Sie sind hier

Die Hölle der Verdammten

 

 

Walther Kabel

 

Die Hölle der Verdammten

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1926 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

Egon Eggert hatte das Licht in seinem Herrenzimmer ausgeschaltet und sich in den Klubsessel neben den Kamin gesetzt, in dem nur noch ganz schwach die Reste eines Buchenscheites glühten.

Der große Raum lag in tiefer Dunkelheit da …

Egon Eggert gähnte herzhaft …

Er fühlte deutlich: die letzte Flasche Sekt dieses Frühschoppens, der sich bis gegen zehn Uhr abends ausgedehnt hatte, war zuviel gewesen. Er vertrug wahrhaftig eine unheimliche Menge Alkohol … Heute aber war er halb betrunken. Daran ließ sich nicht deuteln.

Er gähnte wieder …

Seine Gedanken entsprachen durchaus seinem weinüberhitzten Hirn …

Ein verrückter Tag …

Blödsinnig!!

War er da vormittags die Friedrichstraße entlang gebummelt …

War ihm da der Benno entgegengekommen … Ausgerechnet der Agrarier Benno Stuckner …

Hatte der Benno gemeint, man müsse das Wiedersehen feiern …

War man zu zweien nach[1] der Flamingo-Bar gefahren …

Reizende Mädels dort …

Zu zweien gefahren … Zu vieren gekneipt …

Reizende Mädels …

Und das Zimmerchen dort im Flamingo – tipptopp!!

Unheimlich gekneipt …

Reizendes Weib, die Änne …

Ja – Änne …

Stimmt schon: Änne!

Junges Ding …

Aber – – Eisblock …

Küssen – und ob!! Aber – damit auch Schluß …

Komisches Mädel …

Die Änne …

So traurige Augen …

So weiche Lippen …

Egon lächelt ….

Weiche … Lippen …

Keusche Susanne markiert … – Rackerchen!! Rackerchen!!

Na – morgen war auch noch ein Tag! Nur Geduld – – Geduld!!

Egon gähnt …

„Warum gehe ich nicht zu Bett?!“ denkt er … „Sitze hier im ausgekühlten Herrenzimmer …!!“

Er fröstelte …

Vor ihm auf dem Bärenfell lag die Schlafdecke vom Diwan …

Er zog sie empor … wickelte sich ein …

„Ich bin eben betrunken! Weshalb gehe ich nicht zu Bett?! Blödsinn!!“

Gähnt …

Fährt zusammen …

Holla – von der Balkontür her ein Geräusch …!

Fassadenkletterer?! – Schon möglich!

Egon dreht den Kopf …

Von der Straßenlaterne wird die Balkontür matt beleuchtet …

Tatsächlich – die Tür geht auf …

Ein Schatten schlüpft herein …

Steht geduckt – horcht – späht …

Egon Eggert denkt: „Gott sei Dank, doch endlich mal ein Abenteuer!“

Wird nüchtern …

Unten auf der Straße rumort ein Autoomnibus vorüber …

Den Lärm benutzt Egon und verschwindet hinter dem Klubsessel …

Ein Lichtkegel irrt durchs Zimmer …

Bleibt rechts auf dem Schreibtisch haften …

Egon Eggert sieht, wie der Einbrecher einen Brief aus der Tasche zieht …

Einen Brief …!!

Wie er ihn auf den Schreibtisch legt …

Egon sieht nun auch die Gestalt und das Gesicht.

Eine Knabenfigur … Der schwarze Bart natürlich falsch …

Anständig angezogen ist der Kerl …

Sogar Lackschuhe …

Hm – ausgeschnittene Lackschuhe …

Einbrecher?! – Nein …!

Der Kerl tritt ja bereits den Rückweg an …

Die Balkontür knarrt … Der Lichtkegel erlischt …

Eggert richtet sich auf …

Schnell entschlossen eilt er in den Flur, nimmt Sportpelz und Hut …

Treppen hinab …

Auf die Straße …

Kommt noch zur Zeit … Dort entschwindet der Kerl im Schneegestöber der Januarnacht …

Eggert bleibt hinter ihm …

Der Mann schlägt die Richtung nach Charlottenburg ein … die Wilmersdorfer Straße entlang, durch die Unterführung – rechts ab …

Schmierige Häuser hier …

Der Mann taucht in einen Kellereingang hinab … Eine Tür fällt zu …

Eggert merkt sich die Hausnummer: Neun!

Über dem Keller ein Holzschild:

Produktenhandlung
Josef Landowsky.

Egon Eggert kehrt heim nach der breiten vornehmen Straße, dem Hohenzollerndamm … Heim in seine Junggesellenklause …

Der Brief … der Brief!!

Er läuft fast …

Was mag der Brief enthalten?!

Atemlos betritt er das Herrenzimmer, schaltet die Krone ein …

Dort der Schreibtisch …

Ein Brief?!

Nichts – – nichts!!

Er sucht … sucht umsonst …

Sollte ich geträumt haben, denkt er mißtrauisch gegen sich selbst …

Und er geht zum Balkon …

Sieht dort noch die zierlichen Spuren im frischgefallenen Schnee …

Spuren der kleinen ausgeschnittenen Lackschuhe mit den hohen Absätzen …

Traum?! – Unsinn …!!

Und wirft sich in den Sessel …

Sagte halblaut: „Ich war halb betrunken. – Jetzt bin ich nüchtern wie ein Stockfisch … Und ich bin Egon Eggert, Doktor der Jurisprudenz, war bis vor acht Tagen Syndikus des Homelka-Konzerns, der nun Pleite gemacht hat … Was mir ziemlich schnuppe ist, da ich auch so Geld genug habe … Sollte es mir, Egon Eggert, also nicht vielleicht gelingen, dieses immerhin merkwürdige Begebnis aufzuklären?!“

Er fühlt, daß sein Hirn wieder tadellos arbeitet …

Fühlt aber auch, daß er friert …

Steht auf, wirft Holzscheite in den Kamin …

Den Kamin hat er auf seine eigenen Kosten bauen lassen. Er liebt den Kamin … Er liebt alles, was so ein wenig poetischen Reiz hat – oder einen romantischen Beigeschmack …

Das Feuer knistert, prasselt, faucht …

Durch die offene Tür fällt ein warmer Hauch auf den Klubsessel.

Eggert hat sich eine Zigarre angezündet. Hat die Decke über die Knie gebreitet und spürt mit kühl abwägenden Gedanken diesem Rätsel nach, das alles andere als alltäglich ist.

Eggert macht sich nochmals klar, daß er auf keinen Fall geträumt hat. Die Spuren draußen auf dem Balkon beweisen es! Spuren im Schnee, winzige Spuren, winzig wie die Lackschuhe des Eindringlings …

Wer also hat den Brief vom Schreibtisch entfernt?

Seine Hausdame, das alte Fräulein Michalski? – Ausgeschlossen!! Die kriecht um neun ins Bett und hat einen Schlaf wie ein Murmeltier. Die ist niemals aufgestanden und hier ins Herrenzimmer gekommen – niemals! Und selbst wenn sie aus irgendeinem Grunde hiergewesen wäre, so würde sie den Brief nicht angerührt haben.

Mithin?!

Ja – mithin ist, während er hinter dem Eindringling her war, noch eine zweite Person unbefugterweise in der Wohnung gewesen und hat den Brief … geholt – – geholt, hat also von dem Vorhandensein des Briefes hier auf dem Schreibtisch Kenntnis gehabt …!

Eine zweite Person!

Wie aber ist dieser Mensch ins Zimmer gelangt? Auch Fassadenkletterer?! Dann müßten auf dem Balkon noch andere Spuren zu finden sein … Doch – dort waren nur die Fährten der Lackschuhe zu erkennen – nichts anderes! Nur die …!

Eggert qualmt ein paar Züge …

Dann fällt ihm ein, daß er bei seinem hastigen Verlassen der Wohnung die Flurtür nur ins Schloß gezogen hat, daß er sich nicht die Zeit ließ, auch den Sicherheitsriegel des zweiten Schlosses vorzulegen. Die Flurtür war also unschwer zu öffnen gewesen … Wenn jemand den ersten Eindringling beobachtet hat, wenn dieser Jemand wußte, daß ein Brief hier deponiert werden sollte, dann war es ein Leichtes für diese zweite Person, den Brief wieder zu entfernen, um – – ja – – um irgendetwas zu verhindern, das der Brief veranlaßt hätte. Und dieses Etwas mußte für die zweite Person nachteilig gewesen sein … –

Egon Eggert prüfte diese Kombinationen nochmals nach …

Er hatte nichts daran auszusetzen. Sie stimmten.

Jetzt die andere Seite der Angelegenheit …

Wer in aller Welt konnte ihm in so geheimnisvoller und doch auch gefährlicher Weise eine Nachricht von Wichtigkeit haben zukommen lassen?!

Und – was für eine Nachricht?!

Sein Dasein war ja durchaus das eines Durchschnittsmenschen, das eines jungen, reichen Lebemannes, der bisher den Syndikus so mehr zum Vergnügen gespielt hatte …!

Gewiß – er hatte zuweilen kleine harmlose Liebesabenteuer erlebt … Hatte jedoch auch in dieser Beziehung nie etwas getan, das sich mit seinen strengen Begriffen von Ehre nicht vertragen hätte. Er war weder Wüstling noch gewissenloser Verführer. Seine seligen Eltern hatten ihn so erzogen, daß er ein anständiger Kerl werden mußte – anständiger Kerl, wie seine Freunde ihn nannten, und das taten sie mit einem leisen Gefühl des Neides.

Also: wo lag die Veranlassung für eine solche geheimnisvolle Mitteilung? Wo die Veranlassung, daß eine zweite Person das Risiko auf sich nahm, den Brief wieder zu stehlen?!

Eggert sann und sann …

Wurde immer munterer …

Immer nervöser …

Die Folgen der Sektkneiperei mit Benno Stuckner in der Flamingo-Bar zeigten sich nun in anderer Weise.

Sein Gesicht brannte in nervöser Überreiztheit … Die Hand, die die Zigarre hielt, zitterte zuweilen … In den Füßen hatte er ein Kribbeln und Zucken, das er bisher nicht gekannt hatte.

Seltsamer Zustand …

Am klügsten wär’s ja, schlafen zu gehen … Aber er wußte genau: er würde nicht einschlafen können …

Und den Schlummer durch ein Medikament herbeizwingen?! … Er lächelte … Er besaß keine Pillen und Tabletten … Er war gesund, jung, kräftig, trainiert …

Hm – vielleicht half ein Bad …

Die Wohnung hatte Warmwasserversorgung … Er brauchte die Wanne nur vollaufen zu lassen …

Aber – – ob das Bad ihn müde machen würde, war auch noch die Frage … Und sich dann schlaflos im Bett umherwälzen und vielleicht gar das Mittel der von Schlaflosigkeit Geplagten probieren und bis hundert zählen und von hundert wieder abwärts bis eins: das kam ihm unendlich albern vor!

Nein – lieber nochmals die Sache genau überdenken – ganz genau …

Er tat’s …

Er vergegenwärtigte sich den Moment, wie die Balkontür geknarrt hatte und wie er sich dann hinter dem Sessel versteckt hatte …

Wie er die knabenhafte Gestalt gesehen und … die Lackschuhe …

Und – jetzt ein neuer Gedanke, eine blitzartige Erkenntnis:

Der Eindringling war ein verkleidetes Weib gewesen!

Bestimmt ein Weib!

Daher diese zierliche Figur und die winzigen Füße, die ausgeschnittenen Schuhe!!

Welcher Mann wird auch bei solchem Winterwetter in solcher Fußbekleidung umherlaufen und sich nasse Füße holen?!

Egon Eggert sprang auf …

Diese neue Erkenntnis riß ihn hoch …

Er begann auf und ab zu gehen …

Also – ein Weib!!

Und diese Verkleidete war von einer anderen Person beobachtet worden, diese andere Person hatte gesehen, daß er dem Weibe folgte, war dann in die Wohnung eingedrungen, hatte den Brief geholt …

Und diese Person mußte … ein Verbrecher sein, mußte Dietriche besessen haben, mußte Türschlösser öffnen können …

Ein Verbrecher!

Und ein Verbrecher, der sich nun auch sagen mußte, daß er, Egon Eggert, der Verkleideten bis nach Krumme Straße Nr. 9 nachgeschlichen war, daß er also die Wohnung des Weibes kannte!

Er blieb vor dem lohenden Kamin stehen …

Wohnung kannte!! – Hm – ob’s die Wohnung des Weibes war?! Oder ob das Weib dort in dem Produktenkeller von Josef Landowsky nur etwa gemeldet hatte, daß sie den Brief richtig besorgt habe?!

