Sie sind hier

Der blinde Brahmane

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 15

 

Der blinde Brahmane.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26.

 

1. Kapitel.

Die Schlangenkiste.

Wir näherten uns Indien – dem Zauberlande Indien! Was hätte ich darum gegeben, wenn wir das von der Reling unseres Dampfers aus bereits erkennbare Bombay, diese nächst Kalkutta größte Hafenstadt des indischen Kaiserreichs, hätten als harmlose, friedfertige Touristen betreten dürfen!

Aber – wir waren ja leider durchaus nicht friedfertig. Im Gegenteil: wir setzten Cecil Warbatty nach – noch immer! Wir wußten, er war abermals entwischt. Und die größte Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß er uns dort drüben in Bombay bereits erwartete, um seine wiederholte Drohung wahr und uns – kalt zu machen.

Wir standen an der Reling und genossen das seltsame Bild der Riesenstadt mit ihren fast eine Million Einwohnern, mit ihren 89 Moscheen, 41 Hindutempeln, mit ihrer ganzen seltsamen Anlage auf der gleichnamigen Insel, die wieder zwei Halbinseln nach Süden zu ins Meer hinausschickt.

„Entzückend!“ schwärmte Harst. „Ich kenne Bombay recht gut. Trotzdem überwältigt mich dieser Gesamteindruck abermals. – Sieh nur – all diese weißen Villen, diese riesigen Fabriken, diese Kuppeln der Moscheen! Und dort, mein lieber Schraut, dort auf der Südspitze der Halbinsel Malabar Hill die berühmten fünf „Türme des Schweigens“, nördlich davon der nicht minder berühmte Walkeshar-Tempel.“ – Eine kurze Pause. Dann: „Übrigens wird es jetzt für uns Zeit, hier von Bord zu verschwinden, das heißt, uns so zu verändern, daß auch Warbattys Geieraugen uns nicht erkennen. Komm’ also in unsere Kabine. Mit Kapitän Anderson, auf dessen Schweigen wir uns verlassen können, habe ich bereits alles vereinbart. Die Anzeige hat er uns besorgt. Sie werden zunächst ihre Schuldigkeit tun. Die Hauptsache ist, daß wir unerkannt an Land gelangen. Alles weitere findet sich dann schon – auch unser Freund Cecil wird zu finden sein!“ –

Eine halbe Stunde drauf legte der Dampfer am Viktoria-Dock an. Die Fahrgäste verließen das Schiff; das Ausladen des Gepäcks begann; hierbei halfen auch zwei schmierige Heizer, deren fettige, rußige Gesichter infolge besonderer, von Harst ersonnener Kniffe mit den unsrigen sehr geringe oder besser gar keine Ähnlichkeit hatten.

Plötzlich gab Harst mir einen Rippenstoß, als wir gerade einen Riesenkoffer auf das Rutschbrett der Ladeluke bugsierten.

„Du – er ist schon da, unser lieber Freund! Glotze nun aber bitte nicht nach dem Bollwerk hinunter, als erwartetest Du dort Deine nicht existierende teure Braut oder Gattin herauszufinden unter all den hunderten von Neugierigen! – Ich begreife nur nicht, wie Warbatty so frech sein kann, sich dort beinahe in seiner wahren Gestalt aufzubauen, – er, der doch ein tadelloser Verkleidungskünstler ist und dem doch die Polizei hier genau so eifrig nachsetzt wie überall! – Offen gestanden, diese freche Sicherheit, die unser Liebling hier zur Schau trägt, behagt mir nicht. Ich wittere geradezu eine Teufelei –“

Der Riesenkoffer rutschte auf das Bollwerk hinab. Wir tauchten wieder im Laderaum unter. Ich zog Harst in einen Winkel, wo die übrigen Arbeiter nicht auf uns achteten.

„Weshalb gehst Du nicht einfach zu Kapitän Anderson und veranlaßt ihn, Warbatty in aller Stille festzunehmen,“ meinte ich. „Tu’s doch! Anderson ist ja ein schlauer Kopf. Auf den kann man –“

„Lieber Schraut,“ unterbrach er mich. „Du vergißt die Hauptsache: Mir muß jetzt mehr als bisher daran liegen, diesen vielfachen Mörder nicht lediglich hier sofort verhaften zu lassen, sondern vorher noch seine hiesigen Pläne zu durchkreuzen. Er hat hier – das steht ja wohl außer Zweifel – abermals einen „großen Schlag“ vor. Und – er soll endlich einsehen, daß ich der Mann dazu bin, zweierlei gleichzeitig und endgültig zu erreichen: seine Festnahme und die Vereitelung seiner Pläne! Endgültig!“ Harsts Stimme verriet seine Erregung. „Hier in Bombay wird er zur Strecke gebracht – oder ich bin ein elender Stümper.“

„Gestatte,“ warf ich ein. „Du hattest ihn ja auch in Aden den Behörden überliefert. Was kannst Du dafür, wenn diese Idioten ihn wieder entschlüpfen ließen?!“

„Oh – sehr viel, mein lieber Schraut, – sehr viel kann ich dafür! Ich hätte in Aden die Sache unbedingt so einrichten müssen, daß Warbatty nicht mehr entfliehen konnte, – also –“ – er flüsterte noch leiser – „einen so scharfen Zusammenstoß zwischen ihm und den Polizeibeamten herbeiführen müssen, daß er – tot am Platze blieb. Ich weiß jetzt: anders ist dieser vielfache, rücksichtslose Mörder nicht unschädlich zu machen. Nun – ich richte mich für Bombay darauf ein, das kannst Du mir glauben!“ Und seine Stimme sagte mir abermals, daß es ihm mit alledem völlig ernst war.

Er hatte ja auch recht damit: eine Verhaftung hätte die Welt nie von diesem Scheusal befreit!

Wir schwangen jeder einen kleineren Koffer auf die Schulter, stiegen zur Ladeluke empor. Und wieder raunte Harst mir zu: „Er steht noch immer da!“

Gleich darauf sah ich, daß Harst sich auf Kapitän Anderson zuschlängelte. Was sie dann hinter einem Stapel Kisten auf dem Vorschiff verhandelten, sollte ich bald gewahr werden. – Harst tauchte wieder im Laderaum auf.

„Komm’ hinter mir drein – unauffällig!“ meinte er leise und stieg die Treppe zu dem tieferen Ladedeck hinab. Hier erwartete uns Anderson schon, führte uns in einen Verschlag, der durch dicke Eisenplatten gegen Einbruch geschützt war und zur Beförderung der unter Wertversicherung aufgegebenen Stückgüter diente.

Außer anderen Gepäckstücken stand hier auch in einer Ecke eine mit Zinkblech benagelte, sehr große Kiste, deren übergreifender Deckel ebenso wie die Seitenwände zahlreiche kleine Luftlöcher hatte.

„Dies ist die Schlangentransportkiste, Master Harst,“ erklärte Anderson. „Die giftigen Bestien, die ich vor einem Monat hierin für einen Freund mit nach London nehmen wollte, krepierten unterwegs. Eine dreiviertel Stunde werden Sie beide es darin schon aushalten.“

In der Kiste lagen noch die wollenen Decken, in die die Reptile eingehüllt gewesen waren. Harst warf einige davon heraus und kletterte nun in den Kasten hinein.

Wir hatten wirklich gerade so viel Platz, nebeneinander mit angezogenen Beinen zu sitzen.

Anderson verschloß die Kiste, zog den Schlüssel ab, rief uns noch leise ein: „Auf Wiedersehen in meinem Heim!“ zu und verließ die Kammer.

„Wir werden jetzt sofort abgeholt und nach dem Bungalow Andersons (Bungalow, luftig gebautes, villenähnliches Haus) auf Malabar Hill transportiert werden, während der Kapitän unseren Landsmann, den deutschen Steward Grüttner, der ja ein geriebener Bursche ist, hinter Warbatty her schickt. Ich habe Anderson unseren „Freund“ gezeigt.“ Harst lachte leise auf. „Nun soll unser Cecil mal versuchen, uns hier aufzustöbern in Bombay! Wird ihm schwer werden!“

Mein guter Harald hätte damals lieber mit dem triumphierenden Lächeln sparsamer sein sollen! Die Zukunft bewies, daß …

Doch – ich will den Ereignissen nicht vorgreifen. –

Die Sache schien tadellos zu klappen. Nach zehn Minuten wurde unsere Kiste auf das Bollwerk geschafft, wobei uns die Dampferwinde eine kleine Luftreise vermittelte. Wäre die Kette gerissen, hätten wir wohl so viel Arm-, Bein- und sonstige Brüche davongetragen, daß Warbatty in aller Seelenruhe hier in Indien sich hätte fernerhin betätigen können.

Aber – die Kette hielt. Wir merkten, daß wir auf einen Handwagen verladen wurden, hörten wachsenden Straßenlärm um uns herum und fuhren über offenbar gutgepflegte, glatte Wege dahin. – So ging’s etwa zehn Minuten weiter. Dann wurde es stiller ringsum. Der Weg führte wohl durch entlegenere Gassen.

Plötzlich hörten wir, daß die beiden Eingeborenen, die den Wagen schoben, und die sich zuweilen in Mahrati (indische Sprache der nordwestlichen Gebiete) unterhalten hatten, angesprochen wurden und zwar offenbar von einem farbigen, sehr groben Polizisten. Ich selbst verstand von dem Wortwechsel nichts. Als ich Harst fragte, was los sei (er beherrschte wenigstens einige der indischen Mundarten leidlich), meinte er, unsere „Schieber“ hätten einen für Wagenverkehr verbotenen Weg benutzt.

Die Kistenfahrt ging weiter. Dann wieder ein Aufenthalt; wieder eine halb gebrüllte Unterredung; wieder vorwärts. –

„Wenn’s noch lange dauert,“ erklärte ich schließlich, „bekomme ich Wadenkrämpfe –“

„Ich auch!“ war Harsts lakonische Antwort. Er zog seine Uhr, die er ebenso wie Revolver, Brieftasche und anderes bei sich behalten hatte. Das Leuchtzifferblatt strahlte vor mir als helle, kleine Scheibe.

„Hm!“ machte Harst. „Eine Stunde sind wir bereits unterwegs! Und Anderson sprach nur von etwa 45 Minuten bis zu seinem Bungalow. Sollte etwa –“

Er führte den Satz nicht zu Ende. – Diese halb beendeten Sätze waren bei ihm stets der Hinweis auf irgend eine Gefahr, die er selbst noch nicht klar überschaute. Kein Wunder, daß mir in dem engen Behälter noch heißer wurde als bisher.

„Fürchtest Du etwa, daß diese Transportgeschichte hier irgendwie nicht stimmt?“ fragte ich schnell, und mir lief jetzt der Schweiß in Strömen am Leibe entlang.

Er antwortete nicht sofort. Dann: „Meinst Du, wir fahren zur Zeit über einen gebahnten Weg?!“ sagte er langsam. „Mein lieber Freund und Privatsekretär, ich schätze, Cecil Warbatty hat uns schon wieder in den Klauen, oder aber er hofft doch wenigstens, daß ihm dieser Streich gelingen wird. Unser Wagen rumpelt über Steine, Baumwurzeln, Aststücke. Wir befinden uns mithin außerhalb der Stadt. Nach Malabar Hill führen nur tadellose Straßen. – Warte – wir werden sofort Gewißheit haben. Es geht nicht anders: ich muß mich sehr energisch melden! Sehen können wir nichts. Die Luftlöcher laufen ja so schräg durch die Bretter, daß sie als Ausguck nicht verwendbar sind.“

Ich merkte, daß er aus der Innentasche seiner schmierigen Heizerjacke etwas herausnahm. Dann leuchtete der weiße Kegel seiner Taschenlampe auf. Mit der Faust trommelte er nun mit aller Gewalt gegen das Holz, rief gleichzeitig auf englisch:

„He – anhalten, Boys, – sofort! – stehen bleiben!“

Und der Erfolg?!

Unser Wagen begann plötzlich in Galopp überzugehen. Wir flogen hin und her, mußten uns mit aller Kraft gegen die Seitenwände stemmen, um nicht mit dem Kopf gegen den Deckel zu stoßen. Das dauerte nur wenige Minuten. Dann brüllte Harst mir zu: „Halte Dir die Ohren zu. Ich schieße!“

Der Wagen glitt jetzt wieder über ebenen Steinboden hin. – Ich sah, daß Harst die Stelle beleuchtete, wo die Krampe des Vorlegeschlosses an den an der Innenseite des Holzes umgebogenen Schraubenenden zu erkennen war.

Dann – der erste Schuß! – Trotz der Finger in meinen Ohren vernahm ich ihn wie einen furchtbaren Donnerschlag in diesem engen Kasten, in dem die Schallwellen keinen Ausweg fanden.

Noch ein Schuß – noch einer. Alle sechs Patronen verfeuerte Harst, lud die Waffe schnell wieder.

Der Wagen raste weiter – immer noch über glatte Steinfliesen offenbar. Dann ein fürchterlicher Stoß, der uns übereinanderwarf; dann weitere Stöße, als schleppe man das Gefährt eine Treppe hinauf; und dann – dann hatte ich das Gefühl, daß wir samt unserem Kasten durch die Luft flogen; nun ein neuer Krach, das Aufplatschen von Wasser.

Und Wasser drang nun auch durch die Löcher der Seitenwände in feinen Strahlen ein.

Wir sollten also ersäuft werden – sollten spurlos und für immer auf dem Grunde irgend eines Teiches, Flusses oder dergleichen verschwinden!

Die Schlangenkiste füllte sich rasch; sie lag mit der einen unteren Längskante als Kiel schräg im Wasser.

Harst hob abermals mit der Linken die Taschenlampe und mit der Rechten den Revolver, rief gleichzeitig:

„Reich’ mir Deine Waffe, Schraut, – schnell!“

Er feuerte; das Holz zersplitterte; ein zerfetztes Loch entstand; dann nahm er auch meinen Revolver, jagte wieder sämtliche Kugeln in der Nähe der Schrauben in das Holz. Ich lud indessen seinen Revolver mit flatternden Fingern.

Wir saßen bereits im Wasser; die feinen Strahlen mehrten sich, je tiefer die Kiste sank.

Harst riß mir die frisch geladene Waffe aus der Hand. Wieder das entsetzliche Getöse von sechs Schüssen.

Dann – der äußere Blechbeschlag war jetzt gleichfalls durchsiebt – gebrauchte Harst den Revolverlauf als Stemmeisen, stieß ihn in das ausgefaserte Loch, stieß immer wieder zu. Er kniete jetzt halb. Sein Nacken drückte gegen den Deckel.

Und da – urplötzlich eine blendende Lichtflut über uns.

Der Deckel war aufgesprungen; die Krampe hatte sich gelöst!

 

2. Kapitel.

Der Irrgarten der Tempelruinen.

Wir erhoben uns; der Kasten schlug um. Aber – was tat uns das jetzt?! Wir waren gute Schwimmer.

Ich sah nun, daß wir uns in einem gemauerten, riesigen Bassin befanden, zu dessen trübem Wasser vier Steintreppen hinabführten. Ich hatte erwartet, daß auf dem Rande des Bassins vielleicht Leute als Zuschauer noch stehen würden, die uns hier wie räudige Katzen hatten ertränken wollen. Es war jedoch kein Mensch zu erblicken; lediglich ein paar Palmenkronen und Mauertrümmer von Türmen ragten über den Bassinrand so hoch hinweg, daß man sie gerade noch gewahr wurde.

Harst schwamm mir voran der einen Treppe zu. Unsere Revolver hatten wir in der Hand behalten, und das erste, was Harst nun tat, war eine oberflächliche Säuberung der Waffen und eine Ergänzung der Ladung. Wortlos tat er’s, ließ dabei seine Blicke immer wieder über die Mauerkrone des Bassins hinschweifen, als argwöhne er eine neue Teufelei.

Unsere nassen Leinenanzüge waren uns nicht weiter lästig. Sie würden bei der herrschenden Hitze in kurzem trocknen. – Jetzt reichte Harst mir meine Waffe und meinte:

„So, nun können wir versuchen, von hier fortzukommen. – Weißt Du, was dieses gemauerte Bassin vorstellt? Es ist eine heilige Badestelle der Hindu. Du siehst es dem Wasser an, daß es geradezu ekelhaft schmutzig ist. Es wird auch nur von Zeit zu Zeit ergänzt, denn die Geschichte ist verdammt kostspielig, da es aus dem heiligen Strome, dem Ganges, stammt und in großen Behältern mit der Bahn herbeigeschafft werden muß. Solche Badebassins findest Du hier in Indien in allen größeren Orten. Es gibt bekanntlich keine Religion, die so seltsame und zahllose Gebräuche hat als der Brahmanismus. Du wirst staunen, was Du in dieser Beziehung hier alles erlebst!“

Er stieg die Stufen langsam hinan, lugte über den Rand der Mauer hinweg. – Das Bassin stand im Hofraum eines ausgedehnten, alten Tempels, dessen Reste bereits derart mit Unkraut überwuchert waren, daß man nur noch die Türme als Mauerwerk auf den ersten Blick erkennen konnte. Die Baulichkeiten bildeten grüne Hügel, in denen sich dunkle Löcher öffneten: die einstigen Türen und Torbögen. Der Hof selbst, mit uralten Palmen und knorrigen, baumartigen Büschen bestanden, war mit Steinfliesen ausgelegt, die sternförmig Wege nach dem Bassin bildeten. Das Ganze wirkte wie ein Traum aus Märchentagen, zumal die Riesenblüten der Büsche geradezu betäubende Duftwellen ausströmten und die einzigen lebenden Wesen hier ein Dutzend Pfauhähne waren, die gravitätisch mit ihren aufgerichteten, schillernden Prachtschweifen einherstolzierten.

Noch etwas befand sich hier: ein zweiräderiger Handwagen aus Bambusstangen mit Holzscheiben als Rädern dicht an der nächsten Treppe, die zur Höhe des Bassins emporführte. –

Harst ließ seine Blicke noch immer umherschweifen. Dann sagte er:

„Ich kenne diese Tempelruinen. Sie liegen nördlich des Rennplatzes von Bombay. Ihr Betreten ist jedem Nichthindu verboten. Die englische Regierung hält sehr streng darauf, daß das religiöse Empfinden der Inder in keiner Weise verletzt wird. Wir wollen uns daher auch schleunigst und möglichst unbemerkt davonmachen.“ Er deutete auf die Räderspur des Karrens, die in den zwischen den Steinfliesen wuchernden Gräsern deutlich sichtbar war und auf einen dunklen, von Schlinggewächsen halb verdeckten Torbogen zulief. „Dort geht’s ins Freie, Schraut. Nimm den Revolver entsichert in die Hand. Und schieße sofort, wenn Dir etwas verdächtig erscheint. Trotz des hier herrschenden Friedens traue ich der Geschichte nicht!“

Er schritt wieder voran. Die Treppe war steil, die in den Hof hinabging. Kein Wunder, daß die Leute, die uns samt dem Wagen zur Höhe des Bassins emporgeschleppt hatten, uns mit so groben Stößen durchrütteln mußten, bevor sie unseren Schlangenkasten dann durch Umkippen des Wagens ins Wasser beförderten.

