ihm. „Dat wär’ nu also Nummer drei! ’n beeten veel for’n harmlosen Mienschen!“

Und dann wurde er dienstlich legte seinerseits los.

„Also, Herr Doktor, – und auch Sie, Gerdachen, – damit Sie’s wissen und ganz im Vertrauen: die Berliner Kriminalpolizei ist bereits scharf dahinter! Aber kein Sterbenswörtchen zu irgendeinem, Deern …! Auch nicht zur Mutter … Euer Gast, der vorige Woche eintraf, der Herr Oberingenieur Knobel, ist ein Berliner Kriminalkommissar …!“

Gerda errötete jäh und schaute zur Seite …

Ernst Knobel ein Beamter …!! – Oh – das hatte ihr einen leichten Stich durch das unberührte Herz versetzt …!

„Herrschaften, daß Ihr mich aber ja nicht verratet!“ flüsterte Weichbrand aufgeregt. „Ich glaube nämlich, der Kommissar Doktor Tegtmüller – so heißt er eigentlich – kann verflucht eklig werden … Er bearbeitet beide Fälle – den des Herrn Münzer und den der Witwe Meierfeld … Beide sind ja spurlos futsch – spurlos … Und mit ihnen ihr Geld und ihre Wertsachen … Und die waren nicht von ohne, die Juwelen der Meierfeld … Auch Münzer soll gegen zehntausend Mark bei sich gehabt haben … – – So, jetzt rede ich als Amtsvorsteher … Bitte, begleiten Sie mich in mein Büro … Ich will ein Protokoll aufnehmen … Alles muß seine Ordnung haben …“ –

In dem Protokoll wurde auf Doktor Herbert Siegmars Bitte auch mit angeführt, daß Bankdirektor Löbel gestern dem Doktor gegenüber erklärt habe, er hätte nachmittags in Swinemünde eine Zusammenkunft mit einem Bekannten.

„Dieser Bekannte wird sich finden lassen …,“ meinte der alte Gelehrte und unterzeichnete das Protokoll mit seiner zierlichen Handschrift.

 

2. Kapitel.

Enttäuschte Liebe …

Der Mann mit den beiden Koffern hatte sich der Inhaberin des Glückauf als Johann Schrimmke, Diener des Rittergutsbesitzers Baron von Gerlenstein, Gerlenhof bei Frankfurt an der Oder, vorgestellt …

Hatte ein mächtig enttäuschtes Gesicht gemacht, als Frau Anna Gaard ihm bedeutete, es sei zur Zeit nur ein einziges Zimmer frei, das aber auch erst in Ordnung gebracht werden müsse.

Der Diener, der eine unauffällige dunkelblaue Livree trug und in allem das ruhige, sichere Benehmen eines tadellos geschulten Bediensteten besaß, wünschte das Zimmer zu sehen.

Es gefiel ihm. Es war groß und dreifenstrig, lag im Hochparterre und hatte eine Veranda mit Seeaussicht.

„Und wo könnte ich untergebracht werden, Frau Gaard?“ fragte er dann.

„Wenn Sie mit einer schmalen Kammer zufrieden sind, Herr Schrimmke, gleich nebenan … Es ist eigentlich die Besenkammer. Es geht gerade ein Bett und ein Waschtisch hinein.“

Johann Schrimmke war zufrieden, zahlte den Pensionspreis für seinen Herrn und sich für eine Woche voraus und erklärte, der Herr Baron würde wohl so gegen zehn Uhr eintreffen, da er sofort vom Bahnhof baden gegangen sei. –

Unter den achtzehn Logiergästen des Glückauf, die auch dieses Jahr wie stets eine große Familie bildeten, sprachen sich die beiden Neuigkeiten schnell herum: die Abreise des Bankdirektors Löbel und die Ankunft des Rittergutsbesitzers!

Die bisher einzige Adlige des Kreises, die verwitwete Frau Generalleutnant Exzellenz von Galdau nebst Töchtern Emmelinde und Astrid, hielt es für angebracht, draußen auf der Terrasse Platz zu nehmen, um den neuen Standesgenossen sofort beäugen zu können.

Kurz nach zehn Uhr eilte Johann, der schon vor dem Hause aufgepaßt hatte, einem schlanken Herrn mit starkem blonden Schnurrbart entgegen und nahm ihm Reisetasche, Mantel und Schirm ab … –

Baron von Gerlenstein war der Typ des Feudal-Agrariers … Sein schmales, gebräuntes Gesicht hätte auch ohne das wie eingemauert sitzende Monokel leicht blasiert und stark hochmütig und ablehnend ausgesehen.

Die Galdauschen Damen grüßte er durch eine Verbeugung, die genau die Grenze zwischen Liebenswürdigkeit und Durchschnittshöflichkeit einhielt.

Genau so stellte er sich Frau Gaard und Gerda vor … Er hatte eine ganz bestimmte Art, zwischen sich und allen anderen Menschen eine unsichtbare Scheidewand zu errichten. Der brave Johann bekam einen gelinden Anpfiff, weil nur ein Zimmer vorhanden, und zu Frau Gaard sagte er, er wünsche, daß das Zimmer auf seine Kosten durch einen Vorhang geteilt würde, damit Bett, Waschtisch und Spiegelschrank verdeckt würden …

Um ein Uhr an der gemeinsamen Tafel saß er zwischen Exzellenz Galdau und Ministerialdirektor Schmidt, war recht zugeknöpft und machte sich so nach Kräften unbeliebt …

Nachmittags mußte Johann einen Strandkorb besorgen, einen hohen Wall aufschaufeln und einen ganzen Arm Bücher aus der Leihbibliothek holen – alles leichteste Lektüre …

Jedenfalls gab Exzellenz Galdau sehr bald alle Hoffnungen auf, Emmelinde oder Astrid hier an den Mann zu bringen, und riet ihren Töchtern, dem Oberingenieur Knobel (ein Name, der ihr kaum über die Zunge wollte), als dem abermals einzigen Jagdobjekt die nötige Beachtung zu schenken. –

Inzwischen hatte der Amtsvorsteher Weichbrand längst den Herrn Knobel unauffällig zu sich gebeten gehabt, und bei einer Zigarre hatten die Herren den neuen „Fall“ nach allen Seiten hin erörtert, wobei der verkappte Kriminalkommissar betont hatte, daß seiner Überzeugung nach nun auch Herr Bankdirektor Löbel in eine Falle gelockt, getötet, beraubt und irgendwo verscharrt worden sei …

Was er mit einer so kühlen Sachlichkeit erklärte, daß Weichbrand nachher seiner Frau gegenüber äußerte, der Berliner scheine zwischen Menschen- und Wanzenleben nicht viel Unterschied zu machen … –

Bis zu einem bestimmten Grade hatte er in dieser Beziehung recht, denn Doktor Tegtmüller, die Perle der Berliner Kommissare für Kapitalverbrechen, hatte in seinem Berufsleben bereits mit so zahlreichen geheimnisvollen Mordtaten zu tun gehabt, daß er unmöglich noch mit wärmerem menschlichen Empfinden seine aufreibende und gefahrvolle Tätigkeit ausüben konnte.

Wenn aber der brave Amtsvorsteher glaubte, daß Doktor Tegtmüller ihn in alles restlos eingeweiht habe, so befand er sich in einem bösen Irrtum.

Nein, Tegtmüller-Knobel war hier in Karsien gleich mit drei seiner besten Leute eingerückt, die wie er unter harmlosen Masken in den benachbarten Pensionaten wohnten und mit denen er vormittags im Familienbad und abends irgendwo in den Dünen unbemerkt zusammenkam und Beratung abhielt.

Neun Tage war Doktor Tegtmüller jetzt bereits mit seinen Beamten auf der Lauer, aber der Erfolg war gleich Null geblieben. Und jetzt: Opfer Nummer drei!! Denn daß Bankdirektor Löbel das unbekannte Schicksal des Kaufmanns Münzer und der reichen Witwe Meierfeld geteilt habe, war nach der telephonischen Anfrage in Berlin nicht mehr anzuzweifeln: Direktor Löbel war dort in seiner Wohnung bisher nicht eingetroffen!

So standen die Dinge an diesem zehnten Juni.

Tegtmüller war miserabler Laune. Selbst ein Spaziergang mit Gerda am Strande entlang zum Buchenberg verlief zur beiderseitigen Unzufriedenheit, ganz im Gegensatz zu gestern, wo die beiden jungen Menschenkinder so harmlos und vergnügt miteinander geplaudert und sehr wohl heimlich bemerkt hatten, daß eins dem andern nicht so ganz gleichgültig war.

Heute aber an diesem Unglückstage konnte Gerda Gaard den Gedanken nicht loswerden, daß Herr „Knobel“ sie nur deshalb vor den Galdauschen Damen bevorzuge, weil er sie vielleicht aushorchen wolle. Sie blieb still und einsilbig … Und Herr „Knobel“ wieder, der den Grund dieser Veränderung nicht kannte, reimte sich unwillkürlich Falsches zusammen und glaubte, Fräulein Gaard habe irgendwie ein schlechtes Gewissen – irgendwie …

So näherte sich das Paar denn wieder in recht zwiespältiger Stimmung den ersten Villen von Karsien, als Doktor Tegtmüller-Knobel kurz entschlossen stehen blieb und Gerda fest anschaute …

„Sie sind heute so anders, Fräulein Gaard,“ sagte er ehrlich. „Was bedrückt Sie?! Ist es die Sache Löbel?“

Bisher hatte er als Oberingenieur Knobel den Ahnungslosen gespielt. Nun ließ er die Maske fallen.

„Zum Teil, Herr Oberingenieur,“ nickte Gerda ebenso ehrlich …

„Und der Rest?“ forschte er weiter …

„Darüber darf ich nicht sprechen …“

„Auch dann nicht, wenn ich Ihnen sage, daß ich … Kriminalkommissar bin …?“

„Ich … wußte es, Herr … Herr …“

„Bitte weiter Oberingenieur … – Und woher wissen Sie’s?“

„Werden Sie dem Betreffenden auch keine Vorwürfe machen?“

„Nein … Ich kann mir schon denken – es ist der Amtsvorsteher gewesen … Diese Ortsgewaltigen in den kleinen Nestern können so schwer den Mund halten … – Hat Weichbrand noch anderen dieses große Geheimnis mitgeteilt?“

„Nur einem Herrn, der genau so verschwiegen ist wie ich, dem Doktor Siegmar …“

„Das ist allerdings weiter kein Unglück … Der alte Herr hat ja doch nur für seine Pflanzen Interesse … – Da wir nun, Fräulein Gaard, über diese Vorfälle ganz offen sprechen können, eine Frage: ist gestern nachmittag jemand aus dem Pensionat in Swinemünde gewesen – außer Löbel?“

„Nur Hempels, Herr … Oberingenieur … Frau Hempel hat sich dort eine Bluse gekauft …“

„Das ist mir bereits bekannt … – Hempels verkehrten mit Löbel intimer … Der Bankdirektor saß öfters bei ihnen im Strandkorb … Hatten Hempels auch mit Münzer und Frau Meierfeld sich enger angefreundet …?“

„Ja … Aber – das liegt wohl daran, weil Hempels Künstler sind … Schauspieler sind zugänglicher, freier im Verkehr … Und gerade dieses Ehepaar muß man eigentlich liebgewinnen …“

Der Kommissar lächelte ganz wenig … „Fräulein Gaard, Ihre ganzen Gäste sind längst auf Herz und Nieren geprüft … Alle sind einwandfrei … Nur … Hempels nicht … Schauspieler nennen sie sich … Aus München wollen sie sein … Stimmte nicht. Ich habe sie photographiert – heimlich … Im Berliner Verbrecheralbum fand mein Kollege dieselben Herrschaften wieder – wenigstens eine so starke Ähnlichkeit, daß kaum noch ein Zweifel besteht … Hempels sind Geschwister, heißen in Wirklichkeit Mierbach und ihre Spezialität sind Juwelendiebstähle …“

Gerda Gaard schüttelte langsam den Kopf … „Nein, das kann nicht sein … Gewiß, ich besitze sehr wenig Menschenkenntnis … Trotzdem: für Hempels lege ich meine Hand ins Feuer!“

„Was … sehr schade wäre … Sie würden sich Ihr Händchen böse verbrennen … Womit nicht gesagt sein soll, daß ich nun bereits Hempels für schuldig an dem Verschwinden Ihrer drei Gäste halte …! Nein – nur ein schwacher Verdacht gegen sie besteht. Es ist ja gerade das Kennzeichnende für solche internationalen Verbrecher, daß sie jedermann blenden und harmlos wie die biedersten Spießer ausschauen … – Gehen wir weiter …“

Und nach kurzer Pause …

„Sie dürfen sich Hempels gegenüber natürlich nichts anmerken lassen … ja nicht! Werden Sie das können, Fräulein Gaard?“

„Ja – sehr leicht … Denn ich werde niemals daran glauben, daß dieses glückliche, zärtliche Paar Schwindler, Betrüger oder noch Schlimmeres sind! Nein – niemals werde ich das glauben …“

Tegtmüller schaute sie von der Seite an … Seufzte.