Ob es nicht vielleicht lohnte, den Keller zu bewachen …?! Ob die Frau nicht vielleicht noch dort weilte und ihre wirkliche Wohnung erst später aufsuchte?! –

Eggert zögerte nicht lange …

Ging in sein Speisezimmer, trank einen Kognak, aß ein paar Happen Schokolade und holte dann aus seinem Schlafzimmer einen alten dicken Radmantel und eine warme Reisemütze, setzte auch noch eine Sonnenbrille mit grauen Gläsern auf …

So verließ er seine Wohnung …

Es war jetzt halb zwei Uhr morgens. Das Schneetreiben hatte aufgehört. Am Himmel funkelten die Sterne in dieser kalten, windigen Winternacht. Im Osten lagerte am Firmament eine schwarze Wolkenwand.

Er nahm ein Auto, stieg am Eingang der Krumme Straße aus und wanderte dann langsam auf der anderen Straßenseite entlang …

Der Keller von Nr. 9 mit seinen drei Fenstern war dunkel …

Eggert schritt vorüber, machte kehrt und überquerte den Fahrdamm …

In der Schneedecke auf dem Bürgersteig sah er nur wenige Spuren.

Vor der Kellertür erkannte er die eines Menschen mit langen, schmalen Füßen. Dieser Mensch war die Kellertreppe hinabgegangen. Die zierlichen Fährten der Frau waren halb verweht.

Eggert bückte sich rasch, nahm sein Taschentuch und maß mit dem Tuche die Länge der so klar sich abzeichnenden Spur, schnitt den Zipfel des Tuches nachher ab. Nun hatte er doch wenigstens einen Anhalt für die Person des Eindringlings Nummer zwei.

Dann schlenderte er wieder auf der anderen Straßenseite hin und her. Daß man ihn erkannte, war ausgeschlossen. Mantel, Mütze und Brille hatten ihn vollkommen verändert.

Es wurde drei Uhr …

Halb vier …

Jetzt spürte er mit einem Male, daß sein Körper nach Ruhe verlangte …

Er gähnte immer häufiger …

Wie im Traum setzte er die Füße … Ging mit gesenktem Kopf …

Seine Gedanken wurden ziellos, irrten ab …

An Freund Benno dachte er …

Dem würde Fräulein Margot heute gehörig den Marsch blasen wegen des Frühschoppens …

Margot Stuckner konnte das …

Margot war ein Mädel vom Lande – natürlich junge Dame, aber – mit Haaren auf den gesunden Zähnen und einer unheimlichen Energie, obwohl erst zwanzig … Benno hatte Angst vor der Schwester, hatte noch beim Abschied lallend gemeint: „Morgen kommt die Nachfeier, Egon – – mit Margot!!“

Und – Fräulein Margot hatte ja auch recht: unerhört war es gewesen, daß Benno und er sich vom Vormittag an im Flamingo verankert hatten! Natürlich nur der … der süßen Bardamen wegen …!

Änne – – richtig, die blonde Änne …!

Rackerchen – – Rackerchen!!

Hatte das unbeschriebene Blatt markiert, hatte sogar erst nicht mal vom Küssen was wissen wollen …

Änne … Änne …

Komisch, daß er immer wieder an sie denken mußte.

Ein liebes Gesichtel … Und – – die Augen – die traurigen dunklen Augen …

Überhaupt – die Änne konnte noch nicht lange Bardame spielen … Sie war so wenig raffiniert … Hatte sich so ehrlich gesträubt, den Hundertmarkschein sich in die Bluse stecken zu lassen, war böse geworden, richtig böse …

Dann – schrak Egon Eggert zusammen …

Ein Auto nahte fauchend …

Hielt vor Nummer acht …

Ein Mann im Gehpelz stieg aus, bezahlte den Schofför …

Das Auto fuhr davon …

Der Herr im Gehpelz war die drei Stufen zur Haustür emporgegangen und schien aufschließen zu wollen …

Eggert stand drüben in der Einfahrt eines Speditionsgeschäfts …

Merkwürdig: der Herr kam die Stufen wieder herab …

Auch Nummer acht hatte eine Kellerwohnung … Und dort verschwand der Herr nun …

Sehr merkwürdig!!

Egon Eggert wartete fünf Minuten …

Dann überschritt er die Straße …

Ein Blick auf die Spuren des Fremden …

Die Schneespuren …

Ein Blick genügte: es waren die langen schmalen Stiefel, auffallend durch ihre schmale Form – – genau dieselben!!

Eggert hatte sich gebückt …

Fuhr hoch …

Jemand hatte ihm auf die Schulter getippt …

Vor ihm stand ein altes buckliges Männchen mit grauem Vollbart und Nickelkneifer, ärmlich angezogen.

„Kommen Sie,“ sagte der Bucklige …

Die Stimme klang recht energisch …

So energisch, daß Doktor Eggert unwillkürlich gehorchte und dem Alten folgte.

Nebeneinander schritten sie her …

Dann wurde Eggert sich bewußt, daß er doch schließlich von dem Buckligen Aufschluß darüber verlangen könnte, weshalb dieser ihm geradezu seinen Willen aufgezwungen hatte …

Und sagte leicht gereizt:

„Wer sind Sie eigentlich?!“

„Und wer sind Sie?!“ erwiderte der Bucklige ebenso ernst.

„Gestatten Sie mal … Ihr Benehmen ist denn doch …“

„Gestatten Sie,“ unterbrach der andere ihn … „Sind Sie Kriminalbeamter?“

Eggert mußte lachen …

„Nein … keineswegs!“

„So?! Und weshalb hatten Sie für die Spuren im Schnee so viel Interesse?!“

„Ich glaube, das geht Sie gar nichts an, Verehrtester …!“

„Vielleicht doch …“

Der Alte war stehengeblieben …

Gerade unter einer Laterne …

Musterte Eggert von oben bis unten …

Fragte jetzt sehr höflich:

„Bitte – wer sind Sie, mein Herr? Wir können vielleicht, falls Sie für den Mann mit den schmalen Füßen eine gewisse … Teilnahme haben, uns … verständigen …“

Egon Eggert wurde mißtrauisch …

Dieser Alte sah so reduziert aus, daß er ihn für eine jener dunklen Großstadtexistenzen hielt, die unter der Maske von Straßenhändlern das Bettelhandwerk betreiben und nebenbei noch andere Geschäfte machen … Eggert kannte eben Berlin …

Ein Zufall war’s, daß soeben vor ihnen ein patrouillierender Schupobeamter auftauchte.

Eggert, wie immer, so auch jetzt rasch von Entschluß, rief den Beamten heran …

„Herr Wachtmeister, dieser Mann hier hat mich in ungehöriger Weise belästigt … Vielleicht stellen Sie einmal fest, um wen es sich handelt … Mein Name ist Doktor Egon Eggert … Ich wohne Hohenzollerndamm Nummer 81 … Bitte, hier ist meine Mitgliedskarte des Union-Klubs, hier meine polizeiliche Anmeldung …“

Der Beamte sah die Papiere ein, nickte und wandte sich an den Buckligen …

„Na – und Sie?!“

„Kleinrentner Hermann Habich, Herr Wachtmeister.“

Er holte eine zerrissene Brieftasche hervor … Reichte dem Beamten eine Karte …

Eggert bemerkte, wie der Wachtmeister den Aufdruck der großen Karte mit Staunen überflog …

War daher recht enttäuscht, als der Beamte meinte:

„Es stimmt, – der Herr heißt … heißt …“

„… Habich,“ ergänzte der Alte und fügte hinzu. „Von einer Belästigung kann hier keine Rede sein … Der Herr Doktor hat mein Benehmen ganz falsch gedeutet … Ich werde mich mit ihm schon verständigen, Herr Wachtmeister … – Kommen Sie nur, Herr Doktor … Ich erkläre Ihnen alles Nötige …“

„Ich wüßte nicht, was es noch zu erklären gäbe,“ meinte Eggert ablehnend, da er sich ein wenig blamiert vorkam. Dann aber siegte doch die bessere Einsicht und das ihm vom Elternhause her eingeimpfte und bei ihm so stark ausgeprägte Gerechtigkeitsgefühl. Er hatte den alten Mann ohne Zweifel vor dem Beamten, der sich übrigens schon entfernte, bloßgestellt … Und das wollte er wieder gutmachen … Fügte rasch hinzu: „Vielleicht haben Sie mir doch manches zu sagen, Herr Habich … Im übrigen: entschuldigen Sie, daß ich so … so scharf vorging … Ich habe in dieser Nacht Dinge erlebt, die meine sonst recht robusten Nerven stark mitgenommen haben … Also … gehen wir …“

Sie schritten nebeneinander her …

„Dinge erlebt …!!“ wiederholte der Alte sinnend die Worte Eggerts. „Genau wie Ihr Freund … Ja, ja, ein böser Abschluß für den Frühschoppen …!“

Egon Eggert glaubte sich verhört zu haben – war so verblüfft, daß er nur fragte:

„Mein … Freund?!“

„Ja, der Rittergutsbesitzer Benno Stuckner …“

Jetzt stand Eggert mit einem Ruck still …

„Wie – – Stuckner?!“

„Ja, Herr Doktor … Stuckner ist bestohlen worden … Er hatte doch gegen zwanzigtausend Mark bei sich …“

Eggert starrte den Alten an …

„Ich … ich … bin sprachlos … – Bestohlen?! Wann denn?!“

„Das weiß er nicht genau … Jedenfalls zwischen elf und ein Uhr nachts, nachdem er in seinem Zimmer der Fremdenpension Wieland eingeschlafen war … Der Dieb ist am Hause emporgeklettert, hat die Balkontür geöffnet und die Brieftasche unter dem Kopfkissen hervorgezogen. Um ein Viertel zwei hat Fräulein Margot Stuckner, die das Nebenzimmer innehat, an die Verbindungstür geklopft, weil ihr Bruder … hm, ja … – na, ihm war eben schlecht geworden, und der Magen gab all den Sekt wieder her … Das Fräulein fürchtete, ihr Bruder sei ernstlich krank, und deshalb …“

Jetzt konnte Eggert doch nicht länger an sich halten.

„Um Himmels willen, woher wissen Sie denn das alles, Herr Habich?!“

„Oh – ich bin im Nebenberuf Detektiv, Herr Doktor … Und als Fräulein Stuckner dann im Zimmer die feuchten Spuren des Diebes bemerkte, kam sie sofort auf den Gedanken, die Brieftasche könnte geraubt sein, was ja auch leider der Fall war … Da hat sie denn im Adreßbuch meine Wohnung und Telephonnummer gesucht und mich angerufen …“

Egon Eggert schob sich die Mütze ins Genick. Ihm war über alledem siedend heiß geworden …

Sein Hirn arbeitete mit Hochdruck …

Der Dieb … Fassadenkletterer … Der Balkon – – wie bei ihm!! Nur – bei ihm kein Diebstahl … Nur der Brief wieder verschwunden …

Oder … – – oder doch Diebstahl?!

Ein jäher Schreck durchzuckte ihn …

Die Münzensammlung seines verstorbenen Vaters!!

Und – fortgerissen von diesem Gedanken packte er Habichs Arm …

„Wir wollen ein Auto nehmen … Ich muß nach Hause … Schnell …!“

Der Bucklige meinte jedoch:

„Schnell?! – Das ist ein Wort, das man mit Vorsicht in die Tat umsetzen soll, Herr Doktor … – Fürchten Sie gleichfalls bestohlen worden zu sein?“

„Ja – ja …!! – Begleiten Sie mich bitte …“

„Gern, Herr Doktor … Suchen wir ein Auto … Gestatten Sie aber, daß ich Ihnen vorher noch meine Frau vorstelle … Sie hilft nur ein wenig bei der Arbeit …“

Er pfiff ein paar Takte …

Es war der alte bekannte Walzer „Komm herab, o Madonna Teresa[2] …“

Egon Eggert sah, wie sich aus einem Hauseingang ein etwas korpulentes, sehr bescheiden gekleidetes Weiblein gemächlich näherte …

„Meine Frau – Herr Doktor Eggert,“ sagte Habich mit unmerklichem Lächeln … „Nun, Mathilde, alles sicher?“

„Ja, Hermann,“ nickte Frau Habich, die so recht wie eine ärmliche Rentiere ausschaute …

„Dann können wir gehen, Herr Doktor … Man kann nie wissen, ob nicht jemand uns beobachtet. Meine Frau ist zuverlässig …“

Eggert war abermals sprachlos …

„Sie … Sie sind wirklich eine besondere Art von Detektiv, Herr Habich,“ platzte er heraus …

„Ja – besondere Art …! Die Leute behaupten’s … Mag sein … – Dort kommt ein Auto …“

Er winkte … Befahl dem Schofför:

„Hohenzollerndamm 75 …“

Und ließ seine rundliche Frau zuerst einsteigen …

Eggert saß während der Fahrt neben Frau Mathilde … Erzählte … Erzählte alles, was ihm begegnet war …

„Sehr interessant,“ meinte Habich …

Dann hielt der Kraftwagen schon.