„Es müssen ihrer vier gewesen sein,“ meinte Harst, den Kopf nach mir zurückwendend. – Er hatte also genau gewußt, daß ich in diesem Moment an unsere „Schieber“ gedacht hatte. „Zwei oder drei hätten den Wagen nicht nach oben bekommen. Natürlich Spießgesellen Warbattys, die nun überzeugt sind, die Befehle ihres Herrn und Meisters tadellos ausgeführt zu haben.“ Er lachte leise auf. „Die Halunken kommen mir hoffentlich noch vor die Revolvermündung! Dann sollen sie erleben, daß Harald Harst auf zwanzig Schritt jedes As aus einer Karte schießt, wenn der Revolver nicht gerade zu schlecht ist.“

Er probierte jetzt seine Taschenlampe. Sie hatte durch das Wasser nicht gelitten. Vor uns lag nun das finstere Loch. Kein in der Ferne schimmernder Lichtschein zeigte, wo dieser offenbar sehr lange, tunnelartige Gang endete. Harst trat ein, ging sehr behutsam auf Zehenspitzen, ließ den Lichtkegel unermüdlich umhergleiten und hielt den Revolver mit halb erhobenem Arm schußbereit.

Dieser gewölbte, mit Marmorplatten überall ausgelegte Tempelgang hatte verschiedene Abzweigungen. – Harst blieb nach etwa drei Minuten stehen, leuchtete den Fliesenboden ab, schüttelte ärgerlich den Kopf und flüsterte: „Hier fehlen die Gräser, die den Abdruck der Räder des Handwagens wenigstens einen Tag festgehalten hätten. Wir müssen daher auf gut Glück den Ausgang suchen. Zur Zeit sind wir fraglos in einem unterirdischen Teile des alten Tempels. Der Gang hat sich bis hierher etwa um acht Meter gesenkt.“

Er schritt wieder weiter. Meine siegesgewisse Heiterkeit, die nach der glücklichen Errettung aus dem ekelhaften Bassin einigermaßen berechtigt gewesen, schwand jetzt schnell dahin. – Abermals verstrichen fünf Minuten mit planlosem Umherirren durch stockdunkle Gänge, kleine Nischen und zumeist achteckige Räume, in denen stets auf niedrigen Postamenten scheußliche Tongötzen uns entgegengrinsten oder blutbespritzte Opfersteine uns bewiesen, daß die Bekenner Brahmas hier noch heute ihre religiösen Feiern abhielten. Die lautlose Stille ringsum war nervenaufreizender als der ärgste Straßenlärm einer Großstadt. Nicht einmal Ratten gab es hier. Und dieses Ungeziefer ist doch überall zu finden, in Wahrheit international.

Wieder machte mein Freund und Brotherr halt. „Lieber Schraut, Du lernst hier gleich einen jener kleinen Bauspäße kennen, die die altindischen Baukünstler sich sehr gerne leisteten. Der sogenannte Irrgarten ist eine Erfindung des Orients und erst durch die Kreuzzüge nach Europa verpflanzt worden. Dieser Höhlentempel stellt einen Irrgarten dar. Du wirst schon gemerkt haben, daß die Nischen und Achtecke sich wie ein Ei dem andern gleichen. Bei diesem planlosen –“

Irgendwo in der Ferne erklang ein vielstimmiger Schrei, der Harst genau so wie mich entsetzt zusammenfahren ließ. Die Steinwände der sich kreuzenden zahllosen Gänge warfen dieses heisere Kreischen, dem nach einigen Sekunden einzelne ähnliche Töne folgten, so deutlich zurück, daß es klang, als müßte der schauerliche Lärm dicht vor uns entstanden sein.

Harst lauschte – „Affen – heilige Affen!“ sagte er dann. „Du wirst wohl schon mal was von dem Affentempel in Benares gehört haben, Schraut. Dort werden diese Viecher zu hunderten zu Ehren irgend einer Gottheit geradezu gemästet. Und wehe dem, der so eine verwöhnte Bestie tötet! Auch da würde der englische Kolonialrichter sofort eingreifen. – Ah – schon wieder das Gezeter! Komm’ – es muß ganz in der Nähe sein!“ Er riß das Futter aus seiner schmierigen Mütze und zerfetzte es zu kleinen Stücken, warf immer eins davon nach etwa fünf Schritten auf den Boden, damit wir denselben Weg nicht zwecklos zweimal machten.

Harst ließ sich durch das immer deutlicher werdende Geschnatter der Affen leiten. Plötzlich dann vor uns ein breiter Strich grellsten Sonnenlichtes. Wir wagten uns jedoch nur so weit vorwärts, daß wir durch die Toröffnung des Ganges einen Teil des kreisrunden, schüsselartigen Hofes überblicken konnten, in dessen Mitte zwischen den Trümmern eines eingestürzten Turmes Büsche, Palmen und andere tropische Bäume einen dichten Hain bildeten. Die Kronen dieser Bäume und die Mauerreste waren besetzt von einer Affenherde langschwänzigen, graugrünen Gesellen, die mit allerhand Wurfgeschossen nach einem Manne zielten, der mit dem Rücken nach uns hin vor einem Götzenbildnis kniete und unausgesetzt ein Dornenbündel nach hinten auf seinen nackten Rücken fallen ließ.

Dieser geradezu mit einer Schmutzkruste bedeckte braune Kerl trug einen blendend weißen Turban, sonst nur noch einen Lendenschurz aus Bastgeflecht.

„Ein Heiliger – ein Brahmane!“ flüsterte Harst. „Der Schmutzfink hat sich mit dem Mist heiliger Kühe über und über eingerieben. Derartige Hauteinsalbungen sind hier bei den Frömmsten der Frommen genau so beliebt wie bei unseren Damen der – natürlich „französische“ – Puder. Leider verbreiten diese Kuhdüngerverehrer Düfte, die nicht gerade angenehm sind.“

Unter dem weißen Turban hing dem Brahmanen ein zottiger Haarwust ins Genick, für den man daheim den Ausdruck Weichselzopf gebraucht hätte. Der Heilige schlug unablässig mit den Dornen seinen Rücken, ganz unbekümmert um die Affen, die mit Ästen, Steinen und Kot nach ihm warfen.

Harst stieß mich an. – „Da rechts – das sind fraglos die Hüter dieses Heiligtums, ebenfalls Brahmanen.“

Ich blickte hin. Dort hockten regungslos mit untergeschlagenen Beinen vier Inder vor einer niedrigen Mauerpforte und stierten in ein Kupferbecken hinein, dem leichter Dunst entstieg.

Harst zog mich wieder tiefer in den Gang zurück. „Wir müssen schleunigst von hier fort,“ meinte er. „Ich hatte gehofft, dieser ausgedehnte Komplex von ober- und unterirdischen Tempeln sei unbewohnt. – Suchen wir jetzt den Ausgang mehr mit dem Verstande als mit den Augen –“

Er wandte seine Aufmerksamkeit jetzt lediglich dem Fliesenboden zu. In der Tat fand er auch bald in einem Gange etwas wie eine durch die häufige Benutzung ausgetretene Rinne, der wir nun mit aller Vorsicht folgten. Nach einigen Fehlschlägen und einer weiteren halben Stunde in diesem verwünschten Irrgarten gelangten wir ins Freie, das heißt in eine enge Gasse zwischen Ruinen. Diese Gasse lief nach links in einen Palmenwald hinaus, nach rechts aber in ein finsteres, hohes Torgewölbe hinein. Wir wandten uns also nach links. Und – ich atmete erleichtert auf, als uns nur noch wenige Schritte von den ersten Palmen trennten. Auch Harst schlug jetzt ein schnelleres Tempo ein, prallte dann jedoch ganz plötzlich zurück, riß mich halb in die Ranken der über die Mauerreste wie Vorhänge hinabfallenden Schlingpflanzen hinein und raunte mir zu: „Der zottelige Schmutzfink sitzt dort links neben dem Ausgang und neben ihm ein kleines Hindumädchen. – Was nun?! Wenn der braune Kerl uns sieht, schlägt er sofort Lärm, verfolgt uns und sorgt für unsere Verhaftung. Dann können wir uns auf ein paar Tage Loch gefaßt machen wegen Tempelentweihung!“

„Ich denke, wir werden doch wohl etwas flinker sein als der Heilige,“ meinte ich. „Und – dieser Warnungsapparat tut auch ein übriges!“ Dabei hob ich meinen Revolver in Brusthöhe.

„Gut – versuchen wir’s. Es hilft ja auch nichts. Hinaus müssen wir unbedingt –“

Auf unseren Segeltuchschuhen schlichen wir wie die Katzen weiter. Nun erblickte auch ich den Brahmanen. Er und das Mädchen, ein Kind von wohl kaum zehn Jahren, saßen mit den Gesichtern nach dem Palmenwalde zu. Wir kamen unbemerkt mit ihnen auf eine Höhe. Dann rasten wir vorwärts.

Hinter uns kreischte das Mädchen her, brüllte auch der Heilige in allen Tonarten. Ich wagte einen Blick nach rückwärts. Die beiden Inder dort, der Brahmane und das Kind, standen und schauten uns nach, folgten uns aber nicht.

Zehn Minuten drauf erreichten wir den Rennplatz. Unsere Kleider waren längst trocken. Harst sagte mir, daß der Vorort, in dessen Straßen wir jetzt einbogen, Bykulia heiße und im Süden an das Eingeborenenviertel Black Town grenze.

Wir fragten uns bis zu einer Straßenbahnhaltestelle durch, von wo wir nach Malabar Hill hinüberfahren konnten. Nach weiteren zehn Minuten stiegen wir aus. Kapitän Joe Anderson hatte uns die Lage seines Bungalows genau beschrieben, – am Südhange des 290 Meter hohen Kumbala-Berges. Wir fanden die reizende Holzvilla auch, die inmitten eines großen Gartens unter wahrhaft riesigen Palmen träumte.

 

3. Kapitel.

Der „falsche“ Warbatty.

Als wir uns dem Hause näherten, tauchte ein alter Hindu auf, offenbar ein Gärtner, musterte uns scharf, bücklingte dann trotz unseres strolchmäßigen Aussehens sehr tief vor den weißen Sahibs und meldete uns dem Kapitän.

Anderson kam uns ganz aufgeregt entgegen, fragte sofort, was uns denn eigentlich widerfahren sei, er habe geradezu schon Angst um unser Leben geschwitzt. Vorhin seien die beiden Lastträger, die die Schlangenkiste nach seinem Bungalow hätten bringen sollen, zu ihm gekommen und hätten erklärt, ein eingeborener Polizist wäre ihnen unterwegs entgegengetreten und hätte ihnen befohlen, in einen Hof einzubiegen. Hier hatte der Beamte sie verhaftet und ihren Karren samt der Kiste vier anderen Eingeborenen übergeben, die damit sofort von dannen eilten, während sie selbst den Polizisten nach der nächsten Polizeiwache begleiten mußten. In diesem Hause aber hatte er sie dann allein gelassen. Und erst nach einer geraumen Weile war da in ihnen der Verdacht aufgestiegen, sie könnten Betrügern in die Hände geraten sein. Sie verließen daher den Flur der Polizeiwache wieder und begaben sich sofort nach dem Viktoria-Dock zurück, trafen hier jedoch auf dem Dampfer den Kapitän nicht mehr an und suchten ihn daher in seinem Bungalow auf.

„Sie können sich denken, verehrtester Master Harst, daß ich unter diesen Umständen sogleich die Polizei alarmierte,“ fügte Anderson hinzu. „Man sucht jetzt überall nach der Schlangenkiste. – Und ich – ich habe mich rein in Schweiß aufgelöst vor Sorge um Sie! Inspektor Greaper von der hiesigen Polizei meinte – ich telephonierte ihn an, daß natürlich dieser Halunke von Warbatty dahinter stecke. – Ein wahres Glück, daß Sie lebendig vor mir stehen –“

Er hatte uns inzwischen auf die rund um das Haus laufende Veranda geführt. Hier lernte ich zum ersten Mal eine Punka kennen, jene großen, von der Decke herabhängenden Fächer, die dazu bestimmt sind, die Backofenglut Indiens etwas zu mildern. – Unser Tisch auf der Veranda stand unter zwei Punkas, die von einem Diener, der unter der Veranda hockte, durch Ziehen an den Stricken dauernd in Bewegung gehalten wurden.

Ein anderer Diener brachte Eislimonade und kalte Speisen. Nachdem er verschwunden, berichtete Harst leise unser Abenteuer. Anderson kam gar nicht zu Atem vor Ausrufen ungläubigen Staunens.

„Wie kann dieser Halunke von Warbatty nur gemerkt haben, daß die Kiste gerade Sie und Ihren Freund Schraut beherbergte?!“ rief er nun. „Der Mensch steht wirklich mit dem Bösen im Bunde!“

Harst aß mit Behagen seine Ölsardinen und die Röstschnitten.

„Hm – er hat eben gute Augen und einen hellen Kopf, Master Anderson,“ meinte er. „Als die Kiste mit den vielen Luftlöcher auf dem Bollwerk mittels des Dampfkrans landete und Sie dann persönlich die beiden Lastträger herbeiriefen und nach Ihrem Hause beorderten, wird oder vielmehr muß Warbatty ganz in der Nähe gewesen sein. Die Luftlöcher werden seinen Verdacht erregt haben. Er ist eben schlauer als der Durchschnitt. Er wird sich gesagt haben, der Riesenkasten dürfte sich ganz gut dazu eignen, seine Freunde Harst und Schraut von Bord zu schmuggeln. Das weitere war für ihn, der hier ja fraglos seine Helfershelfer hat, ein leichtes.“

„Nun,“ lächelte Anderson, „dafür sitzt er jetzt aber auch bereits hinter Schloß und Riegel! Diese Überraschung habe ich mir absichtlich bis jetzt aufgespart, Master Harst!“

Harst ruckte zusammen, schaute den Kapitän fragend an und sagte schnell: „Wirklich – verhaftet?! – Ich – bezweifle dies.“

„Oh bitte! Inspektor Greaper läutete mich vor wenigen Minuten an und teilte mir mit, er habe Warbatty im Cafee India festnehmen lassen, nachdem der Steward Grüttner ihm bis dahin gefolgt war und dann einem der Straßenpolizisten sich anvertraut hatte. – Warbatty leugnet natürlich, der vielgesuchte Verbrecher zu sein und behauptet Thomas Simpson zu heißen und –“

In diesem Augenblick betrat ein Diener die Veranda und meldete den Inspektor Greaper. –

Dieser, ein dürrer, quittengelber Engländer, dem man das Gallenleiden von weitem ansah, beglückwünschte uns aufs liebenswürdigste zu unserer Rettung. Man merkte, daß er vor Harsts Weltruf als Liebhaberdetektiv die größte Hochachtung hatte. – „Ihr Abenteuer mit Warbatty in Kairo stand in allen Zeitungen, Master Harst,“ meinte er. „Es würde mir ein Vergnügen sein, zusammen mit Ihnen dieses Verbrechergenie unschädlich zu machen.“

„Na nu,“ platzte Anderson heraus, „ich denke, Sie haben den Schurken schon in Eisen gelegt –“

Greaper zuckte bedauernd die Achseln. „Leider nein! Zu spät fiel mir ein, daß dem echten Warbatty der linke Zeigefinger fehlt. Der, den wir auf des Stewards Veranlassung verhafteten, hat alle zehn Finger und hat außerdem schon durch hiesige Geschäftsfreunde nachgewiesen, daß er wirklich Thomas Simpson heißt und Kaufmann in Kolombo auf Ceylon ist und nur vorübergehend sich hier zu Handelszwecken aufhält.“

Harst hatte nach einer Zigarette gelangt.

„Merkwürdig,“ meinte er gelassen, „sehr merkwürdig! Ich hätte geschworen, daß der kleine Kerl im gelben Leinenanzug dort am Viktoria-Dock Warbatty sein müßte, zumal der Mensch noch links einen Zwirnhandschuh anhatte. – Ich gebe zu: mein alter Feind hat mich wieder einmal hineingelegt. – Trotzdem: ich möchte diesen Simpson mir ansehen, Master Greaper. Oder – haben Sie ihn bereits entlassen?“

„Nein. Er wartet in meinem Dienstzimmer auf der Polizeidirektion. Er will dort bleiben, bis Ihr Verschwinden so oder so aufgeklärt sei. Ich hatte nämlich gleich die Absicht, Master Harst, Sie ihm gegenüberzustellen, falls Sie – noch lebten. – Draußen steht mein Auto. Vielleicht brechen wir sofort auf. Ich möchte die Sache mit Simpson schleunigst in Ordnung bringen. Sonst beschwert er sich womöglich über seine Festnahme. Bisher nimmt er die Geschichte mehr von der scherzhaften Seite.“ –

Harst und ich (unsere Koffer befanden sich ja bereits im Hause) zogen uns schleunigst um und begleiteten den Kriminalinspektor dann nach der Polizeidirektion. So lernte ich nun auch die Prachtstraße Bombays, die Esplanade, mit ihren geradezu bezaubernden Parkanlagen kennen.

Das Auto hielt. Harst stieg zuerst aus. Es war jetzt halb sieben Uhr abends, und ringsum flutete der nach des Tages Hitze neu erwachte Verkehr der berühmten Hafenstadt in all seiner Eigenart, seinem Völkergewirr und seinen zahllosen, schreienden Straßenhändlern hin und her.

Harst blieb am Trittbrett mit der Hacke jedoch hängen und schlug lang auf das Pflaster hin. Ich sprang zu. Er richtete sich mit meiner Hilfe mit schmerzverzerrtem Gesicht auf, deutete auf seinen linken Fuß und rief Greaper zu, der noch vom Auto aus gefragt hatte, ob er sich verletzt habe:

„Sehnenzerrung zum mindesten. Ich bin für Tage ein Krüppel! Ein verwünschtes Pech!“

Wir mußten ihn in die Mitte nehmen und stützen. Er hüpfte mühsam in die Vorhalle, wo Greaper ihm dann einen Stuhl bringen ließ. – Gleich darauf erschien der Inspektor mit Master Simpson.