„Ich beneide Sie um Ihren freudigen Eifer, mit dem Sie für andere eintreten … Leider, leider ist diese Welt ja so jämmerlich schlecht … Ich habe zum Beispiel vorhin gegen fünf Uhr nachmittags die Kriminalpolizei in Frankfurt an der Oder angerufen …“

Gerda wandte rasch den Kopf zu ihm hin …

„Nun – – – und?!“ fragte sie beklommen …

„… Und bei Frankfurt an der Oder gibt es weder ein Rittergut Gerlenhof noch einen Baron von Gerlenstein … Mithin sind die heutigen neuen Gäste genau wie Hempels etwas fragwürdige Erscheinungen … – Auch dies bleibt unter uns, Fräulein Gaard …“

„Gewiß …,“ nickte Gerda …

Und das Herz war ihr schwer … Nicht nur all dieser traurigen, widerwärtigen Dinge wegen … Nein – auch deswegen, weil Ihr Verkehr mit Tegtmüller-Knobel jetzt eine so ganz andere Bedeutung gewonnen hatte … Sie fühlte sich mehr als seine Gehilfin … Sie ahnte, daß er gerade von ihr als der Haustochter erwartete, daß sie ihm allerlei zutragen würde, was sie beobachten konnte …

Ein schöner, ferner Traum ihrer Mädchenseele zerflatterte … Und an diesem zehnten Juni fühlte sie zum ersten Male den tiefen wehen Schmerz enttäuschter aufkeimender Neigung …

 

3. Kapitel.

Die Nacht dieses Tages …

Die Nacht nach diesem sonnigen Tage war trübe und regnerisch, kühl und windig …

So recht eine Juninacht, in der die Nähe des Meeres mit seinem dumpfen Brausen fast unheimlich wirkt … –

Elf Uhr war’s … Im Gesellschaftszimmer des Glückauf hielt Fritz Hempel komische Vorträge … Sein Frauchen begleitete ihn am Pianino …

Gerda saß ganz im Hintergrunde des Zimmers neben Doktor Herbert Siegmar. Außerdem waren noch neun andere Pensionsgäste anwesend. Frau Anna Gaard, abends stets übermüdet, war auf ihrem Sessel sanft eingeschlummert, und selbst das überlaute Händeklatschen des dankbaren Auditoriums erweckte sie nur für Sekunden …

Fritz Hempel sang jetzt „Das Nachtlokal …“ – Und er sang es mit Schneid und Humor … Glücklicher Übermut sprühte aus seinen Augen …

Da beugte Gerda sich ganz dicht zu dem alten Gelehrten hin und flüsterte:

„Herr Doktor, würden Sie es für möglich halten, daß Hempel … ein Mörder ist?“

Der Botaniker lachte leise … so ein brüchiges Lachen der alten Leute …

„Mörder?! Der Hempel?! Aber – wie kommen Sie zu dieser Frage?!“

Gerda flüsterte noch gedämpfter:

„Unser Haus soll voller Verbrecher stecken …!! Oh – es ist abscheulich …!!“ Sie war ehrlich empört …

Sie sah Anita Hempels liebes, lustiges Gesichtl im Profil am Klavier, und ein tiefer Groll erfüllte sie gegen Doktor Tegtmüller, der sich so absolut nicht bekehren lassen wollte …

Das hagere Männchen neben ihr legte ihr jetzt die Hand auf den Arm …

„Fräulein Gerda, … ich habe heute nachmittag etwas Merkwürdiges beobachtet … Der Baron Gerlenstein hat unter seinem Strandkorb etwas … vergraben.“

Als Gerda sich noch enger an ihn lehnte, um besser zu hören, fuhr er fort:

„Ich lag in den Dünen auf meinem alten Plätzchen, das Fernrohr neben mir … Ich beobachtete mit stiller Freude zwei Käfer aus der Familie der Sandläufer, die von Ameisen angegriffen worden waren …“

Gerda wußte, daß der alte Herr jetzt erst endlos lange über die Käfer und die Ameisen sprechen würde und suchte dies abzukürzen …

„Und dann nahmen Sie das Fernrohr, Herr Doktor, und stellten es auf den Strandkorb des Barons ein …“

„Allerdings … Und sah, daß der Diener Johann unter dem Strandkorb mit der Schaufel ein Loch herstellte, während der Baron gleichsam Wache hielt, ob sie nicht beobachtet würden …“

Gerda dachte sofort an des Kriminalkommissars vertrauliche Mitteilungen …

Der alte Herr fügte noch geheimnisvoller hinzu:

„Und dann, Fräulein Gerda, dann schob der Diener ein Paket rasch in das Sandloch – ein sehr umfangreiches Paket … Im Nu hatte er das Loch wieder zugeworfen …“

Gerda Gaard blickte den freundlichen alten Gelehrten nun bang forschend an …

„Was – was vermuten Sie, Herr Doktor? – Bitte … verheimlichen Sie mir nichts … Wir sind doch Verbündete … Und … letzten Endes geht es hier um meiner Mutter Existenz … Denn sobald diese Dinge … dieses … rätselhafte Verschwinden von dreien unserer Gäste bekannt wird, bleibt ja niemand mehr im Glückauf …“

„Liebes Fräulein,“ flüsterte das kleine hagere Männchen, „ich bin leider zu einseitig, was meine geistigen Fähigkeiten betrifft … viel zu einseitig … Seit Jahren lebe ich nur in der Welt meiner Lieblinge, der Pflanzen … Nur …! Pflanzen sind viel interessanter und besser als Menschen … Sie sündigen nicht, sie morden nur, weil sie sich nähren müssen … Ja, ja, Fräulein Gerda, es gibt auch mordende Gewächse, die sogenannten fleischfressenden Pflanzen … Haben Sie nie davon gehört …?! Da existieren in Mexiko ein paar ganz besonders große Arten …“

Er hätte die Hauptsache längst wieder über seinem Steckenpferd vergessen, so daß Gerda abermals ablenkend einwarf:

„Sie können sich also nicht zusammenreimen, Herr Doktor, was der Baron und sein Diener …“

Da unterbrach er sie, drückte ihren Arm …

„Ein Baron?! Ob’s wirklich ein Baron ist?! Man müßte den Amtsvorsteher auf diesen Herrn und den Diener aufmerksam machen … Es dürfte sich vielleicht herausstellen, daß der Baron ebensowenig adlig ist wie ich … Hier im Pensionat tut der Mann, als ob er vom Hochmutsteufel besessen ist, und dann wieder treibt er mit seinem Diener Dinge, die doch kaum reinlicher Art sein können … – Ich bin nicht Polizeimensch … Mir liegt so etwas nicht … Wäre ich jünger und unternehmungslustiger, dann würde ich jetzt das Pensionat verlassen und dort unter dem Strandkorbe einmal nachgraben …“

Gerda zuckte zusammen …

Nachgraben …!! Nachgraben …!!

Sie hörte nichts mehr von der übermütigen Musik …

Nichts mehr …

Ihre Augen flogen durch das Zimmer, als wollte sie nochmals feststellen, daß der Baron nicht hier war …

Dann raunte sie Doktor Siegmar ins Ohr:

„Ich tu’s – ich tu’s … Ich fürchte die Nacht nicht … Im Winter wohnen Mutter und ich hier ganz allein im Glückauf – ganz allein … Wenn wir dann abends oder nachts in stürmischen Nächten ein verdächtiges Geräusch hören, nehme ich meines verstorbenen Vaters alten Revolver und mache mit einer Laterne einen Rundgang … Nein, ich fürchte mich nicht … Das habe ich wohl vom Vater geerbt, der hier als Zollaufseher es auch nicht leicht hatte … Früher wurde an der Küste viel geschmuggelt … – Ich tu’s, Herr Doktor … – Da, Gott sei Dank, – – Hempels sagen gute Nacht … Ich kann also hoffen, daß in einer halben Stunde alles schläft …“ –

Und – eine halbe Stunde später stand die tapfere Gerda Gaard in ihrem Lodenumhang mit über den Kopf gezogener Kapuze im Vorgarten und stellte fest, daß hinter den zugezogenen Fenstervorhängen des Barons Licht brannte …

Auch oben im ersten Stock bei Oberingenieur Knobel war es hell.

Gerda durfte sich mithin sicher fühlen … Die Mutter schlief … Und wenn Frau Anna nach des Tages Mühen erst einmal im Bette lag, weckte nichts sie wieder auf.

Das junge Mädchen eilte durch den dünnen, nebelartigen Regen dem Strande zu …

Tiefe Dunkelheit ringsum …

Der scharfe Seewind trieb ihr die Tropfen ins Gesicht … Die Brandung rauschte … Ein paar rote Pünktchen irrten unten dicht am Ufer hin und her: Fischer mit ihren Laternen, die ihre Kutter zur Ausfahrt fertig machten … – Schwerer, schwerer Beruf … Vier Stunden Segelweg bis zur Fangstelle, vier Stunden schwere Arbeit mit den Netzen, und dann … Heimkehr mit einer Beute, die zuweilen kaum loszuschlagen war … –

Gerda war in ein paar Minuten bei dem Strandkorb des Barons … Stand still … Äugte über den Wall.

Und – schaute vorsichtig nochmals nach der Strandpromenade zurück …

Eine der elektrischen Laternen dort warf milchigen Schein auf zwei Gestalten die sehr schnell über den Weg huschten, die von der linken Zaunecke des Glückauf zu kommen schienen …

Gerda duckte sich zusammen …

War im Nu hinter dem nächsten Strandkorb in Deckung …

Zitterte …

Sie hatte den Baron und den Diener erkannt … Nur der Größe nach – und weil die beiden fraglos aus der Richtung des Pensionats gekommen waren …

Nur einen Moment währte dieser Anfall kleinmütiger Erregung …

Gerda dachte an die drei Gäste, die man vielleicht ermordet und beraubt hatte …

Gerda dachte an die Mutter – an den Verlust der gesicherten Existenz, an ein leeres Haus – – und an Doktor Tegtmüller … Oh – der Kriminalkommissar sollte mit ihr zufrieden sein …! Er sollte merken, daß Gerda Gaard kein zimperliches Dämchen war, die vor einer Gefahr zurückschreckte … Tegtmüller sollte erkennen lernen, daß eine Gerda Gaard mehr war als eines der Zierpüppchen – wie etwa die Töchter der Exzellenz von Galdau …

Und – vorsichtig lugte sie nun um die Ecke des Strandkorbes …

Sieben Meter vor ihr der des „Barons“ …

Und – zwei Leute dort – kniend – wühlend …

Ein Bündel holten sie hervor … Schlichen davon …

Gerda ließ ihnen Vorsprung …

Aber – sie wollte fortsetzen, was sie begonnen hatte … Für Gerda Gaard gab es nichts Halbes … „Entweder – oder!!“ – so hatte schon des Zollaufsehers Emil Gaard täglicher Spruch gelautet, und wenn er diese beiden Worte ausgesprochen hatte, dann spürte jeder: Biegen oder brechen! – So war auch Gerda … Und trotzdem Weib mit gesunden Sinnen … Weib mit dem heißen Verlangen nach Liebesglück …

So war sie …

Und schlich hinter dem Baron und dem Diener her.

Gerade der weite dunkelgraue Lodenumhang war für sie der beste Schutz …

Was kümmerte sie Wind und Regen?! Sie war’s gewohnt, bei jedem Wetter Einkäufe zu besorgen und die zwei Stunden bis Swinemünde allein bei tiefster Finsternis zurückzulegen … Jeden Schritt Boden kannte sie hier …

Wunderte sich, daß auch der Baron und Johann Schrimmke sich so leicht zurechtfanden …

Daß sie ausgerechnet die leere Fischerhütte am Lanken-See fanden, der da unweit von Karsien im Binnenlande schilfumwogt der Landschaft eigenen Reiz verlieh …

In dieser Bretterbude verschwand das Paar …

Nicht lange, und durch die Risse der Wände schimmerte Licht – weißes Licht einer elektrischen Laterne.

Gerda wagte sich naher heran …

Ganz nahe an die Rückseite, wo ein Berg verrotteten Schilfes lag …

Hier drückte sie sich hinter den stinkenden Hügel – ganz tief …

Das Auge an einem Loch der Wandung … Verfault waren die grün bemoosten Bretter … Lautlos ließ sich das Loch erweitern …

Gerda Gaard blickte hinein …

Hätte sich am liebsten die Augen gerieben …

War … war das denn möglich?!

Und – schon erlosch das Licht …

Zu spät schlüpfte sie hervor … Als sie die Hütte umrundet, war von den beiden nichts mehr zu bemerken.

Regen und Finsternis hatte sie verschluckt …

Gerda preßte die Lippen ärgerlich aufeinander …

Sollte sie dieses Abenteuer aufgeben?!

Die beiden konnten ja nur zur Strandpromenade zurückgekehrt sein … Nach der anderen Richtung versperrten die sumpfigen Ausläufer des Lanken-Sees den Weg …

Also vorwärts …

Hinein in den dünnen Dünenwald, dessen Krüppelkiefern so friedlich säuselten …

Drüben leuchteten ja auch die hellen Punkte der Strandpromenade …

Gerda lief … lief … Nasse Zweige schlugen ihr in das glühende Gesicht … Tropfenkaskaden bestäubten ihr Blondhaar, daß sich unter der Kapuze hervordrängte.

Was tat’s …?!

Weiter … weiter …

Und dann … rechts von ihr ein Schrei … ein Hilferuf …

Schnell verklingend …

Trotzdem deutlich vernehmbar …

Sie stand wie angewurzelt …

Und stierte über die Lichtung hinweg … Heller Sand – Heidekraut – ein Hügel …

Bewegte sich da drüben nicht etwas …?!

Und – mit hastigem Griff zog sie den alten Revolver aus der weiten Innentasche des Umhangs …

Spannte die Waffe …

Eilte vorwärts …

„Entweder – – oder …!“ – „Biegen oder brechen!“ – Eine Gerda Gaard ließ niemanden ohne Hilfe …

Hinan den Hügel …

Und – stolperte über einen Menschen, der regungslos im Sande lag …

Sah blitzschnell vor sich mit affenartiger Gewandtheit eine Gestalt hochschnellen …

Einen kleinen Kerl mit struppigem langem Haar und Bart …

Fühlte Hände wie Krallen am Halse …

Hob den Revolver …

Wollte abdrücken …

Da lockerte sich der Griff um ihre Kehle …

Die Hand mit der Waffe flog von hartem Schlage getroffen zur Seite …

Ein Knall …

Etwas Eisiges spritzte Gerda ins Gesicht …

Brennender Schmerz in den Augen … Eine Wolke von betäubendem Dunst …

Langsam sank sie zu Boden – ins Heidekraut …

 

4. Kapitel.

Brandgeruch …

Der Dünenwald wurde in dieser Nacht Zeuge seltsamster Geschehnisse …

Kaum war Gerda Gaard bewußtlos zusammengeknickt, kaum war der Kerl mit dem wilden Haarwuchs mit einem unterdrückten Fluch von diesem Platze geflohen, wo nur zu bald, angelockt durch den Schuß irgend jemand erscheinen konnte, da erhob sich schwankend derselbe Mann, über den Gerda gestolpert war.

Mühsam schleppte er sich bis zu dem jungen Mädchen hin, kniete neben ihr und säuberte ihr Gesicht von den verderblichen Tropfen des süßlich duftenden Chloroforms …

„Sie wird von selbst wieder zu sich kommen,“ dachte er und erhob sich …

Schaute umher …

Sah undeutlich eine zweite Gestalt im Heidekraut … Nahm sie in die Arme und schritt davon … Der Fischerhütte am Lanken-See zu … –

Er war noch keine zwei Minuten verschwunden, als von der Strandpromenade zwei andere Leute auftauchten … Der eine führte einen braunen langhaarigen Teckel an der Leine … Und der andere flüsterte, indem [er][1] scharf umheräugte:

„Hier irgendwo fiel der Schuß, Götting …“

„Ganz gewiß, Herr Kommissar … Und – sehen Sie nur, Strolch zerrt wie toll an der Leine …“

„Vorsicht, Götting … Raus mit den Pistolen … Ich werde am Rande der Lichtung entlangschleichen … Warten Sie, bis ich drüben bin … Falls hier noch jemand abzufassen ist, soll uns der Kerl nicht entwischen!“

Sie trennten sich …

Der Teckel winselte vor Eifer … Seine Nase war dorthin gerichtet, wo Gerda Gaard bereits leise die Lippen bewegte und tiefer atmete …

Dann sah der Kriminalassistent Götting drüben einen Moment einen grünlichen Schein aufblinken …

Sofort setzte er sich in Bewegung

Und – so fanden Tegtmüller und Götting Gerda Gaard …

Neben ihr den Revolver …

Tegtmüller hatte seine Taschenlampe eingeschaltet … Götting stützte das junge Mädchen … Sie schaute verwirrt um sich …

Sie schaute in Doktor Tegtmüllers frisches, kluges Gesicht …

Und ein stilles Lächeln glitt da um den blassen Mund …

„Oh – das … war … furchtbar!“ sagte sie noch halb benommen …

Tegtmüller drängte Götting beiseite und drückte das Mädchen zart an sich …

„Wenn Sie sich auch noch sehr schwach fühlen, Fräulein Gaard,“ sagte er mit verhaltener Zärtlichkeit, „– versuchen Sie, mir kurz mitzuteilen, was geschehen … Wir müssen unbedingt sofort handeln … Also – sprechen Sie …“

Gerdas Schwäche war mit einem Male geschwunden.