Gleich darauf war man in Eggerts Arbeitszimmer.

Das Ehepaar Habich hatte Mäntel und Hüte im Flur abgelegt. Man saß nun zu dreien vor dem Kamin. Egon Eggert hatte sich bereits davon überzeugt, daß die Münzensammlung mit ihren drei Kästen noch unten im großen Bücherschrank unbeschädigt vorhanden war.

Er musterte nun die beiden alten grauhaarigen Leutchen mit begreiflicher Neugier. Hier im hellen Lichte der elektrischen Krone blieb der Eindruck derselbe: harmlose Spießbürger bescheidenster Art!

Spießbürger?! – Nein!! Eggert korrigierte diese Bezeichnung sehr bald …

Denn all das, was Hermann Habich nun vorbrachte, zeigte ein so scharfsinniges Denken, daß Eggert den größten Respekt vor diesem buckligen Herrn bekam …

Über den Fall Benno Stuckner sprach man weniger. Der lag völlig klar. Die Unterredung drehte sich in der Hauptsache um den Brief.

Egon betonte, daß ein Irrtum seinerseits ausgeschlossen sei. Er habe genau gesehen, daß es ein Briefumschlag war, weißes Papier, längliches Format.

„Wo legte die Person den Brief nieder? Ich möchte die Stelle genau wissen,“ bat Herr Habich …

Eggert erhob sich. Auch das Ehepaar …

„Hier auf das Schreibzeug – genau hier,“ erklärte der Doktor …

Dieses Schreibzeug war eins jener riesigen Onyxfabrikate, wie sie für die großen Diplomatenschreibtische seit Jahren Mode sind – eine ovale Platte mit Füßen, und zwei Tintenfässern …

Auf der Platte lag nichts als ein Brieföffner in Dolchform … Der Federhalter steckte in einem mit Glaskugeln gefüllten Kristallbehälter.

Habich zog eine Taschenlampe hervor und beleuchtete das Schreibzeug …

Meinte:

„Bitte, – schauen Sie einmal hin, Herr Doktor …“

Eggert tat’s …

„Ich sehe nichts Besonderes …“

„Trotzdem gibt es etwas zu sehen, Herr Doktor … – Hier – – winzige Aschenreste …“

„Allerdings – verstreute Zigarrenasche …“

„Oh – ein großer Irrtum … Das sind die Reste des verbrannten Briefes …“

Eggert schüttelte den Kopf …

„Unmöglich! Wie sollte der Brief wohl verbrannt sein können …!“

Habich lächelte gutmütig … Wandte sich an seine Frau …

„Nun, Mathilde, du hast ja schon so häufig mit mir zusammen dunklen Dingen nachgespürt, daß du …“

Frau Habich sagte schon: „Der Brief enthielt ein chemisches Gemenge, das sich unter gewissen Voraussetzungen entzündete … Zum Beispiel durch Druck … Als die Person den angeblichen Brief hier niederlegte, drückte sie eben die Briefdecke, in der die Chemikalien lagen, und allmählich verkohlte der leere Umschlag, zu Asche – der leere Umschlag, Herr Doktor, denn es war gar kein Brief, sondern nur ein Mittel, Sie zu täuschen und Sie davon abzuhalten, die Person festzuhalten, die natürlich wußte, daß sie von Ihnen beobachtet wurde …“

Eggert blickte erst Frau Habich, dann Herrn Habich verdutzt an …

Auf eine solche Lösung war er nicht vorbereitet gewesen …

Meinte zögernd: „Hm – das … das sind doch nur Vermutungen …!!“

Habich nahm mit den Fingerspitzen ein wenig von der Asche vom Schreibzeug und schüttete sie auf eine Zeitung …

„Bitte, Herr Doktor, auch Sie als Laie werden jetzt erkennen, daß dies niemals Zigarrenasche ist …“

„Nein … allerdings nicht … Ich gebe mich geschlagen. Nur ist mir völlig unbegreiflich, wie die Person gemerkt haben soll, daß ich im Zimmer war.“

Habich lächelte wieder …

„Stellen Sie sich einmal dort an die Balkontür, nachdem Sie den Klubsessel genau so vor den Kamin gerückt haben, wie er zu der Zeit stand, als der Dieb hier eindrang … Ich werde mich in den Sessel setzen … Und Sie beobachten dann die verglaste Kamintür … Sie sagten, im Kamin war nur noch wenig Glut – wie jetzt … – Bitte, Herr Doktor …“

Wenige Minuten später hatte Eggert die volle Gewißheit, daß die Kamintür als Spiegel wirkte und daß die Verkleidete in diesem Spiegel sein Verschwinden hinter dem Sessel trotz der Dunkelheit im Zimmer beobachtet hatte.

„Meine Hochachtung vor Ihren Fähigkeiten, Herr Habich,“ erklärte er nun mit ehrlicher Bewunderung.

„Erfahrungssache, Herr Doktor … – Das, was meine Frau vorhin über den Brief angab, stimmt in einem Punkte nicht … Es war kein leerer Umschlag … Es hat ein Zettel darin gelegen, ein Zettel mit einem Inhalt, der natürlich harmlos war, sich irgendwie auf Sie bezog … Wenn Sie zum Beispiel Lärm geschlagen hätten, wenn Sie den Rückzug des Eindringlings hätten verhindern wollen, würde die Person Ihnen den Brief gezeigt haben, und Sie würden angenommen haben, es handele sich hier in der Tat nur um eine Nachricht, die Ihnen auf eine etwas eigentümliche Weise überbracht werden sollte … Denn das chemische Präparat wirkte sehr langsam … Der Brief verkohlte ganz allmählich. Natürlich bestand auch er aus präpariertem Papier. – Setzen wir uns wieder, Herr Doktor … Wir sind ja noch lange nicht fertig.“

Eggert fragte, ob er seinen Gästen nicht ein Glas Wein und eine Erfrischung anbieten dürfe …

Dies wurde mit Dank angenommen, und nachher zündeten sich die Herren eine Zigarre an, während Frau Mathilde verschämt um eine Zigarette bat.

„Fahren wir also fort …,“ meinte Hermann Habich dann … „Sie haben nun also eingesehen, Herr Doktor, daß Ihre Annahme, eine zweite Person sei hier während Ihrer Abwesenheit eingedrungen, ein Trugschluß war. – Herr Stuckner erzählte mir, daß Sie mit den Bardamen namens Änne und Evi in einem kleinen Zimmer … gekneipt haben … Besinnen Sie sich bitte, ob Sie während dieses Sektgelages Ihre Münzensammlung erwähnten?“

Egon dachte nach …

Dann fiel ihm ein, daß Benno gefragt hatte, ob er neue Stücke für die Sammlung erworben habe …

Er teilte dies Herrn Habich mit … „Die Sammlung ist also erwähnt worden, und ich weiß auch, daß Benno den beiden Mädchen erzählte, wie wertvoll die alten römischen Goldmünzen seien … Und ich glaube, ich habe im halben Rausch dann selbst hinzugefügt, die Sammlung bestehe aus drei flachen Kästen und sei im Bücherschrank eingeschlossen …“

„Wie leichtsinnig, Herr Doktor!!“ Und Habich schüttelte mißbilligend den grauen Kopf. „Genau so leichtsinnig wie Ihr Freund, der seine gespickte Brieftasche sehen ließ!“

Egon Eggert war entsetzt – entsetzt darüber, daß die blonde Änne und die schwarze Evi bei alledem mitbeteiligt sein könnten …

„Herr Habich,“ meinte er, „Sie glauben also, daß die … die Mädels hier … mitschuldig sind?“

„Vielleicht … vielleicht … – Wer bediente Sie vier in dem kleinen Zimmer?“

„Ein Kellner … ein sehr gewandter Mensch …“

„Schwarzhaarig, blasses Gesicht, starke Augenbrauen?“

„Ja … Kennen Sie den Mann …?“

„Ich bin seit vierzehn Tagen hinter ihm her, Herr Doktor …“

„Ah – seit vierzehn Tagen?!“

„Ja, seit man den türkischen Arzt Doktor Mustafir als Leiche aus der Spree gezogen hat … Sie werden davon wohl in den Zeitungen gelesen haben …“

„Gewiß … Man nimmt einen Raubmord an …“

„Es war ein Raubmord. Doktor Mustafir gehörte zur hiesigen Gesandtschaft. Der türkische Gesandte hat mich mit Nachforschungen betraut. Ich ermittelte, daß der Arzt, der sehr kostbare Ringe und eine mit Brillanten besetzte Uhr besaß, mit den Bardamen Änne und Evi im Flamingo abends lebhaft … gefeiert hatte. Am Morgen fischte man ihn mit einem Stich im Herzen ohne seine Wertsachen tot aus der Spree. Er hatte den Flamingo stark angeheitert verlassen – allein … Trotzdem wandte ich meine Aufmerksamkeit der Bar zu …“

„Und …?!“

„Über meine sonstigen kleinen Erfolge in dieser Sache möchte ich nicht sprechen, Herr Doktor, bitte Sie auch, mir zu versichern, daß Sie das, was ich soeben erzählte, unbedingt für sich behalten …“

„Selbstverständlich, Herr Habich …“

„Ebenso alles andere, Herr Doktor, – auch das, was Ihr Abenteuer betrifft. Zu niemandem ein Wort, selbst zu Ihrem Freunde Benno und Fräulein Margot nicht …!“

„Wie Sie wünschen … Obwohl gerade Benno und Margot gegenüber …“

„Oh – derartige gefühlsmäßige Rücksichten müssen hier ausscheiden, Herr Doktor. Bedenken Sie: es gilt einen Mörder zu überführen, einen Verbrecher von fast unheimlicher Schlauheit, einen Menschen, den meine Frau und ich nun schon vierzehn Tage beobachten und trotzdem nur … vermuten, daß er den türkischen Arzt umgebracht hat! Nur vermuten – freilich mit ziemlicher Bestimmtheit!“

Eggert beugte sich vor … „Und dieser Kellner wohnt Krumme Straße?“

„Ja … Nummer acht, Herr Doktor … Im Keller, eine Notwohnung … Er heißt Viktor Palargo, ist ein neutralisierter Italiener, verheiratet, und nach außen der solideste Mensch – – nach außen hin … Seine Frau ist geborene Deutsche, geborene Holm, und ihre Schwestern sind Änne und Evi aus dem Flamingo, also die Schwägerinnen Palargos … Die beiden Mädchen wohnen Nummer 9 bei dem Produktenhändler Josef Landowsky, dem auch die Hochparterrewohnung über seinem Kellergeschäft gehört, die aus drei Zimmern besteht. Zwei davon haben Änne und Evi Holm gemietet. Landowsky wieder ist ein alter Mann von makellosem Ruf, fleißig, bescheiden, halb taub und als Junggeselle etwas wunderlich …“

Egon Eggert hatte sich kein Wort entgehen lassen.

Meinte nun:

„Schwestern, die beiden?! Oh, das haben sie verschwiegen … Haben es auch nicht mit einer Silbe erwähnt, obwohl wir doch lange genug zusammen waren und die Stimmung ganz dazu angetan war, kleine Geheimnisse preiszugeben … – Nun, das ist ja auch nebensächlich, Herr Habich … Anders dagegen verhält es sich mit dem Kellner Palargo und den Mädchen. Auch sie taten vollkommen fremd miteinander, nannten sich „Sie“ und …“

„Aus Geschäftsrücksichten, Herr Doktor,“ unterbrach Habich den leicht Erregten. „Das will wenig besagen … Wichtiger wäre mir, ob Sie vielleicht irgendwelche Beobachtungen gemacht haben, die Ihnen auffällig erschienen … Haben die Mädchen Sie und Ihren Freund vielleicht ausgehorcht, was Ihre persönlichen Verhältnisse, Ihre Wohnung und so weiter betrifft …?“

Eggert schüttelte energisch den Kopf …

„Da muß ich die Mädchen unbedingt in Schutz nehmen …! Wenn Sie … dem Gelage beigewohnt hätten, würden Sie fraglos denselben Eindruck von den Mädchen gewonnen haben: harmlose Geschöpfe …!“

„Hm,“ meinte der bucklige alte Herr mit einem verstohlenen Lächeln, „– nur eine Frage, Herr Doktor: Haben Sie nicht vielleicht die blonde Änne eingeladen, einmal Ihre Wohnung zu besichtigen?“

„Ja … allerdings …“

„Und haben Sie ihr nicht vielleicht erzählt, daß Sie nur mit einer Wirtschafterin zusammen hausen, die nicht weiter unbequem sei, da sie ihr Zimmer im Seitenflügel neben der Küche habe …“

Eggert nickte verlegen …

„Sehen Sie, Herr Doktor, so wußte Änne Holm also doch so einigermaßen hier bei Ihnen Bescheid … – Und nun strengen Sie Ihr Gedächtnis bitte nochmals an … Hatte Änne Holm ausgeschnittene Lackschuhe an und … kleine Füße? – Ich denke, Sie werden darauf wohl so etwas geachtet haben … Ich bin ja auch einmal jung gewesen, Herr Doktor, wenn auch nie ein … Lebemann …“

Eggert errötete …

Und preßte dann die Lippen zusammen …

Wie ein schmerzhafter Stich war’s ihm soeben durchs Herz gegangen …

Sein Interesse für die blonde Änne war ja durchaus nicht nur das flüchtige sinnliche Begehren gewesen, wie es vergnügte Sektstunden wohl wachzurufen pflegen …

Nein – es hatte Augenblicke gegeben, wo er es geradezu bedauert hatte, daß Änne … nur Bardame war …

Augenblicke, in denen er dieses liebliche, fast keusche Gesichtchen andächtig betrachtet hatte …

Wo ganz flüchtig ihm der Gedanke gekommen war, daß dieses liebe Mädel mit dem seltsam traurigen, oft so geistesabwesenden Blick eine prächtige Kameradin sein müsse …

Und jetzt – – die Lackschuhchen …!!

Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen …

Daß er auch nicht sofort darauf gekommen war!!

Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren …

Mühsam nur erwiderte er nun:

„Es … waren … dieselben Schuhe, Herr Habich! Genau dieselben … Jetzt … weiß ich’s … Ausgeschnittene – – mit Spangen … Und der Spangenverschluß eine silberne Rosette … Ich … ich habe diese Rosette unter den Beinkleidern des Eindringlings deutlich erkannt …“

Hermann Habich nickte gedankenvoll …

Sein Blick flog über Eggerts Antlitz hin …

Er war Menschenkenner … Er ahnte, was in dem Herzen dieses jungen, so überaus sympathischen Mannes vorging …

Eine Weile Stille …

Frau Mathilde Habich sagte dann:

„Hermann, du könntest doch einmal dein Maß von Palargos Stiefeln mit dem vergleichen, das der Herr Doktor mit Hilfe des Taschentuches genommen hat …“

„Überflüssig,“ erklärte der alte Herr. „Die Spuren, die Herr Doktor Eggert vor dem Kellereingang von Nr. 9 bemerkte und nachher auch vor Nr. 8, sind bestimmt die Palargos … Ich habe sie ja selbst gesehen, und ich kenne sie nur zu gut.“

Dann erhob er sich …

„Herr Doktor, wir werden uns nun verabschieden … Wir sind alte Leute, und diese Nacht hat uns angestrengt … Überlassen Sie nur alles weitere mir … Sie hören von mir, sobald es nötig ist …“

Egon Eggert geleitete das Ehepaar die Treppe hinab, schloß die Haustür auf und verabschiedete sich von den beiden mit herzlichem Händedruck.

Wieder saß er dann im Klubsessel vor dem erkalteten Kamin …

Den Kopf in die Hand gestützt …

Änne … Änne Holm …

Änne war bei ihm gewesen …!!

Er lachte bitter auf …

Als … Diebin …!!

Weshalb – weshalb nur ging ihm das so nahe?! Weshalb?!

Er schaute in sein Inneres …

Er vergegenwärtigte sich Ännes Gesicht …

Die Augen …

Diese dunklen traurigen Augen …

Traurig, wenn Änne sich einmal unbeobachtet glaubte …

Dann war aller Frohsinn von ihrem Antlitz wie weggewischt gewesen …

Diese Ausgelassenheit – – nur Komödie – sicherlich nur erzwungen …

Vielleicht ein Geschöpf, das unter dem Bewußtsein der eigenen Verderbtheit unendlich litt …

Vielleicht eine jener Doppelnaturen, die das Schlechte verabscheuen, und doch zu schwach sind, sich herauszuarbeiten aus dem Sumpf der Verworfenheit.

Wieder lachte Eggert bitter auf …

Sprang empor …

Änne war für ihn erledigt …!

Und er … schloß den Bücherschrank auf, nahm die drei flachen Kästen der Münzsammlung heraus und trug sie in sein Schlafzimmer, stellte sie unter sein Bett …

Morgen würde er sie bei einer Bank in Verwahrung geben …

Dann legte er sich nieder …

Seine Energie siegte: er wollte nicht mehr an die Ereignisse dieser Nacht denken!

Und … schlief ein …

* * *

Das Ehepaar Habich wanderte den Hohenzollerndamm entlang – über die Schneedecke hin … durch die Stille der Winternacht …

„Heute abend gehen wir in die Flamingo-Bar, mein Alter,“ sagte Habich zu seiner Frau …

Und die entgegnete jetzt mit einer Stimme, die wenig Frauenhaftes an sich hatte …:

„Ich würde etwas anderes vorschlagen, Harald …“

„Und das wäre?“

„Wir mieten uns in einer anderen Verkleidung in Nummer 9 ein … Dort sind gerade über den Zimmern der Schwestern Holm möblierte Räume frei … Ich sah heute die Papptafel oben am Fenster hängen …“

„Wirklich?! – Wenn es sich so verhält, dann allerdings …!“ –

Und dieses merkwürdige Ehepaar bog dann in dem Vorort Schmargendorf in einen Feldweg ein, der an der Rückseite alter Gärten entlanglief …

Betrat einen der Gärten und verschwand unter alten Kastanien nach dem alten behaglichen Hause zu, in dem der Detektiv Harald Harst und sein etwas korpulenter Freund Max Schraut seit vielen Jahren wohnten.

* * *

Die Geschwister Stuckner saßen gegen zehn Uhr vormittags in Margots bereits aufgeräumtem Zimmer beim Frühstück.

Margot hatte soeben dem Bruder nochmals eine Standpauke gehalten, die der Gutsbesitzer zerknirscht und schweigend hingenommen hatte …

„Eggert kann sich auf etwas gefaßt machen, falls er sich heute hier sehen läßt!“ schloß das junge energische Mädchen ihre nur zu berechtigte Anklagerede. „Ich hatte bisher von Eggert eine bessere Meinung … Daß er dich ausgerechnet in ein solches … Nepplokal schleppte, wo er doch offenbar Stammgast ist, war geradezu unerhört!“

Oh – die blonde Margot nahm nie ein Blatt vor den Mund …

Und heute schon gar nicht … Daß dem Bruder das Geld gestohlen war – heutzutage ein kleines Vermögen! – ging ihr nicht so nahe, als die bittere Enttäuschung, daß Egon Eggert noch immer nicht sich die sogenannten Hörner abgelaufen hatte!

Bruder Benno meinte jetzt kleinlaut:

„Du tust Egon bitter unrecht … Ich habe das schon einmal betont … Nicht er war’s, der die Flamingo-Bar vorschlug, sondern ich … Egon kannte das Lokal nur dem Namen nach …“

Margot wurde noch erregter …

„An der Tatsache ist nichts zu ändern, daß er dir nicht vorhielt, wie rücksichtslos es mir gegenüber wäre, mich den ganzen gestrigen Tag allein zu lassen … – Schweigen wir darüber … Ich weiß, wie ich mit euch beiden dran bin …“

Benno Stuckner seufzte kläglich …

Zunächst hatte er nämlich einen wahnsinnigen Kater.

Dann war er aber auch durch den Verlust des Geldes, mit dem er hier in Berlin eine Wechselschuld hatte decken wollen, in eine überaus unangenehme Lage geraten. Heute mußte er 18 000 Mark zahlen … Und – es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als Egon … anzupumpen!

Und drittens: wie sollte er dann dem Freunde diese Summe zurückerstatten, wo es doch den Landwirten jetzt geradezu miserabel ging – mehr als miserabel!

Kurz: Benno Stuckner war heute ein geschlagener Mann!

Nur eine ganz, ganz winzige Hoffnung hatte er noch: daß Harald Harst den Dieb ermitteln und das Geld wieder herbeischaffen würde!

Harald Harst …!!

Margot war’s gewesen, die sofort an diese Berühmtheit gedacht hatte …

Und die Berühmtheit war denn auch in kurzem erschienen … Kein Mensch hätte dem buckligen Männlein angesehen, daß es sozusagen der verkörperte Extrakt von Scharfsinn und geistiger Regsamkeit war …

Freilich, Harst trug eine Verkleidung, hatte den Geschwistern auch sofort warnend erklärt, daß er Habich heiße und daß sie auf keinen Fall verraten dürften, daß er in Berlin anwesend sei und ihre Sache übernommen habe. Denn er habe gerade etwas anderes „in Arbeit“, etwas ganz großes, und mit diesem Diebstahl hier würde er sich nie abgegeben haben, wenn Herr Stuckner nicht in der Flamingo-Bar gekneipt hätte …

Was die Geschwister natürlich nicht verstanden …

Und was Habich auch trotz Margots Fragen nicht erklärte …

Im Gegenteil – er überhörte alles, was er offenbar nicht beantworten wollte, und was er selbst zu wissen begehrte, war für Benno Stuckner ungeheuer peinlich, da es sich auf die Damenteilhaberschaft aus dem Sektgelage bezog und weil so die blonde Änne und die schwarze Evi vor der Schwester genau geschildert werden mußten.

Nachdem Herr Habich dann noch den Balkon besichtigt und die dort in der Schneeschicht erkennbaren Fußspuren sehr eingehend betrachtet hatte, empfahl er sich …

Und dann kam das Nachspiel: Margot blies dem verlotterten Bruder den Marsch, weil er … die Änne und die Evi bisher unterschlagen gehabt hatte! Es war ein Marsch mit Posaunen, Kesselpauken und Pikkolo-Flöten, deren Töne bekanntlich durch Mark und Pfennige gehen … –

Und jetzt beim Frühstück war eine Neuauflage dieses Marsches erfolgt, wie bereits erwähnt …

Jetzt hatte aber Egon Eggert herhalten müssen …

Und wie das nun einmal so im Leben ist: dieser Egon Eggert ließ sich ausgerechnet zu dieser ungünstigen Stunde durch ein Stubenmädchen des Fremdenheims bei den Geschwistern melden und erschien mit vier wundervollen blaßroten Rosen für Margot auf der Bildfläche, die ein Heidengeld gekostet hatten. Er hoffte, die Jugendfreundin durch diese zarte Aufmerksamkeit zu versöhnen, irrte sich jedoch schmählich, denn Margot empfing ihn mit einem so eisigen Gesicht, daß er die Rosen schleunigst auf einen Stuhl legte …

Schlimmer noch als dieser Empfang war für den braven Egon die ihm durch Habich aufgezwungene Aufgabe, hier so zu tun, als ob er noch nichts von dem Diebstahl ahnte …

Heucheln und Schwindeln war seine schwache Seite, und als Benno nun wehleidig erzählte, was in der Nacht unter seinem Kopfkissen verschwunden, da benahm sich Egon so merkwürdig, daß Margot ihn scharf fixierte und er natürlich rot wurde …

„Mir scheint,“ sagte Margot im Tone eines Staatsanwalts, „daß Sie, Herr Doktor (bisher hatte sie ihn stets Egon genannt), bereits eingeweiht sind, denn Ihr teilnahmsvolles Erstaunen erinnert[3] lebhaft an die äußerst mäßige Leistung eines Schmierenschauspielers!“

Eggert senkte den Kopf …

Und Benno, der zweite Sünder, schaute den Freund nun ebenso durchdringend an …

Sagte zögernd: „Wirklich, Egon, es macht ganz den Eindruck, als ob du das alles bereits gewußt hättest …“

„Wo … woher wohl …?“ stammelte Eggert … „Ich … ich bin eben wie vor den Kopf geschlagen!!“

„Wie gestern!“ rief Margot. „Denn anders ist es kaum zu erklären, daß Sie so rücksichtslos waren und mit Benno den Tag über in höchst zweifelhafter Gesellschaft verlebten, während ich mich ängstigte, wo Benno stecken mochte …“

„Margot, ich …“

„Bitte – Fräulein Stuckner!! Mit „Margot“ ist’s aus, Herr Doktor …!“

Eggert war sich noch nie in seinem ganzen bisherigen Dasein so kläglich vorgekommen wie jetzt …

Und dabei hatte die Pein dieser Stunde erst begonnen. Denn Margot fragte abermals:

„Woher haben Sie von dem Diebstahl erfahren? – Raus mit der Sprache!“

Egon kannte Margot … Egon hatte Margot auf dem Gute des Freundes mit den Angestellten umspringen sehen … In diesem kerndeutschen, gesunden, hübschen Landmädel steckte, wenn’s nottat, ein strenger Wachtmeister …

So flüchtete der arg Bedrängte denn nun schleunigst in die schützenden Arme der Ehrlichkeit …

Gab sich innerlich einen Ruck und erklärte: „Ja, ich habe davon gewußt. Ich habe jedoch zu schweigen versprochen. Mehr darf ich nicht sagen …“

Margot lachte …

Kein schönes Lachen … Wenn Eggert ein besserer Menschenkenner gewesen wäre, hätte ihm jetzt ein Licht aufgehen müssen …

So lacht nur die versteckte Eifersucht …

Und Margots Antwort bestätigte das …

Ironisch meinte sie: „Vielleicht haben Sie Fräulein Änne Holm feierlichst gelobt, den Mund zu halten!“

Eggert war nun ja alles in allem ein Mensch, der eine gehörige Dosis Grobheiten und Ähnliches schluckte, wenn er sich im Unrecht fühlte. Aber dies Letzte ging ihm aber doch wider den Strich. Er besann sich auf seine Manneswürde, erhob sich …

Sagte kühl ablehnend:

„Fräulein Stuckner, Änne Holm wollen wir aus dem Spiel lassen … Bardamen sind kein Gesprächsthema zwischen einem jungen Mädchen und einem Herrn, der so leidlich weiß, was sich schickt. Ich habe Herrn Habich gegenüber …“

Da – verstummte er …

Kaum war ihm der Name des Detektivs über die Lippen gekommen, als er auch schon merkte, daß er sich jetzt völlig festgerannt hatte.