Ich hatte Warbatty nun doch verschiedentlich, wenn auch verkleidet zumeist, aus nächster Nähe betrachten können. Auch ich hätte geschworen, daß dieser Simpson, der uns harmlos und höflich begrüßt hatte, Warbatty sei. Aber – er war es nicht.

Lachend hielt er nun Harst seine linke Hand hin. Und die hatte fünf echte Finger. Daran war nicht zu deuteln.

„Sie sehen, Master Harst, Sie haben sich durch eine entfernte Ähnlichkeit täuschen lassen,“ meinte er. „Für mich ist es nicht gerade angenehm, mit einem vielfachen Mörder verwechselt zu werden. Na – ein reines Gewissen – und so weiter.“

Harst entschuldigte sich bei Simpson. „Mit diesem Warbatty habe ich eben stets Pech! Und jetzt noch diese Fußverletzung. – Master Greaper, bitte, lassen Sie mich im Auto wieder zu Anderson bringen und schicken Sie mir einen Arzt, den Sie empfehlen können. Ich will recht bald wieder ganz auf Deck sein. Sonst entwischt uns Freund Cecil auf Nimmerwiedersehen!“ –

Als wir vor Andersons Heim anlangten, mußten zwei Diener Harst ins Haus tragen. Unsere Gastzimmer waren schon bereit. Sie lagen nach Norden zu, wo der Garten noch ein Stück den Berg in Terrassen emporklomm.

Der Arzt kam. Nach der Untersuchung des Fußes, bei der Harst verschiedentlich vor Schmerzen zusammenzuckte, erklärte der Doktor sehr ernst, daß gerade die fehlende Schwellung auf eine Sehnenzerreißung hindeute. Er verordnete völlige Schonung des Fußes und Umschläge. –

Es war zehn Uhr. Wir hatten auf der Veranda zu Abend gegessen; Harst in seinem Liegestuhl. Nun wurde er in sein Zimmer getragen. Dann kam Anderson nochmals und brachte uns Zigarren, Zigaretten, Likör und Backwerk, – falls wir noch aufbleiben wollten – als Herzstärkung. Er sagte Harst gute Nacht, drückte ihm mitfühlend die Hand.

Und – da geschah das Unerwartete. Ich stand dicht dabei, hörte ganz deutlich, wie Harst dem liebenswürdigen Kapitän zuflüsterte:

„Verehrtester Gastgeber, besorgen Sie uns bitte sofort zwei Leinenanzüge, wie Ihre Diener sie gebrauchen. Aber ganz unauffällig. Ebenso zwei Turbane. Auch Ihre Gattin darf nichts davon wissen.“

„Sofort?! – Das hat doch wohl bis nach Ihrer Wiederherstellung Zeit,“ meinte Anderson ahnungslos.

Ich war nicht so ahnungslos! Nein – ich kannte meinen Harst! Urplötzlich war mir ein Licht aufgegangen! Ich erinnerte mich an Palermo, an Harsts glänzend durchgeführte Sterbekomödie!

„Es hat höchstens noch eine Stunde Zeit,“ erklärte er nun dem braven Kapitän. „Mein Fuß ist nämlich genau so gesund wie der Ihrige, und ich habe für diese Nacht noch einen kleinen Ausflug nach dem Matahu-Tempel vor –“

Anderson blieb der Mund offen stehen.

„Ich hoffe nämlich, daß es mir gelungen ist, den echten Warbatty zu täuschen,“ fuhr Harst fort. „Er wird ohne Frage in dieser oder einer der folgenden Nächte in der Überzeugung, ich könnte ihm nicht in die Quere kommen, seinen hiesigen Plan zur Ausführung bringen. Er dürfte deshalb auch mehr denn je überrascht sein, wenn der fußkranke Harst ihm eine Revolverkugel androht, falls er nicht –“

Der Kapitän konnte jetzt nicht länger an sich halten.

„Nein – Sie sind wirklich ein glänzender Schauspieler,“ unterbrach er Harst. „Wenn ich mir überlege –“

„Bitte – leiser! – Und – niemand darf merken, daß die Sehnenzerreißung Schwindel ist – niemand!“

 

4. Kapitel.

Mein verwünschter Ehrgeiz.

Ich hatte Harst zu Bett gebracht, war auch selbst in meinen Schlafanzug geschlüpft und im Nebenzimmer unter mein Moskitonetz gekrochen. Erst um halb zwölf sollten wir aufbrechen. So hatte Harst jetzt bestimmt. – In unseren Zimmern war’s dunkel. Die engmaschigen Drahtgeflechte vor den oberen Scheiben der Fenster ließen vom Garten her mancherlei Geräusche herein. Die Dienerschaft (jeder „bessere“ Europäer in Indien hat mindestens seine fünf eingeborenen Diener, die jeder ihre ganz bestimmten Pflichten haben und auch nur gerade das tun, was ihre Aufgabe ist) war noch munter, eilte auf der Veranda leise hin und her, hängte feuchte Tücher vor den Fenstern der Schlafgemächer auf, da die Hitze gerade heute noch schlimmer war, als ich sie in Aden kennen gelernt hatte. Erst gegen elf wurde es still.

An Einschlafen wäre auch dann nicht zu denken gewesen, wenn ich nicht gewußt hätte, was mir noch bevorstand. Ich lag in Schweiß gebadet da und wartete. Meine Uhr hatte ich in der Hand. Auch sie hatte Leuchtziffern. – Endlich halb zwölf. Harst wollte zu mir kommen. Die Anzüge lagen hier in meinem Zimmer, ebenso die Turbane. – Abermals fünf Minuten weiter – Harst erschien nicht. Da erhob ich mich und schlich durch die nur angelehnte Tür hinüber, fand ihn – fest schlafend, weckte ihn; er meinte, er habe gewußt, daß ich munter bleiben würde; er wolle recht frisch sein für diese Nacht.

Im Dunkeln zogen wir die Dienerkittel an. Dann ging’s durch ein Fenster auf die Veranda hinaus, nachdem ich aus meinem Koffer die Flasche mit der Farbflüssigkeit zu mir gesteckt hatte. Wir stiegen die Gartenterrasse empor, stets im Schatten der Büsche uns haltend, kletterten über einen Zaun und gelangten auf eine Serpentinstraße, die zur Höhe der Berge sich hochwand. Abseits der Straße färbten wir mit einem Wattebausch oberflächlich unsere ohnedies sonngebräunten Gesichter noch dunkler.

Ich fragte Harst jetzt genau dasselbe, was auch Kapitän Anderson so gern hatte wissen wollen. Aber mein Brotherr machte es wie stets: er wich mir aus, meinte, genau könne er selbst noch nicht sagen, was Warbatty plane. –

Erst gegen ein Uhr morgens langten wir an dem Eingang zu den Ruinen der Tempelstadt Matahu an. Inspektor Greaper hatte uns während der Fahrt nach der Polizeidirektion erzählt, daß die Ruinen nur von Süden, von der Richtung des Rennplatzes aus, zu betreten seien, da überall anderswo in den Steintrümmern der Außengebäude die Tempelwächter mit Zustimmung der Regierung vergiftete Fußangeln und andere lebensgefährliche Hindernisse angebracht hätten, um die vor einigen Jahren durch europäische Gauner ausgeplünderte Schatzkammer der Tempelstadt besser zu schützen. – Hierbei hatte der Inspektor uns noch so allerlei über die Reichtümer indischer Tempel berichtet. Seiner Ansicht nach lägen Milliarden an Edelsteinen und goldenen Gerätschaften in den berühmten Hindutempeln verborgen. Diese Verstecke kennen, so behauptete er, immer nur drei der Priester, die das betreffende Heiligtum bewachen. Im Matahu vermute er jetzt kaum noch besondere Kostbarkeiten, nachdem den weißen Spitzbuben damals Millionenwerte in die Hände gefallen seien. –

Hieran dachte ich wieder, als wir uns der Ruinenstadt näherten. Ich hatte geglaubt, wir würden in diese jetzt eindringen. Ein großer Irrtum. Harst kroch mir auf allen Vieren voran nach einem Gebüsch, das etwa zehn Meter seitwärts vor dem Eingang stand. Nachdem er hier nun mit einem Baumast leise den Boden abgeklopft hatte, um vielleicht vorhandene Schlangen zu verscheuchen (Greaper hatte uns vor diesem giftigen Gewürm gewarnt, von dem im Bezirk Bombay im Vorjahre allein 972 Menschen getötet worden seien, während man gegen 300 000 Giftschlangen erlegt hätte, (1890 fielen im Bezirk Bombay z. B. den Schlangen und Tigern 1122 Personen zum Opfer bei einer Gesamtbevölkerung von 25 Millionen; erlegt wurden 406 072 Schlangen!) setzten wir uns nieder und warteten schweigend und fast unbeweglich über eine Stunde. Wir hatten Moskitoschleier mitgenommen, in die wir das Gesicht einhüllten. Dies war auch sehr nötig. Ohne die Schleier hätten wir am Morgen uns selbst nicht vor Schwellungen wiedererkannt.

Der Mond tauchte nur zuweilen auf, da dichtes, zerfetztes Gewölk am Firmament dahinsegelte. Es wurde jedoch nie so dunkel, daß wir den Eingang nicht hätten im Auge behalten können. Ich fand diese Nachtwache sehr bald reichlich eintönig, zumal ich mir auch nicht im entferntesten klarmachen konnte, welchen Zweck sie haben sollte. Harst saß mit eherner Ruhe da. Und er hätte dies zwölf Stunden ausgehalten, wenn’s nötig gewesen wäre. Mich dünkte die eine Stunde bereits eine Ewigkeit, die verging, bevor Harst meinen Arm berührte und nach dem Eingang deutete.

Endlich doch eine Abwechselung! – Ich bemerkte vier Männer, die wie die ärmeren Bewohner von Black Town gekleidet waren und die sehr eilig auf den Palmenwald zuschritten. Sie kamen aus der Tempelstadt, trugen aber nicht das Geringste bei sich und verschwanden mit schlenkernden Armen lautlos wie Schatten zwischen den Bäumen.

„Also doch!“ meinte Harst leise.

„Was denn?! Hat etwa Warbatty –?“ Ich konnte die geflüsterte Frage nicht zu Ende bringen. Abermals hob Harst den Arm.

Abermals verließen zwei Gestalten die Ruinengasse; abermals tat der Mond uns den Gefallen, für Sekunden die Umgebung in halbe Tageshelle zu tauchen. Und da erkannte ich nun in den beiden Menschen dort vor uns den Schmutzfink von Brahmanen und das kleine Mädchen. Dieses führte den Inder in einer Weise, die deutlich zeigte, daß er blind sein müsse.

Langsam ging das Paar an uns vorüber; langsam und schweigend. Und wir – schlichen hinterdrein mit allergrößter Vorsicht. So kamen wir an die Umzäunung des Rennplatzes. Die hohen Zuschauertribünen wurden sichtbar, das Restaurationsgebäude, die Stallungen. Dann – ereignete sich etwas recht Merkwürdiges. Der Brahmane bewegte sich allein weiter, indem er am Zaune sich entlangtastete. Bald entzog eine Ecke der Bretterumfriedung ihn unseren Blicken.

„Warte hier!“ murmelte Harst und war im Nu von meiner Seite verschwunden.

Das Hindumädchen hatte sich an den Zaun gelehnt und wand aus einer weißblühenden Ranke einen kleinen, dicken Kranz, drückte ihn sich auf das straffe, schwarze Haar und schien dann irgend einen Tanz einzuüben.

Eine Viertelstunde verstrich. Dann tauchte der blinde Brahmane wieder auf. Das Mädchen lief ihm entgegen und nahm ihn wieder bei der Hand. Sie hatten[1] gleich darauf den vom Rennplatz nach dem Eingeborenenviertel führenden Weg erreicht. Ich war hinter ihnen geblieben. Ich wandte alle Listen an, die ich nur kannte, um unbemerkt zu bleiben und um die beiden anderseits auch nicht aus den Augen zu verlieren. In der ersten Gasse, in die wir einbogen, lagen zumeist Gärtnereien, deren farbige Besitzer mit ihren Gehilfen bereits an der Arbeit waren, – Früchte pflückten und – ganz wie daheim – mit langen Spritzenschläuchen die Beete sprengten. Hier konnte ich mich freier bewegen. Auf der Straße herrschte einiger Verkehr. Und hier gesellte sich nun auch der etwas atemlose Harst zu mir, raunte mir geradezu triumphierend zu: „Also doch!“

Zum zweiten Male hörte ich dieses: „Also doch!“ Und jetzt wiederholte ich meine Frage von vorhin: „Was ist denn nun eigentlich geschehen?“

„Alles, Schraut, – alles! Mithin übergenug! – Wir wollen zur Sicherheit uns jedoch trennen. Geh’ auf die andere Straßenseite hinüber –“

Die Verfolgung des Blinden und des Kindes hatte erst in dem Castle genannten Europäerviertel ein Ende und zwar am Meeresstrande in einer der älteren Gassen, wo es ein bescheiden aussehendes Gasthaus für Seeleute mit Namen „Steamer Store“ gab. In diesem billigen Hotel, dessen im Erdgeschoß gelegene Kneipe die ganze Nacht geöffnet blieb, verschwand der Brahmane, nachdem er dem Kinde eine Geldmünze in die Hand gedrückt und ihm etwas zugeflüstert hatte.

Das Hindumädchen schritt ohne Argwohn an uns vorüber. Harst schickte mich hinter der Kleinen drein. Ich sollte feststellen, wo sie wohnte. Wir verabredeten, uns am Viktoria-Bahnhof zu treffen. Dies ist der Hauptbahnhof der Stadt zugleich wohl – und das haben Architekten aller Länder anerkannt – der schönste und prächtigste der Welt.

Das Kind betrat ein sehr ärmliches Bambushäuschen in einer der engsten Gassen von Black Town. Die Hütte stand inmitten einer Gärtnerei, die jedoch einen recht verwahrlosten Eindruck machte. Von der Straße war das Grundstück durch einen brüchigen Bretterzaun getrennt. Ich ging zweimal langsam daran vorüber. Ich gewahrte keine Seele dort, obwohl doch in den anderen Gärtnereien bereits vorhin regste Tätigkeit geherrscht hatte. – Ich habe nun schon häufiger Anwandlungen eines Ehrgeizes gehabt, die stets nur peinliche oder gefährliche Folgen hatten. Ich hätte mich daher durch diese Erinnerungen warnen lassen sollen.

Aber – ich wollte Harst beweisen, daß auch ich ein „ganzer Kerl“ sei, und hoffte ihn durch eine recht eingehende Auskunft über das Kind überraschen zu können. Ich bemerkte ein paar lose Bretter am Zaune, hinter denen sich dichtere Büsche befanden. Ich kroch hindurch, schlich dann auf das Häuschen zu. Da erschien das Mädchen plötzlich vor der Tür mit einem Eimer in der Hand und begab sich nach einem Ziehbrunnen im hinteren Teile des Gartens. Ich wagte mich bis an das eine, nur mit Gaze überspannte Fenster heran und suchte einen Blick in das Innere zu werfen, sah auch ein offenes Herdfeuer, darüber auf einem Dreibein einen Tiegel und neben dem Herde auf dem Fußboden auf Matten liegend vier Eingeborene. Das machte mich stutzig: gerade vier! – Vielleicht waren’s dieselben Leute die uns auf Warbattys Befehl hatten ersäufen sollen! Vielleicht!

Meine Gedankenkette riß jäh ab.

Von hinten legten sich zwei Hände um meinen Hals, preßten mir die Kehle zu. Aber Widerstand war nutzlos. Ich kam aus den Eisenklammern dieser nervigen Finger nicht wieder frei, verlor das Bewußtsein und erwachte dann in einer Art Keller, dessen Wände aus halb verfaulten Brettern bestanden, zwischen denen die Erde herausgerieselt war. Um mich herum befanden sich Kisten und Tonnen. An der Balkendecke hing eine brennende Petroleumlaterne. Mein Lager bestand aus Maisstroh. Rechts von mir führte eine Holztreppe nach einer Falltür empor.

Obwohl mein Hals sehr schmerzte, fühlte ich doch wütenden Hunger. Ich mußte also wohl viele Stunden ohne Besinnung gewesen sein. Die Fesseln meiner Hand- und Fußgelenke waren nicht Stricke, sondern heller, verzinkter Draht. Diese Schlingen loszuwerden, war unmöglich.

Meine Lage erschien verzweifelt. Harst und auch sonst niemand, der mir hätte helfen wollen und können, wußte, wo ich geblieben. Trotzdem – und das ist keine bloße Redensart – erwartete ich meine Befreiung ganz bestimmt, da Harst schon Mittel und Wege finden würde, mich auch hier aufzustöbern. Ich hatte ja als Harsts Gehilfe schon so zahllose Beweise seiner seltenen Fähigkeiten erhalten, daß ich mir bei ruhiger Überlegung sagte, gerade hier würde es ihm kaum schwer fallen, mir zu Hilfe zu eilen, zumal er ja hinter dem blinden Brahmanen her war, der doch zweifellos mit den Leuten, die in diesem Gärtnerhäuschen ihren Schlupfwinkel hatten, in nahen Beziehungen stand.

Der blinde Brahmane! – Soeben hatte ich an diesen düngerbeschmierten Heiligen gedacht! Und – da sank urplötzlich die Binde von meinen Augen! – Nein – war ich nur kurzsichtig und begriffsstutzig gewesen! Mir hätte doch sofort auffallen müssen, daß dieser Schmutzfink für einen Inder zwergenhaft klein war und daß nur der Turban ihn hatte größer erscheinen lassen!

Natürlich: der Brahmane war unser Freund Cecil – kein anderer! –

Ich kam nicht dazu, diese Gedanken noch weiter auszuspinnen. Die Falltür öffnete sich. Und zu mir herab stieg – Master Thomas Simpson, der harmlose Kaufmann aus Kolombo! – Das war wirklich eine ungeahnte Überraschung.