Unendliche Glückseligkeit erfüllte sie … Ihr war’s, als ob sie das, was sie soeben voller Grauen erlebt, nur für den Mann erlitten, der ihr unberührtes Herz im Sturm gewonnen und … wahrscheinlich nichts davon ahnte …

Sie blickte Tegtmüller an …

Ihre reinen Augen strahlten Hingabe …

Und ohne Zögern berichtete sie … Daß Doktor Siegmar beobachtet habe, was sie dann selbst hatte nachprüfen wollen … Und daß der Baron und sein Diener sich in der Hütte am Lanken-See in abgerissene Strolche verwandelt hätten …

Daß sie dann hier auf der Lichtung im Dünenwalde über einen Mann stolperte, der nur der verkleidete Diener gewesen sein könnte … Und daß schließlich ein Mensch in einem merkwürdigen Anzug, ein Kerl mehr Affe als Mensch, ihr an die Kehle gesprungen sei … Aber dieser Mensch sei niemals der Baron gewesen … – Mehr wüßte sie nicht …

Und sie schaute verträumt vor sich hin …

Dachte sehnend, wie schön es sein müßte, von Tegtmüllers Armen immer geschützt zu werden – das ganze Leben lang …

Doch – Hans Tegtmüller hatte in dieser Nacht wenig Sinn für Liebe und Zärtlichkeit … Die Pflicht ging ihm über alles …

Er half Gerda auf die Füße … Er legte den Arm um ihre Hüfte …

„Wird es gehen?“ fragte er liebevoll … „Sie müssen heim, Fräulein Gerda … Und … müssen schweigen … Bis morgen werden Sie sich wieder ganz erholt haben …“

So gelangten sie zur Strandpromenade, bald auch vor die Villa Glückauf …

Die Fenster des Barons waren noch erleuchtet …

Scheu starrte Gerda nach oben …

„Mein Gott, wer mag der Mann sein?“ fragte sie bedrückt … „Wenn … wenn Mutter nur nicht die Gäste verliert … Ein Pensionat kommt so leicht in Verruf …“

Der Kommissar drückte ihre Hand …

„Keine Sorge … Sie sollen keinen Schaden erleiden, Fräulein Gerda … Was geschehen muß, wird nicht in die Öffentlichkeit dringen …“

Leise schloß er die Eingangstür auf … Götting mit dem Teckel war zurückgeblieben …

Und im dunklen Flur sagte Gerda dem heimlich Geliebten nun gute Nacht …

Noch ein Händedruck … Dann tastete sie sich die Treppe empor. –

Der Kommissar winkte Götting herbei. Dem hatte sich jetzt noch ein zweiter Beamter angeschlossen …

Und die drei schritten nun den Korridor lautlos hinab – bis zur Tür des Barons …

Lauschten …

Dann schickte Tegtmüller den zweiten Beamten in den Vorgarten …

„Schießen Sie, wenn es sein muß …! Keine Rücksicht!“

Er klopfte kräftig …

Klopfte nochmals …

Packte den Drücker der Außentür …

Offen …

Auch die Innentür …

Leer das Zimmer …

Das Bett unberührt …

Die beiden Koffer verschwunden …

„Ausgekniffen!“ sagte Götting wütend …

„Ja – zu spät gekommen … – Da, man sieht, mit welcher Eile die Kerle gepackt haben … – Nun – in die Kammer des sogenannten Dieners …“

Auch hier – leer das Nest

Leer …! –

Die beiden Beamten gingen lautlos in den Vorgarten …

Tegtmüller befahl, daß Götting sofort alle Bahnstationen und Ortschaften in der Runde verständige …

„Die Landjäger sollen sofort Patrouille gehen … Die beiden können uns nicht entkommen …“

Der Kommissar winkte seinen Leuten … Sie verschwanden …

Er selbst verschloß die Eingangstür der Villa und wandte sich der Hütte am Lanken-See zu …

Es regnete stärker … Hans Tegtmüller schlug den Kragen seines dünnen Gummimantels hoch und zog die Schlappmütze tiefer in die Augen. Als er gerade von der Strandpromenade nach rechts in den Dünenwald abbiegen wollte, trat hinter einem Baume einer der beiden Nachtwächter des Badeortes hervor …

Der Kommissar ahnte, daß der Mann gleichfalls durch den Schuß herbeigelockt worden war. Er hatte sich dem Wächter schon vor Tagen zu erkennen gegeben, da dieser, wie der Amtsvorsteher versichert hatte, durchaus verschwiegen und vertrauenswürdig sei.

Der Mann beäugte Tegtmüller argwöhnisch, schob die Blende von seiner Laterne und rief dann leise:

„Ah – der Herr Oberingenieur … – Haben Sie vielleicht auch den Schuß gehört?“

„Gewiß, Herr Orlik, gewiß … Und haben Sie etwas bemerkt?“

„Nichts, nichts … Das heißt, vorhin sah ich zwei Leute, von denen jeder einen Koffer trug … Sie entkamen mir aber in der Dunkelheit … Mit dem Schuß können sie jedoch kaum etwas zu tun gehabt haben … Und Diebe, Herr Oberingenieur, – die gibt’s hier kaum …“

„Wo sahen Sie die Leute …?“

„Dort, wo der Pfad an der letzten Villa nach der Dorfstraße abzweigt …“

„So … so … – Sie könnten mich mal begleiten, Herr Orlik … Ich möchte zur Fischerhütte am Lanken-See … Ich fürchte, ich finde die Bretterbude in dieser Finsternis nur schwer … Kommen Sie … Es hat sich mancherlei in dieser Nacht ereignet …“

„Wie – ist etwa noch jemand aus dem Glückauf verschwunden, Herr Oberingenieur …?“

„Nein – bisher nicht … Es ist auch an dreien übergenug … – Ist das da vor uns schon die Hütte …?“

„Ja …“

„Wem gehört sie?“

„Hm – eigentlich gehört sie mit zu dem Sommerhäuschen, das die Malerin im April vom Drogeriebesitzer Hartmann kaufte … Sie haben das Häuschen wohl schon gesehen, Herr Oberingenieur … Es liegt ja sehr malerisch jenseits des Sumpfstreifens …“

„Ich besinne mich … Über den Sumpf führt eine Fußgängerbrücke aus Brettern …“

„Stimmt … Es ist der einzige Zugang zu dem Häuschen, wenn man nicht gerade einen weiten Umweg um den See machen will … – Hallo – was bedeutet denn das?!“

Sie waren vor der offenen Tür der Bretterbude angelangt … Diese Tür war nur noch in Stücken vorhanden …

Aus der Hütte drang brenzlicher Qualm hervor …[2] Und dies hatte den Nachtwächter stutzig gemacht …

Er leuchtete hinein …

„Da glimmt trockenes Laub am Boden, Herr Oberingenieur … Das sieht ja gerade so aus, als ob hier jemand hat Feuer anlegen wollen …“

„Ein Irrtum, Herr Orlik …“ Und Tegtmüller schaltete seine Lampe ein und war mit drei Schritten neben dem schwelenden Laub. „Hier hat jemand einen brennenden Zigarettenstummel weggeworfen. Das weiß ich bestimmt, denn – dies ist beobachtet worden …“ Er bückte sich … „Da – der verkohlte Rest der Zigarette ist noch zu erkennen … Eine Zigarette ohne Mundstück … – Und hier – noch ein Stummel – Korkmundstück … Und hier – – wissen Sie was das ist?“

Er hob ein kurzes dickes Röllchen hoch …

„Das ist … Schminke, Herr Orlik … Und damit Sie als verschwiegener Mann im Bilde sind: hier haben sich zwei Gauner, die im Glückauf als Baron nebst Diener abgestiegen waren, in zwei Strolche verwandelt … Die Kostüme hatten sie unter dem Strandkorb des Barons verscharrt, damit sie ohne Bündel das Pensionat verlassen konnten … Und diese selben beiden Leute waren die, die Sie mit den Koffern sahen … Die Burschen sind getürmt – ausgekniffen … Ich habe aber die Landjäger ringsum alarmiert. Weit sollen die Brüder nicht kommen …“

Orlik war mit seinen sechzig Jahren ein Mann vielfacher Lebenskenntnisse. Aber daß in seinem Heimatdorfe Karsien Dinge sich abgespielt haben sollten, wie sie sonst nur in dem Sündenbabel Berlin oder ähnlichen nach seiner Ansicht zu wahren Laster- und Gaunerhöhlen herabgesunkenen Großstädten geschahen, das wollte ihm nicht recht in den harten Pommerschädel …

Mit einem sehr gedehnten „Hm – hm …“ quittierte er Tegtmüllers Mitteilungen und fragte dann geradeheraus: „Und Sie meinen, Herr Oberingenieur, daß diese beiden feinen Halunken etwa die drei umgebracht haben?“

„Ich glaube, daß diese beiden zumindesten mit dem, was wir bisher notgedrungen als Raubmorde ansehen müssen, in engerem Zusammenhang stehen …“

„Hm – – Zusammenhang stehen …,“ wiederholte Orlik murmelnd, denn er konnte sich unter dieser Redensart nichts Rechtes vorstellen. „Also sind sie’s doch gewesen, Herr Oberingenieur … Und vielleicht wär’s gut, daß unser Landjäger mal seine Diana auf die Spur der beiden legte …“

„Bei dem Regen leider aussichtslos, Herr Orlik …“

„Nu ja, mag wohl sein …“ – und Orlik schaute sich in der Bretterbude nochmals um … Trat auch die letzten glimmenden Fünkchen am Boden aus und sagte: „Die Malerin hat Glück gehabt … Die Bude wäre ihr niedergebrannt … Als Feuerung kann sie die Bretter noch immer gebrauchen, zumal sie’s mit dem Kleingeld auch nicht gerade dicke hat …“

Tegtmüller lauschte nach draußen … Es goß jetzt gerade in Strömen …

„Warten wir noch ein paar Minuten,“ meinte er. „Diese Sintflut muß ja bald aufhören …“

In der einen Ecke lagen die Reste eines Bretterkahnes. Sie reichten gerade hin, den beiden Männern als Bank zu dienen …

Sie setzten sich … Orlik schob die Blende vor seine Laterne … „Vielleicht kommt das Lumpenpack nochmals her,“ brummte er …

Da erlosch auch Tegtmüllers Taschenlampe …

Schweigend saßen sie …

Um sie her war die Finsternis der kleinen Hütte und der stürmischen Regennacht …

 

5. Kapitel.

Die weiße Brücke.

Keine fünfzig Meter weiter nach Nordwesten zu – dort, wo der Holzsteg über den morastigen Teil des Lanken-Sees führte, trommelte der Regen in unaufhörlichem Prasseln auf das merkwürdige Dach eines seltsamen Unterschlupfs …

Da lag links von der Brücke ein sandiger, dicht bewachsener Hügel in dem undurchdringlichen Sumpf, von Brombeeren-, Erlen- und Wachholdersträuchern eingehegt. Oben standen ein paar Krüppelkiefern, zwei wilde Apfelbäumchen und Farnbüsche – eine richtige Wildnis …

Hier waren zwei leere Koffer aufgeklappt, durch Äste eng nebeneinander über dem Boden befestigt, und zwei Gummimäntel und eine Reisedecke dichteten diese eigenartige Hütte noch besser gegen die herabstürzenden Wasserfäden ab.

Unter diesem Dach hockten zwei Männer, deren Äußeres alles andere als vertrauenerweckend war. Sie hatten eine eingeschaltete Taschenlampe so zwischen sich gelegt, daß der Lichtkegel nur einen geringen Umkreis des Bodens beleuchtete …

Der größere sagte jetzt, indem er eine Sardinenbüchse mit dem Schlüssel öffnete:

„Du siehst, mein Alter, wie gut es war, daß wir uns in Karsien erst drei Tage inkognito umgeschaut haben, bevor wir im Glückauf abstiegen … Dieses Plätzchen hier ist goldeswert …“

„Bis auf die Mücken und Ameisen,“ meinte der Diener Johann Schrimmke. „Und bis auf die Enge des Quartiers … Außerdem – mein Schädel brummt noch wie ein überheizter Dampfkessel, Harald … Der Kerl hatte nicht schlecht zugeschlagen … Wenn der mir mal zwischen die zehn Finger gerät, zahle ich ihm den Hieb gehörig heim …!“

„Zunächst stärke Dich mal … Zwieback und Sardinen paßt zwar nicht so ganz zusammen, aber besser als gar nichts …“

Und der Berliner Detektiv Harald Harst, dessen Gastrolle als Baron Gerlenstein im Glückauf von so kurzer Dauer gewesen, ging seinem Freunde Max Schraut mit gutem Beispiel voran …

Sie aßen … – Schraut entkorkte dann auch eine Flasche Kognak, die er unter dem in einer Ecke des Unterschlupfs sauber aufgeschichteten Kofferinhalt hervorgesucht hatte …

„Bitte …“ – er reichte Harst den gefüllten Aluminiumbecher …

Und meinte nun: „Wer dieser Waldmensch wohl gewesen sein mag, mein Alter? Der Kerl trug eine Kluft aus lauter Flicken – wie die Wilddiebe …“

„Jedenfalls ein Bursche mit gehörigen Kräften …“ sagte Schraut kauend. „Das hat noch keiner bisher fertiggebracht, als einzelner Harst und Schraut mit einem nassen Sandsack so blitzschnell niederzuschlagen. Und wer weiß, was er noch mit uns angestellt[3] hätte, wenn Fräulein Gaard nicht zur rechten Zeit auf der Bildfläche erschienen wäre …“

Harald Harst fischte die vierte Sardine mit der Klinge des Taschenmessers aus der Büchse …