Benno rief denn auch schon:

„Wie – – du kennst Harst?“

Und Margot rief:

„War Harst etwa bei Ihnen und hat Sie ausgefragt?“

Egon Eggert blickte verständnislos drein, murmelte:

„Harst … Harst?! Ich kenne keinen Harst – wenigstens nicht persönlich …“

„Schwindel!!“ erklärte Benno da. „Das ist Schwindel, alter Junge! Du wirst uns jetzt die Wahrheit sagen …“

Inzwischen war nun dem Herrn Doktor Eggert nicht ein Licht, sondern ein ganzer Kronleuchter aufgegangen …

Harst – Habich, – – natürlich!! Und Frau Mathilde Habich – – natürlich Max Schraut …!!

Und diese Erkenntnis zwang ihm ein Lächeln ab …

War er nur blind gewesen!! Unglaublich blind!

„Weshalb lachen Sie?!“ fuhr Margot auf. „Ich meine, diese Dinge sind doch wahrlich ernst genug …!“

„Gewiß, Margot,“ nickte Egon und streckte ihr beide Hände hin. „Bitte – bitte, – wir wollen uns wieder vertragen, Margot … Ich will dann auch alles erzählen … Und ich sage Ihnen: Sie werden staunen! Ich bin zwar nicht bestohlen worden, aber mir hat die verflossene Nacht Erlebnisse beschert, die der reine Roman sind! – – Bitte, Margot, – seien Sie wieder gut … Ich bin ein reuiger Sünder, genau wie Benno.“

Und wie er sie nun so ehrlich flehend anschaute, da konnte Margot Stuckner nicht länger grollen … Da dachte sie als verständiger Mensch: vielleicht hat Egon sich jetzt die Hörner endgültig abgelaufen! – Und … versöhnte sich mit ihm … auch mit dem Bruder, meinte aber:

„Eigentlich habt ihr beide es nicht verdient!! Doch – – jeder macht mal eine Dummheit!“

„Meine letzte war’s!“ beteuerte Egon …

So nahm man denn zu dreien am Frühstückstische Platz … Und selbst die Rosen fanden nun die gebührende Beachtung … Und Eggert erzählte …

Als er humorvoll schilderte, wie „Herr Habich“ in der Krumme Straße „Frau Habich“ vorgestellt hatte, lachte Margot herzlich …

Die Stimmung besserte sich jedenfalls zusehends … Zumal Egon ganz von selbst dem Freunde die fehlenden 18 000 Mark anbot …

Dann erörterten die drei die Einzelheiten …

Margot erklärte, die Fußspuren hier auf dem Balkon seien fraglos ebenfalls die Änne Holms gewesen …

Und Benno fügte hinzu:

„Dieser Kellner Palargo, den Harst für den Mörder des Türken hält, wird wohl das Oberhaupt dieser Gaunerbande sein! – Na – Harst wird der Gesellschaft den Raub schon wieder abknöpfen. In dem Punkt bin ich ganz außer Sorge.“

Margot Stuckner wieder hätte kein Weib sein müssen, wenn sie nicht nach dem Äußeren der Schwestern Holm sich erkundigt hätte …

Egon schwieg. Aber Benno log nun, daß sich schier die Balken bogen: geschminkte Geschöpfe, frech, zudringlich, unfein … und so weiter.

Er glaubte, dies sei die richtige Taktik, Margot zu beweisen, daß die Kneiperei ohne intimere Zärtlichkeiten vor sich gegangen sei.

Egon war entsetzt, auch empört …

Und Margot meinte spitzen Tones:

„Sonderbar, daß zwei gebildete Herren sich mit derartigen … Weibern stundenlang unterhalten!!“

Zum Glück wurde hier das Gespräch, das sich bereits wieder stark einer gewissen Gereiztheit näherte, durch das Anschlagen des Telephons unterbrochen …

Margot nahm den Hörer von der Gabel …

Herr Habich meldete sich …

„Hier Rentner Hermann Habich … Ich wollte Ihnen, gnädiges Fräulein, und Ihrem Bruder nur mitteilen, daß, falls Sie mir Wichtiges zu berichten haben, meine neue Adresse lautet: Ingenieur Herbert Haffner, Krumme Straße Nr. 9, bei Winkler. – Notieren Sie das bitte … – Schicken Sie jedoch nur Rohrpostbriefe mit kurzer Angabe eines Ortes, wo wir uns treffen sollen. Und unterzeichnen Sie mit dem Namen Marx … Kein Wort von der Sache selbst … Sie verstehen mich …“

„Vollkommen, Herr Haffner … Übrigens ist gerade der Doktor bei uns … Er hat sich verplappert … Grüßen Sie Ihre … Gattin von ihm … Sie verstehen wohl …“

„Vollkommen …! Schluß …“

Margot hängte ab …

Wandte sich an Egon und ihren Bruder …

„Denkt euch, Harst hat sich in Nr. 9 einquartiert – als Ingenieur Haffner!“

„Aha!“ rief Benno strahlend. „Dann wird er dieser Sippe, dem Palargo und den Mädels, sehr bald die Hölle heiß machen!! – Kinder, wir wollen jetzt zunächst das Geschäftliche erledigen … Ich muß den Wechsel einlösen, und dann bummeln wir durch die Stadt, essen irgendwo gemütlich Mittag und … hoffen auf Harsts Genie!!“

* * *

Frau Witwe Winkler in Nr. 9, erste Etage links, war selig … Möblierte Zimmer waren ja heutzutage zu hunderten zu haben. Und daß der freundliche, gesetzte Herr Ingenieur Haffner mit seiner Frau ausgerechnet sich in die Krumme Straße verirrt hatte und dann gleich für zwei Wochen für die beiden Zimmer vorausbezahlt hatte, war ein Glückszufall ohnegleichen gewesen!

Die Haffners waren Hamburger, und Frau Haffner wollte hier in Berlin eines Gesichtsleidens wegen eine Autorität konsultieren, trug einen Schleier und war sehr still und gedrückt, die arme Frau …

Still und gedrückt, wenn die Winkler zugegen …

Lebhaft und redselig aber, wenn sie mit ihrem „Gatten“ allein … –

Dieser sonnige kalte Januartag, an dem die Winkler das große Vorderzimmer und das kleine Hinterzimmer so günstig vermietet hatte, änderte jedoch mit Eintritt der Dunkelheit sein freundliches Wintergesicht und führte aus dem Wetterloch von Nordost her finsteres Gewölk herauf …

Wind pfiff um die alten Giebel der Krumme Straße.

Wurde zum Schneesturm …

Um vier Uhr war’s dunkel, und Schneemengen kamen herab, daß man die Hand kaum vor Augen sah …

Der Sturm heulte …

Frau Winkler brachte ihren Mietern um halb[4] fünf den Nachmittagskaffee … Frau Haffner lag auf dem Diwan. Haffner saß in der Sofaecke …

„Ein schreckliches Wetter, Herr Ingenieur,“ meinte Frau Winkler und richtete den Kaffeetisch her.

„Ja – Winterwetter … – Wohnen Sie schon lange hier im Hause?“

„Zwanzig Jahre …“

„So … so … Ein ruhiges Haus, nicht wahr?“

„Es geht, Herr Ingenieur, es geht … Nur die Nachbarschaft …!! Na – man will sich nicht den Mund verbrennen …!“

„An der Nachbarschaft haben Sie etwas auszusetzen?“

„Unter uns, Herr Ingenieur: Mein Kohlenkeller stößt an den von Nr. 8 nebenan … Dort wohnt ein Kellner … Ein Satan!!“

„Oho – – Satan?!“ Haffner lachte. „So schlimm wird’s wohl nicht sein …!“

„Herr Ingenieur, wenn Sie ahnen würden. Der Mensch schlägt seine Frau … Das ist ein Unhold!! Von meinem Keller führte mal eine eiserne Tür nach nebenan – der Schornsteinreinigung wegen … Die Tür hat man drüben mit Brettern verkleidet und mit Tapeten überklebt. Wenn ich Preßkohlen hole, dann … – aber ich will darüber nicht sprechen … Ich habe Angst vor dem Palargo … So heißt der Kellner nämlich.“

„Sprechen Sie ruhig, Frau Winkler … Mich interessieren Menschenschicksale …“

„Gott ja, – Sie werden ja auch darüber zu niemandem reden, Herr Ingenieur … Und man mag doch auch einmal sein Herz einem Menschen gegenüber ausschütten, der Mitgefühl besitzt … – Herr Ingenieur, die Kellerwohnung in Nr. 8 ist eine Hölle … eine wahre Hölle … Ein Satan haust darin, der Palargo … Und hier unter Ihnen wohnen die Schwestern der armen Frau Palargo … Die peinigt der Schurke gleichfalls …“

„Setzen Sie sich doch, liebe Frau Winkler … In unserem stillen Hamburg erlebt man so gar nichts, besonders meine Frau und ich nicht, da wir keinerlei Verkehr pflegen …“

Frau Winkler seufzte … nahm Platz …

„Ach, Herr Ingenieur, hier in Berlin ist’s auch nicht so schlimm, wie die Fremden denken … Daß ich mit den traurigen Verhältnissen drüben in der Kellerwohnung vertraut bin, ist doch nur ein Zufall … Nach außen hin tut der Palargo ja, als ob er seine Frau auf Händen trüge … Und die Nachbarn ringsum ahnen nichts … Wenn er seine Wutanfälle bekommt, spielen sich die fürchterlichsten Szenen ja immer in derselben Kellerstube ab … Nur ich höre eben zuweilen den … den Skandal – – durch die Kellerwand, denn die eiserne Tür läßt sich öffnen, und dann versteht man fast jedes Wort …“

„Wutanfälle, meinen Sie?! Wie äußern sich die denn, Frau Winkler?“

„Das läßt sich schwer beschreiben, Herr Ingenieur … Jedenfalls schlägt er auch seine Schwägerinnen, wenn’s mal so ganz schlimm hergeht – ich glaube, mit einer Hundepeitsche … Man hört’s klatschen …“

Haffner-Harst mochte dieses Verhör doch nicht zu lange ausdehnen. Er fürchtete, daß Frau Winkler argwöhnisch werden könnte …

So sagte er denn:

„Vielleicht ist all das gar nicht so arg, als Sie’s annehmen … Zank und Streit gibt’s in vielen Ehen … – So, nun werden meine Frau und ich uns den Kaffee schmecken lassen … Abendbrot essen wir außerhalb, Frau Winkler …“

Die Vermieterin erhob sich …

„Ich bin abends auch nicht zu Hause, Herr Ingenieur … Meine Schwester hat Geburtstag, und vor elf Uhr kehre ich kaum heim … – Auf Wiedersehen.“ –

Eine Stunde drauf verließ sie ihre Wohnung.