Er trug denselben Anzug wie am Tage vorher, grinste mich jetzt höhnisch an, setzte sich auf eine Kiste und zog einen Revolver aus der Tasche – meinen Revolver! –, spannte ihn und sagte mit ironischer Höflichkeit:

„Master Schraut, ich habe verschiedene Fragen an Sie zu richten. Bei der ersten Lüge schieße ich Ihnen eine Kugel ins Hirn. Es sollte mir leid tun, wenn Sie mich dazu zwängen, Ihrem Leben so kurzer Hand ein Ende zu bereiten. – Die erste Frage: Wie sind Sie hier auf dieses Grundstück gelangt?“

„Zu Fuß, Master Simpson. Harst hatte mir befohlen, da er selbst leider an einer Sehnenzerreißung –“

„Das weiß ich –“

„Nun gut. Ich sollte also den Ausgang der Tempelstadt diese Nacht bewachen. Ich bin dem Brahmanen gefolgt, dann dem Kinde. Das ist alles.“

„Wie konnten Sie beide sich aus dem Kasten befreien?“

„Harst zerschoß das Holz um die Krampe, und –“

„Ah – genial! Meine Hochachtung! Deshalb also die Knallerei in der Kiste! Wir dachten, die Kugeln sollten die Leute vertreiben, die den Karren schoben. – Weiß Harst genaueres über den Brahmanen?“

„Nein. Wenigstens hat er mich nicht eingeweiht. Er tut dies in den seltensten Fällen. Ich vermute jedoch, daß er in dem Brahmanen einen Helfershelfer Warbattys erkannt hat. Wir verirrten uns in den Gängen des unterirdischen Tempelteiles, und nur durch Zufall gelangten wir auf den Affenhof –“

„Danke, das weiß ich alles,“ unterbrach er mich wieder. „Die Stücke des Mützenfutters waren die Verräter und sagten dem Heiligen, daß Europäer sich in den Irrgängen befanden. – Wann wird Harst wiederhergestellt sein?“

„Der Arzt meinte, in vierzehn Tagen.“

„Kennt Harst Warbattys hiesige Pläne?“

„Bisher nicht. Das heißt: er hat mir über diesen Punkt –“

„Danke.“ – Eine längere Pause. Dann: „Master Schraut, Sie sind Harsts Freund. Harst wird morgen eine Radiodepesche aus Berlin erhalten, daß seine Mutter schwer krank ist und er sofort heimkehren soll. Wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, ihm zuzureden, dieser Depesche Folge zu leisten, sind Sie frei. Außerdem erhalten Sie auch noch 50 000 Mark. – Es wäre dies Ihrerseits kein Verrat an Harst. Sie würden ihm nur das Leben retten, denn so große Hochachtung wir auch vor seinem Genie als Detektiv haben, wir müssen ihn beseitigen! – Sie hören, ich spreche ganz offen mit Ihnen. Wollen Sie Harst zureden – ja oder nein? Selbstverständlich dürfen Sie diese Ihre Gefangenschaft nicht erwähnen. Ich werde Ihnen, falls Sie auf meinen Vorschlag eingehen, noch genauere Verhaltungsmaßregeln geben. Bis morgen früh müßten Sie ohnedies hier bleiben.“

Bis morgen früh? Also noch 24 Stunden?! Dann war ich fraglos auf andere Weise bereits frei!

„Gut – ich gebe mein Wort, Master Simpson.“

„Das genügt mir vorläufig. Sie sollen jetzt Essen und Trinken erhalten. Wir haben hier in Bombay ein so glänzendes Geschäft gemacht,“ – er grinste triumphierend – „daß wir großmütig sein und Ihnen beiden nicht an den Kragen wollen, falls Sie eben schleunigst nach Deutschland abreisen. – Warbattys Plan ist nämlich bereits gelungen. Diesmal kommt Harst zu spät!“

„Schade!“ meinte ich ehrlich. „Was haben Sie denn ergaunert, Master Simpson?“

Er lachte. „Ergaunert?! Haben Sie eine Ahnung! Die Sache war ein Meisterstück. – Wir schätzen den Gewinn auf etwa vier Millionen –“ –

Gleich darauf war ich allein.

Wenn ich nun hier Harsts Erlebnisse so einflechte als hätte ich sie miterlebt, wird dies für den Leser nur interessanter werden.

 

5. Kapitel.

Und der Sieger?

Harst war an der Steamer-Store ebenfalls zweimal vorübergegangen. Dann wandte er sich eiligst dem neueren Stadtviertel zu, fragte einen der farbigen Polizisten nach der Wohnung Greapers, betrat dann eine öffentliche Fernsprechzelle, riß hier aus dem Teilnehmerverzeichnis ein halb leeres Blatt heraus und schrieb darauf mit Bleistift folgendes:

„Bitte sofort die Steamer-Store in der Penlington-Street unauffällig überwachen und ganz besonders einen blinden Brahmanen von kleiner Statur dauernd beobachten zu lassen. – Harald Harst.“

Den Zettel gab er selbst in Greapers Wohnung ab mit der Weisung, den Inspektor sogleich zu wecken. –

Harst wartete mit steigender Unruhe vor dem Viktoria-Bahnhof auf seinen Privatsekretär. Die eine Stunde war längst um; die nächste halbe auch bald vorüber. Er legte aber noch eine halbe zu. Nun waren es zwei volle Stunden, nun wußte er: Schraut ist etwas zugestoßen.

Inzwischen war es hell geworden. Der Weltverkehr Bombays setzte auf dem Bahnhof mit aller Macht ein. Harst begab sich in die bereits geöffneten Wartesäle, ließ belegte Brötchen und anderes, angeblich für seinen Sahib, zusammenpacken, setzte sich in die Anlagen vor dem Riesenbahnhof auf eine Bank, aß und überlegte dabei, wie er seinen Freund und Privatsekretär, der doch fraglos irgendeine Unvorsichtigkeit begangen hatte und in eine Falle geraten war, schleunigst wieder befreien könnte.

Zu seiner Beruhigung merkte er an dem Benehmen der Vorübergehenden, daß seine Verkleidung, insbesondere die nur für die Dunkelheit berechnet gewesene Färbung der Haut, auch bei Tageslicht nicht weiter auffiel. Nachdem er noch eine Zigarette geraucht und dabei seinen Feldzugsplan dem Verschwinden Schrauts angepaßt hatte, schlenderte er nach dem Hotel International, wo Master Thomas Simpson wohnte, wie er aus den Einzelheiten von dessen Verhaftung noch gut in der Erinnerung hatte.

Der farbige Portier erhielt ein Trinkgeld und kam nach fünf Minuten mit der Nachricht zurück, Master Simpson habe seinem Zimmerkellner bedeutet, er würde die Nacht bei einem Freunde in Malabar Hill zubringen.

Harst dankte für die Auskunft und setzte sich auf die Terrasse eines bescheidenen Cafees schräg gegenüber dem Hotel International, das eines von denen letzter Güte war.

Nach einer Stunde fuhr eine von einem baumlangen Hindu gezogene Rikscha[2] (ganz leichtes, zweiräderiges Wägelchen) vor. Darin saß Master Simpson. Er hatte es sehr eilig, ließ den Rikschabesitzer warten und kam nach zehn Minuten in Begleitung eines Hoteldieners heraus, der einen leichten Koffer trug.

Simpson und der Koffer rollten dann sofort von dannen. Harst blieb hinter dem Wagen. Es wurde ein recht langer Dauerlauf, bis hinein in die Eingeborenenstadt. Dann hielt die Rikscha vor einem kleinen, verwahrlosten Gärtnergrundstück. Harst hockte sich schnell auf das Pflaster dicht an einem Hause nieder und tat, als habe er nichts Besseres zu tun, als in der gerade aufgehenden Sonne zu faulenzen.

Der kleine Herr, der so sehr viel Ähnlichkeit mit Warbatty hatte, schaute sich sehr mißtrauisch um, bevor er den Garten betrat. Der Rikschafahrer wartete wieder und verzehrte ein paar Bananen.

Harst lächelte zufrieden vor sich hin. Er bezweifelte nicht einen Augenblick mehr, daß er Schraut in kurzem auffinden würde. Warbatty hatte sich seiner Ansicht nach hier in Bombay überhaupt recht ungeschickt benommen.

Ah – ein kleines Hindumädchen hatte den Garten verlassen und sprach mit dem Rikschabesitzer. – Harst nickte lächelnd. Natürlich das Kind, dachte er, das den „blinden Brahmanen“ geführt hat.

Eine halbe Stunde drauf fuhr der kleine Simpson wieder davon. Abermals mußte Harst traben. Er tat es gern; diesmal sollte Warbatty ihn kennen lernen, auch von der rücksichtslosesten Seite; diesen brutalen Mörder zu schonen, wäre eine unvergleichliche Schwäche gewesen.

Die Rikscha rollte nach dem Hafenviertel, nach der Penlington-Street, – vor die Steamer-Store.

Harst blieb jetzt weit zurück. Er mußte vorsichtig sein. Er beobachtete, daß Simpson die Kneipe betrat und daß der Rikschamann gleichfalls hineinging, den Koffer in der Hand.

Plötzlich fuhr Harst herum. Jemand hatte ihm leise von hinten seinen Namen zugeflüstert. Er sah sich einem schmierigen Chinesen gegenüber, dessen dünner Schnurrbart tief über den Mund herabhing.

„Morgen, Master Greaper,“ nickte Harst. „Ihre Verkleidung ist nicht schlecht –“

Der Inspektor zog ihn in den nächsten Torweg.

„Master Harst,“ flüsterte er in heller Aufregung, „in dieser Nacht ist ein furchtbares Verbrechen geschehen –“

„Weiß schon: in der Tempelstadt Matahu. – Es kommt ebenfalls auf Warbattys Konto. – Für Einzelheiten wäre ich dankbar.“

Greaper musterte Harst kopfschüttelnd. „Ihre Krankheit war also Komödie! – Sie sind im Matahu gewesen? Konnten Sie denn die vier Morde nicht verhindern?“

„So – vier Morde?!“ stieß Harst ingrimmig hervor. „Oh – wenn ich doch nur früher mit Schraut aufgebrochen wäre! Ich war diesmal zu vorsichtig. Ich glaubte auch, daß Warbatty sich noch Zeit lassen würde, bis er sämtliche Affen vergiftet hätte oder doch –“

Greaper drückte Harsts Arm, fiel ihm ins Wort:

„Affen vergiftet?! Was reden Sie da?!“

„Nachher, Master Greaper, – nachher! – Erzählen Sie mir erst im Zusammenhang von den Morden. Ich bin nämlich nicht im Matahu in dieser Nacht gewesen, leider nicht, sondern nur vor dem Eingang –“

„Und doch ist Ihnen bekannt, daß den Brahmanen des Matahu – „

„– ganz recht, – daß ihnen der etwas sagenhafte „Apfel des Indra“ geraubt ist –“

„Aber – wie reimt sich das alles zusammen?!“ Der brave Inspektor, der doch auch eine Größe seines Faches war, schnappte nach Luft vor Staunen.

„Erzählen Sie doch!“ drängte Harst. „Ich rede schon, wenn die Zeit da ist –“

„Gut. Die Sache läßt sich mit wenigen Sätzen erledigen. – Vor anderthalb Stunden etwa kam einer der ständig im Matahu wohnenden acht Brahmanen zu mir. Diese acht, die Tempelbewahrer, hausen neben dem sogenannten Hofe des Indra –“

„Wohl derselbe, in dem die heiligen Affen gehalten werden?“

„Ja. – Er kam und meldete, daß in der verflossenen Nacht vier von ihnen, die gerade zur Nachtwache bestimmt waren, ermordet worden sind. Die Leichen lägen mit durchschnittenen Kehlen im Hofe. – Ferner ist der unter dem Namen „Apfel des Indra“ bekannte Riesensmaragd, an dessen Existenz ich nie so recht geglaubt habe, aus seinem Versteck in der Mitte des Hofes –“

„– also aus der von Palmen und Büschen überwucherten Turmruine –“

„– ganz recht, – von dort ist der Edelstein unerklärlicher Weise verschwunden; ebenso hat sich aber auch die ganze Herde der dort hausenden Affen, die die besten Warner vor jedem Überfall und vor jedem Fremden waren, weiß Gott wohin geflüchtet. Die Tiere sind eben sämtlich weg. Und nur deshalb ist es den Mördern auch geglückt, die Brahmanen so lautlos abzutun. Diese werden sich eben auf ihre Beschützer, die heiligen Affen, verlassen haben und –“

„Danke, Master Greaper, – danke. Ich weiß jetzt genug. – Es ist noch etwas verschwunden! Nämlich mein Freund Schraut. Wir werden ihn aber bald wieder haben.“ – Harst schwieg, fuhr dann lebhafter fort: „Der Rikschabesitzer, der da soeben aus der Kneipe kommt, gehört auch zu der Bande. Haben Sie genügend Beamte hier, um einen davon hinter dem langen Burschen dreinzuschicken?“

„Gewiß. Vier meiner besten Beamten. – Ich bin sofort wieder zurück.“

Als Greaper sich wieder neben Harst in den Torweg stellte, meinte er: „So – erledigt. – Und nun reden Sie bitte, Master Harst.“

„Dazu ist später bessere Zeit. – Befindet sich der kleine Brahmane noch in der Steamer Store?“

„Ja. Einer meiner Leute hat sich drinnen Zigaretten gekauft. Der Heilige hockt auf dem Hofe und richtet eine Kobra zum Tanzen ab. Der Wirt der Store, ein Parse (Feueranbeter; die besten Geschäftsleute Indiens), kennt ihn nicht genauer, hat an ihn nur einen Verschlag seines Stalles als Wohnung vor drei Tagen vermietet und meinte, der dreckige Kerl müsse über viel Geld verfügen.“

„Alles vortrefflich – vorzüglich!“ Harsts Augen glänzten. „Master Greaper, wir werden die Bande noch heute erledigen.“

„Ganz schön. – Aber ob wir den Smaragd wiederfinden, erscheint mir sehr zweifelhaft. Der Stein hat etwa Hühnereigröße. So etwas ist leicht zu verstecken.“

„Das stimmt –“ Harst war jetzt mit seinen Gedanken offenbar anderswo.

Eine geraume Weile schwiegen die beiden Männer, die heute endlich den gefährlichsten Verbrecher der Welt unschädlich zu machen hofften. Dann kam ein Straßenhändler mit einem Brett voll Feigen an ihnen vorüber. Es war ein farbiger Beamter der Bombayer Detektivpolizei. – „Der Wirt der Store hat mir heimlich ein Zeichen gemacht,“ sagte er zu Greaper, indem er scheinbar seine Waren anpries.

„Dann gehen Sie nur hinein,“ meinte Harst. Und der Inspektor erklärte: „Vorwärts! Wir warten hier, Bur Schura.“

Nach zehn Minuten war der Feigenhändler wieder da und meldete: „Der Brahmane hat sich mit dem kleinen weißen Sahib im gelben Anzug in seinen Stallverschlag zurückgezogen.“

„Ah – mit Simpson!“ entfuhr es dem Inspektor. „Die beiden stecken also unter einer Decke.“

„Gewiß, Master Greaper,“ lächelte Harst vielsagend. „Der blinde Brahmane ist nämlich Warbatty –“

„Teufel noch eins – wahrhaftig?!“

„Still – sehen Sie – da ist er,“ flüsterte Harst. „Er geht nach der anderen Seite zu davon. Und das kleine Hindumädchen hat er auch wieder bei sich –“

„Die kam vorhin im Trab angelaufen,“ erklärte der Polizist.

„Ihm nach – aber getrennt!“ meinte Harst. „Und gut aufgepaßt, daß er uns nicht ein Schnippchen schlägt –“

Die Menschenjagd begann, zog sich nach Black Town hinüber, hinein in die enge Gasse – nach der verwahrlosten kleinen Gärtnerei. Unterwegs hatte Greaper noch fünf in den Straßen patrouillierende Detektive hinter sich her beordert, so daß man nun insgesamt zu neun Mann in der Gasse weilte, da der Inspektor von den Posten vor der Store auch noch zwei mitgenommen hatte. –

Harst erteilte auf einem leeren Hofe seine Befehle. Greaper hatte ihm völlig die Leitung überlassen.

Im Nu war die kleine Hütte umstellt. Harst, Greaper und zwei Detektive schlichen von der Straße aus auf das Häuschen zu. Dann ein Pfiff.

Die Tür wurde aufgestoßen; gleichzeitig drangen auch durch die Fenster Beamte ein. In dem vorderen Raume saßen vier braune Kerle und löffelten Reis aus einer Schüssel. Wie sich nachher herausstellte, waren es Singhalesen von der Insel Ceylon. Es mußten alterprobte Verbrecher sein. Wie der Blitz waren sie hoch, rissen Revolver aus ihren Leinenhosen.

Greaper jedoch rief schon: „Niederschießen!“

Ehe die Banditen die Waffen in Anschlag bekamen, knallten schon fünf Schüsse. Die Kerle knickten zusammen. – Harst aber hatte das kleine Mädchen gepackt, das in einer Ecke Süßigkeiten genascht hatte.

„Wo habt Ihr den weißen Sahib versteckt?“ fuhr er sie an.

Die listigen, verderbten Augen des Mädchens blickten Harst frech an. Dann streckte sie ihm die schmutzige Hand hin. Er verstand. „Nachher – zehn Rupien erhältst Du –“ – Sie deutete auf eine nur schwer erkennbare Falltür neben dem Herde.

Harst tat einen Sprung, bückte sich, riß die Tür auf. Dort unten mußte ja auch Warbatty stecken. – Es war eine Tollkühnheit. Aber er wagte es. Mit ein paar Sprüngen war er die Treppe hinab im Keller.

Ah – dort saß Schraut auf einer Schütte Maisstroh, – und dort – der blinde Brahmane auf einer Kiste.

Harst hob den Revolver. „Hände hoch, Warbatty!“ brüllte er. Aber – gleichzeitig beschlich ihn ein Gefühl, als ob hier nicht alles so war, wie es sein sollte.

Der zottelhaarige Schmutzfink gehorchte, streckte die Arme hoch, sagte gleichzeitig: „Schade – Sie haben die Partie also doch gewonnen, Master Harst –“

Harst schaltete seine Taschenlampe ein, ließ den Lichtstrahl über die Hände des angeblichen Brahmanen hingleiten.

„Verdammt!“ schrie er auf. „Überlistet – überlistet! Alle zehn Finger! Sie sind Thomas Simpson, nicht wahr? – Wo ist Warbatty? Etwa als Simpson – in Ihrem Anzuge – noch in der Steamer Store?“

„Das glaube ich kaum!“ grinste Simpson schadenfroh. „Wenn Sie mich auch schon erwischt haben, – mein Bruder wird Ihnen mit unserer hiesigen Beute entgehen! Wenigstens ein Triumph! Er hat seit zwei Tagen hier das schnellste Motorrennboot im Hafen abfahrbereit liegen gehabt – für alle Fälle. Und in diesem Boot bringt er sich und die Beute in Sicherheit –“

Greaper stand jetzt neben Harst. „Da sind wir ja fein reingelegt worden!“ meinte er. Dann rief er seinen Leuten zu, Simpson zu fesseln. –

Harst aber löste die Drähte von meinen Gelenken.