„Ein angenehmer Auftrag alles in allem,“ meinte er ironisch. „Die liebe Verwandtschaft der Frau Meierfeld trauert tränenden Auges den Juwelen der lieben Tante nach und bildet eine G. m. b. H., schießt das Geld zusammen, um Harst zu ködern, und wir beide erleben hier gleichsam mit, wie das dritte Opfer dieser mal nach etwas anderen Methoden arbeitenden Schwerverbrecher verschwindet … Im übrigen sind wir beide bisher genau so klug wie Tegtmüller, der nur ahnen sollte, daß zwei gute Bekannte unweit von ihm heute im Glückauf gewohnt haben … – So, nun bin ich gesättigt … Und nun kommt die Verdauungszigarette heran …“

Schraut trank noch einen Kognak …

„Unsere Bude ist wahrhaftig wasserdicht …,“ sagte er dann schmunzelnd … „Wie denkst Du Dir die Fortsetzung, Harald?“

„Zweckentsprechend … Wir warten den Morgen ab … Hoffentlich hört der Regen bis dahin auf … Dann verändern wir uns und beziehen jeder für sich allein ein möbliertes Zimmer, möglichst im selben Hause, kennen uns nicht und werden nicht erkannt – hoffentlich …“

„Bon, – und die Leute aus dem Glückauf?! Hast Du da gegen niemand Verdacht geschöpft …?“

„Nein … – Und doch muß einer der Verbrecher dort stecken … Bedenke, daß die Briefe, die die drei Verschwundenen an Frau Gaard schickten, doch fraglos tadellos gefälscht sind … Also muß der Fälscher Gelegenheit gehabt haben, die Handschriften zu studieren. Mehr noch: er muß sogar zu den dreien in freundschaftliche Beziehungen getreten sein … Ich kann mir nicht helfen: der Mensch muß im Glückauf wohnen, wofür ja auch der Überfall auf uns spricht. Der Kerl wußte, wer wir sind …!“

Schraut sog an seiner Zigarre …

„Dann … hätte er uns kalt gemacht, wenn Fräulein Gaard nicht erschienen wäre …“ – und sein Gesicht sah nicht eben heiter aus …

„Das hätte er wohl … Und dann … hätte er uns ebendort verscharrt, wo auch die drei Ärmsten ruhen, die bisher seine Opfer geworden …“

„Verscharrt?!“ Max Schraut schüttelte den Kopf … „Er hat’s hier bequemer, Harald … Ein Strick, ein Stein – und in die See mit den stummen Zeugen! Das Meer gibt Tote nicht so leicht wieder frei …“

„Hm – dazu gehört ein Boot, mein Alter … Und dazu gehören Ruder, gehört Zeit und Dunkelheit … Boote liegen nur in der Nähe der Gebäude am Strande … Und die Fischer sind zu allen Stunden mobil … – Nein, die Methode ist zu umständlich … Ich bleibe dabei: die drei Opfer sind verscharrt worden … Die Mörder haben einen geheimen Kirchhof angelegt …“

Schraut gähnte …

„Ob wir noch ein paar Stunden schlafen können, Harald?“

„Gewiß, … Strecke Dich nur aus … Für Deine Länge reicht unser Patentzelt … Ich sitze hier mit dem Rücken gegen die Kiefer ganz bequem … Es ist jetzt zwei Uhr … Um vier Uhr müssen wir mit der Toilette beginnen … – Gute Nacht, Alterchen … Das Bett bei Frau Gaard wäre bequemer gewesen.“

Max Schraut litt nie an Schlaflosigkeit. Im Augenblick war er eingeschlummert …

Harst saß regungslos, die Augen halb geschlossen.

Rauchte … – Ohne Zigarette keine Denkarbeit …

Er überlegte nochmals jede Einzelheit der heutigen Ereignisse. Er beleuchtete sie von allen Seiten, prüfte sie …

Der Regen ließ nach …

Sehr bald schüttelte nur noch der Wind aus den Kiefern und den wilden Apfelbäumen Tropfenspritzer auf das Dach der Patenthütte …

Harst horchte …

Die Stille draußen lockte ihn. Er hob den einen Gummimantel etwas an und kroch ins Freie …

War erstaunt …

Das Nachtbild hatte sich mit einem Schlage geändert … Sterne blinkten am Firmament. Der Mond stand tief und lugte durch das Gestrüpp …

Harst erkannte unschwer den weißgestrichenen Brettersteg, dessen Pfähle tief in den Morast getrieben waren.

Diese schmale Fußgängerbrücke, die in vielfachen Windungen vom Dünenwald nach dem Häuschen der Malerin lief, war nur etwa zehn Meter entfernt …

Die eine Stelle konnte Harst vollständig überblicken: die Pfähle, die Querbalken, die Bretter und das weiße Geländer …

Plötzlich beugte er sich vor, kniff die Augen zusammen …

Ein Mensch kroch dort die Brücke entlang …

Kroch – auf allen Vieren …

Wie ein Tier …

Und doch affenartig behende, so schnell, daß er im Moment wieder verschwunden war … –

Harst hatte den Mann erkannt: es war der … Waldmensch, der Kerl mit dem Haarwust und dem wilden Bart …

Und – der Mann war aus der Richtung des Häuschens gekommen … –

Der Detektiv zögerte nicht …

Da waren ein paar Kiefern, die halb im Wasser standen …

Diese Kiefern hatten ihm und Schraut vorhin das Passieren des Morastes ermöglicht[4]

Rasch schwang er sich von Baum zu Baum – auf den Brettersteg …

Duckte sich zusammen …

Von hier bis zum Dünenwalde waren es keine fünfzehn Meter mehr …

Glitt vorwärts …

Huschte unter die Bäume …

Da – ein scharfer Knall …

Noch einer …

Ein Schrei …

Ein wütendes: „Warte, Halunke …!!“

Und – – Stille …

Der Detektiv schmiegte sich hinter einen Strauch …

Horchte …

Nichts mehr …

Nur noch von der Strandpromenade ein schnell verhallender Ruf …

Harst schlich weiter …

Heller Sandboden vor ihm … Eine Gestalt, die auf dem Bauche lag …

Es war der Nachtwächter Orlik … Mit Stirnschuß …

Tot … –

Harst kehrte um …

Nach wenigen Schritten zog er ein Fläschchen aus der Tasche, rieb seine Stiefelsohlen mit einer dicken Flüssigkeit ein …

Gleich darauf weckte er den schlafenden Schraut …

 

6. Kapitel.

Der Fliegenpilz.

Die Gärten von Karsien, die Linden der Strandpromenade, der Dünenwald und die Heidestreifen am Strande – alles schien nach dem reichlichen warmen Regen der Nacht doppelt frisch, doppelt grün …

Wieder beleuchtete die Morgensonne an diesem elften Juni den freundlichen kleinen Badeort mit warmen Strahlen wie am Tage zuvor …

Wieder trat Gerda Gaard gegen sieben Uhr auf die Terrasse hinaus und schaute mit ernsten Augen über das weite Meer …

Die Schrecken der Nacht waren überwunden. Gerdas kräftige Natur war mit den Folgen der kurzen Betäubung spielend leicht fertig geworden. Nichts von Blässe mehr auf den Wangen … Nur unter den stillen, guten Augen etwas tiefere Schatten … –

Vor wenigen Minuten hatte Doktor Tegtmüller im Gesellschaftszimmer mit Mutter und Tochter gesprochen. Frau Anna Gaard wußte nun alles. Tegtmüller hatte sich ihr zu erkennen gegeben und hatte auch die Ereignisse der Nacht nicht verschwiegen.

Frau Gaard zeigte sich sehr gefaßt. Der Berliner Kommissar hatte es trefflich verstanden, all ihre Sorgen zu zerstreuen …

„Den übrigen Gästen erzählen Sie, daß der Baron heute in aller Frühe nach seinem Gut eines Brandes wegen zurückgerufen worden ist … Das klingt am wahrscheinlichsten … Die Stubenmädchen werden dies gleichfalls glauben, wenn sie nur ebenso wie der Hausdiener ihr Trinkgeld erhalten, und das spende ich im Interesse der Sache auf Staatskosten …“

Auch von dem Nachtwächter Orlik hatte er gesprochen … – mit einem fast glücklichen Lächeln …

Und dabei hatte er sich mehr an seine Verbündete Gerda gewandt …

„Nachdem der Regen aufgehört hatte, verließen Orlik und ich die Bretterbude … Wie wir den Dünenwald kaum betreten hatten, sahen wir plötzlich dicht vor uns von links eine Gestalt unter den Kiefern entlangschleichen … Es war … der Waldmensch, Fräulein Gerda, Ihr Gegner, der Mann, der mit allen Mitteln großstädtischer Verbrecher arbeitet: Chloroform …! Sie Ärmste haben es ja gespürt. Orlik und ich wollten den Burschen einkreisen … Und so kam es denn, daß der Lump Orlik niederschoß … Ich blieb hinter ihm. Aber gegen seine Fixigkeit konnte ich nichts ausrichten … Er entwischte mir nach Swinemünde zu … – Orliks Pommernschädel hat den Stirnschuß überraschend gut überstanden. Die Ärzte hoffen bestimmt, daß er durchkommen wird. Ich habe die Herren instruiert: Orlik war hinter einem Einbrecher her!“ –

Nach dieser Unterredung war Tegtmüller-Knobel zu Bett gegangen … Gerda hatte ihm angemerkt, wie abgespannt er war … Scherzend hatte er den Damen gute Nacht gewünscht … „Das ist nun mal nicht anders bei meinem Beruf … Die Nacht wird zum Tage und … zur weniger schönen Hälfte des Tages, um Goethes Wort aus Hermann und Dorothea ein wenig umzumodeln …“

Fest und innig hatte er Gerdas Hand gedrückt, ihr in die Augen geschaut und war gegangen …

Sonnenschein war in Gerdas Herzen trotz des ernsten Ausdrucks in den reinen Zügen …

Sonnenschein über Meer und Land … Und Gerda dachte: „Was wird dieser Tag nun bringen?!“

Sie hörte die Turmuhr der Dorfkirche sieben schlagen.

Kaum war der letzte etwas blecherne Schlag verhallt, als auch schon gewohnterweise der kleine Gelehrte Doktor Herbert Siegmar blinzelnd die Terrasse betrat …

„Morgen, Fräulein Gerda …“

Sein faltiges, kluges Gesicht strahlte …

„Ah – ein Prachtmorgen wieder … Ein Prachtmorgen …! Sehen Sie nur, wie die Rosenknospen im Vorgarten sich durch Regen vergrößert haben … Eigentlich ist doch eine Rosenknospe weit schöner als eine voll erblühte – weit schöner … Als Knospen sind sie alle liebreizend, wie die holden Mädchen im Backfischalter …“

Er nahm die Brille ab und putzte die Gläser …

Gerda schüttelte auffällig den Kopf und blickte ihn ebenso auffällig an …

„Hm – was haben Sie, Fräulein Gerda …?“ meinte er mit seinem verträumten Gelehrtenlächeln. „Sitzt etwa meine Krawatte schief …? Oder – habe ich etwa gar keinen Schlips um? Auch das ist schon vorgekommen …“

Und er faßte mit der Linken rasch nach dem Kragen.

„Ich wundere mich nur, daß Sie so gar nicht nach dem Strandkorb fragen,“ erklärte Gerda, und auch sie lächelte nun.

„Strandkorb?!“ Er besann sich, setzte die Brille auf … „Strandkorb – Strandkorb?!“

Und dann:

„Ach so – des Barons Strandkorb!! Allerdings – allerdings …! Den habe ich gänzlich vergessen … Nun, Sie werden doch bei dem Wetter gestern abend nicht etwa sich ins Freie gewagt haben, Fräulein Gerda?!“

„Doch, doch, Herr Doktor …“ – Sie brauchte Siegmar gegenüber nichts zu verschweigen … Tegtmüller hatte besonders betont, daß man den alten Herrn nicht ausschalten dürfe, gerade weil der ja durch seine Beobachtungen den Stein gleichsam ins Rollen gebracht hätte …

„Nicht möglich!“ rief Siegmar … „Nicht möglich!! Sie sind wirklich noch am Strande gewesen und haben …“

„… mancherlei erlebt, Herr Doktor … – Kommen Sie … Ich habe noch ein wenig Zeit und begleite Sie …“

Sie verließen die Terrasse …

Gerda erzählte …

Der alte Herr war sprachlos, blieb in den Dünen stehen …

Ganz hilflos ob all dem Neuen war sein Gesicht …

„Unglaublich – – unglaublich, Fräulein Gerda!! Also Herr Knobel ein … Kriminalkommissar …!! Und … Sie … Sie in Lebensgefahr …! Wenn ich nur nichts von dem Strandkorb erwähnt hätte! Sie in … Lebensgefahr! – Nein was auch alles selbst hier geschieht …! Der Baron und sein Diener entflohen …! Wirklich, ganz heiß wird einem …“

Er nahm den Hut ab und betupfte die Stirn mit dem Taschentuch …

„Wenn nur der Orlik am Leben bleibt …! Armer Mann …! Ich habe mich so manches Mal mit ihm unterhalten … Er hat mir am Buchenberg die steinige Stelle gezeigt, wo ich die Prachtexemplare von Nachtschatten fand … Ich zeigte sie Ihnen ja … Sie sind im Herbarium tadellos erhalten geblieben … Übrigens – gestern habe ich wieder ein Herbarium verkauft, Fräulein Gerda … Ich will nun heute wieder Pflanzen sammeln … Vielleicht bleibe ich den ganzen Tag weg … Sie versorgen mich wohl wie gewöhnlich mit Proviant … – Hm – eigentlich … eigentlich …“

Er verfiel in Nachdenken …

Schaute zerstreut vor sich hin …

„Nun – was denn, Herr Doktor?“

„Ja – – eigentlich müßte ich … – aber nein, nein … Das … das liegt mir nicht …! Ich werde doch lieber schweigen …“

Gerda wurde aufmerksam …

Der alte Herr trippelte unruhig hin und her und stieß mit dem altehrwürdigen Schirm in den Sand …

„Was wollen Sie besser verschweigen, Herr Doktor?!“ drängte Gerda … „Oh – vielleicht tun Sie sehr unrecht damit … Vergessen Sie nicht, daß Ihre gestrigen Beobachtungen doch recht wertvoll waren … Und wenn Sie …“

Er unterbrach sie hastig …

„Wertvoll?!“ Das klang bitter und traurig. „Wo Sie dadurch beinahe ums Leben gekommen wären?! – Außerdem hat das, was ich Herrn Doktor Tegtmüller noch mitteilen könnte, mit diesen Dingen gar nichts zu tun …“

„Verzeihen Sie, Herr Doktor … Ob Sie als Laie das beurteilen können?“

Er schaute sie grüblerisch an, nickte langsam …

„Gewiß … Das Sandloch unter dem Strandkorb hat auch anfänglich mich nicht ahnen lassen, daß es ein Bündel Kleider und andere Maskeradestücke für zwei Gauner enthielt …“

„Was haben Sie noch beobachtet, Herr Doktor …“

„Beobachtet?! Nichts …! Nur … gefunden habe ich gestern gegen abend etwas … Einen Sonnenschirm, über den hier in Karsien viel gelächelt wurde …“

„Mein Gott – das kann nur Frau Meierfelds roter Sonnenschirm sein …! Nur sie benutzte hier einen Sonnenschirm …“

„Ja – und deshalb nannte Herr Fritz Hempel Frau Meierfeld immer den Fliegenpilz … Fliegenpilze sind auch oben rot, wenn auch mit weißen Tupfen …“

„Wo fanden Sie den Schirm?“

„Ja – es gibt wohl viele rote Sonnenschirme, und ob es gerade der der Frau Meierfeld ist, kann ich natürlich nicht behaupten, zumal ich mir den Schirm der Dame nie genauer angeschaut habe … Ich habe ihn hängen lassen … Als ich ihn sah, schoß es mir nur so durch den Kopf, daß es vielleicht derselbe Schirm sein könnte …“

„Ein Stock, mit Silberplättchen oben beschlagen – – und mit geschnitztem Eulenkopf …,“ rief Gerda hastig …

Siegmar riß die kleinen Augen auf …

„Dann – dann ist’s der Schirm …“ flüsterte er.