Kaum hatte sie sich entfernt, als Harst sich an seinen Freund wandte:

„Palargo tritt seinen Dienst im Flamingo immer erst um acht Uhr abends an, mein Alter … Wie wär’s, wenn wir mal Frau Winklers Kohlenkeller besichtigten? Bei dem Schneetreiben können wir unbemerkt in den Keller hinein, und die Schlüssel hängen in der Küche am Schlüsselbrett, wie ich bereits festgestellt habe … Sollte uns jemand anhalten, so haben wir immer noch die Ausrede, wir wollten uns Preßkohlen herausholen, da Frau Winkler für dieses Wetter zu wenig geheizt habe …“

Schraut war sofort einverstanden … Auch ihn interessierte der Fall Palargo außerordentlich, zumal er verschiedene geradezu unerklärliche Momente bot.

Gegen halb sieben stiegen die beiden dann die Treppe hinab. Herr Haffner trug den Kohleneimer. Der Eingang zum Keller lag unter der Treppe. – Niemand begegnete ihnen. Die Kellerverschläge waren klein und die Lattentüren durch Bretter abgedichtet, um diebische Hände fernzuhalten. Der Keller der Frau Winkler schien der größte zu sein.

Harst hatte eine Laterne mitgenommen – ebenfalls aus Frau Winklers Küche. Diese Beleuchtung genügte ihm jedoch nicht. Er schaltete jetzt auch seine Taschenlampe ein.

Die verrostete kleine Tür lag dicht neben dem Schornstein.

Er öffnete sie …

„Aha – – Frau Winkler hat die Türgelenke geölt,“ lächelte er. „Weiberneugier!!“

Schraut trat näher …

Man sah die Bretterwand, die mit Spinngeweben bedeckt war …

Aber drüben war alles ruhig …

Die Freunde lauschten eine Weile. Es war hier nicht allzu kalt, und sie hatten sich vorsorglich warm angezogen …

Schraut flüsterte: „Dieser Keller müßte doch auch an den des alten Produktenhändlers grenzen …“

„Gewiß … Die Wand dort muß es sein, wo Frau Winkler all die leeren Kisten aufgebaut hat …“

Und er drückte die Eisentür vorsichtig wieder zu und ließ den Lichtkegel über die Kisten gleiten …

Stutzte …

„Du, – da ist eine Holztür …!“

„Ja … Dieser Kellerraum mag früher mit zu Landowskys Wohnung gehört haben …“

„Sogar bestimmt … – Halte mal die Lampe. Ich werde die Kisten wegräumen …“

Schraut wehrte ab. „Wozu das, Harald?! Es ist doch zwecklos … Was geht uns der alte Händler an.“

„Mehr als du denkst, mein Alter …!!“

„So?! Ich wüßte nicht, weshalb …“

„… weil in der verflossenen Nacht die unverkennbare Fußspur Palargos auch die Kellertreppe des Händlers hinablief – – deshalb!“

„Du meinst, Landowsky und Palargo könnten …“

„… sich sehr genau kennen, – ja, das glaube ich! – Da, nimm die Taschenlampe … Jetzt wird kaum jemand von den Hausbewohnern hier in den Keller kommen. Und wenn, so schalte sofort die Lampe aus … Dann ahnt niemand, daß wir hier unsere besonderen Wege wandeln …“

Fünf Minuten später hatte Harst nicht nur die Tür freigemacht, sondern sie auch geöffnet. Und – auch hier eine Bretterwand, schmutzig, verstaubt … Spinngewebe in den Ecken … Pilzbildungen an der Mauer des Türdurchbruchs …

Harst drückte das Ohr an die Bretter …

Drüben alles still …

Dann trat er zurück …

„Gib mir die Lampe …!“

Und er beleuchtete die Wand aus nächster Nähe …

„Also doch!“ flüsterte er …

„Was gibt’s?!“

„Die Erklärung dafür, daß die Kisten einen schmalen Gang freiließen … – Bitte – schau dir mal hier die Bretter an, hier unten … Da hat eine Stichsäge vor längerer Zeit gearbeitet … Da hat man ein Viereck herausgeschnitten, ein Schlupfloch …“

Schraut bückte sich …

„Wahrhaftig!“

„Herr Landowsky, der alte Ehrenmann, hat sich also hier offenbar einen Notausgang geschaffen … – Warte mal …“

Und Harst kniete nieder, zog sein Taschenmesser und schob die große Klinge in die enge Sägespalte …

„Ein Riegel …“ meldete er ganz leise … „Den werde ich schon aufbekommen …“

Er bekam ihn auf, schob nun das Türchen langsam nach innen … ganz langsam …

„Licht aus!“

Dunkelheit jetzt …

Harst kroch durch das Schlupfloch, tastete mit den Händen umher, fühlte Kisten, Ballen von Lumpen, Pakete Papier …

Horchte …

Nichts regte sich …

Selbst das Toben des Wintersturms war hier kaum zu hören …

„Licht!!“

Schraut schaltete die Lampe wieder ein …

Nun sahen sie beide, daß vor diesem Schlupfloch eine Kulisse von allerlei Dingen errichtet war, um die Holzwand zu verdecken … – ein Berg von allerlei Kram, wie er in Produktenkellern zu finden ist …

Diese Kulisse zog sich von Wand zu Wand. Rechts, wo das Haus Nr. 8 lag und der Wohnkeller der Palargos sich befand, zeigte die schmutzige, getünchte Ziegelsteinmauer dem jetzt alles sorgfältig prüfenden Detektiv abermals eine Besonderheit …

„Dacht’ ich’s mir doch!“ raunte er Schraut zu … „Hier ist die Verbindung nach nebenan – eine richtige Geheimtür, mein Alter …“

Harst wollte offenbar noch etwas hinzufügen …

Eine warnende Handbewegung des Freundes ließ ihn verstummen …

Der Lichtkegel der Taschenlampe kroch in sich zusammen wie ein leuchtender Wurm, der in einem Erdloch blitzschnell untertaucht …

Auch Harst unterschied jetzt deutlich irgendwoher ein ganz eigenartiges Geräusch …

Es klang wie das Plätschern von Wasser, das in feinem Strahl irgendwo hervorquillt und dabei Blasen erzeugt, die mit leisem – ganz leisem Puffen zerplatzten.

Dann erstarben diese Laute wieder …

Lebten von neuem auf, änderten ihre Besonderheit und wurden zu dem kaum vernehmbaren Stöhnen eines im letzten Todeskampfe verröchelnden Geschöpfs …

Diese Wandlung des ursprünglich noch so harmlos erscheinenden Geräusches veranlaßte Schraut, sich näher an Harst heranzudrängen …

Sie berührten sich, und Harsts Mund fand des Freundes Ohr …

„Ein Mensch …!!“

Nur gehaucht die zwei Worte …

Schraut fühlte, daß ihm ein Eiszapfen das Rückgrat entlangstrich …

Das Stöhnen war wieder verstummt …

Dafür erklang von neuem das seltsame Plätschern und Puffen …

Harst lauschte, suchte zu ergründen, woher es käme.

Dann …

„Licht!!“

Schraut zauderte … Hielt den Finger am Einschaltknopf der Taschenlampe …

„Licht!!“

Da gehorchte er …

Harst nahm ihm die Lampe ab …

Flüsterte: „Sieh, wie spät es ist …“

Schraut hatte in seiner tadellosen Verkleidung als Frau Haffner eine Armbanduhr am Handgelenk …

„Ein Viertel acht …“

„Dann sind wir sicher … Palargo tritt, wie wir längst wissen, seinen Dienst im Flamingo schon immer vor acht Uhr an und besucht vorher noch die Stehbierhalle an der Ecke der Fasanenstraße … Er dürfte kaum mehr daheim sein …“

„Aber … Landowsky!“ erinnerte Schraut an den Produktenhändler.

„Der hat sein Geschäft längst geschlossen und ist oben im Hochparterre in seiner Wohnung – – oder auch nicht … Jedenfalls brauchen wir mit ihm nicht zu rechnen …“

Schraut fand diese Sätze etwas eigenartig … Er kannte den Freund …

„Wie meinst du dies „oder auch nicht!“ …?“ fragte er …

Harst schlich wortlos zwischen der Kulisse und der Mauer wieder dem Schlupfloch zu, ohne zu antworten.

Machte vor dem Schlupfloch in der Holzwand halt und bückte sich …

In dem Berg verschiedenartigster Gegenstände lag hier zu unterst ein großes Zinkfaß … Über diesem Zinkfaß Ballen von Lumpen …

Harst befühlte den Boden des Fasses und … klappte ihn plötzlich auf … Dieser Zinkboden war sauber herausgeschnitten und dann ein Scharnier angelötet worden …

„Eine Röhre des Fuchsbaus,“ meinte Harst gedämpft …

Und kroch hinein …

Die andere Seite des Fasses, der Deckel, war genau so hergerichtet …

Die Freunde hatten nun mit Hilfe des Fasses diese Barrikade passiert …

Standen inmitten des Lagerraumes Landowskys, inmitten Haufen von Altpapier, Lumpen, Eisen und Holzgestellen, auf deren Brettern verbeulte Messinggeräte, Bleirohre, Kupferkessel und anderes lagen …

Standen und horchten angespannt …

Regten sich nicht …

Dann – – das Stöhnen, das Plätschern – Puffen.

Deutlicher als vorhin …

Harst zeigte auf einen Hügel von Lumpen …

„Dort!!“

Sie traten näher …

Harst fuhr mit dem rechten Arm in den eklen Berg von Zeugfetzen hinein … Warf sie auseinander …

Eine lange Kiste kam zum Vorschein … Ein Deckel oben – mit großen Luftlöchern – dicht bei dicht …

Schraut fühlte wieder den Eiszapfen …

Hörte: die unheimlichen Geräusche kamen aus dieser Kiste!!

Dann lüftete Harst den Deckel, leuchtete hinein …

Fuhr zurück …

Und wie er so – er, der Mann mit den Eisennerven! – zurückprallte, dachte er an Frau Winklers Ausspruch: Satan!!

In der Kiste lag auf einem Federbett, zugedeckt mit einer Wolldecke, ein Mann …

Raffiniert gefesselt – brutal gefesselt … Einen Knebel im Munde … Der Knebel im Genick festgebunden …

Speichel rann dem Ärmsten aus dem Munde … Der Speichel bildete Blasen …

Der Mann war halb ohnmächtig, lag mit geschlossenen Augen da …

Schraut blickte genau so entsetzt wie Harst in das fahle, entstellte Gesicht …

„Satan!“ sagte Harst halblaut …

Beugte sich herab, löste den Knebel … Zog ihn heraus …

Der Mann atmete japsend …

Sein Gesicht rötete sich …

Matt hob er die Augenlider …

Harsts Messer fuhr bereits durch die Stricke …

Dann nahm er den Entkräfteten in die Arme … Legte ihn auf das Bett, das Schraut aus der Kiste herausgenommen und auf die Steinfliesen des Kellers ausgebreitet hatte.

Der Mann war sehr gut angezogen. Sein Gesicht war freilich mit blonden Bartstoppeln bedeckt. Er hatte die Augen wieder geschlossen.

„Bringe den Lumpenberg wieder in Ordnung,“ flüsterte Harst …

Schraut tat’s …

Harst fühlte nach dem Puls des Unbekannten … Der Puls war schwach und unregelmäßig. Die Hände eiskalt, die Finger abgestorben und blutleer.

Schraut war mit der Arbeit fertig …

„Wir müssen ihn nach oben schaffen,“ sagte Harst leise. „Es steht schlecht um ihn. Man hat ihn hungern und dursten lassen … Der Kräfteverfall ist bedrohlich …“

So traten sie denn den Rückweg nach dem Keller der Frau Winkler an, nachdem sie das Bett zwischen Papierballen geschoben hatten.

Es war nicht ganz leicht, den Fremden durch das Faß und das Schlupfloch in der Bretterwand zu ziehen.

Harst beseitigte dann noch schnell alle Spuren, insbesondere alles, was darauf hindeuten konnte, daß der Gefangene in den Kohlenkeller der Winkler gebracht worden war.

Nun galt es, den Mann noch unbemerkt in die Wohnung der Witwe zu schaffen. Harst trug ihn. Schraut ging voran.

Oben an der Kellertreppe ein kurzer Aufenthalt … Im Treppenflur Schritte und Stimmen … Dann … Stille …

Harst beeilte sich … Schraut öffnete die Flurtür … Man war geborgen …

… Der Fremde lag nun auf dem Diwan im Wohnzimmer. Schraut hatte aus der Küche Milch geholt, mischte sie mit Kognak. Löffelweise flößte Harst dem Erschöpften die Milch ein …

Der Mann lag da und ließ alles mit sich geschehen … In den Augen hatte er einen eigentümlich stumpfen Ausdruck …

Das Herz arbeitete regelmäßiger, und nach einer Stunde öffnete der Fremde ganz von selbst die Lippen.

„Wer … sind … Sie? Ich … danke … Ihnen … Es … ging … mit mir … zu Ende …“

Harst saß auf einem Stuhl am Kopfende des Diwans.