„Natürlich bist Du wieder zu eifrig gewesen, lieber Schraut,“ sagte er kurz, und die tiefen Falten auf seiner Stirn zeigten, wie es in seinem Innern nach diesem Fehlschlag aussah.

Wir stiegen dann schnell nach oben. Die vier Singhalesen lagen noch da, wie sie durch die Kopfschüsse niedergestreckt worden waren.

„Nach dem Hafen!“ meinte Harst wenig hoffnungsvoll zu Greaper. „Ich fürchte, wir –“

In diesem Augenblick meldete sich das Hindumädchen.

„Sahib Harst, ich sollte Ihnen von Sahib Warbatty diesen Brief abgeben –“

Harst riß ihr den Brief aus der Hand, öffnete den Umschlag, zog den Bogen Papier heraus, überflog den Inhalt, – wurde sehr rot, kniff die Lippen zusammen. – Dann las er uns und auch dem gefesselt dastehenden Simpson das Schreiben seines diesmal siegreichen Gegners laut vor:

„Master Harst! Ich schwimme jetzt auf hoher See auf den Planken eines Rennbootes, das seine 38 Knoten läuft. Es tut mir leid, daß ich meinen Bruder Tom habe opfern müssen, um zu entkommen. Hätte er gewußt, daß uns das Verhängnis so nahe, dann würde er nicht darauf eingegangen sein, den Brahmanen zu spielen. Ich wußte ihm klar zu machen, daß es besser sei, ich verließe mit der Beute diese Stadt, die Sie für uns in eine wenig sichere Gegend verwandelt hatten, – mit der Beute, – angeblich! Sie, Master Harst, wissen Bescheid! – Daß ich hier in Bombay wieder so viel Pech haben würde, konnte ich nicht voraussehen. Ich hatte Tom und fünf meiner Leute ans Viktoria-Dock zur Dampferankunft beordert. Ich selbst war auch da – als blinder Brahmane. Ich merkte sofort, was es mit der Kiste auf sich hatte, die der Kapitän nach seiner Wohnung schickte. Daß Sie beide sich retten könnten, vermutete ich nicht im entferntesten. – Ich hielt meine Geißelübungen im Affenhofe ab und dies nur zu dem Zweck, heimlich für die Affen vergiftetes Zuckerbrot ins Gebüsch zu werfen. Ich wußte, daß die ganze Herde, wenn erst ein paar krepiert waren, in panischem Schreck das Weite suchen und daß dann der Überfall auf die Hüter des „Apfels des Indra“ wesentlich leichter sein würde. Auf dem Rückwege durch die Irrgänge stieß ich auf die Mützenfutterstückchen, setzte sie zusammen – und wußte da schon so ziemlich Bescheid. Ich wartete vor dem Eingang der Tempelstadt. Und – Sie beide erschienen wirklich, – wie durch ein Wunder gerettet! – Trotzdem hoffte ich noch, daß Sie mich nicht erkannt haben würden. Ich war dann gerade vor dem Tore der Polizeidirektion, als Sie im Auto eintrafen, um Tom sich anzusehen. Sie stolperten sehr geschickt. Ich hielt Sie tatsächlich für verletzt. Nur deshalb wagte ich in der Nacht mit meinen vier Singhalesen den Streich. Er gelang. Ich hatte den Smaragd in der Tasche, als ich mit dem Kinde die Tempelstadt verließ. Aber – als ich ihn dann in der Nähe der Rennbahn vorläufig vergrub, da – erspähte ich Sie! Und da wußte ich, daß ich verspielt hatte und fliehen müßte. Den Edelstein konnte ich nicht wieder ausgraben und mitnehmen. Ich wollte Sie in dem Glauben belassen, ich fühle mich ganz sicher. Nachher merkte ich, daß nur Schraut mir folgte. Sie haben also ohne Zweifel den Smaragd an sich genommen. – Ich kann nur auf die Weise entwischen, wie es jetzt geschehen soll. Ich rechne damit, daß Sie und die Detektive (für Warbatty gibt es so leicht keine Maske, die er nicht durchschaut!) dem blinden Brahmanen folgen werden und der „gelbe Tom“ nur durch einen oder zwei Beamte beobachtet werden wird. Ich verrechne mich selten. – Leben Sie wohl, Master Harst! Es hat keinen Zweck, Ihnen zu raten, meine Verfolgung aufzugeben. Sie sind ein Charakter, und – Sie werden sterben, ganz bestimmt! Hat die Kiste diesmal versagt, gelingt etwas anderes! – Meinem Bruder können Sie noch ausrichten, daß er mir nicht zu arg fluchen soll. Er hat ein Genie gerettet – mich! –, und der Gedanke mag ihn trösten. – Ihr alter Widersacher Cecil Warbatty.“

Harst ließ die Hand mit dem Briefe sinken, wandte sich an Greaper:

„Dieses Schreiben überhebt mich der Mühe, Ihnen zu erklären, wie ich auf den Brahmanen aufmerksam wurde. Als er in dem Affenhofe die Geißelübungen betrieb und dabei die kleinen Stückchen – was es war, sagte ich mir erst später – einer hellen Masse ins Gebüsch warf, vermutete ich noch nicht, Warbatty vor mir zu haben. Erst als er vor dem Tempeleingang hockte, fiel mir seine geringe Größe auf. Und als derselbe Brahmane dann vor der Polizeidirektion stand, war ich meiner Sache ganz sicher. Deshalb auch sofort mein Sturz auf das Pflaster. – Und nun gewann auch Warbattys Anwesenheit in der verbotenen Ruinenstadt für mich eine besondere Bedeutung, ebenso das Ausstreuen der kleinen Stückchen. Ich ahnte, daß er es auf die Affen abgesehen hatte. Als Sie uns von den Kostbarkeiten erzählten, die vor Jahren aus dem Matahu geraubt wurden, und dabei auch erwähnten, es ginge das Gerücht, daß die Brahmanen des Matahu noch einen Smaragd von Millionenwert besäßen, da reimte ich mir weiter das Richtige zusammen. – So – ich hätte hier leider nichts mehr zu tun –“ Er faßte in die Tasche. „Nur – diesen Smaragd, den „Apfel des Indra“, muß ich Ihnen noch aushändigen.“

Dann drehte er sich nach Tom Simpson um.

„Daß Sie Warbattys Bruder waren, erkannte ich schon auf der Polizei. Die Familienähnlichkeit war zu groß für einen bloßen Zufall. – Wie heißen Sie in Wahrheit?“

Simpson starrte finster vor sich hin. Kein Laut kam über seine Lippen. Auch später hat er vor Gericht nicht eine Silbe gesprochen. Er wurde zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt –

Als Harst und ich an demselben Vormittag wieder in Andersons Bungalow eintrafen, meinte Frau Anderson, indem sie Harsts Hand ergriff: „Lieber Master Harst, wollen Sie wirklich Ihr Leben noch weiter aufs Spiel setzen und –“

Sein ernster Blick brachte sie zum Schweigen.

„Wer könnte wohl die Welt von diesem Ungeheuer befreien wenn nicht ich,“ sagte er ohne Prahlerei. „Ich werde Warbatty finden – in Kolombo! Ich besitze ja die Liste der Verbrechen, die er vorbereitet hat und die er nacheinander auszuführen gedenkt. Er ahnt nicht, daß ich es besitze, dieses Verzeichnis! Und – das sichert mir Vorteile, die ihn doch schließlich als Besiegten aus diesem Kampf hervorgehen lassen werden!“

 

 

Warbattys Testament.

 

1. Kapitel.

In Haidarabad.

Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen: endlich reisten wir in Indien als Touristen, das heißt: ich brauchte nicht jeden Augenblick zu fürchten, daß Harald Harst zu mir, seinem Privatsekretär und Freunde sagte, wenn wir irgendwo[3] einem äußerlich ganz harmlos aussehenden Menschen begegneten: „Hm – ob das nicht schon wieder unser Todfeind Warbatty in einer anderen Maske ist?“

Der Zug durchfuhr gerade einen Urwald, in einem wahren Schneckentempo. Harst und ich saßen im Speisewagen und genossen die Aussicht auf die Mauern ungeheurer tropischer Baumriesen, undurchdringlichen Unterholzes und all der Schlinggewächse, die stellenweise ganze Vorhänge bildeten, genossen aber auch eine Fischpastete für billiges Geld, wie ich sie so gut nicht wieder gegessen habe.

Der gewandt bedienende Kellner brachte jetzt eine Eierspeise, erklärte dazu in seiner bescheidenen Art:

„In diesem Urwalde hausen noch ein paar hundert Gond.“ – Er sagte das mit einer deutlichen verächtlichen Betonung des Wortes Gond. – „Vor fünf Tagen hatten sie die Schienen aufgerissen,“ fügte er hinzu. „Es sind Schweine –“

Wenn in Indien ein Farbiger einen anderen mit Schwein bezeichnet, so ist er selbst stets Mohammedaner und „das Schwein“ irgend ein gänzlich unzivilisierter Wilder, der vielleicht einen frisch abgeschnittenen Hahnenkopf als Gott anbetet. Denn die Anhänger der Hauptreligionen in Indien, des Brahmanismus, des Islam und des Buddhismus hassen sich wohl als Fanatiker, setzen sich aber durch Beschimpfungen gegenseitig nie herab.

Ich hatte keine Ahnung, was Gond war. Natürlich irgend ein wildes Volk. Aber sonst?!

Als der Kellner verschwunden, meinte Harst: „Die Gond sind Reste der Ureinwohner Indiens. Sie teilen das Schicksal vieler Völker, die von den fremden Eroberern in die unwegsamsten Gebiete zurück gedrängt worden sind und dort in dumpfem Haß gegen die neuen Herren des Landes wie wilde Tiere in der Verborgenheit leben. Der größte Teil der Gond ist bereits mit den Hindu vollständig verschmolzen. Die „echten“ Gond sind menschenscheu, leben in Höhlen und hohlen Bäumen, beten Geister an, die sich ihnen in allerlei Geräuschen angeblich offenbaren, stehen vollständig unter dem Einfluß ihrer schlauen Priester und sind heimtückisch, grausam und, wenn gereizt, von seiner besinnungslosen Tollkühnheit. Ich fürchte, wir werden es nicht ganz leicht mit ihnen haben.“

Ich wurde aufmerksam.

Er nickte, fiel mir ins Wort: „Ja, wir! – Denke bitte an Warbattys Testament!“ Er faßte in die Brusttasche, holte des großen Verbrechers letzte Niederschrift hervor, breitete sie auf dem Tischtuch aus und las leise folgende Sätze:

„– in der Nähe von Haidarabad die sogenannten Indra-Ruinen aufzusuchen. Dort scheint die Sonne dem Affen ins Gesicht, und der dunkle Strich, während der Mittagsmahlzeit dreimal verlängert, findet den singenden Vogel, dessen Schnabel den Weg weist, dessen Ende der Anfang ist.“

Harst schaute mich an. „Dies ist das Wichtigste aus Warbattys Testament. Es sind die Angaben, die ich deuten soll, um den Ort zu finden, an dem vielleicht irgend ein alter Schatz ruht –“ Er lächelte. „Oder an dem es irgend etwas gibt, und dies ist das wahrscheinlichere, wodurch Warbatty auch noch als Toter mich vernichten kann.“

Bisher hatte Harst mich stets bei dem Glauben belassen, er nehme Warbattys Vermächtnis völlig ernst und glaube an einen wertvollen Fund, den wir in jenen Ruinen machen könnten.

„Du – Du fürchtest also so etwas wie eine Falle?“ fragte ich unsicher.

„Natürlich. Oder bist Du anderer Ansicht?“

„Hm – ich weiß nicht recht. Vielleicht hatte Warbatty wirklich die Absicht, Dir zu beweisen, daß er bei all seiner Verworfenheit doch ein großmütiger Gegner war, der nach seinem Tode in Deiner Erinnerung –“

Harst winkte mit etwas ironischem Mundverziehen ab.

„Nach seinem Tode! – Leider wird Warbatty jedoch so leicht nicht sterben, wie Du hoffst, mein lieber Schraut. Gewiß – ich hätte Inspektor Plumper nachgeben und mich damit einverstanden erklären können, daß einer der die „Leiche“ untersuchenden Ärzte durch einen winzigen Stich in das Zwerchfell die Sicherheit schaffte, jedes nochmalige Erwachen des Toten zu verhindern. Aber – das erschien mir wie ein meiner unwürdiger Meuchelmord –“

„Himmel!“ rief ich ganz entsetzt, „so glaubst Du also tatsächlich, daß –“

„– Warbatty nur ein Gift zu sich genommen hat, das den indischen Yogi seit langem bekannt ist,“ vollendete er meinen Satz. „Also ein Gift, das die Yogi oder Fakire dazu benutzen, ihr oft angestauntes Experiment des Lebendigsichbegrabenlassens auszuführen. Du weißt, daß die Yogi, die eine besondere Kaste bilden, sich bis zu acht Wochen Dauer zwei Meter tief in der Erde in einem Holzkasten in starrkrampfähnlichem Zustand am Leben zu erhalten verstehen. Weshalb sollte Warbatty die Geheimnisse dieser Yogi, jede Lebensäußerung in ihrem Körper zum Aussetzen zu bringen, sich nicht angeeignet haben?! – Kurz: ich wette zehn gegen eins, daß sein Testament eine ganz raffiniert ausgeklügelte Falle ist –“

„Na – eine nette Überraschung!“ murmelte ich. „Und ich hatte mich schon so darauf gefreut, endlich mit Dir dieses Wunderland als sorgenloser Vergnügungsreisender genießen zu können –“

„Hm – ob Dir das nicht sehr bald langweilig geworden wäre?! Wir beide sind bereits zu sehr an Aufregungen gewöhnt. Ich jedenfalls verzichte gern auf harmlose Touristenfreuden. Aber – das ist Geschmackssache. Jedenfalls, lieber Schraut: auch wenn Warbatty wirklich dieser schönen Welt für immer lebewohl gesagt haben sollte, so würden wir doch in den Indra-Ruinen nicht weniger von Gefahren umgeben gewesen sein. Denn diese Ruinen liegen südlich der Stadt inmitten einer Sumpfwildnis, in der ein etwas sagenhafter Fürst der vorhin erwähnten Gond hausen soll, wie mir Inspektor Plumper in Madras mitteilte. Ich weiß also nicht recht, ob Warbatty als Feind nicht mehr vorzuziehen ist als eine Bande dieser Gond mit vergifteten Pfeilen und sonstigen ungemütlichen Mordinstrumenten.“

Ah – also deswegen wußte Harst über diese Wilden so gut Bescheid! Er hatte offenbar schon in Madras, ohne mir etwas davon zu sagen, Erkundigungen über die Gond und die Indra-Ruinen eingezogen.

Er beobachtete jetzt mein Gesicht, lachte leise auf und meinte:

„Du brauchst ja nicht mitzumachen, lieber Alter! Wirklich nicht! Ich werde auch allein herausfinden, was es mit dem Affen, dem die Sonne ins Gesicht scheint, mit dem dunklen Strich und dem singenden Vogel auf sich hat. Das alles klingt so wunderhübsch rätselhaft und poetisch, daß ich geradezu versessen darauf bin, dieses Wortrebus zu lösen. Es wird fraglos sehr interessant werden – fraglos! Und ich verspreche, nach meiner Rückkehr von diesem Ausflug Dir alles haarklein zu berichten, damit Deine schriftstellerischen Versuche keine Unterbrechung durch den Fortfall dieses Abenteuers erleiden.“

„Hör’ auf!“ rief ich ärgerlich. „Verdammt – ich bin kein Feigling! Aber mit 45 Jahren liebt man schon etwas mehr die Ruhe als mit 29 Jahren!“ –

Der Zug fuhr wieder schneller. Die gefährliche Urwaldstrecke war passiert.

Am Nachmittag gegen fünf Uhr langten wir in Haidarabad an. Die Stadt ist bekanntlich die Residenz des größten Vasallenstaates des indischen Kaiserreichs. Der Nizam von Haidarabad, der vornehmste mohammedanische Fürst Indiens, gehört zu den reichsten Leuten der Erde. Die Schatzkammern seines Palastes sollen tatsächlich unschätzbare Werte an Kleinodien, besonders an Edelsteinen, enthalten. Kein Wunder weiter, denn die berühmte indische Diamantenstadt Golkonda ist ja ganz in der Nähe, und dort sind vor Jahrhunderten Diamanten in solcher Zahl gefunden worden, daß der Name Golkonda noch heute eine ähnliche Bedeutung wie Kimberley mit seinen Diamantgruben hat, eben die eines Fundortes märchenhafter Reichtümer.

Es gibt zwei Städte des Namens Haidarabad. Die Residenz des Nizam, des Fürsten der Fürsten, mit ihren fast eine halbe Million Einwohnern ist jedoch mit dem in Nordwestindien liegenden Haidarabad (60 000 Einwohner) überhaupt nicht zu vergleichen.

Aber – das große Haidarabad enttäuschte mich sehr. Gewiß – die riesige alte Steinmauer, die die Stadt umgibt und aus der in kurzen Abständen Bastionen und kleine Forts vorspringen, ebenso die prachtvollen öffentlichen Parks vor den Toren wirkten malerisch und echt orientalisch-märchenhaft, aber das Innere der Stadt mit den zumeist ganz engen Gassen war doch zu sehr lediglich „Eingeborenenviertel“, das heißt unsauber, düster, muffig und fraglos ein gefährlicher Pest- und Choleraherd.

Wir stiegen in dem damals einzigen deutschen Fremdenheim ab. Es war überfüllt. Die Inhaberin Frau von Tezra, die Witwe des Hofkapellmeisters des Nizam, brachte uns jedoch, als sie hörte, wer die Gäste waren, in ihrer eigenen Wohnung im sogenannten Salon unter. Sie bedienerte Harst, als sei er der Nizam selbst, und bereits eine Stunde nach unserem Eintreffen wußte das ganze große Haus, daß der berühmte Harald Harst jetzt unter diesem Dache weilte.