„Und – wo fanden Sie ihn?“

„Unweit des Kinderheims im Walde nach Swinemünde zu … Am Rande eines Heidestücks … Er hing an einem Baumast … War sehr verregnet … Unweit davon ist nämlich eine Kiesgrube, Fräulein Gerda … Ich habe da schon reiche Beute gemacht. Es muß an der Bodenbeschaffenheit liegen, daß es dort die höchsten Gamma-Gräser gibt … Außerdem habe ich dort eine Spielart des Schachtelhalms entdeckt, die ich der Direktion des Botanischen Gartens in Dahlem bei Berlin einschickte … Der Direktor hat mich daraufhin …“

„Lieber Herr Doktor, der Schirm der Frau Meierfeld ist jetzt wichtiger … Ich muß Herrn Tegtmüller wecken … Der Schirm muß geholt werden … Vielleicht ist der Kommissar noch gar nicht eingeschlafen … Entschuldigen Sie … Ich will mich beeilen … Und bitte – bleiben Sie hier in der Nähe, falls Tegtmüller Sie braucht …“

„Halt – – halt, Fräulein Gerda …! Mein Morgenspaziergang …!! Ich habe doch wieder Karlsbader getrunken … Ich …“

„Sie können auch hier auf und ab gehen, Herr Doktor …“

Und Gerda lief die Dünen empor … Ihr Gesicht glühte … Sie freute sich … Sie war Tegtmüllers Gehilfin … Und – wie erstaunt würde er sein, wenn sie jetzt abermals eine Neuigkeit brachte …!

 

7. Kapitel.

Eva Evling.

Amtsvorsteher Weichbrand stand vormittags elf Uhr an seiner Gartenpforte, die Tabakspfeife im bärtigen Munde, und blickte die Dorfstraße hinab …

Vor zehn Minuten war der Zug von Swinemünde eingelaufen.

Und er wollte doch einmal sehen, ob Fremde eingetroffen waren … Die Kasse des Badeortes brauchte Geld … Die vorjährige Saison war miserabel gewesen … Die Ostseebäder waren in Verruf gekommen, sollten zu teuer sein … Neppbäder, so hatte eine Berliner Zeitung geschrieben … Nicht ganz zu Unrecht … Im Gebirge war es billiger …

Aha! – – Weichbrand erspähte eine Familie mit drei Kindern … Vater schleppte zwei Koffer, Mutter schleppte anderes … Nun – das waren bescheidene Leutchen …

Dann zwei Damen … – Weichbrand besaß Menschenkenntnis … Das war was Feines …

Und nun ein älterer Herr, Koffer in der Linken …

„Büromensch!“ brummte der Amtsvorsteher …

Und dieser Herr, der eine etwas schiefe Schulter hatte, kam nun zögernd auf ihn zu …

Grüßte …

„Sie gestatten …: Rechnungsrat Kranich …“

Herr Kranich stotterte ganz wenig …

„Könnten Sie mir vielleicht liebenswürdigerweise sagen, wo ich hier ein einfach möbliertes Zimmer für einen Monat mit Morgenkaffee mieten könnte? Peinliche Sauberkeit wäre Hauptbedingung …“

Der Herr gefiel Weichbrand.

„Wenn Sie mit einem Giebelzimmer zufrieden sind,“ meinte er … „Ich habe noch beide Giebelzimmer frei … Dort oben …“ Er zeigte auf sein Haus … „Sie sehen – mit Balkon …“

„Dürfte ich vielleicht …“

„– Sie dürfen – bitte … Ich führe Sie hinauf … Ihren Koffer lassen Sie nur vorläufig unten im Flur stehen …“

Der Herr Rat war von dem Zimmerchen entzückt.

„Ganz, wie ich’s mir gewünscht habe, Herr Amtsvorsteher …“

Sie standen jetzt auf dem Balkon …

„Und die weite Aussicht … Links ein Stück von der See … Rechts Wald, Gärten und Äcker … – Oh – da ist ja sogar ein Binnensee …“

„Der Lanken-See, Herr Rechnungsrat …“

„Romantisch – romantisch …! Das dort scheint ein Strich Moor zu sein … Birken, Erlen …“

„Und … Mücken, Herr Rat … Verflucht viel Mücken …“

„Auch die müssen sein, Herr Amtsvorsteher … Wovon sollten die Vögel leben?! – Wirklich sehr romantisch … Eine Brücke scheint da durch den Moorstreifen zu führen …“

„Ein Brettersteg, Herr Rat … – nach dem Häuschen mit den grünen Fensterläden …“

„Ein einsamer Besitz … Wer’s auch so hätte …! Solch ein ruhiges kleines Anwesen … Das ist seit langem mein Wunsch! Ich bin Junggeselle und werde nächstes Jahr pensioniert … Ich liebe die Natur …“

„Na – die Natur dort um die Villa Lanken herum – für das Häuschen eine recht prahlerische Bezeichnung! – ist mir zu mückenreich, Herr Rat …! Wie die Malerin, die das Grundstück in diesem April erworben hat, es dort aushält, ist mir unbegreiflich …“

„Malerin?! Oh – eine Künstlerin denkt in solchen Dingen anders …“

„In der Hauptsache muß sie wohl anders … fühlen … eben eine sehr dicke Haut haben … Denn wie gesagt: das Moor dort ist unser Schmerzenskind, unsere Mückenbrutanstalt …“

„Lebt die Dame denn dort ganz allein, Herr Amtsvorsteher?“

„Nein … Sie hat so eine Art Faktotum, der sich Gärtner nennt … Ohne Hilfe könnte sie den großen Obstgarten kaum in Ordnung halten … Sie sehen ja, wie weit der Garten sich in die Felder hineinzieht …“

„Hm – – ob die Dame verkaufen würde?“

„Um Gotteswillen!“ rief Weichbrand da ehrlich … „Ich warne Sie, Herr Rat! Dringend warne ich Sie … Das Haus ist ungesund … Es steht auf Torfboden …“

„Schade … schade … – Trotzdem – – trotzdem, vielleicht reut die Dame der Kauf schon … Und …“

Weichbrand lachte …

„Ob’s sie reut …!! Gestern war sie bei mir … Sie möchte wieder weg … Aber – ich habe ihr’s offen ins Gesicht gesagt: ich warne jeden Bewerber!“

„Bitte – man kann den Moorstreifen mit Petroleum tränken … Dann verziehen sich die Mücken …“

„Ja – und die Wasserpflanzen sterben ab und stinken, und wenn wir Landwind haben, ist unser Bad in üble Düfte gehüllt … Da sind die Mücken noch harmloser …“

Rechnungsrat Kranichs kurzsichtige, kneiferbewaffnete Augen ruhten sehnsüchtig auf dem hellen freundlichen Häuschen …

„Hm – würden Sie mich nachher einmal zu der Dame begleiten, Herr Amtsvorsteher? Ich … ich werde mich mit den Mücken schon abfinden … – Jedenfalls, ich miete hier … Der Preis ist mir recht, und …“

Die Stimme der Frau Amtsvorsteher kam von unten herauf …

„August, – August, hier ist ein Sommergast, der sich das andere Giebelzimmer ansehen möchte …“

Weichbrand lachte … „Das Geschäft blüht, Herr Rat … Also entschuldigen Sie mich bitte. Ihren Koffer bringe ich sofort nach oben … Waschwasser ist ja da … Wenn Sie sich also ein bißchen bereinigen wollen …“ – Und die Tür fiel hinter ihm zu …

Rat Kranich trat wieder auf den Balkon hinaus … Seine Augen waren mit einem Male so ganz anders … So scharf und durchdringend … Spähten so aufmerksam durch die Lücke zwischen den anderen Gebäuden über den Moorstreifen hinweg nach der Villa Lanken … –

Und unten begrüßte der gemütliche Amtsvorsteher den kleinen, stutzerhaft gekleideten Herrn mit dem semmelblonden Scheitel und blonden Bürstenschnurrbart …

„Silgani Romeo … Komiker, Kabarettist …“ stellte der sich vor … Und brachte sein Anliegen unter einem humoristischen Phrasenschwall: ein Zimmer mit voller Verpflegung für vierzehn Tage … Die Hauptsache – billig – billig …!

Nun, auch dieser ulkige Heilige gefiel dem Amtsvorsteher … Man wurde handelseinig. An der Gartenpforte wartete ein Junge mit dem Koffer Herrn Silganis, der übrigens dem Amtsvorsteher schon anvertraut hatte, daß er „eigentlich“ Richard Siegel heiße.

So waren denn nun Weichbrands Fremdenzimmer voll besetzt: unten der Regierungsrat mit Familie, oben die beiden „Gegensätze“, wie er zu seiner Frau sagte … Denn größere Gegensätze als zwischen dem steifleinenen Rat Kranich und dem Komiker Silgani konnte es kaum geben …

Und doch: was für ein Gesicht hätte Weichbrand wohl gemacht, wenn er zehn Minuten nach dem Einzug der „Neuen“ den Bodenvorraum betreten hätte, auf den die Türen der beiden Giebelstuben mündeten …

Diese Türen standen halb offen, und mitten auf dem Bodenvorraum flüsterten Kranich und der Komiker sehr eifrig wie vertraute Freunde miteinander …

„Sie hält sich einen Gärtner, mein Alter,“ meinte der Rat mit besonderer Betonung … „Weichbrand begleitet mich zu ihr … Ich habe die Fußmaße des struppigen Kerls von gestern nacht … Wenn das Faktotum der Malerin vielleicht dieselbe Pedale besitzt, sind wir einen Schritt weiter … Der Kerl kam ja aus der Richtung des Häuschens über den Holzsteg gekrochen, bevor er den Nachtwächter niederknallte … – Auf Wiedersehen … Wir haben Glück gehabt … Bequemer konnten wir’s gar nicht finden, – noch dazu beim Amtsvorsteher!“

Sie drückten sich die Hand, und jeder zog sich in sein Gemach lautlos zurück … –

Mittags um zwölf war Weichbrands Vormittagsdienst beendet. Der Regierungsrat saß im Garten und las.

„So – nun denn also hin zu Fräulein Eva Evling … Ein hübscher Name, Herr Rechnungsrat …“ Und Weichbrand schmunzelte … „Ist auch ein properes Frauenzimmer, die Malerin … Nicht mehr ganz jung … So um die fünfunddreißig … Das heißt: darüber darf ich eigentlich nicht sprechen – über das Alter … Amtsgeheimnis …“

Sie betraten die Straße und wanderten dem Dünenwalde zu …

„Eva Evling …,“ murmelte Rat Kranich stotternd … „Woher kam die Dame? Auch etwa Berlinerin?“

„Ja … Alles Schöne kommt aus Berlin … So, hier müssen wir abbiegen, Herr Rat …“

Und – den Hut gegen einen kleinen Herrn schwenkend, der links in den Dünen Zeitung las …

„Morgen, Herr Doktor, … morgen … Na, was macht die Botanik …?“

„Sie entwickelt sich zur Hauptwissenschaft,“ rief Doktor Siegmar zurück … „Alles Leben auf Erden begann mit der Pflanze … Wer gründlich studieren will, beginnt mit meinen Lieblingen …“

Weichbrand lachte gutmütig und meinte leise zu Rat Kranich: „Auch ein Original, der Doktor Herbert Siegmar … Wenn er könnte, würde er sich in einen Baum verwandeln – oder in eine Blume … – Na – jeder Mensch muß seinen Fimmel haben … Auch ich habe den meinen … Ich … verschlinge Kriminalgeschichten – – stoßweise … – Kennen Sie die Harald Harst-Detektivgeschichten, Herr Rat …?“

„Bedauere. Ich lese grundsätzlich nicht derlei leichte Ware …“

„Was sehr schade ist, Herr Rat …! Wenn man sich mal so recht geärgert hat, wenn man aus stiller Wut gegen dieses ganze Leben, das bekanntlich eine Hühnerleiter ist, zu nichts Lust hat, – dann tut man gut, so einen Harstband in die Pfoten zu nehmen … Das lenkt ab … Da vergißt man den Ärger, freut sich über Harsts ulkigen Freund Max Schraut, dem der Seifensieder zumeist einen Posttag zu spät aufgeht … Und – was diese beiden Berliner Detektive alles erleben, Herr Rat …!! Mal sind sie oben im Polargebiet, dann wieder im heißesten Afrika … Und – man lernt dabei, Herr Rat! Ich habe oft genug im Atlas mir die Städte, Flüsse und so weiter herausgesucht, die …“

Kranich unterbrach ihn: „Herr Amtsvorsteher, im Vertrauen: ich kenne Harst persönlich …“

Weichbrand machte halt …

„Wie – – nicht möglich … – Nie …“

„… ich bin Harsts nächster Nachbar in Berlin-Schmargendorf … Sein allernächster Nachbar …“

„Oh – – erzählen Sie doch … Wie sieht er aus … Ich habe zwar Bilder von ihm …“

„Hm – wie er aussieht?! Eigentlich jeden Tag anders … – Und deshalb lese ich eben keine Kriminalgeschichten, weil wir dicke Freunde sind und weil er mir seine Abenteuer so packend schildert, daß ich zuweilen denke, ich bin er selbst …“

Weichbrand schritt weiter – der Sumpfbrücke zu … „Ja, da haben Sie’s allerdings besser als ich, Herr Rat …! Ich beneide Sie! Ich gäbe etwas darum, wenn ich Harald Harst ein einziges Mal sehen könnte.“

Und dann standen sie auch schon vor dem grünen Staketenzaun[5] der Villa Lanken … Um das Häuschen herum kam eine schlanke Frauengestalt in hellem Kleide …

„Ein Käufer, Fräulein Evling!“ rief Weichbrand vergnügt … „Ich bringe Ihnen einen Reflektanten, der vor Mücken absolut keine Angst hat …“

 

8. Kapitel.

Die beiden Tüten.