„Strengen Sie sich nicht unnötig an,“ erwiderte er herzlich. „Sie sind in Sicherheit, und das ist die Hauptsache … – Hier – trinken Sie wieder …“

Der Mann, der etwa dreißig Jahre alt sein mochte, erholte sich jetzt rascher … aß auch eine Kleinigkeit und wurde lebhafter.

„Könnten Sie mir jetzt einige Fragen beantworten?“ fragte Harst und schob ihm ein paar Kissen in den Rücken …

„Ja … Es geht mir besser …“

„Wer sind Sie?“

Merkwürdig: der Fremde machte plötzlich ein hilfloses Gesicht, bewegte die Lippen, hob den Arm und strich sich über die Stirn hin … Seine Augen verrieten eine gewisse Angst …

Dann erwiderte er halb weinerlich:

„Ich … ich weiß nicht, wer ich bin … Ich … ich kann mich auf nichts mehr besinnen … Nicht einmal auf meinen Namen … Nein – – auch nicht auf meinen Namen … Es … es ist da … etwas in meinem Hirn wie … wie ein Riegel … Ich … begreife das selbst nicht … Ich … ich fürchte, ich … habe … den Verstand verloren!“

Das letzte stieß er kreischend in jäher Angst hervor – mit weit aufgerissenen Augen … Schweißperlen traten ihm auf die Stirn …

Harst nahm rasch seine Hand …

„Beruhigen Sie sich,“ meinte er eindringlich … „Sehen Sie mir in die Augen … So … Ihr Gedächtnis wird zurückkehren … Und jetzt … schlafen Sie …!! Schließen Sie die Augen … So … Sie merken, daß Sie müde werden – immer müder … Jetzt … sind Sie eingeschlafen – – ganz fest …“

Er schwieg …

Er hob den Arm des Fremden empor, und der Arm verblieb in derselben Stellung …

Er legte den Arm an den Körper des Mannes und wandte sich an Schraut …

Der kam ihm zuvor …

„Hypnose!“

„Ja, mein Alter … Der Mann ist hypnotisiert worden … In der Hypnose hat Palargo sein Gedächtnis getötet – natürlich Palargo! Der … Satan …! – Es stimmt schon: Palargo ist ein Teufel in Menschengestalt! – Durchsuchen wir die Taschen des Fremden.“

Sie fanden nichts … gar nichts …

Aber ein Harald Harst ist sorgfältig. Er suchte nochmals …

Die eine Westentasche hatte ein kleines Loch im Futter … Durch dieses Loch war ein … Trauring gerutscht …

„Immerhin etwas,“ nickte Harst …

Der Ring war schmal, Dukatengold … Die Gravierung innen:

A. v. R. 5. 4. 1924.

„Anna von Rüthel,“ sagte Harst …

Schraut rief:

„Also Ernst von Rüthel ist’s!“

„Ja, der seit fünf Tagen verschwundene Chemiker der hiesigen Farbwerke …“

„… Die Aufrufe an den Plakatsäulen und in den Zeitungen …!! – Es muß stimmen, Harald … Du hast ganz recht …“

„Ohne Zweifel … Rüthel wurde zuletzt im Flamingo gesehen … Von da ab fehlt jede Spur von ihm – jede!! Nun haben wir ihn gefunden, und nun werden wir ihm … den Riegel aus dem Hirn entfernen …“

Er beugte sich über den Eingeschläferten, rief ihn an:

„Ernst von Rüthel!! Öffnen Sie die Augen!!“

Schwerfällig hoben sich die Lider …

„Sie werden sich jetzt wieder auf alles besinnen, Herr von Rüthel!! Auf alles! Ich befehle es!“ Und dabei strich er ihm leicht über die Schläfen hin …

„Hören Sie mich? Sie sind Ernst von Rüthel …! Sie gehorchen nur mir – nur mir! Und Sie wissen jetzt wieder, wer Sie sind …“

„Ja … ich … weiß …,“ sagte Rüthel mit schwerer Zunge …

„Dann – – wachen Sie jetzt auf … Und wenn Sie wach sind, werden Sie sich auf alles besinnen!!“ – Er schüttelte ihn leicht …

Rüthels Augen verloren den stumpfen, geistesabwesenden Ausdruck …

Er … gähnte krampfhaft …

Richtete sich auf … Saß da, von Harst gestützt, und blickte verwundert um sich …

„Sie fühlen sich jetzt wieder leidlich, Herr von Rüthel,“ meinte Harst in gewöhnlichem Tone. „Wie war’s denn in der Flamingo-Bar? Erinnern Sie sich an den Abend dort?“

Der Chemiker nickte verlegen …

„Sie waren mit zwei Bekannten dorthin gegangen, Herr von Rüthel … Sie kneipten in dem kleinen Zimmer … Dann suchten Sie die Toilette auf …“

„Ja …“

„Und in der Toilette sprachen Sie wohl mit dem Kellner – dem schwarzhaarigen …“

„Ja …“

„Sind Sie vielleicht früher schon hypnotisiert worden?“

„Von einem Arzt – eines Nervenleidens wegen …“

„Hat der Kellner Sie hypnotisiert?“

„Das … das kann ich nicht bestimmt behaupten.“

„Sie haben sich jedenfalls von der Toilette direkt in die Garderobe begeben und dort Ihre Sachen verlangt und das Lokal verlassen, ohne sich von Ihren Freunden zu verabschieden … – Was geschah dann?“

Rüthel stützte den Kopf in die Hand …

„Ich … wartete … auf die schwarze Evi … an der Ecke der Fasanenstraße … Und … ich habe sie dann begleitet – nach ihrer Wohnung …“

„Und dann …?“

„Ich … muß erst nachdenken … Ja – dann habe ich … mit dem Mädchen Likör getrunken …“

„Und mit einem Male schliefen Sie ein?“

„Ja – – ja, ich wurde sehr müde … Nachher … lag ich … in einem Keller auf einem Haufen Lumpen … Und – – der Kellner stand vor mir, der aus der Flamingo-Bar …“

„Und weshalb hat man Sie gefangengehalten, Herr von Rüthel?“

„Wenn ich das wüßte!!“ Er schaute wieder ganz hilflos drein … „Ich besinne mich dunkel, daß der Kellner etwas von Spitzel und Spion sagte … – Ich kann Ihnen wirklich nichts Genaueres angeben, Herr …“ – er wollte den Namen hinzufügen den er noch gar nicht kannte, was er jedoch nicht wußte, und daher mit noch hilfloserem Gesicht meinte: „Verzeihung, – wie war doch Ihr Name?“

„Haffner, Ingenieur Haffner … Dort meine Frau, Herr von Rüthel …“

„Danke … Mein Hirn funktioniert noch nicht so recht, und meine Erlebnisse seit jenem Abend in der Bar sind lediglich wie verschwommene Bilder … Wenn Sie mir ein wenig Zeit lassen, werde ich mich fraglos auch auf Einzelheiten besinnen, Herr Haffner …“

„Hat man Ihnen denn dort in der Kiste Nahrungsmittel gereicht?“ forschte Harst weiter.

Der Chemiker dachte nach …

„Ja … ich glaube … Mir ist so, als ob die Evi oder die andere – Änne, richtig, Änne heißt sie – zuweilen bei mir waren … Aber auch das kann ich nicht bestimmt behaupten, Herr Haffner … Ich habe ja noch immer hier über den Augen ein merkwürdiges Gefühl – wie einen Druck … so, als ob der Riegel noch nicht ganz zurückgezogen ist … Aber das eine ist richtig: der Kellner sprach etwas von Spitzel und Spion und … und … ja – er hat mich offenbar mit jemand anders verwechselt …“

Harst horchte auf …

Ihm war schon im Keller aufgefallen, daß Rüthel eine entfernte Ähnlichkeit mit ihm selbst hatte …

Fragte nun gespannt: „Nannte der Kellner vielleicht den Namen Harst – – Harald Harst?“

Des Chemikers Gesicht belebte sich jäh …

„Ja – ja, – – jetzt fällt’s mir ein, Herr Haffner: er muß geglaubt haben, ich sei der Detektiv Harst … Jetzt besinne ich mich … Als ich gefesselt auf dem Haufen Lumpen lag, sagte er ungefähr: „Sehen Sie, Sie Spion, daß ich selbst über einen Harald Harst Macht habe …!! Auch Sie sind mein Opfer geworden, Sie Schnüffler, auch Sie …!!“ – Dann nahm er mir meine Brieftasche und alles andere ab … Und als er in der Brieftasche verschiedene Papiere mit meinem Namen fand, darunter auch meinen Autoführerschein mit Lichtbild, wurde er stutzig und rief, das sei ja eine … eine üble Bescherung, da habe er sich ja gründlich geirrt … – Sehen Sie, Herr Haffner, nun lebt mein Gedächtnis doch wieder auf …“

Harst nickte … „Keine Sorge, es[5] wird in kurzem in alter Weise arbeiten. – Noch eins, Herr von Rüthel: konnte denn der Kellner in der Bar durch irgend etwas auf den Gedanken kommen, daß Sie Harald Harst seien?“

Der Chemiker kniff die Augen grübelnd zusammen.

Dann erklärte er: „Meine beiden Bekannten, mit denen ich im Flamingo war, sind Junggesellen … Ich selbst hatte meinen Ehering in die Westentasche gesteckt, und meine Freunde gebeten, mich nicht mit meinem Namen anzureden, da es mir meiner Frau wegen peinlich war, ein solches Lokal aufgesucht zu haben … Sie nannten mich also nur beim Vornamen und machten vor den beiden Mädchen ihre Witze darüber, daß ich „inkognito“ den Flamingo beehrt habe … Möglich, daß der Kellner eine dieser Sticheleien hörte und daraus falsche Schlüsse zog …“

Harst warf Schraut einen langen Blick zu … Sie verstanden sich. Es unterlag jetzt keinem Zweifel mehr, daß der arme Rüthel seine geringe Ähnlichkeit mit dem Detektiv hatte bitter büßen müssen … –

Harst überlegte, was nun weiter geschehen solle … Es erschien ihm am richtigsten, Rüthel gegenüber die Maske fallen zu lassen und den Chemiker nach der Blücherstraße 10 in das Harstsche Haus zu bringen, wo er vorläufig bleiben mußte, bis dieses Verbrechernest ausgehoben war … –

Man kann sich unschwer vorstellen, was für ein Gesicht Ernst von Rüthel machte, als er nun die Wahrheit erfuhr, als er jetzt erkannte, daß er denselben Harald Harst vor sich hatte, dessentwegen[6] er diese entsetzlichen Leidenstage durchlebt hatte.

Harst drängte zur Eile …

„Ich werde ein Auto holen … Schraut und ich wollen noch heute abend in anderer Verkleidung in die Flamingo-Bar … Sie können sich bei uns daheim ausschlafen, Herr von Rüthel … Morgen früh, hoffe ich, wird Palargo erledigt sein … – Schraut, sieh mal im Zimmer der Frau Winkler nach, ob sie nicht noch einen Mantel und Hut ihres verstorbenen Mannes aus Pietät aufbewahrt hat … Es ist draußen zu kalt, als daß Herr von Rüthel im Jackenanzug ins Auto steigen könnte. Außerdem würde das auch zu sehr auffallen.“

Hut und Mantel wurden gefunden.

Gegen neun Uhr sauste ein Kraftwagen gen Schmargendorf …

Im Auto fragte der Chemiker dann, ob es nicht vielleicht anginge, seine Frau zu benachrichtigen …

„Anna wird ja vollkommen verzweifelt sein, Herr Harst … Seit fünf Tagen gelte ich nun für verschwunden … Sie werden begreifen, daß ich …“

„… Ich begreife vollkommen … Ich werde Ihre Gattin anrufen und vorsichtig zu meiner Mutter bitten … Auf keinen Fall darf irgendwie bekannt werden, daß Schraut und ich in Berlin sind … Für die Öffentlichkeit weilen wir seit zwei Wochen in Norwegen … Und Palargo wird dies jetzt um so bestimmter glauben, als er in Ihrer Person eben den Unrichtigen erwischt hatte …“ –

Frau Anna von Rüthel war gegen halb zehn zur Stelle …

Dem Wiedersehen der Gatten wohnte niemand bei. Sie hatten Zeit und Gelegenheit, sich der Freude der Wiedervereinigung ohne Zeugen hingeben zu können, und der Chemiker konnte unschwer die Verzeihung seines geliebten Frauchens des kleinen harmlosen Seitensprunges wegen erlangen, der ihm ja auch eine ernste Lehre für die Zukunft sein mußte …

Zu derselben Zeit waren Harst und Schraut bereits nach der Flamingo-Bar unterwegs …

* * *

Zehn Uhr abends …

Die Bar war leer …

Die allgemeine Geldknappheit machte sich auch hier fühlbar. Nur nach Schluß der Theater pflegte sich das Lokal für kurze Zeit zu füllen …

Ein elegantes, geschmackvoll eingerichtetes Lokal, der Flamingo …

Ein Künstler hatte hier intime, behagliche Räume geschaffen … –

Hinter dem Schanktisch lehnten Änne und Evi … Die dritte Bardame war für heute beurlaubt.