Bei der gemeinsamen Abendtafel wurden wir gebührend angestaunt. Wir saßen inmitten einer deutschen Touristengesellschaft, die das bekannte Stangensche Reisebureau durch Indien geleitete. Neben mir rechter Hand hatte ein dicker Rentier seinen Platz, der sofort von mir wissen wollte, ob Harst es wohl übernehmen würde, ihm seinen Schirm mit echt goldener Krücke, der ihm gestern in der großen Moschee gestohlen worden war, zurückzuverschaffen.

„Ich zahle gern hundert Mark dafür,“ meinte er. „Und Sie, Herr Schraut, sollen auch 20 bekommen –“

Ich lachte ihn vergnügt an. „Herr Pickering, – solche Sachen machen wir nicht. Für Geld überhaupt nichts! Harst ist nämlich selbst mehrfacher Millionär –“

Uns gegenüber wieder saß ein Graf Harstein von Hardefels, ein älterer Herr, der nach einer Weile Harst sehr gönnerhaft fragte:

„Was verdienen Sie eigentlich so als Detektiv? – Mir war mal Familiensilber gestohlen. Da mußte ich einem Ihrer Berliner Kollegen 300 Mark Vorschuß geben und kriegte das Silberzeug doch nicht zurück.“

Harst merkte, daß der Herr Graf von ihm offenbar bisher nicht viel wußte und erklärte deshalb ganz liebenswürdig:

„Ich bin nur Liebhaberdetektiv, das heißt, ich betreibe die Verbrecherjagd nur aus Neigung, nicht als Erwerb –“

„Ja – Herr Harst ist nämlich mehrfacher Millionär,“ schrie mein Rentier dem Grafen zu.

Dieser entschuldigte sich daraufhin, schlug einen anderen Ton an und bewies so, daß nicht der Mensch, sondern die Millionen von ihm gebührend berücksichtigt wurden.

Ich erwähne Pickering und Adalbert von Harstein-Hardefels hier nur deswegen, weil wir mit ihnen anderswo dann ein unvermutetes Wiedersehen feiern sollten.

Gleich nach Tisch sagte Harst zu mir:

„Du – einmal und nicht wieder. Nicht zehn Pferde schleppen mich nochmals in diesen Speisesaal! Na – morgen hoffe ich ja auch nach den Indra-Ruinen aufbrechen zu können. Pferde und einen Führer werden wir bald haben.“

 

2. Kapitel.

Ein kleines Abenteuer im Fremdenheim.

Harst nahm nachher unsere liebenswürdige Wirtin beiseite und erkundigte sich bei ihr nach einem ortskundigen, zuverlässigen Führer. Frau von Tezra wies uns an einen Hindu, der zumeist nebenan im Cafee sich aufhalten sollte. Der Mann hieß Laik Ali. Wir fanden ihn sehr bald, und da er auf uns einen recht guten Eindruck machte, vertraute Harst ihm an, daß wir die Indra-Ruinen besuchen wollten.

Laik Alis Gesicht wurde sehr – sehr lang. Er schüttelte den Kopf, erklärte:

„Sahib, das hat vor vier Monaten zum letzten Mal ein englischer Offizier gewagt. Er ist nie mehr gesehen worden. Nein, Sahib, auch für 20 Pfund Sterling würde ich nicht mit Dir reiten. Aber Pferde will ich Dir gern besorgen, gute Pferde –“

„Du warst bereits dort in der alten Ruinenstätte?“ fragte Harst.

Der Fremdenführer bejahte. „Vor vier Jahren, Sahib. Aber – das eine Mal, und nie wieder. Es gibt keine Gegend im großen Reiche des Nizam, in der die Tiger so häufig sind wie in der Wildnis dort im Süden –“

„Hm – und die Gond? Wie steht’s mit diesen Wilden?“

Laik Ali schaute zu Boden.

„Ich weiß nichts von ihnen, Sahib –“

Er log ganz offenbar. – Harst warf mir einen langen Blick zu. Dann meinte er:

„Du willst nichts von ihnen wissen, Laik Ali. Weshalb verheimlichst Du mir etwas? Fürchtest Du, Dir irgendwie zu schaden, wenn Du offen redest?“

„Vielleicht, Sahib –“

Mehr war von ihm nicht zu erfahren; nur daß man zwei Tage scharf zu reiten hätte, ehe man in der Nähe der Ruinen der alten, durch ein Erdbeben einst zerstörten Stadt Indra anlange, und daß es weder Weg noch Steg dorthin gebe. – Im übrigen versprach er uns, daß wir am nächsten Morgen zwei gute Pferde sowie ein drittes als Packpferd mit allem Nötigen versehen vorfinden würden; er würde um sieben Uhr vor dem Gartenausgang des Fremdenheims bereitstehen.

Wir verließen das Cafee nach einer Weile und kehrten in unsere Quartiere zurück. Als wir die Vorhalle betraten, merkten wir sofort, daß irgend etwas Besonderes während unserer Abwesenheit im Hause der Frau von Tezra sich ereignet haben müsse. Eines der Stubenmädchen – die Gäste standen in Gruppen in der Vorhalle und dem angrenzenden Lesezimmer herum – erzählte uns, daß der Herr Professor Meier von einem Auto vor einer Viertelstunde überfahren worden sei. Er habe noch die Kraft gehabt, sich bis auf sein Zimmer zu schleppen. Der linke Arm sei aber zweimal gebrochen, wie der deutsche Doktor Herbst festgestellt habe.

Da schoß auch schon Rentier Pickering auf uns zu. – „Herr Harst, hochverehrter Herr Landsmann, hier gibt’s Arbeit für Sie. Sie müssen das verdammte Auto finden, das natürlich –“

Und von der anderen Seite näselte jetzt auch der Graf Harstein von Hardefels:

„Pardon, Herr Harst, – dem armen Professor müßte doch dadurch eine kleine Genugtuung verschafft werden, daß man das Auto –“

„Aber natürlich, meine Herren, – natürlich!“ meinte Harst liebenswürdig. „Das Auto herauszufinden, ist doch fraglos eine Kleinigkeit. Ich will sehr gern –“

Da – in diesem Augenblick von der Haupttreppe her die etwas krähende Stimme eines blondbärtigen, langen Herrn mit goldener Brille:

„Meine Herrschaften, der Unfall unseres Landsmannes ist zum Glück verhältnismäßig gut abgelaufen. Ich habe den Arm geschient, und Professor Meier hat den Schreck bereits leidlich überwunden. Morgen wird der Professor wie sonst beim Frühstück erscheinen. – Gute Nacht allerseits –“

„Gute Nacht!“ sagte auch Harst zu Pickering und dem Grafen.

Unser Zimmer lag im Erdgeschoß rechts. Der Portier kam uns nachgelaufen.

„Herr Harst, ich habe Ihnen vorhin eine Depesche auf den Nachttisch gelegt –“

„Depesche?!“ Harst sah mich fragend an. „Wer kann wohl an mich depeschiert haben?!“

Er eilte schnell weiter, schloß das Zimmer auf, schaltete das Licht ein, suchte auf seinem Nachttischchen.

„Ich sehe nichts von einer Depesche. Siehst Du was, Schraut?“

Falls eine Depesche da gewesen, hätten wir sie bemerken müssen. Trotzdem schickte Harst mich zu dem Portier. Der schwor hoch und heilig, das Telegramm müsse auf dem Nachttischchen auf dem Fuße der Stehlampe liegen. Er kam selbst mit. Als wir das Zimmer betraten, saß Harst in einem der zu der Saloneinrichtung gehörigen Sessel und rauchte eine seiner geliebten Mirakulum-Zigaretten.

„Gib Dir keine Mühe, Schraut,“ meinte er. „Ich habe schon erkannt, daß die Depesche gestohlen worden ist. Der Dieb ist dort durch das Fenster eingestiegen. Er hat außerdem meinen Koffer aufzubrechen versucht. Wir haben ihn jedoch bei der Arbeit gestört.“

Als der Portier kopfschüttelnd erklärte, hier sei bisher noch nie etwas abhanden gekommen, sagte Harst freundlich: „Regen Sie sich nicht weiter auf darüber, mein Freund. – Woher war die Depesche?“

„Leider keine Ahnung, Herr Harst –“

Der Portier zog sich zurück.

„Ich glaube den Absender zu kennen,“ meinte Harst nun. „Es wird Inspektor Plumper aus Madras sein. Er wollte mir eine Empfehlung an den hiesigen englischen Residenten (die Vasallenfürsten Indiens werden von hohen englischen Beamten dauernd beaufsichtigt) mitgeben, vergaß aber nachher davon.“

Er gähnte und begann sich zu entkleiden. Als wir schon im Bett lagen, stand er nochmals auf, nahm seinen Revolver aus der Beinkleidtasche und sagte: „Lieber Schraut, ich empfehle Dir dieselbe Vorsichtsmaßregel. Der Dieb könnte bei uns gute Beute vermuten und zurückkehren.“

Gleich darauf war er auch schon eingeschlafen.

Leider hatte mir jedoch diese verschwundene Depesche den Schlaf so gründlich verscheucht, daß ich noch bis ein Uhr morgens etwa wach lag und darüber nachgrübelte, weshalb der Spitzbube gerade das Telegramm mitgenommen haben könnte.

Dann – ich war gerade eingenickt – fuhr ich hoch infolge eines Geräusches, das wie das Klappen eines Fensterflügels klang.

„Harst!“ rief ich leise.

Im Zimmer herrschte ein ungewisses Halbdunkel. Es war eine helle Nacht und durch die Leinenvorhänge der Fenster drang so viel Licht herein, daß ich jetzt erkannte, daß Harsts Bett leer war.

Ich stand auf. Und sehr bald sah ich, daß Harst das Zimmer durch eins der Fenster verlassen hatte.

Ich wartete auf seine Rückkehr. Unter unseren Fenstern führte ein Gartenweg an der Seitenfront des Hauses in den Park hinein. Harst erschien nach etwa einer halben Stunde.

„Ach – Du bist munter. – Gut, – ich will Dir etwas zeigen –“

Ich mußte mit in den Garten. An der Hinterseite des Hauses lehnte eine Leiter. Harst deutete auf zwei erleuchtete Fenster dicht daneben. Ich kletterte die Sprossen hoch. Und dann konnte ich durch einen Spalt in den Vorhängen in ein Fremdenzimmer hineinlugen, in dem am Mitteltisch – der Graf Hardefels und der dicke Pickering saßen. Auf dem Tische lagen drei Revolver, zwei leichte Jagdgewehre und allerlei andere Dinge, die darauf schließen ließen, daß die beiden Männer dort einen Jagdausflug vorbereiteten.

Pickering – klein – dick! – Etwa – Warbatty?! So schoß es mir durch den Kopf.

Ich kletterte wieder hinab, fragte Harst leise: „Pickering ist doch nicht –“

Da unterbrach er mich: „Keine überflüssigen Worte, mein Alter! Du wirst Dir doch nicht ein solches Armutszeugnis ausstellen und so tun, als wüßtest Du nicht, was hier sich vorbereitet.“

So zwang er mich zum Schweigen. Oh – er versteht’s, seine wahre Meinung zu verbergen, mein Freund und Brotherr! Er ersinnt immer neue Spitzfindigkeiten, einer Antwort auszuweichen, wenn er nicht antworten will.

Jetzt gab er sich den Anschein, als nähme er bestimmt an, ich hätte seine unausgesprochen gebliebenen Gedanken erraten. – Oder: nahm er das wirklich an? War Pickering tatsächlich der wiederaufgelebte Warbatty? –

Wir begaben uns wieder zur Ruhe. Ich zwang mich zum Einschlafen, denn ich mußte morgens ja frisch sein.

 

3. Kapitel.

Der singende Vogel.

Wollte ich hier unseren Ritt nach der Ruinenstadt Indra mit all seinen Mühen und Irrwegen schildern, müßte ich vielleicht fünf Seiten den Leser auf den Affen, den dunklen Strich und den singenden Vogel warten lassen.

Der Ritt begann mit einer Enttäuschung. Laik Ali hatte nicht Wort gehalten. Als er um ½8 mit den Pferden nicht zur Stelle war, fuhr Harst mit einer Rikscha zu einem Pferdeverleiher und wählte selbst drei Tiere aus. Diese bewährten sich recht gut.

In dem Fremdenheim hatten wir nicht einmal Frau von Tezra verraten, wohin wir wollten. Absichtlich verließen wir die Stadt durch das Osttor. Man konnte es uns daher glauben, daß das ehemals so berühmte Golkonda unser Ziel sei. Dies hatte Harst den Neugierigen, die unsern Abmarsch sich ansahen, mit ernstestem Gesicht angegeben.

Gegen elf Uhr vormittags verließen wir die miserable Fahrstraße und schlugen uns seitwärts in die Büsche, eine Redensart, die hier durchaus zutraf. Wir überquerten nämlich ohne Weg und Steg eine mit Buschinseln besäte Savanne. Dann folgten sumpfige Urwaldstrecken, die uns zu einem weiten Bogen nach Osten zwangen. Wir ritten stets mit gespannter und entsicherter Büchse quer über dem Sattel. Die Büchsen hatte Harst in Madras erstanden. Es waren englische Fabrikate, und sie schossen tadellos. Wir ließen es überhaupt in nichts an der nötigen Vorsicht fehlen. Wir hatten nicht nur die wilden Gond, sondern auch Tiger und Panther zu fürchten. Unser erstes Nachtlager in der Wildnis war derart, daß ich dem Schöpfer dankte, als es hell wurde und das Getier des Urwaldes wieder zur Ruhe kam. Ein Pantherpärchen hatte den Lagerplatz andauernd umschlichen, bald hoch in den Baumästen, bald wieder im Gestrüpp lautlos und schlangengleich sich entlangwindend. Nur die gelbgrün schillernden Raubtierpupillen verrieten uns den jeweiligen Standort der beiden Bestien.

Harst war am Abend des zweiten Tages sehr unsicher, ob wir nicht bereits die Ruinenstätte hinter uns hätten. Außerdem aber machte er auf mich auch sehr stark den Eindruck eines Menschen, der jeden Augenblick aus dem Gebüsch eine heimtückische Kugel erwartet und der daher etwas nervös geworden ist. Die Sonne war soeben untergegangen. Wir hielten am Südrande eines Sumpfstriches, den wir abermals mit Verlust von zwei Stunden umritten hatten.

„Was nun?!“ meinte Harst. „Ich bin mit meiner Weisheit fertig. Wir sind so scharf getrabt, daß wir die Ruinen unbedingt dicht vor uns haben müßten, wenn wir sie eben nicht –“ Seine nimmermüden Augen waren hierhin und dorthin geschweift, hafteten nun fest auf einem Punkte. Gleichzeitig schwieg er.

Vom Rande des Sumpfes stieg das Gelände zu flachen, waldigen Hügeln an. Zwischen diesen wechselten mannshohe Gräser mit sandigen Stellen ab.

„Komm!“ sagte Harst jetzt kurz. Er ritt voran. Ich hatte unser Packpferd an der Leine. Abermals machte er halt, deutete auf eine Fährte von fünf Reitern, erklärte:

„Das sind sie! Und sogar in trautem Verein! – Die Spur geht nach Norden in den Sumpf hinein. Man erkennt es ganz deutlich. Beeilen wir uns etwas. Es muß dort einen jener alten Knüppeldämme geben, die im Laufe der Zeit von der Vegetation vollständig überwuchert und daher so schwer zu finden sind.“

Er hatte recht. Wir waren bald auf dem niedrigen Damme. Die Fährte der Reiter lief auf demselben entlang. Harst blieb stets gut einige zwanzig Schritt vor mir.

Die Dunkelheit nahm schnell zu. Nach einer Viertelstunde merkten wir, daß wir über Steinboden dahintrabten.

„Eine gepflasterte, uralte Straße,“ meinte Harst, der jetzt auf mich gewartet hatte. „Eine Straße, die nach – Indra hineinführt –“

Ah – jetzt erblickte ich gleichfalls vor mir zackige Mauerreste, halbe Säulen, die Überbleibsel von schlanken Türmen. Und zumeist war’s ein hellgrauer Marmor, der als Baumaterial Verwendung gefunden hatte.

„Die sagenhafte Stadt Indra, einst die Residenz eines Herrschergeschlechts, das die ganze Mitte und den Süden Vorderindiens als mächtiges Reich besaß; bis die Pest kam und in zwei Jahren Millionen Menschen fraß. Was noch übrig, flüchtete halbwahnsinnig vor Schreck in die Urwälder und dann warf ein Erdbeben die Paläste und Häuser der einst so blühenden Stadt durcheinander wie Kinderspielzeug. – Wir haben es also gefunden, das marmorne Indra, wie die indischen Sagenerzähler es nennen –“

Er wollte offenbar noch etwas hinzufügen, mußte aber notwendig gegenüber dem urplötzlich in der Ferne sich erhebenden Geheul zunächst schweigen.

Geheul?! – Ach – das ist eine recht schwache Bezeichnung für dieses Höllenkonzert! Es ging wirklich durch Mark und Bein, und mir lief es eiskalt dabei über den Rücken, als befände ich mich plötzlich in einem Eiskeller. Dabei hatten wir meiner Schätzung nach 35 Grad Celsius Wärme, was man in Indien so „Abendkühle“ nennt. Gerade Haidarabad und Umgegend gehört ja zu den heißesten Landstrichen des Kolonialreiches der Briten.

Geheul – und nun auch Schlüsse. Sehr dünne Knalle; also Revolver; etwa zehn zählte ich.

„Ein Überfall,“ meinte Harst ernst. „Die fünf Reiter dürften ihre Unvorsichtigkeit mit dem Leben bezahlen. Ich begreife nur nicht, daß auch er so blindlings den Gond in die Falle gegangen ist –“

„Wer – er?! – Du hast schon wieder so allerlei Geheimnisse vor mir, und Du weißt, wie nachteilig das werden kann. Ich erinnere nur an Kolombo und die Lady Rockwell.“ –

„Hm – da lag die Sache anders. Überhaupt – Geheimnisse?! Ich bitte Dich! Du bist doch in alles eingeweiht. Natürlich ist „er“ unser Freund Cecil –“

„Also der dicke Rentier Pickering,“ vollendete ich. „Du – dann muß Warbatty also zunächst aus Madras entwichen sein und zweitens sich einen linken Zeigefinger haben annähen lassen! Denn Pickering hatte alle seine zehn Finger in bester Verfassung am speckigen Leibe –“

Harst achtete kaum auf diesen Einwand. Er stieg ab und führte sein Pferd langsam vorwärts zwischen Säulenresten hindurch in einen unkrautüberwucherten Tempelhof. Gleich darauf hatten wir mit unseren drei Tieren in einem kleinen, nur vorn offenen und leidlich gut erhaltenen Raume eines Tempelanbaus ein trockenes und sicheres Unterkommen gefunden, hatten den Eingang durch Dornsträucher verschlossen und zum Schutz gegen heimtückische Giftpfeile die drei Pferdedecken freischwebend hinter dem Dornverhau aufgehängt.