Eine Frau, die ohne Frage einmal bildschön gewesen. Sie war noch immer begehrenswert, war sich dessen auch bewußt, ohne kokett zu sein …

Dazu war sie zu ausgeglichen. Sie besaß jene Ruhe, hinter der als Stützen die Erfahrungen eines wildbewegten Lebens stehen … –

Des Rechnungsrates verlegene, subalterne Höflichkeit und Bescheidenheit bannte sie schnell durch eine weltgewandte Liebenswürdigkeit, die den anderen Teil erwärmen sollte. –

Der Rat Kranich brachte sein Anliegen mit vielen Pausen, vielem Stottern und vielen Redensarten vor. Er sprach stets gleichsam im Kanzleistil, – das heißt: nur hier als Rat Kranich! Er konnte auch anders[6] reden …

Eva Evling führte die Gäste dann durch das Häuschen. Es hatte unten drei Zimmer, Küche und Nebenräume, oben zwei Stübchen und Boden. Ein kleiner zierlicher Stall lehnte sich an das blitzsaubere Haus an.

Kranich war begeistert …

Im Atelier der Malerin (eins der Vorderzimmer) verweilte er länger. Auf der Staffelei stand ein angefangenes Bild, ein ganz eigenartiges Motiv für eine Malerin: eine Folterkammer … Ein Weib, das nackt auf dem Streckbett lag … Zwei Männer, die mit zerquetschten Daumen vor den Folterknechten auf den Knien lagen …

Der Rechnungsrat wandte sich schaudernd ab …

Der Amtsvorsteher erbleichte sogar … Denn auch die fertigen Bilder an den Wänden zeigten ähnliche Motive … –

Dann der Gemüsegarten …

Weichbrand wunderte sich, wie verwildert hier alles war …

Und in seiner Ehrlichkeit meinte er: „Na, Fräulein Evling, der Margeiß scheint mir ein recht fauler Schlingel zu sein … An Ihrer Stelle hätte ich mir auch einen anderen Diener mitgebracht …“

„Vergessen Sie nicht: er ist kränklich, Herr Amtsvorsteher, außerdem lahm … Seine Mutter war zwanzig Jahre bei meinen Eltern Köchin. Er ist ein uneheliches Kind … Einen Menschen von solch grotesker Häßlichkeit beschäftigt niemand …“

Rat Kranich hörte alles und sah alles …

Hier in diesem Garten war seit Wochen nichts getan … gar nichts … Was also trieb dieser Margeiß?! –

Weichbrand fragte, wo der Diener stecke …

„Ich möchte ihm mal ’ne Moralpauke halten … Wenn er auch schwächlich ist: dies hier ist ’ne Schweinerei! Der Mensch kann doch wenigstens das Unkraut entfernen …“

„Er wird wohl hinten Erdbeeren pflücken,“ meinte die Malerin kühl. „Ich sehe ihn ja überhaupt wenig. Er ist ein angenehmer Hausgenosse – geräuschlos, nie störend, und dabei kocht er vorzüglich … Ich selbst bin in der Wirtschaft ganz unerfahren …“

Man schritt den Hauptweg hinab … Der große Garten war wenig übersichtlich … Als man die Hinterpforte erreicht hatte, sagte die Malerin:

„Dort kommt er … Er hat wohl im Dorfe Einkäufe erledigt …“

Rat Kranich sah einen schmalen Fußsteig, einen kleinen, blassen Menschen entlanghinken, der einen zerknitterten Leinenanzug trug und dessen spitzer Idiotenschädel unbedeckt war. Ein ebenfalls rötlicher Vollbart[7] umrahmte ein schiefes Gesicht … Die eine Gesichtshälfte war weit stärker entwickelt. Das linke Auge litt an Lidschwäche und war nur ein schmaler Spalt.

In der Tat: dieser Margeiß war abschreckend häßlich! Nur eine Malerin, die derartige Bildmotive liebte, konnte ein solches Monstrum um sich dulden …

„’n Tag, Margeiß,“ begrüßte der Amtsvorsteher den Hausgenossen der Künstlerin …

Der hagere Mensch machte eine Art Kratzfuß …

„Margeiß, der Garten ist ja schön verloddert,“ fügte Weichbrand wirklich aufgebracht hinzu … „Mensch, Sie sollten sich schämen …“

Der Diener[8] grinste blöde und drückte sich im Bogen um die drei herum. Im linken Arm trug er zwei gefüllte Tüten.

Rat Kranich meinte freundlich:

„Was haben Sie denn da Schönes eingekauft, Herr Margeiß? Sie sollen ja vortrefflich kochen können … Würden Sie bei mir als Diener bleiben, falls ich das Häuschen erwerbe?“

Der blöde Mensch schüttelte den Kopf … Kranich nähert sich ihm … Im selben Maße wich Margeiß scheu zurück …

„Ich tue Ihnen ja nichts … Hier – nehmen Sie diese Zigarre, mein Freund … Weshalb sind Sie so ängstlich …?“

Margeiß wandte sich um und wollte weiter dem Hause zu …

„Lassen Sie ihn, Herr Rat … Er hat seine schlimmen Tage – stets bei zunehmendem Mond …“

Margeiß hinkte eilig davon …

„In diesen Nächten treibt er sich stets im Garten umher,“ fuhr die Malerin fort … „Sein Hauptvergnügen ist, die hier sehr zahlreichen Igel zu beobachten … Er hat drei davon gezähmt …“

Dann wandte sich das Gespräch wieder dem Grundstücksverkauf zu. Fräulein Evling verlangt zwölftausend Mark – genau so viel, wie sie bezahlt hatte …

Rat Kranich meinte, er würde sich die Sache überlegen … „Ich pflege wichtige Entschlüsse stets erst nach einer Frist von drei Tagen zu treffen …“ –

Als Weichbrand und Kranich langsam über den Brettersteg gingen, sagte der Amtsvorsteher kopfschlackernd:

„Es gibt merkwürdige Geschöpfe in Gottes Garten … sehr merkwürdige …! Wie kann eine Dame nur solche Dinge malen, Herr Rat …! Mir kriecht’s noch immer eiskalt über den Rücken … – die Folterkammer – gräßlich!! Wer wohl so was kaufen mag, Herr Rat?!“

Kranich schwieg. Seine Gedanken waren bei zwei weit prosaischeren[9] Dingen – bei den beiden großen Tüten, die der häßliche Idiot im Arm gehabt hatte.

Und ganz unvermittelt fragte er: „Kennen Sie den Kaufmann Rumpf näher, Herr Amtsvorsteher?“

„Gottlieb Rumpf?! Und ob …!! Wir duzen uns, sind in fünf Vereinen im Vorstand … – Wie kommen Sie auf Rumpf, Herr Rat?“

„Ich las auf den Tüten, die Margeiß trug, den Aufdruck … Durch das braune Tütenpapier, das gar nicht mehr so recht frisch aussah, zeichnete sich der Inhalt ab … In der einen schienen Bohnen, in der anderen Erbsen zu sein … – Herr Rumpf ist also verschwiegen?“

„Ja …“ – und in Weichbrands Stimme war ein großes Staunen. Er begriff nicht, was Gottlieb Rumpf wohl verschweigen sollte …

„Bedient Rumpf selbst in seinem Laden?“ fragte Kranich weiter …

„Natürlich … Er hat nur einen jungen Mann …“

„Dann könnten wir zu ihm gehen, Herr Amtsvorsteher … – Sie müßten mich aber in Rumpfs Privatwohnung führen und ihn rufen lassen … so, als ob Sie ihn dringend zu sprechen hätten …“

Weichbrand starrte seinen Mieter von der Seite an … so durchdringend, als ob er als Polizeigewaltiger von Karsien einen Übeltäter vor sich hätte …

„Herr Rat … Herr Rat …, mir … kommt das alles mit einem Male sehr merkwürdig vor!“ platzte er heraus …

„Das glaube ich …“ – Sie bogen schon in die Strandpromenade ein … „Das glaube ich … – Beeilen wir uns etwas … Und – fragen Sie vorläufig nichts …“ –

In der Dorfstraße blickte Kranich sich mehrmals um …

Und dann saßen drei Herren in Gottlieb Rumpfs sogenanntem Salon …

Rat Kranich begann leise:

„Ich muß Sie beide bitten, mir durch Handschlag zu geloben, keine Silbe von dem weiterzuerzählen, was wir nun besprechen werden … Sie geben mir Ihr Wort, nicht wahr?“

Erstaunte Gesichter, aber derbe ehrliche Händedrücke.

„Nun denn,“ fuhr Kranich fort, „es handelt sich um das Faktotum der Malerin, meine Herren … – War Margeiß vorhin bei Ihnen im Laden, Herr Rumpf, und – hat er Zweierlei eingekauft? Zwei große braune Tüten, die jede etwa drei Pfund enthielten?“

Gottlieb Rumpf machte ein sehr erstauntes Gesicht – noch erstaunter als bisher …

„Margeiß kauft sehr selten bei mir, Herr Rat … Und heute war er bestimmt nicht bei mir … Ich bin von acht Uhr unten im Laden gewesen …“

„So … so … – die Tüten sahen auch wie gesagt sehr beschabt, gar nicht neu aus – so, als ob sie schon längere Zeit irgendwo samt Inhalt verwahrt gewesen …“

Jetzt konnte Weichbrand doch nicht länger an sich halten …

„Herr Rat, entschuldigen Sie: worauf wollen Sie damit hinaus?! Ich …“

„… ich will Ihnen beiden einen Beweis meines Vertrauens geben,“ fiel Kranich ihm ins Wort … „Ich sagte Ihnen auf dem Hinwege, daß ich den Detektiv Harald Harst sehr, sehr gut kenne … – Meine Herren, ich bin Harald Harst …“

„Aha!!“ rief der Amtsvorsteher … „Vor einer Sekunde ist mir ein Licht aufgegangen … Herr Harst, ich wußte, daß …“

„Bitte –: Herr Rat – vorläufig noch Rat Kranich! Es muß sein – – muß …!! – Ich will Ihnen beiden weiter mitteilen, daß die Verwandten der Frau Meierfeld mich und meinen Freund Schraut hergeschickt hatten. Aus dem Glückauf mußten wir flüchten – als Baron Gerlenstein und Diener Johann … Dort im Glückauf hatten wir auch nichts erreicht … Jetzt hat sich die Sache geändert …“

Rumpf und Weichbrand hatten rote Köpfe vor Aufregung bekommen …

„Insofern geändert, meine Herren, als Schraut und ich in der Nacht einen kleinen Menschen mit wahrhaft affenartiger Behendigkeit über die Holzbrücke von der Villa Lanken nach dem Dünenwalde kriechen sahen … So wurde ich erst auf das einsame Häuschen aufmerksam … Erst Sie, Herr Amtsvorsteher, erwähnten dann das Faktotum der Malerin … Und da hielt ich es für richtig, Fräulein Evling einmal persönlich kennenzulernen … Es hat gelohnt … Ich behaupte, Margeiß war der … der Waldmensch, der den Nachtwächter niederschoß. Margeiß ist nicht lahm. Er heuchelt dieses Gebrechen … Als er vorhin, als ich mit ihm sprach, vor mir so auffällig zurückwich, trat er auf den Rand eines Beetes in die noch regenfeuchte Erde … Der Abdruck seines linken Stiefels – er trägt schwarze plumpe Schnürschuhe – entsprach genau der Spur des Mannes, der in der Nacht Fräulein Gerda Gaard betäubte, nachdem er Schraut und mich mit einer Schnelligkeit und Kraft, die auf Übung und eiserne Nerven schließen läßt, niedergeschlagen hatte …“

Gottlieb Rumpfs Gesicht war etwa so, als ob vor seinen Füßen eine Bombe geplatzt wäre …

Weichbrand aber nickte ernst … „Ich weiß alles … Es sind auch Kriminalbeamte hier in Karsien … Der eine war morgens bei mir …“

„Tegtmüller?“ fragte Harst mit feinem Lächeln … „Ich weiß nämlich auch alles, Herr Amtsvorsteher … Das so nebenbei … – Was Margeiß und seine heutigen angeblichen Einkäufe betrifft: die Tüten hält er irgendwo außerhalb des Grundstückes bereit, damit er seine Abwesenheit bemänteln kann, wie er das im Einverständnis mit Fräulein Evling heute tat … Sie, meine Herren, werden das später noch besser verstehen … Jetzt nur das eine: Wenn Sie plaudern, werden die Mörder der drei Verschwundenen uns entwischen. Also …!!“

Und er erhob sich …

„Ihnen besten Dank, Herr Rumpf … Wenn jemand Sie fragt, weswegen wir hier waren: wegen des Ankaufs der Villa Lanken, – ob der Preis nicht zu hoch sei – irgend etwas … Sie verstehen …“

„Ich verstehe, Herr … Herr Rechnungsrat …“ –

Und wieder schritten der Rat Kranich und Weichbrand durch die freundlichen Straßen … Der Amtsvorsteher war noch wie benommen … Er hätte so unendlich viel zu fragen gehabt … Aber der Respekt vor dem Manne, der nun in seinem Hause wohnte und den er stets als eine Art Übermensch betrachtet hatte, verschloß ihm den Mund.

Auch Harst grübelte vor sich hin … Sagte dann in seiner unvermittelten Art:

„Schraut ist Silgani, Herr Amtsvorsteher …“

Weichbrand nickte nur …

Wenn der Detektiv ihm jetzt mitgeteilt hätte, daß Gottlieb Rumpf mit den Mördern unter einer Decke stecke, hätte ihn das auch nicht weiter gewundert … –

Frau Weichbrand lehnte an der Gartenpforte … winkte …

„Das Mittag wird kalt, August …!“ – sie war sichtlich empört …

Rat Kranich bat, auch ihn heute mit zu verpflegen … Er sah Schraut in der Laube hinter dem gedeckten Tisch sitzen …

„Vielleicht esse ich mit meinem Giebelstubennachbar zusammen, Frau Weichbrand … Ich werde mich mit ihm bekannt machen …“

Die Frau Amtsvorsteher eilte ins Haus …

Weichbrand blieb stehen, flüsterte zögernd:

„Herr Rat, wissen Sie schon etwas von dem roten Sonnenschirm der Frau Meierfeld …?“

„Nein, – was ist’s damit?“

Der Amtsvorsteher erzählte …

„Doktor Siegmar und Kriminalkommissar Tegtmüller haben ihn dann wirklich noch an der Kiefer neben der Kiesgrube gefunden … Tegtmüller will jetzt die Kiesgrube durchsuchen lassen …“

Harst schaute sinnend auf die fröhlich jauchzenden Kinder des Regierungsrates, die weiter hinten im Garten sich mit der Schaukel vergnügten …

„Er wird dort nichts finden, der Tegtmüller,“ meinte er zerstreut … „Dieses Verbrechen hat Motive, die nicht gerade alltäglich sind … – Auf Wiedersehen, Herr Amtsvorsteher … Ich will mich nun Herrn Silgani vorstellen …“

Das sagte er so ernst, als ob der angebliche Komiker ihm wirklich ein Wildfremder sei …

 

9. Kapitel.

Die Kiesgrube.