Harst bewährte sich auch hier als erfinderischer Abenteurer genau so gut wie als Detektiv. –

Über dem mitgenommenen Spirituskocher brozelte Seewasser. Wir hatten tüchtigen Hunger, und gleich nach den ersten Bissen brachte ich das Gespräch wieder auf Warbatty.

Harst nickte. „Ja – ganz recht, Pickering ist natürlich niemals Warbatty –“ – Er faßte in die Tasche und holte eine Depesche hervor. Beim Scheine der Laterne las ich sie:

Harald Harst, Haidarabad, Pension Tezra.

W. heute früh verschwunden. Gestern nachmittag war deutscher Arzt bei mir, bat, den bisher völlig frischen Körper des Toten sich ansehen zu dürfen, behauptete dann, das Gift zu kennen, durch das W. sich nur in Starrkrampf versetzt hätte. – Jetzt bei mir Verdacht, daß der Arzt W. Gegengift eingegeben und für ihn in Zelle Ausbrecherwerkzeug zurückgelassen hatte. Vorsicht also. Gruß – Plumper.

Mir ging ein Licht auf.

„Du selbst hast also die Depesche gestohlen,“ rief ich empört. „Wozu die Komödie?!“

„Ich habe sie gestohlen – aber aus einem anderen Zimmer, mein lieber Schraut, – nicht aus dem unsrigen. Bei uns hat sie der blonde deutsche Doktor Herbst „geklemmt“. Und ich holte sie mir dann aus Professor Meiers Zimmer zurück – wenige Stunden später, bevor ich Dich dann zu der Leiter führte. Diese Leiter hatte ich zuerst anderswo an die Mauer gelehnt, eben neben Meiers Fenster, der bei seinem Freunde Herbst saß und über einen Ritt nach Indra plauderte.“

Sehr geistvoll sah ich in diesem Augenblick sicherlich nicht aus. Ich suchte das soeben Gehörte zu entwirren. Doktor Herbst – Professor Meier?! – Und – der Inspektor Plumper hatte in der Depesche einen deutschen Arzt erwähnt?

„Nicht wahr, nun ist Dir doch alles klar, lieber Schraut, hoffe ich.“ fügte Harst jetzt hinzu. „Sieh mal, dieser Unfall des Landsmannes Meier erschien mir etwas verdächtig. Wenn jemand überfahren wird und sich noch allein bis ins Pensionat schleppt, wenn sonst also keine weiteren Zeugen für den Unfall vorhanden sind, wenn ausgerechnet der linke Arm gebrochen sein soll und man daher durch den Verband das Fehlen des linken Zeigefingers verbergen kann, dann schöpft man auch ohne Plumpers Depesche, die ich ja auch erst nachher las, Argwohn und spioniert so etwas vor den Fenstern. „Meier“ und Herbst saßen und tranken Whisky wie die Löcher. Zwischen ihren benachbarten Zimmern war die Tür nur angelehnt. Trotzdem wagte ich das Einsteigen. Und – die Depesche war auch da, wo ich sie vermutete, – in Herbsts Touristenjoppe in der Außentasche, denn er saß nebenan in Hemdärmeln. Übrigens waren die beiden biederen Landsleute erst nachmittags in Haidarabad und bei Frau von Tezra eingetroffen. Allerdings hatte der Doktor Herbst schon vorher dort vier Tage gewohnt und aller Welt von dem lieben Professor Meier erzählt, der nun auch bald anlangen würde. „Herbst“ ist dann, als Warbatty von uns abgefaßt worden war, schleunigst nach Madras geeilt und hat hier frech und gottesfürchtig Plumper hineingelegt, das heißt, für Warbattys Auferstehung und Befreiung gesorgt. – Und im Pensionat haben die beiden den dicken Pickering und den Grafen zu überreden gewußt, an einer von ihnen geplanten Partie nach Indra sich zu beteiligen, haben uns unseren Führer weggekapert und unsere Pferde, – denn Laik Ali hatte Gäule besorgt, wie mir der Pferdeverleiher berichtete. Die fünf sind also Warbatty, Herbst, Pickering, Hardefels und Laik Ali. – Das Wasser kocht längst. Brüh’ den Tee auf –“

So machte es Harst ja immer: er verheimlichte allerhand Tatsachen und rückte dann mit allem ganz plötzlich heraus, so daß man sich einer geradezu verwirrenden Fülle von Neuigkeiten gegenübersah.

„Anscheinend wollte Warbatty dann also hier in der Wildnis den Rentier und den Grafen ausplündern,“ sagte ich jetzt und füllte Harsts Becher.

„Vielleicht. – Nun dürften die fünf sich in der Gewalt der Gond befinden, falls sie noch leben. – Das werden wir morgen früh feststellen –“ –

Wir wachten die Nacht über abwechselnd. Sehr bald nach Sonnenaufgang frühstückten wir und begannen dann zunächst die Umgebung unseres Schlupfwinkels genau auf etwa im Hinterhalt liegende Wilde abzusuchen.

Der mit Marmorfliesen ausgelegte Tempelhof war genau quadratisch bei einer Seitenlänge von 120 Schritt. Die eingestürzten Tempelbauten ringsum bildeten förmliche Wälle. Der einzige Zugang war der zerstörte Säulengang. Der Platz war recht malerisch; in der Mitte gab es einen runden, vertieften Springbrunnen, dessen Wasserspeier aus einem unbehauenen Marmorblock und – einem riesigen Papagei darauf bestand. Der Papagei hielt den Kopf hochgereckt und den Schnabel offen. Man erkannte noch die Metallröhre im Schnabel, aus der einst der Wasserstrahl hochgespritzt war.

Als Harst diesen Marmorvogel eine Weile betrachtet hatte, meinte er:

„Jetzt fehlt noch der Affe, dem die Sonne ins Gesicht scheint. – Hm – hast Du mal wieder darüber nachgedacht, wie dieses Wortrebus zu deuten ist? – Den Vogel haben wir nun. Suchen wir den Affen.“

Wir trennten uns und durchstreiften den Hof, wo das Unkraut stellenweise die Marmorplatten gelüftet und wo auch niedriges Buschwerk vereinzelt sich angesiedelt hatte.

Der Affe – wir rechneten auf eine Marmorfigur, da hier im Tempelhofe außer allerlei Götzenbildern auch Tierstatuen – Tiger, Rinder und Vögel – standen, war jedoch nicht zu entdecken.

Schließlich erklärte Harst, unter diesen Umständen könne er nur annehmen, daß dieser Platz überhaupt nicht in Frage käme.

„Es wird hier eben noch einen zweiten singenden Vogel geben, lieber Schraut. Halten wir Ausschau danach und gleichzeitig nach den fünf Reitern.“ –

Als wir nun die Ruinenstadt durchstreiften, stets die Büchsen halb im Anschlag, kamen wir nach einer halben Stunde auch in einen Palmenhain, in dessen Mitte eine ganz ähnliche Tempelruine wie die lag, wo wir unser Versteck hatten. Auch hier ein Säulengang, ein quadratischer Hof und Wälle von eingestürzten Baulichkeiten.

Wir standen noch in dem Säulengange, als wir plötzlich ein Pfeifen vernahmen, das aus der Mitte des Hofes herkam. Es waren weiche Töne, bald tiefer, bald heller; eine Art Melodie fast.

Harst packte meinen Arm.

„Du – der singende Vogel! Dort – auch ein Springbrunnen und ein Papagei als Wasserspeier. Und – jetzt die Wassersäule! Der Springbrunnen ist noch in Tätigkeit! – Die Sonne blendete uns vorher zu sehr. Daher entging uns der Wasserstrahl –“

Da verstummte das Pfeifen wieder. Und gleichzeitig verschwand auch die Wassersäule.

Harst schritt dem Brunnen zu. Das Bassin war halb gefüllt. Scheußliche Riesenkröten, goldgelbe Riesensalamander und sogar ein paar kleine Wasserschlangen bevölkerten das Becken.

Wir besahen uns den Steinpapagei aus der Nähe. Er war von anderer Form als der erste. Das Wasser trat hier aus der gesträubten Kopfhaube heraus, die in sieben Spitzen auslief.

„Aha – ein Musikinstrument, das durch den Druck des Wassers zum Tönen gebracht wird,“ erklärte Harst. „Das Wasser steigt nur in Zwischenräumen hoch, entquillt also einem natürlichen Geiser. Du siehst, lieber Schraut, die alten Inder waren nicht nur glänzende Baukünstler, sondern wußten auch allerliebste Spielereien zu ersinnen, wie zum Beispiel diesen singenden Vogel.“

Wir mußten fünf Minuten warten. Dann endlich sprangen die sieben Wasserstrahlen hoch und vereinigten sich zu einer vier Finger dicken Säule.

Der Gesang begann.

In dieser phantastisch-romantischen Umgebung wirkte er geradezu geheimnisvoll.

Ich lauschte versonnen. Meine Gedanken eilten in die Jugendtage zurück, – zurück zu den Märchen von Tausend und eine Nacht. Ich besann mich dunkel, daß da auch ein singender Vogel eine Rolle gespielt hatte.

 

4. Kapitel.

Der Affe und die Sonne.

Leider kam die Prosa nur zu schnell.

„Das da dürften noch recht frische Blutspritzer sein,“ sagte Harst. Und ich erwachte. Die Wirklichkeit verlangte ihr Recht.

Er hatte auf eine etwa fünf Meter entfernte Stelle des Fliesenbodens gedeutet. Auch ich erkannte dort nicht nur kleine, reihenweise Bluttropfen, sondern auch drei handgroße Lachen, die die Sonne bereits tiefbraun verfärbt hatte.

Harst prüfte die Umgebung nun auf seine Art, das heißt, ganz als Detektiv. Als er sich mir dann wieder zuwandte, sagte er:

„Einige zwanzig Wilde gegen die fünf Reiter – eine für die Gond faule Sache, falls die fünf aufmerksam gewesen wären! So aber haben sie sich überrumpeln lassen, und wahrscheinlich ist nur der Graf Hardefels als früherer Offizier geistesgegenwärtig genug gewesen, noch drei von der Bande niederzuknallen.“

Er schritt dann, die Augen stets auf dem Boden, dem Ausgange zu, entschwand meinen Blicken und kehrte nach einer Viertelstunde zurück.

„Die Gond haben ihre Gefangenen weggeschleppt,“ erklärte er. „Die Fährte verliert sich an einer der alten Stadtstraßen, wo die Steine mir nichts mehr verraten konnten. Es wird uns schwer werden, für die fünf etwas zu tun. Versuchen werden wir’s. Ich halte das für meine Pflicht den Landsleuten Pickering und Hardefels gegenüber. Wir müssen die Ruinenstadt umkreisen und feststellen, wo eine Spur eines größeren Trupps in die Wildnis einbiegt. Nur so können –“

Er schwieg plötzlich, nieste, lachte, als ich „Zur Gesundheit!“ rief und fügte dann hinzu:

„Merk’ Dir dieses Hatschi! Es ist bedeutungsvoller, als Du ahnst. Mir ist da soeben ein ganz seltsamer Gedanke gekommen.“ Er sprach diese Sätze etwas leiser, das Nächste wieder recht laut, indem er auf den singenden Papagei zeigte, der gerade wieder sein Lied anstimmte:

„Wir wollen doch erst Warbattys Rebus zu deuten suchen, lieber Schraut. Ich bin zu begierig, festzustellen, ob es sich wirklich um eine Falle handelt oder um – einen Schatz.“ –

Wenn dieser singende Vogel hier der richtige war, dann mußte auch der Affe auf diesem Hofe zu finden sein. Und – jetzt hatten wir Glück. Ich war’s, der zwischen hohen Riesendisteln ein Steinbild entdeckte, das einen auf einem Sockel sitzend den Affen darstellte, der in jeder vorgestreckten Hand eine Schale hielt.

Harst besichtigte den Affen sehr genau, nachdem wir die Disteln mit den Büchsenkolben umgebrochen hatten. Dann fragte er mich:

„Nun – was hältst Du von den Angaben Warbattys?“

Ich kannte den Wortlaut des „Rebus“ bereits auswendig und wiederholte daher langsam aus dem Gedächtnis:

„Dort scheint die Sonne dem Affen ins Gesicht, und der dunkle Strich, während der Mittagsmahlzeit dreimal verlängert –“

Und ich fügte hastig hinzu: „Der dunkle Strich ist vielleicht der Sonnenschatten, den der Affe wirft, und zwar gerade mittags –“

„Hm?!“ machte Harst.

„Bist Du anderer Ansicht?“

„Vielleicht. – Am besten, wir suchen jeder für sich das Rätsel zu lösen. Aber – halte Deine Büchse nach wie vor bereit und die Augen offen! Die braune Bande kann zurückkehren.“

Er ging langsam davon auf den Brunnen zu. Dort setzte er sich auf den Rand des Marmorbassins, rauchte sich eine Zigarette an und grübelte anscheinend über Warbattys Vermächtnis nach, das jetzt das Vermächtnis eines Lebenden geworden war.

Ich war, was unseren alten Gegner und dessen Helfershelfer Herbst anging, ehrlich froh, daß die Gond die beiden als Gefangene mitgenommen hatten, denn es wäre doch ein verteufelt ungemütliches Gefühl gewesen, hier auf offenem Platze jederzeit einer heimtückischen Kugel ausgesetzt zu sein.

Ich bemühte mich nun mit allen Mitteln meines durch den Umgang mit Harst ein wenig geschärften Verstandes, die Lösung des Rebus irgendwie zu finden.

Ich wiederholte so und so oft, während ich meine Blicke zwischen der Affenstatue und dem Marmorpapagei hin und her wandern ließ:

„Der dunkle Strich findet den singenden Vogel, dessen Schnabel den Weg weist, dessen Ende der Anfang ist.“

Was sollte das heißen – was nur?! – Affe und Papagei standen etwa dreißig Meter auseinander. Und der Schnabel des Vogels wies nach Südwest, wie ich mit Hilfe des Taschenkompaß feststellte, während der Affe genau nach Südost schaute.

War der „dunkle Strich“ wirklich der Schatten? – Ich sann und sann.

Der Affe befand sich links neben dem Springbrunnen, wenn man vor diesem stand und nach Norden blickte. Ich hatte mir ausgeklügelt, daß der dreimal verlängerte Schatten des Affen eine gedachte Linie schneiden müßte, die man von dem Sockel des Papageis nach Südwesten zog, also in Richtung des Schnabels.

Aber – dies konnte nie zutreffen. Das hatte ich bald heraus.

Ich ging hin und her, prüfte die Entfernungen, die Richtungen – alles umsonst.

Jetzt stand auch Harst auf, sah nach der Uhr, rief mir zu:

„Genau zwölf Uhr!“

Auch er schritt auf und ab, blieb stehen, ging weiter, schüttelte den Kopf, murmelte allerlei vor sich hin, meinte dann:

„Ein ganz verzwicktes Rätsel. Ich hoffte, ich würde es in kurzem erledigt haben. Aber – ich versage hier! Lassen wir die weiteren Bemühungen für heute. Morgen ist auch noch ein Tag. Und morgen vormittag werde ich die Geschichte klären, so wahr ich Harald Harst heiße!“

Ich ahnte nicht, was alles er unter dieser „Geschichte“ verstand, ahnte nichts von den Überraschungen, die meiner warteten und die mir wieder einmal bewiesen, wie unendlich meines Freundes und Brotherrn geistige Fähigkeiten den meinen überlegen waren.

Er hatte auf dem Rande des Springbrunnens gestanden, als er mir diese Sätze mit halb zurückgezogenem Kopf zurief. Jetzt sprang er auf die Marmorfliesen hinab, fügte hinzu:

„Ich habe Hunger. – Kehren wir nach unserem Schlupfwinkel zurück.“

Ich fand, daß er getrost weniger laut all das hätte schreien können. Wenn man sich vor braunem Gesindel zu hüten hat, schont man seine Stimme besser.

Als wir nun durch die toten Straßen der toten Stadt dahinschritten, sagte ich zu ihm, daß es doch eigentlich wenig vorsichtig sei, hier so unbekümmert sich gegenseitig etwas zuzurufen.

Er lächelte dazu.

„Lieber Schraut, Du wirst Dich wundern!“ und er klopfte mir derb auf die Schulter. „Nachher sollst Du die Lösung des Rebus erfahren. Den Rest aber erst morgen vormittag –“

Ich blieb stehen.

„Wie – Du hast –“

„Ja – ich habe!“ Er zog mich mit sich fort. „Ich habe das Schwerste herausgekriegt – und das ist, dahinterzukommen, was der dunkle Strich bedeutet. Jedenfalls ist’s nicht der Schatten, mein Lieber. – Na – ich serviere Dir die Erklärung als Nachtisch.“

Ich bat, flehte. Denn ich war neugierig. Und dies wohl mit Recht. Doch er blieb Harst – das heißt – hart und unerbittlich. –

Unser Konservenmittag war eingenommen, die Pferde waren besorgt und wir streckten uns auf die Grasstreu hin, die unsere Betten darstellte.

Harst bot mir eine seiner geliebten Mirakulum an. Das war bei ihm ein Zeichen sehr guter Laune. Er schonte seinen Vorrat sehr.

Er hielt mir das Streichholz hin, meinte dann nach den ersten Zügen:

„Ja – ohne Hitze könnten wir die Zigaretten nicht in Brand kriegen, und ohne die wärmenden Sonnenstrahlen hätte ich das Rebus nie gelöst. – Die Sache ist die, lieber Schraut, – Jede schlechte Rede fängt mit Also an. Also: Satz eins: Dort scheint die Sonne dem Affen ins Gesicht. – Dadurch soll nur gerade auf dieses Affenstandbild hingewiesen werden. Es sind ja noch andere Affen dort vorhanden –“

„Andere? – Ich habe keinen bemerkt –“

„Schlimm genug. – Gewiß, keine Statuen. Aber Reliefaffen an der letzten Säule des Zugangs. Doch diese drei ausgehauenen Affen kriegen, da sie nach Norden glotzen, nie einen Sonnenstrahl ins Gesicht. Mithin muß die Steinfigur der richtige Affe sein. – Satz zwei: Der dunkle Strich, während der Mittagsmahlzeit dreimal verlängert – der Schatten des Affen um die Mittagszeit konnte nicht gemeint sein mit diesem dunklen Strich. Denn sonst hätte auch der Monat und Tag angegeben sein müssen, an dem man den Schatten etwa messen und dreimal verlängern soll. Die Sonne hat ja nicht an jedem Tage mittags denselben Stand, und daher fällt die Schattenlänge an den verschiedenen Tagen auch verschieden aus. – Nein, sagte ich mir, mit dem dunklen Strich muß der Verfasser des Rebus auf etwas anderes haben hindeuten wollen. Worauf aber? Doch fraglos auf etwas, das um die Mittagszeit stets dieselbe Länge hat, aber auch nur dann! – Ich will hier vor Dir nicht den Geistreichen spielen, lieber Alter. Kurz: ich habe den Strich gefunden. Und er hängt recht eng mit dem nur zeitweise hochsprudelnden und singenden Brunnen zusammen. – Unter den Steinfliesen des Tempelhofes muß ein Teil der Geiserwasser ebenfalls zeitweise hochquellen. Dann tritt zwischen den Fugen der Fliesen etwas Feuchtigkeit hindurch und färbt die Ränder dunkel. Ich habe nun beobachtet, daß genau um die Mittagszeit dieser dunkle, feuchte Strich seine größte Länge erreicht. Man kann dies unschwer daraus ersehen, daß sich auf den Rändern dünne grünliche Schichten abgelagert hatten, die ebenfalls gerade so lang wie der feuchte Strich sind.“ –

„Donnerwetter – glänzend!“ entfuhr es mir.

„Danke für die Anerkennung! – Das Weitere ist ein Kinderspiel. „Der Strich findet den singenden Vogel“. – Das bedeutet, man soll vom Sockel des Papageis ab den dreimal verlängerten Strich in Richtung des Schnabels, also genau nach Südwest ziehen. Der Schnabel weist eben den Weg, dessen Endpunkt „der Anfang“, das heißt, der Beginn des Erfolges ist. – Ich habe nun ganz unauffällig die richtigen Entfernungen abgeschritten, freilich vom Rande des Bassins an, – ganz unauffällig. Den Radius des Bassins habe ich nachher dazu gerechnet, und so gelangte ich an eine jener großen Marmorfliesen, die in dem Muster des Fliesenbelags sich häufiger wiederholen.“

Harst machte eine kurze Pause.

„Und diese Marmorplatte,“ flüsterte er nun, „dürfte der Zugang zu irgend welchen geheimen Gelassen sein –“

„Du – Du kriegst wirklich alles heraus!“ sagte ich ehrlich erfreut. „Diese Rebuslösung soll Dir mal einer –“

„Keine Schmeicheleien, Herr Max Schraut, – zumal doch die Hauptsache noch fehlt, – der dramatische Teil, der sich morgen vormittag abspielen wird –“

Gleich darauf streckte Harst sich bequem zum Verdauungsschläfchen hin. Ich tat ein gleiches. Am Tage würden die Gond nie wagen, uns anzugreifen.

Erst gegen sechs Uhr nachmittag begaben wir uns nach dem Palmenwäldchen und dem Tempelhofe.

Unterwegs sagte Harst zu mir:

„Auf keinen Fall darfst Du jetzt etwa sofort beginnen, Dich nach der bewußten Marmorplatte umzusehen. Du setzt Dich auf den Rand des Springbrunnens und tust gar nichts!“

Mir erschien dieser Verhaltungsbefehl etwas eigentümlich.

„Fürchtest Du denn Lauscher?“ fragte ich.

„Nein. Ich will nur vorsichtig sein. Jetzt, hoffe ich, wird – Na – wir werden ja sehen –“

Als wir uns in dem Tempelhofe befanden, tat Harst ganz so, als müßte er noch immer dem Rätsel des Vermächtnisses nachspüren, ging hin und her, beschaute den Affen, beschaute den Papagei, so daß in mir beinahe der Verdacht entstand, er hätte ein wenig renommiert und kenne die Rebuslösung noch gar nicht.

Dann aber blieb er stehen, kniete nieder und holte sein Jagdmesser hervor, schob die Klinge in die Fugen der Steinfliesen, winkte mir nun.

Ich eilte zu ihm, sah, wie er eine große Platte hochhob.

Und unter dieser achteckigen Marmortafel gähnte ein Schacht, in dem eine eiserne Leiter in die Tiefe führte.

Harst stieg hinab. „Folge mir langsam und lege dann die Platte wieder auf –“

Er hatte seine Taschenlampe eingeschaltet. Ich wunderte mich, daß er hier so keck eindrang.

„Ist das nicht unvorsichtig!“ warnte ich.

„Nein, lieber Schraut! Wir haben hier bestimmt nichts Besonderes zu fürchten. Jedenfalls keine – Falle –“

Ich fügte die schwere Platte mühsam, auf der Leiter stehend, wieder ein. Sie paßte haarscharf hinein.

Die Leiter hatte 28 Sprossen. Dann stand ich in einem niedrigen Gewölbe, das nach Osten zu weiterging. Es war leer. Harst schritt voran. Wir kamen an einen gemauerten, schmalen Gang. Dann betraten wir wieder ein Gewölbe. Aber – hier strahlten die Lichtkegel unserer Lampen in den prachtvollsten Mosaikbildern an den Wänden wider, gleißten in den zahllosen Goldplättchen, die dazu mit verwendet worden waren. Säulen reckten sich hier aus dem Boden hoch. Und die Mosaikbilder dieser Säulen sprühten vor edlen Steinen in allen Farben.

„Also dies ist Warbattys Vermächtnis!“ meinte Harst leise. „Man wird förmlich trunken von all dem Glanz!“

Weitere Räume gab es hier nicht. Wir fanden nur noch einen zweiten, aber völlig mit Geröll ausgefüllten Schacht.

Zwei Stunden blieben wir unten. Wir hatten in einer Ecke Harzfackeln gefunden, und bei deren Licht schwelgte Harst in all den Schönheiten dieser unterirdischen Tempelhalle.

Dann ging’s wieder nach oben.

Der Abend nahte. Wir saßen in unserem Schlupfwinkel, und Harst schätzte die dort verborgenen Schätze an Edelsteinen ungefähr ab, meinte, zehn Millionen reichten nicht hin als Wertangabe.

Zehn Millionen!

Und – die hatte Warbatty seinem erbittertsten Feinde hinterlassen!

„Warbatty bleibt mir unverständlich,“ sagte ich jetzt. „Wenn er zum Beispiel wirklich in Madras gestorben wäre, dann wärest Du rechtmäßiger Eigentümer all der Kostbarkeiten –“

„Hm!“

„Was soll das Hm?!“

„Morgen, lieber Alter, morgen!“

Und ich erwartete mit brennender Ungeduld den nächsten Tag.

 

5. Kapitel.

Warbattys Geniestreich.

Auch diese Nacht verging ohne Zwischenfälle.

Wir frühstückten. Harst in aller Gemächlichkeit; ich recht aufgeregt. – Endlich brachen wir auf.

Ich hätte gern wenigstens andeutungsweise erfahren, was sich nun ereignen würde. Ich wußte ja nichts – nichts, konnte mir davon auch keinerlei Vorstellung machen. – Harst jedoch zuckte die Achseln.

„Geduld!“

Nun standen wir in dem Tempelhofe vor dem Springbrunnen.

„Setz’ Dich bitte,“ meinte Harst laut. „Ich werde nun abermals das Rebus zu ergründen suchen –“

„Was soll denn –“

Er ließ mich nicht aussprechen.

„Daß Du mir suchen hilfst, hat keinen Zweck!“ rief er und schritt auf den Affen zu.

Ich erlebte nun die Komödie, daß er ganz so tat, als messe er Entfernungen ab – und so weiter.

Plötzlich dann: „Schraut, Schraut, – ich hab’s! Hier diese große Marmorplatte muß der Kernpunkt sein.“

Und nun hob er die Platte hoch.

„Ah – eine eiserne Leiter! Vorwärts – steig’ mir voran –“

Ich lief hinzu, kletterte hinab. Und er folgte mir, flüsterte jetzt jedoch:

„Warte – mir müssen sofort wieder nach oben!“

Er blieb kaum zwei Minuten auf der Leiter. Dann suchten wir wieder die Oberwelt auf; dann blieb der Schacht unbedeckt; dann zog Harst mich in ein Gestrüpp hinein am Fuße einer eingestürzten Mauer.

„Er wird sofort mit seiner Bande erscheinen,“ flüsterte Harst.

„Wer?“

„Warbatty!“

„Warbatty?! – Aber der ist doch –“

„Abwarten!“

Eine Viertelstunde nichts.

Dann – zwei Europäer, hinter ihnen sechzehn kleine, fast schwarze Wilde, nur mit Lendentüchern bekleidet, den Kopf bis auf eine Scheitellocke kahl geschoren: Gond – sechzehn Gond, die also Warbattys Verbündete waren.

Und nun verschwanden diese schwarzbraunen Teufel in dem Schacht, nun kletterten auch Warbatty alias Professor Meier und Doktor Herbst hinab; nun wieder Stille auf dem Tempelhof.

Harst regte sich.

„Los denn!“ meinte er. „Sperren wir die ganze Gesellschaft ein –“

Im Nu war die Marmorplatte aufgelegt. Und darauf häuften wir Mauertrümmer, bis ein ganzer Berg die Platte bedeckte.

„So – und nun die Gefangenen befreit, Schraut!“

Er lief mir voran. Es ging durch ein paar halb verschüttete Straßen; dann hinein in den Hof eines größeren Gebäudes.

„Also Du weißt bereits, wo sie sich befinden,“ keuchte ich neben ihm.

„Ja – seit gestern morgen. Ich habe so ein wenig geschwindelt. Die Spuren führten sämtlich hier in den Hof hinein und nur eine einzelne wieder heraus. Das war die Spur Warbattys der uns gestern vormittag dann ja auch gefunden und auf dem Tempelhofe des singenden Vogels belauscht hat.“

„Wirklich – belauscht?!“

„Ich habe ihn ja selbst mit eigenen Augen bemerkt, lieber Schraut. Denke bitte mal an meinen kräftigen Nieser! An dieses überlaute Hatschi! In dem Moment war ich Warbattys ansichtig geworden. Deshalb auch nur die ganze Komödie; deshalb tat ich gestern so, als ob ich das Rebus noch nicht gelöst hätte, deshalb brüllte ich Dir so überlaut zu, ich würde heute ganz gründlich an das Geheimnis herangehen und es dann auch sicher aufdecken. – Jetzt jedoch leise! Es befindet sich ja fraglos ein Wächter bei Pickering und dem Grafen.“

Der Hofraum hatte mehrere Abteilungen. Als wir durch ein paar Distelsträucher in den dritten Hof hineinlugten, sahen wir die beiden Gefangenen in einem Winkel gebunden dasitzen, mit dem Rücken an einen Mauerrest gelehnt. Vor ihnen hockten zwei der kleinen, schwarzbraunen Kerle, die jeder einen Revolver in der Hand hatten.

Die Entfernung von uns zu ihnen betrug etwa siebzig Meter.

„Die Revolver müssen weg!“ flüsterte Harst. „Ich werde sie den Kerlen aus der Hand schießen – weiter kein Kunststück! Und wenn sie fliehen, bekommen sie eine Kugel in die Wade! Halte Dich also bereit –“

Er zielte kurz. Zwei Schüsse nun. Und zwei gellende Aufschreie.

„Halt!“ donnerte Harst, „halt – stehen bleiben!“ Die Gond mußten ein paar englische Brocken kennen, denn sie gehorchten. Wir eilten hin, fesselten sie und befreiten dann die beiden Landsleute, die ihrer Freude jeder auf seine Art Ausdruck gaben: der Graf herzlich und ehrlich dankbar, aber stets mit der abgeklärten Ruhe des Aristokraten, der dicke Rentier voller Temperament und unter einem gerührten Wortschwall und kräftigen Umarmungen; am liebsten hätte er uns noch geküßt.

Wir fanden auch ihre Büchsen, und dann ging’s im Eiltempo nach dem Tempelhofe des singenden Vogels zurück. Unterwegs gab Harst den Befreiten in Kürze die nötigen Aufklärungen über die Sachlage.

Pickering rief sehr bald dazwischen: „Ja – Warbatty! Und der andere Halunke heißt in Wahrheit Müller und ist ein verkommener Heilgehilfe und seit langem Warbattys Spießgeselle, der irgendwie in den Besitz der Personalpapiere eines Doktor Herbst gelangt ist. Er hat uns das selbst höhnend eingestanden. Warbatty hatte ein feines Plänchen ausgeheckt, wie sie uns ausplündern wollten. Wir, der Graf und ich, sollten angeblich den braunen Halunken jeder 150 000 Mark Lösegeld zahlen; scheinbar auch Warbatty und Herbst-Müller. Und dieser sollte dann als Abgesandter der Gond nach Haidarabad zurück und das Geld auftreiben. Ich bin Millionär; der Graf ebenso. Das wußten die Schufte. Also ganz glatte Erpressung –“

„Ja,“ nickte Harst, „und wenn das Geld bezahlt worden wäre, hätte Warbatty Sie beide fraglos für alle Zeit stumm gemacht, aber nicht entlassen!“ –

Wir hatten den Tempelhof erreicht. Wir hörten sofort, daß die in den unterirdischen Räumen Eingesperrten gegen die Marmorplatte hämmerten. Wir räumten die Steine weg. Dann wurde die Platte etwas gelüftet, und Harst rief hinab, daß wir die Falle da unten ausräuchern würden, falls die Eingesperrten nicht einzeln und ohne Waffen herauskommen würden.

Als Wortführer meldete sich der angebliche Doktor Herbst. Und das, womit er seine Antwort begann, war wieder so recht kennzeichnend für unseren aalglatten Freund Cecil.

„Warbatty ist seit ein paar Minuten spurlos verschwunden,“ erklärte er. „Er hatte uns befohlen, die Edelsteine aus dem Mosaik der Säulen herauszubrechen, als wir Sie beide hier nicht vorfanden und feststellten, daß der Ausgang verrammelt war. Er wollte inzwischen nach einem zweiten Ausgang suchen. Dann nahm er uns die Edelsteine ab und befahl uns, gewaltsam die Platte zu heben. Und jetzt ist er hier unten nirgends mehr zu finden. – Wir werden gehorchen, Herr Harst. Sie haben von uns keinen Verrat zu fürchten.“

Ich kann mich, was den Ausgang dieses Abenteuers angeht, kurz fassen.

Den Gond gewährten wir freien Abzug mit Waffen, behielten nur ihren Anführer und dessen Sohn als Geiseln da. Die braunschwarzen Gesellen waren jetzt zu Todfeinden des Verräters Warbatty geworden, der sie im Stiche gelassen hatte. Sie schworen ihm blutige Rache und halfen uns sogar ihn suchen. Doch – er blieb verschwunden.

Gewiß: Harst entdeckte den geheimen Ausgang, durch den er entwischt war. Es war dies eine Falltür in dem Verbindungsgange zwischen den beiden unterirdischen Gewölben. Sie führte in einen gemauerten Gang, der bis zu einem weit entfernten anderen Tempelhofe hinlief.

Warbatty abermals entkommen! Harsts Stimmung kann man sich denken!

Erst als die ergebnislose Verfolgung Warbattys beendet und die Gond entlassen waren, erfuhren wir nun auch, weshalb Warbatty Harst und mich nicht angegriffen hatte, obwohl er dies doch mit Hilfe der Gond wohl hätte wagen dürfen. Wir erfuhren es nicht etwa durch Müller, der alles in allem ein ungefährlicher Gauner und ein Feigling war, sondern durch Harst, der seines alten Feindes Schliche rechtzeitig durchschaut hatte.

In Gegenwart Müllers erklärte er uns folgendes:

„Als ich Warbattys Gesicht dort drüben auf jener Mauer zwischen den Sträuchern gewahrte, als ich merkte, daß es ihm darauf ankam, uns zu beobachten und nicht etwa sofort unschädlich zu machen, da genügte mir dies als ausschlaggebender Beweis für die Richtigkeit meiner Vermutung, die sogleich beim ersten Lesen des Testaments Warbattys unklar in mir aufgestiegen war. – Die Sache ist die: Warbatty muß irgendwie gehört haben, daß man mit Hilfe des „Rebus“, das er dann in sein Testament mit hineinbrachte, hier sehr wertvolle Schätze finden könnte. Er wird auch selbst bereits hier an Ort und Stelle versucht haben, das Rebus zu lösen. Es gelang ihm nicht. Und da – kam ihm der geniale Gedanke, mich, seinen Feind, dem er doch mehr Kombinationstalent zutraute, zu – seinem Erben zu machen! Ich sollte die Lösung des Rätsels finden, und – er wollte dann den Rahm abschöpfen! Das ist der wahre Sachverhalt. Nun – er hat mich unterschätzt! Er wollte mich dort in den unterirdischen Räumen überfallen, als er sah, daß wir hinabgestiegen waren. Es kam jedoch ein wenig anders! – Müller, können Sie dies alles nicht bestätigen?“

„Jawohl, Herr Harst. Jedes Wort ist richtig. Warbatty hat vor drei Jahren das „Rebus“, wie Sie es nennen, einem alten Hindu erpreßt, der jedoch die Lösung selbst nicht kannte. Ich traf mit Warbatty dann in Madras zusammen. Dort vereinbarten wir ganz genau unter Berücksichtigung aller Möglichkeiten, wie Sie dazu ausgenutzt werden sollten, das Rätsel zu enthüllen.“ –

Wir ließen Müller nachher laufen. Er versprach Harst hoch und heilig, ehrlich zu werden.

Als wir nach Haidarabad zurückgekehrt waren, meldete Harst den Behörden die Auffindung des kostbaren Gewölbes. Der Nizam empfing Harst in Audienz. Wir erhielten jeder ein kostbares Geschenk; Harst einen Brillantring, ich eine Brillantschlipsnadel, die ich nie trage, denn kein Mensch hält den großen Stein für echt. Und doch ist er echt. –

Das ist die Geschichte des Testaments Warbattys. Harst hat sie soeben im Manuskript gelesen. Er meint, ich hätte Warbattys Schlauheit mehr hervorheben sollen. „Denn,“ sagte er, „einen Todfeind als Rätselrater auszunutzen, das ist beinahe schon übergenial, – wirklich!“

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „hatetn“.
  2. In der Vorlage steht: „Rikschah“. – Sieben Vorkommen geändert.
  3. In der Vorlage steht: „irgend,wo“.