Harst saß in der Laube seinem Freunde gegenüber. Frau Weichbrand hatte soeben die Suppe aufgetragen: Kalbsbrühe mit Klößen …

„Das duftet!“ hatte Silgani begeistert gerufen … „Nektar ist Spülwasser im Vergleich zu dieser Götterspeise!“

Und dann, als die behäbige Frau Amtsvorsteher verschwunden:

„Nun rede von der Leber weg, Harald … Ich verstehe noch immer nicht recht …“

„Lieber Alter, ein Mensch kann Gesicht, Kopfform, Figur, Sprache und Bewegungen verändern, wenn er darin geübt ist und wenn er Talent hat … Eins kann er nicht: seine Augen färben und seine Körperlänge wesentlich umgestalten! Als ich Margeiß vor mir sah, als ich diese scheinbar gutmütigen braunen Augen sah, da war’s mir, als ob der Sonderling aus dem Glückauf mich anschaute, der Doktor Siegmar … Und der hatte in den Dünen gesessen, als Weichbrand und ich nach der Brücke abbogen … Der hatte noch ein paar Worte mit Weichbrand gewechselt … Und als dann Margeiß über die Felder mit den Tüten daherkam, als diese hagere kleine Gestalt hinkend nahte, als anderes geschah, was mich stutzig machte, da … dachte ich: Siegmar kann hier vielleicht zwei Rollen spielen! Wenn Siegmar, der im Glückauf mit allen Gästen vertraut steht, vielleicht ein ganz geriebener Schurke ist, wenn er sich irgendwo in Margeiß verwandelt hat und nun schleunigst die Villa Lanken aufsucht, weil ich als Rat Kranich für seine scharfen Augen doch wieder nur der Baron Gerlenstein, also Harst, bin, den er nachts beseitigen wollte, wenn … es kein Zufall sein kann, daß die Namen Siegmar und Margeiß dieselben Silben haben, das „Sieg“ nur umgekehrt, – wenn, wie die Malerin betonte, Margeiß halb mondsüchtig sein soll und nachts sich umhertreibt, – was sie doch nur aus Schlauheit betonte dann … dann fehlte eben nur noch der Fußabdruck, den ich auch erzwang, indem ich dem Diener auf den Leib rückte … Und dann fehlte auch nur noch der Besuch bei Kaufmann Rumpf, mein Alter, um die Beweiskette zu schließen: Margeiß ist Siegmar! Und er und die Evling haben die drei beiseite geschafft. Siegmar hat die Briefe gefälscht, die von den Opfern scheinbar aus Swinemünde abgeschickt waren und in denen sie ihre plötzliche Abreise anzeigten und um Nachsendung ihres Gepäcks baten – immer nach demselben Schema, was darauf schließen läßt, wie sicher sich die Mörder fühlten!“

Schraut hatte noch nicht einen einzigen Löffel Suppe genossen …

„Jetzt iß!“ mahnte Harst …

Und er ging ihm mit gutem Beispiel voran …

Und schon kam Frau Weichbrand mit einem Riesenteebrett …

Mit gebratenen Hühnchen, Salat, Speise mit Vanillentunke …

Diesmal konnte Silgani-Schraut doch nicht so viel Verstellungskunst aufbringen, um in helles Entzücken wie vorhin zu geraten …

Kranich tat’s für ihn …

Und die rundliche Dame entfernte sich schmunzelnd … Das waren wirklich nette Mieter, die beiden Herren.

Harst zerlegte säuberlich sein Hühnchen, das innen mit Speck und Petersilie gefüllt war …

„Delikat, mein Alter …“

Aber Schraut saß mit versonnenem Gesicht da und fragte unsicher:

„Du meinst also, daß Siegmar auch diese Deine Maske durchschaut hat?“

„Bestimmt …“

Er lächelte …

„Übrigens ging er vor drei Minuten draußen auf der Straße vorüber – als Siegmar … Und seine angeblich kurzsichtigen Äuglein bewunderten die hohen Sonnenblumen dort am Zaun … Das heißt: er sah uns beide …! Er wird nun seine Dispositionen treffen … Mein Besuch in Villa Lanken drängt die Übeltäter zum Handeln … Vielleicht – vielleicht stellt der rote Sonnenschirm den Köder für uns dar. Überlege Dir: in der Nacht mußte Siegmar flüchten, weil Gerda Gaard ihn störte … Der Schuß hat uns das Leben gerettet … Wäre Fräulein Gerda nicht als rettender Engel aufgetaucht, lägen wir jetzt vielleicht irgendwo im Moor unweit des Häuschens … – Wir entkamen ihm … Aber er wußte: wir würden wieder auftauchen. Und da hat er den roten Sonnenschirm an die Kiefer gehängt, kalkulierte: Harst erfährt von dem Sonnenschirm, wird die Kiesgrube besichtigen … Und dort vollende ich, was nachts mißlang. – Mithin – wir werden nach Tisch einen Spaziergang machen, und Weichbrand wird uns genau angeben, wo die Kiesgrube liegt. Ich möchte Siegmar die Sache erleichtern …“

Pause … „Und nun – die Hühnchen …! Unser Geist ist mit Stoff versorgt! Auch der Leib will das seine haben …!“

Sie aßen …

Und wieder begann Harst[10] dann, indem er zwanglos die eine leckere Keule benagte: „Ich erwähnte bereits die merkwürdigen Bilder, mein Alter … Besonders die Folterkammer mit ihren drei Hauptfiguren, die Frau auf dem Streckbrett und die beiden Männer mit den Daumschrauben … Ich sage Dir: noch nie habe ich so naturgetreu wiedergegebene schmerzverzerrte Gesichter auf einem Gemälde geschaut wie hier … Und obwohl das Bild nur erst Entwurf war: die drei Hauptfiguren waren vollkommen fertig – ein Weib, zwei Männer.“

Schrauts Gesicht ward fahl vor Entsetzen …

Mit zitternden Händen legte er Messer und Gabel [ab …][11]

„Mein Gott, – – Du glaubst etwa, daß …“

„Ich glaube, daß die Evling nach lebenden Modellen gearbeitet hat … Ich kann mich irren … Ich glaube es nicht … Nein – bei diesem Verbrechen spielt mehr mit als nur Habgier … Das sind nicht lediglich drei Raubmorde …“

„Mein Gott …!“ flüsterte Schraut, bis ins Innerste von Grauen geschüttelt … „Das … das wären dann ja … Bestien … Bestien!“

„Oder … Irrsinnige!“ sagte Harst mit schwerer Betonung … „Es gibt einen Wahnsinn, der sich nur auf einzelnes Gebiet beschränkt … Es gibt Künstler, die durch Fehlschläge wahnsinnig werden … – Was wissen wir über die Evling und Siegmar?! Beide fraglos feingebildete, geistig hochstehende Menschen … Siegmar weit gereist, die Malerin ohne Zweifel keine bloße Dilettantin … Und arm kann sie auch nicht gewesen sein … Sie kaufte hier das Häuschen vor den drei Verbrechen … Sie richtete das Häuschen behaglich ein … – Lieber Alter, dieser Fall liegt noch immer durchaus nicht klar … Nein, im Gegenteil – mein Gefühl sagt mir, daß wir hier noch mehr Überraschungen erleben werden … – So, unsere Mahlzeit ist beendet … Nun will ich doch einmal feststellen, ob Fräulein Evlings Bodenfenster besetzt ist …“

„Was heißt das?“

„Weichbrand und ich besichtigten das ganze Haus … Da war auch auf dem Boden vor dem einen Dachfensterchen ein Stativ – ein Stativ für ein Fernrohr … Ich fragte nicht weiter … Rechnungsrat Kranich hatte dafür kein Interesse. Aber Harst sagte sich, daß dieses Dachfenster ausgerechnet nach dieser Seite hinausgeht, und daß man mit einem Fernrohr hier den Garten und die Pforte einsehen kann, also auch feststellen, wenn jemand den Garten verläßt … Von meinem Balkon werde ich jetzt Ausschau halten, werde die Blumen auf der Balkonbrüstung begießen … Du kannst derweil Freund Weichbrand fragen, wie wir am besten auf einem harmlosen Umweg die Kiesgrube erreichen …“ –

Zur selben Zeit saß man in der großen Veranda des Glückauf gleichfalls bei der Mittagstafel …

Obenan thronte Frau Anna Gaard, ein verzerrtes Lächeln um die Lippen … Vorhin hatte Exzellenz von Galdau ihr mitgeteilt, daß sie mit ihren Töchtern abreisen würde … Und dabei hatte sie der bedauernswerten Pensionsinhaberin die mit einem Flugzeug eingetroffene Morgenausgabe einer Berliner Zeitung hingehalten, in der mit Sperrdruck die „Tragödien von Karsien“ in einer bereits an die Saure-Gurken-Zeit gemahnenden Breite und Ausführlichkeit mit allen beteiligten Namen behandelt war …

Daß Ihre Exzellenz weniger dieser „Tragödie“ als vielmehr Gerda Gaards wegen das „gefährliche“ Pensionat verließ, wußte Frau Anna recht gut. Die Aufmerksamkeiten, die der Oberingenieur Knobel ihrem Kinde erwiesen, hatten Ihre Exzellenz bereits gestern zu bissigen Bemerkungen veranlaßt …

Und das Flüstern und Tuscheln um die Plätze der drei Galdauschen Damen herum deutete nur zu sehr darauf hin, daß die dreifache Tragödie nun auch den Weg zu den Ohren anderer Gäste fände …

Kurz – Frau Gaard war äußerst niedergeschlagen … Und auch Gerda konnte kaum mehr so viel Selbstbeherrschung aufbringen, daß sie über Herrn Fritz Hempels Scherze wenigstens ganz schwach lächelte. Trotzdem war sie dem Schauspieler von Herzen dankbar, weil er der einzige war, der diese Begräbnisstimmung an der Tafel etwas milderte.

Tegtmüller-Knobel war nicht anwesend. Er schlief … Er hatte sich nach dem Spaziergang zur Kiesgrube todmüde in Kleidern auf den Diwan geworfen und wollte erst gegen fünf geweckt werden.

Auch der freundliche Doktor Siegmar war heute auffallend zerstreut und gab Frau Anita Hempel ganz verkehrte Antworten.

Den Baron Gerlenstein vermißte niemand … Der war für die meisten gekommen und gegangen wie Meteor – – mit Monokel, aus anderen Welten, in andere Welten, in andere Welten samt seinem Diener zurückkehrend … Nur Exzellenz von Galdau trauerte ihm nach, obwohl er doch der glatten Reizlosigkeit von Emmelinde und Astrid keinen einzigen wärmeren Blick seiner kühl-ablehnenden Augen gegönnt hatte … Nur Exzellenz bedauerte den Scheunenbrand auf dem Gute des Barons, der diesen zur Abreise gezwungen … Und dieses Bedauern und der Ärger, daß der Oberingenieur Knobel keinerlei Verständnis für schlanke aristokratische Linien besaß, die durch keinerlei Wellenform in der Gegend der Atmungsorgane unterbrochen worden, – all dies reizte sie, dem elenden Pensionat Glückauf den Todesstoß zu versetzen … „Mörderhöhle“ – „Fanggrube“ – „Verbrecherkeller“ – so ähnlich ergänzte sie die Angaben des Artikels aus jenem Berliner Blatte, und erreichte auch, daß gleich noch sieben weitere Gäste, die sich in der Sonne ihres Exzellenztitels besonders gern wärmten, der armen Frau Gaard zum Schluß der Woche kündigten … –

Frau Anna teilte dies weinend Gerda mit … Und Gerdas Tapferkeit erlitt einen neuen Stoß … In ihrer Angst floh sie zu „Onkel Weichbrand“ hinüber, klagte diesem ihr Leid … Der saß gerade im uralten Ohrensessel in seinem Büro und … verdaute … Nahm ihre Hände, tröstete …

„Deern, Deern, nu man nich gleich den Kopp verlieren … Deern, mir ist ja leider das Maul zugebunden … Aber ich sage nur: der Kladderadatsch kommt – kommt so sicher, wie übermorgen Sonntag ist … Da … da ist einer, der sich auf solche Kladderadatsche versteht, mien Deern … Abwarten – – und Haltung, Deern!! Verflucht noch mal: Ihr Vater, Gerdachen, das war ein Kerl!! Der hatte nicht vor dem Gottseibeiuns Angst …!“

Beruhigt schlich Gerda wieder nach Hause – hinten an den Gärten entlang … Weit hatte sie es nicht.

Zwei wanderten schweigend dahin, im Zauber des deutschen Forstes … Zwei, die schon andere Wege gegangen – ganz andere – in Tropen und Nordländern, unter Palmen und durch glühende Wüsten, zwei, denen keine Gefahr fremd, die mit Gefahren spielten und das eigene Leben wenig achteten, wenn es galt, einem großen Geheimnis nachzuspüren …

Hier gab es kein Geheimnis mehr zu enthüllen … Ein verbrecherisches Trauerspiel brauchte nur noch den letzten Akt, – und den wollten sie dazudichten …

„Hier in der Nähe müßte es sein,“ sagte Harst in gewohnt gedämpftem Tone … „Dort drüben ragt das Dach des Kinderheims durch das Grüne …“

Und sie traten zwischen den Bäumen auf die wellige Heide hinaus – geduckt, spähend, keine harmlosen Spaziergänger mehr …

Und horchten auf …

Hörten vor sich den Klang eines Spatens in hartem Boden – metallisch, wie Schwerter, die aneinander klingen …

Standen bald am Rande der Kiesgrube …

Sahen unten den kleinen freundlichen Doktor Herbert Siegmar knien …

Er grub Pflanzen aus … Stachlige Nesseln, hatte schon neben sich einen ganzen Berg Unkraut mit Wurzelballen im Rucksack liegen …

„Oh – er versteht’s!“ flüsterte Harst … „Immer – seiner Rolle getreu …! Und Eva Evling am Fernrohr … – er ist uns vorangeeilt, er ohne Frage triumphierend, daß wir auf den Köder angebissen haben … – innerlich überzeugt, daß wir seine Doppelrolle nie durchschauen werden … – Gut – – also … mag der Schlußakt der Tragödie beginnen … Unsere braven kleinen Clement stecken[12] griffbereit … Und die Augen werden wir gut offenhalten … Was er auch planen mag: ich mache ihm einen Strich durch die feine Rechnung.“

Und – – laut rufend:

„Hallo – sind Sie nicht Herr Doktor Siegmar?“

Kein Sterblicher konnte überraschter emporfahren als das kleine Männchen …

Keiner so tadellos Komödie spielen …

Harst und Schraut kletterten den Gang hinab …

Grüßten …

„Entschuldigen Sie …,“ sagte Rat Kranich mit einer Verbeugung … „Wir haben uns ein wenig verlaufen … Rechnungsrat Kranich mein Name … Hier Herr Komiker Silgani, mein Stubennachbar … – Sie, Herr Doktor, sprachen doch heute mit dem Amtsvorsteher … Ich erkenne Sie wieder … Würden Sie uns nicht Bescheid sagen, wie wir auf kürzestem Wege nach Karsien zurückkämen …?“

 

10. Kapitel.

Der Kirchhof von Lanken.

Doktor Siegmar lächelte höflich, zwinkerte mit den Äuglein und meinte: „Ich bin hier gerade fertig, meine Herren … Wenn Sie gestatten, gehen wir zusammen nach Karsien … Ich wohne ja auch dort … – Wie Sie sehen: ich bin Botaniker – ein ganz bescheidener, ganz bescheidener … Privatmann nur … Nur Privatmann … Trotzdem: ich habe einige Erfolge … Ich habe zum Beispiel entdeckt, daß es hier eine Sumpfdotterblume mit … – aber, das wird ja die Herren nicht interessieren … Ich packe nur zusammen … Meine Lieblinge wollen sorgfältig behandelt werden, bevor ich sie in Schönheit in einem Herbarium sterben lasse … Pflanzenmumienfabrikant – – ja, man muß verdienen … Wenig genug kommt dabei heraus …“

Er kniete nieder und packte sein Unkraut ein … –

Schraut, der doch wahrlich genug seltsame Gewächse aus dem Menschengarten des Herrn kennengelernt hatte, konnte sich gar nicht vorstellen, daß dieser Doktor Siegmar zwei Seelen in seiner Brust tragen sollte …

Das Männchen benahm sich so vollkommen zwanglos, und harmlos, als hätte er niemals auch nur einer armseligen Maus ein Härchen gekrümmt.

Man plauderte über alles Mögliche … Aber – Siegmars Begleiter waren Leute, denen nichts entging … So konnten sie denn auch sehr bald feststellen, daß der Doktor Wege einschlug, die er offenbar genau kannte und die allerhöchstens einmal von Förstern oder Waldarbeitern benutzt wurden – Pfade, die sich kreuz und quer durch den herrlichen Forst schlängelten und dabei doch an manchem Aussichtspunkt vorüberführten, der ein paar Minuten des Verweilens wohl wert war …

So näherten sich die drei Herren denn allmählich dem unweit von Karsien gelegenen Buchenberge …

Berühmt war diese langgestreckte, bewaldete Erhebung … fiel nach der See zu schroff ab … Hatte versteckt zwischen knorrigen Buchen hier und da noch Andenken an Pommerns Schwedenzeit bewahrt: Mauerreste, Trümmerhaufen …! Hier hatte einst die Schwedenburg Karsien trutzig über die Ostsee geschaut … Und hier auf einer Lichtung blieb das Männchen plötzlich stehen …

„Historischer Boden!“, sagte er feierlich. „Ich habe die Chronik der Insel Usedom nachgelesen. Hier hat der schwedische General Graf Wrangel, ein Ahn des „ollen Papa Wrangels[13]“, einst den Brandenburgern eine böse Schlappe bereitet … Und hier – unter den Farnkräutern – sehen Sie noch die umgestürzte Steinplatte mit der Erinnerungsinschrift, meine Herren …“

Er drängte sich durch das Gestrüpp, bückte sich … schob die hohen Stauden auseinander … „Ich habe bereits dem Provinzialmuseum in Stettin Nachricht von diesem Funde gegeben … Die Platte ist Marmor, wenn auch sehr verwittert … Hier oben das Wappen des Generals Wrangel und zwei gekreuzte Schwerter …“

Harst und Schraut hatten auch ihre schwachen Stunden …

Hier nur Minuten … Minuten, wo die raffinierte Schlauheit dieses kleinen Ungeheuers Triumphe feierte.

Bückten sich …

Standen dicht nebeneinander …

Sahen das Wappen …

Hörten das ernste Geschwätz des Doktors … Ahnten nicht, daß er sie gerade dorthin gelockt hatte, wo er sie haben wollte … Daß sie auf einer überwucherten anderen Platte standen, daß da nur eine Holzstütze mit einem Strick diese Platte im Gleichgewicht hielt … Daß der Strick durch Dornen und Brombeerranken sich schlängelte …

Und – nun … sprang Siegmar mit einem affenartig behenden Satz zurück …

Der Strick wurde von einer zweiten Person mit einem Ruck angezogen …

Die große Steinplatte kippte nach unten … Die Marmorplatte desgleichen …

Und hinab in die Tiefe sausten die beiden Arglosen … acht Meter tief – in den Keller eines Eckturmes, von dem über der Erde nichts mehr vorhanden war als diese heimtückische Falltür: zwei Steine, an den vier Außenkanten in gut geölten Zapfen sich drehend …

Acht Meter tief – hinab in Finsternis und Moderduft … Beide übereinander stürzend … Beide sekundenlang[14] halb betäubt liegenbleibend …

Oben wurden die Platten von Siegmar und Eva Evling wieder hochgeklappt … Ein eingeklemmter Stein hielt sie wagerecht … Das Gestrüpp wurde ein wenig in Ordnung gebracht … Die Fußspuren verwischt …

Dann schritten die Evling und Siegmar von dannen – ohne jedes Zeichen äußerer Erregung …

„Ich wußte, daß es glücken würde,“ sagte das Männchen gleichgültig … „Morgen früh haben sich die geknickten Gräser wieder erholt … Und wenn die schlauen Herren auch noch so laut um Hilfe rufen: es nützt ihnen nichts – gar nichts! – Wir haben nun Ruhe vor ihnen, Eva … Wir sind wieder sicher wie bisher. Daß Harst zu irgend jemand seinen Verdacht gegen mich …“ – er lachte leise – „gegen mich, Deinen[15] Gärtner, geäußert haben sollte, ist ausgeschlossen. Das tut er nie. Er schweigt bis zum letzten Moment. Außerdem: selbst wenn er etwa Weichbrand gegenüber eine Andeutung gemacht hätte: man soll [es][16] uns doch erst einmal beweisen! Doktor Siegmar reist morgen zusammen mit der Exzellenz – Hopfenstange ab … Reist tatsächlich bis Ducherow … Dann kann Exzellenz bezeugen, daß der später spurlos verschwundene Siegmar im Zuge gesessen und diese schöne Gegend lebend verlassen hat … Dann wird nachmittags Dein braver Margeiß den beiden Spionen das Sterben erleichtern, indem er eine große Flasche einer unangenehmen Flüssigkeit durch die Ritze der beiden Steinplatten in das Kellerloch gießt … Man muß menschlich denken, Eva … Der Hungertod dauert zu lange … viel zu lange … Und nachher hast Du wieder zwei prächtig Modelle, liebe Schwester … Etwas Geld und Geldeswert wird dabei ja auch noch abfallen …“

Und das alles in demselben Tone, wie er immer sprach …

Einem anderen Zuhörer hätte es Eisesschauer über den Leib gejagt … Eva Evling lächelte nur …

Doktor Siegmar (und das war sein wirklicher Name und Titel) ließ sich von seiner Stiefschwester eine Zigarette geben …

„Ich kann nun mein dreibändiges Werk drucken lassen,“ meinte er nach den ersten Zügen … „Löbel hatte fünftausend Mark bei sich – ein ganz nettes Sümmchen … – Ja, ja, wenn dieser Harst ahnte, daß die drei Verschwundenen auch dort hinabgesaust sind, wo er nun mit Schraut umsonst einen Ausweg sucht …! Wir können dies Geschäft im nächsten Jahr wieder getrost aufnehmen, Eva … Dann ist Gras über die diesjährige Geschichte gewachsen – dichtes Gras …“

Sie näherten sich Karsien … Trennten sich … Es war besser, daß man sie nicht zu häufig zusammensah … – –

Amtsvorsteher August Weichbrand rannte im Wohnzimmer wie ein gefangener Löwe auf und ab …

In der Sofaecke saß Oberingenieur Knobel, und auf einem Stuhl neben dem Sofatisch der Kriminalassistent Götting … – mit dem langhaarigen Teckel auf dem Schoß …

Durch die beiden Fenster lugte das Abendrot hinein.

„Herr Kommissar,“ sagte Weichbrand energisch, „ich habe zwar mein Wort gegeben, zu schweigen … Aber,“ – er blieb am Tische stehen – „aber – jetzt muß ich reden … Meine beiden Gäste haben das Abendbrot versäumt … Halb Zehn ist’s jetzt … – Herr Kommissar: Kranich und Silgani sind Harst und Schraut!“

Tegtmüller schnellte empor – kerzengerade …

„Und – das … das sagen Sie jetzt erst?! – Und – zur Kiesgrube?! – Götting – vorwärts …!! Die Liddy muß helfen … Herr Weichbrand, holen Sie aus Harsts Giebelzimmer irgend einen Gegenstand, an dem der Teckel Witterung nehmen kann … Vielleicht einen Mantel … Das genügt … Und dann – los – zur Kiesgrube … Hier ist …“

Weichbrand seufzte kläglich … So unendlich kläglich …

„Herr Kommissar … Herr Kommissar – ich muß alles sagen … Harst hat Verdacht gegen die Bewohner der Moorvilla …“ Und nun erleichterte er sein Herz.

Tegtmüllers Gesicht wurde immer starrer … –

Fünf Minuten später schlenderte Götting mit seinem Hunde davon … So recht gemächlich …

Nach einer Weile folgten ihm Tegtmüller und Gerda Gaard, die bei der Frau Amtsvorsteher in der Küche gewartet hatte …

Erst im Hochwalde trafen Götting und die beiden zusammen. Die Dunkelheit wurde immer stärker. Aber Gerda war eine sichere Führerin …

Eine halbe Stunde noch – und Liddy hatte die Fährte angenommen … Die Teckelhündin riß an der Leine vor Eifer … Und hinter ihm das Paar … zwei Menschen, denen das feierliche Rauschen des nächtlichen Waldes Sehnsucht ins Herz wehte …

Hans Tegtmüller hielt Gerdas Hand …

„Fräulein Gerda – ein Mädchen wie Sie – das wäre die rechte Lebensgefährtin für einen Kriminalkommissar … Furcht kennen Sie nicht … Sie sind … ein liebes, liebes, tapferes Mädel …“

Und – es war ja so dunkel – den Arm legte er um sie …

Zog sie an sich …

„Gerda, wie wär’s – würden Sie … ja sagen … Gerda – würdest Du ja sagen …?“

Auf mondhellem Fleck standen sie …

Gerda Gaard sagte gar nichts …

Aber mit einem seligen Lächeln schmiegte sie sich an ihn …

Götting wandte sich um …

Und – – schüttelte den Kopf …

Unerhört – – die beiden küßten sich … küßten sich immer wieder …

Unerhört, – – und – man sollte doch wahrlich keine Zeit[17] verlieren …!! – –

Mitternacht …

Hinten im Gemüsegarten zwischen den Haselnußsträuchern hatte Margeiß die tiefe Grube ausgehoben …

Daneben lagen drei längliche in Leinwand gehüllte Pakete …

Chlorgeruch mischte sich in die nächtlichen Düfte des nahen Moores …

Der Mond schimmerte durch die leise wehenden Zweige …

Eva Evling lehnte an einem niederen Birnbaum.

„Beeile Dich doch, Herbert …!“ mahnte sie ungeduldig …

Er lachte …

„Der Kirchhof von Lanken soll nicht abgepfuscht werden … Nur Geduld …“

Er legte den Spaten weg …

Und – drehte jäh den Kopf nach links …

Ein Winseln … ein Hund …

Stille …

Er duckte sich zusammen …

„Eva …!!“ – Keuchend – röchelnd … „Eva … – – – es ist … aus …!! Da – hörst Du … Die Gartenpforte knarrte …“

Seine Gestalt straffte sich …

Ein Blick durch die Büsche …

Gestalten auf dem Hauptweg …

Wieder das Winseln …

Doktor Siegmar riß die Mauserpistole aus der[18] Tasche …

„Eva – – lebend niemals!! Sie sind da …! Harst, Schraut – – die anderen …“

Hob den Arm …

Kalt – ruhig … Zielte …

Ein Schuß zerriß die Stille der lauen Juninacht …

Noch einer …

Eva Evling fiel vornüber auf das Gesicht …

Mit dumpfem Poltern stürzte Doktor Siegmars Körper in die Grube, die er für andere gegraben … – –

Nur Exzellenz Galdau nebst Töchtern reiste am nächsten Tage ab … Die anderen Gäste blieben – denn das Schreckgespenst des Glückauf war für immer gebannt …

Abends feierte man eine stille Verlobung … Fritz Hempel sang nur ernste Lieder … Tegtmüller hatte an Hempels nichts mehr auszusetzen … Sie hatten ihm bewiesen, daß sie niemals auch nur im geringsten mit der Polizei in Konflikt geraten waren … –

In Harald Harsts Bibliothek hängt ein unfertiges Gemälde … Eine Folterkammer – ein grauenvolles Motiv, und doch künstlerisch, die drei Hauptfiguren unheimlich lebenswahr …

Das ist des Detektivs bleibende Erinnerung an den Kirchhof von Lanken und an zwei rätselhafte Verbrecher, von denen niemand recht weiß, ob die Gerichte sie nicht als unzurechnungsfähig in eine Anstalt anstatt auf das Schafott[19] geschickt hätten …

 

 

Anmerkungen:

  1. Fehlendes Wort „er“ ergänzt.
  2. Doppeltes Wort „hervor …“ entfernt.
  3. In der Vorlage steht: „aufgestellt“.
  4. Überflüssiges Wort „hatte“ entfernt.
  5. In der Vorlage steht: „Stakentenzaun“.
  6. In der Vorlage steht: „anedrs“.
  7. In der Vorlage steht: „Vollbort“.
  8. In der Vorlage steht: „Diner“.
  9. In der Vorlage steht: „prosaerischen“.
  10. In der Vorlage steht: „Herst“.
  11. Fehlendes Wort „ab“ sowie Auslassungspunkte ergänzt.
  12. In der Vorlage steht: „Unsere brave kleine Clement stecken …“.
  13. In der Vorlage steht: „Wragels“.
  14. In der Vorlage steht: „Sekundenlang“.
  15. In der Vorlage steht: „Deinem“.
  16. Fehlendes Wort „es“ ergänzt.
  17. Überflüssiges Wort „zu“ entfernt.
  18. Doppeltes Wort „der“ entfernt.
  19. In der Vorlage steht: „Schaffott“.