Die Schwestern sahen sich wenig ähnlich. Ännes blonder Puppenkopf mit den melancholischen Augen und dem zarten Rot der Wangen bildete zu dem schmalen, weit rassigeren Gesicht Evis einen angenehmen Gegensatz …

Beide jung, beide mit Geschmack und ganz schlicht gekleidet … –

Die aus drei Musikern bestehende Kapelle spielte soeben einen Walzer … – aus „Ein Walzertraum“[7]

Änne flüsterte der Schwester zu …:

„Oh – nur nicht dieses Elend noch weiter durchmachen, Evi!! Ich ertrage es nicht länger …! Wenn du nur Mut hättest, Evi …!! – Fliehen … fliehen!! Irgendwohin …!!“

Die andere lachte unendlich bitter …

„Närrchen!! Fliehen?! Ihm entfliehen?! Wie denkst du dir das?! Sind wir denn nicht willenlos?! Sind wir denn nicht lediglich Marionetten, Puppen, die er … tanzen läßt?! Er würde uns den Entschluß zur Flucht schon aus den Augen ablesen! – Nein, Änne … Auf diese Weise werden wir niemals frei werden – niemals! Es gibt nur ein Mittel: Uns selbst und ihn preisgeben – – der Polizei! – Ich spiele schon lange mit dem Gedanken … Mag man uns doch einsperren …! Das Gefängnis birgt für mich keine Schrecken mehr … Die Gefängniszelle wäre mir Himmel auf Erden, denn … dort wäre ich ja vor ihm sicher – – vor ihm, diesem … Satan … Satan!!“

Sie zitterte vor Erregung …

Ihr Gesicht war noch bleicher geworden …

Und – – die Begleitung zu ihren trostlosen Worten … ein Walzer!!

Ein Walzer, – – lockendes Leben, lockendes Glück, weiche Klänge, wie Frühlingsahnen …

Komödie – Tragödie des Daseins!!

Hier zwei bedauernswerte Geschöpfe, die ein Verruchter wie Sklavinnen hielt …

Und – hier die rauschenden Klänge, die blinkenden Flaschen und Gefäße, die ganze Aufmachung des Lebensgenusses!

Tragödie!! –

Änne flüsterte jetzt:

„Evi, wenn … wenn du vorgestern mir den Vorschlag gemacht hättest: ich wäre mit Freuden bereit gewesen! Heute – –, nein, Evi …! Ich … ich flehe dich an … – nicht dieses Mittel!!“

Sie hatte sich näher an die Schwester herangedrängt …

Ihr den Arm um die Hüften gelegt …

Erwiderte gereizt:

„Närrchen – – immer Närrchen!! Als ob der Mann sich um dich je kümmern wird!“

„Vielleicht doch … – Ach, – – du kannst mich nicht verstehen, Evi … du bist weniger … temperamentvoll … du …“

„Ich bin Weib wie du, Änne … Nur mit mehr Energie …! Das ist’s! Und deshalb … läßt das Scheusal mich auch mehr in Ruhe … deshalb! Mit mir hat er nicht so leichtes Spiel …“

Schweigen …

Die Musik verklang in einem letzten weichen Akkord.

Evi begann wieder:

„Schlage dir den Doktor Eggert aus dem Sinn, Änne … Wir … müssen handeln, müssen uns opfern, damit … er geopfert wird – – der Satan!!“ Und wenn über diese Mädchenlippen dieses „Satan!!“ kam, hätte jeder heimliche Lauscher gemerkt, wie unendlich Evi ihren Schwager haßte, – ein Haß, für dessen Größe es kaum eine Bezeichnung gab …

„… Wir müssen sofort handeln, Änne … Denn – willst du dulden, daß er den Ärmsten dort im Keller langsam umkommen läßt! Willst du Mitwisserin eines Mordes werden?! Denn – es ist Mord!! Er will ihn töten – durch Hunger, Durst, Kälte … – Willst du das, nur weil du einem Phantom nachjagst, das … Egon Eggert heißt?! Nur weil du dir einbildest, auch er empfinde mehr für dich?! – Närrchen … Närrchen!! Vergiß nie: Barmädels sind wir jetzt! Was wir früher waren, danach fragt niemand – – niemand!!“

Änne schluchzte leise auf …

Der Vorhang zum Nebenraum hob sich …

Viktor Palargo erschien … Mehr Kavalier als Kellner … Der Frackanzug wie angegossen … Die Wäsche ebenso tadellos … Über dem hohen Stehkragen ein blasses, schmales Gesicht … Eine messerscharfe Nase, dicke schwarze Augenbrauen, darunter Augen, die von den Lidern mit den langen dichten Wimpern stets halb bedeckt waren …

Ohne Frage eine elegante Erscheinung …

Hätte er nicht auf dem Frackaufschlag ein Silberschildchen mit „Oberkellner“ und unter dem linken Arm die weiße Serviette eingeklemmt getragen, würde niemand gewagt haben, ihn als „Ober“ anzurufen …

Sein verschleierter Blick glitt über die Schwestern hin …

In demselben Moment vom Eingang her gröhlendes Lachen …

Die Drehtür knarrte …

Zwei Herren traten ein … Ohne Zweifel Ausländer – vielleicht Rumänen, dergleichen … oder Balkan-Neureiche …

Angezecht beide … Weinduftend – radaulustig … frech …

Blieben vor dem Schanktisch stehen und glotzten die Schwestern an …

Der kleinere zog eine Brieftasche aus dem Pelz, warf der Musik einen Hundertmarkschein hin …

„Spillen!!“ brüllte er und meinte „Spielen!!“

Palargo hatte mit Luchsaugen aufgepaßt …

Die Brieftasche lohnte …

Schon war er neben den Gästen …

„Würden die Herren nicht Separee vorziehen …? Wir haben da ein reizendes kleines Zimmer … Die Damen leisten den Herren gern Gesellschaft …“ –

Wenn Palargo geahnt hatte!!

Er ahnte nichts …

Und das Spiel nahm seinen Fortgang … – in demselben Zimmer, wo Egon und Benno in Sekt geschwelgt hatten, – wo auch der türkische Arzt Doktor Mustafir gezecht und ebenso Ernst von Rüthel das eine einzige Mal als sonst so solider Ehemann … über die Stränge geschlagen hatte …

Ein Spiel um hohen Einsatz war’s: um Palargos Kopf!! –

Die beiden Balkanesen hatten sich von dem Kellner-Kavalier die Pelze abnehmen lassen …

„Sekt!“ krähte der kleine Korpulente. „Sekt, Ober, und … die Damen – – rasch!“

Der Ober verschwand …

Das Zimmer war nach dem Lokal hin an der einen Seite nur durch eine Wand aus geraffter Seide abgeteilt, so daß man auch hier die diskrete Musik genießen konnte …

Der Hundertmarkschein hatte die Kapelle zu erhöhtem Fleiß angefeuert …

Sie spielten einen feurigen Czardas – wohl in der Annahme, die Gäste seien Ungarn …

Diese Gäste blieben ihren Rollen auch jetzt getreu, wo sie allein waren …

Der Größere rekelte sich in einem Klubsessel … Der Kleine pfiff den Czardas mit und schlug mit der Faust den Takt auf der Tischplatte … –

Palargo eilte hinter den Schanktisch …

„Vorwärts!“ befahl er den Mädchen …

Kein Wort weiter …

Aber seine Augen waren jetzt groß und stechend …

Änne duckte sich scheu zusammen …

Evi nickte …Und ein Lächeln glitt um ihren Mund … Es entging Palargo … Hätte er es bemerkt, wäre vielleicht manches anders gekommen … –

Die Balkanesen empfingen die Damen mit trunkener Galanterie …

Man nahm Platz …

Palargo deckte den Tisch …

Die Gäste radebrechten ziemlich mühsam die deutsche Sprache, zeigten sich aber weniger zudringlich, als besonders Änne gefürchtet hatte …

Herr Kastubulos aus Sofia bestellte warmen Hummer mit Trüffelbutter … Dann allerlei anderes, ohne nach dem Preise zu fragen …

Herr Kastubulos war der Lange mit der Adlernase … Er hatte Änne neben sich …

Herr Macheiros, ebenfalls aus Sofia, widmete sich der schwarzen Evi …

Die Unterhaltung war die übliche: versteckte Zweideutigkeiten, Berliner Sensationen, Theater, Toiletten, – – alles nur oberflächlich, alles nur Worte, billigste Dutzendware …

Die Balkanesen tranken, aßen, schmatzten … Von der Kultur verfeinerter Lebensart wußten sie wenig …

Aber sie hielten sich den Mädchen gegenüber immerhin in den Grenzen des Anstandes …

Man wurde vertrauter …

Und Palargo dirigierte Änne und Evi fortdauernd durch bestimmte Blicke …

Die Balkanesen schienen überaus harmlose Gemüter zu sein und ließen sich spielend leicht ausforschen …

Wo sie wohnten … Seit wann sie in Berlin seien … Ob sie hier Bekannte hätten … Ob sie nur Geschäfte halber nach Deutschland gekommen …

Evi war’s, die dieses Verhör hauptsächlich leitete …

Heute tat sie’s ohne Widerwillen … Heute wollte sie Schluß machen mit alledem … Diese beiden reichen Sofioter sollten den Strick für Palargo drehen helfen.

Die Zeit verstrich …

Vorn im Lokal war jetzt Hochbetrieb. Abwechselnd verschwanden Änne und Evi, um sich auch den anderen Gästen zu widmen … –

Die Balkanesen schienen nunmehr genügend bezecht zu sein … Palargo hatte soeben draußen mit Evi geflüstert, hatte sich Bericht erstatten lassen …

Die beiden lohnten …

Schon allein ihre Ringe und Brillantnadeln hätten genügt … Dazu waren die Brieftaschen noch vollgepfropft[8] von Scheinen …

Herr Macheiros schwankte zur Toilette. Der elegante Kellner stützte ihn …

Der Toilettenwärter war ein altes taubes Männchen … Palargo hatte dafür gesorgt, daß dieser Wärter ihm nicht irgendwie gefährlich werden könnte …

„Mein Herr, falls Sie Lust haben, bei den Damen daheim noch eine Tasse Mokka zu trinken – ich könnte das arrangieren,“ flüsterte er dem kleinen Balkanesen zu und starrte ihn dabei durchdringend an … – wie eine Schlange ein Vöglein anstarrt, das sich nicht mehr zu rühren vermag …

Und Herr Macheiros aus Sofia konnte sich wirklich nicht mehr rühren, lehnte an der Kachelwand der Toilette und lallte …:

„Ja … ar … ar … arrangieren Sie das …! Nette … Weiber … Mokka … he … he … Mokka … verstehe!“

Palargo fixierte ihn weiter …

„Sie werden Ihren Freund dazu bestimmen, daß er mitkommt!“ – Das war schon ein Befehl …

„Ja … mitkommt!“ quatschte Herr Macheiros hervor …

„Sie werden um ein Viertel zwei mit einem Auto gegenüber dem Flamingo halten …! Und ich werde mit einsteigen …“

„Ja …“

Herr Macheiros hatte blöde Augen bekommen …

Scheinbar …

Scheinbar war er nicht mehr Herr seines Willens. –

Palargo geleitete ihn in das Separee zurück. Er war zufrieden.

* * *

Um ein Uhr wurde der Flamingo geschlossen. Als letzte Gäste traten die Balkanesen Arm in Arm auf die Straße hinaus …

Schlenderten sehr unsicher weiter, trafen ein Auto.

Das Auto hielt, wo es halten sollte.

Um ein Viertel zwei tauchte neben dem Kraftwagen Palargo mit den in Pelzmäntel gehüllten Damen auf – nicht vom Flamingo her – und alle drei mit hochgeklappten Kragen, alle drei kaum zu erkennen …

Palargo befahl dem Schofför, nach der Bismarckstraße zu fahren … Nr. 3 …

Man saß dann im Auto zu fünfen etwas eng …

Herr Macheiros küßte Evi andauernd den Handschuh …

Man wanderte dann zu Fuß zur Krumme Straße – Palargo zehn Schritt voran, die beiden Paare Arm in Arm hinterdrein …

Die Balkanesen schienen hier an der frischen Luft noch hilfloser zu werden … Herr Kastubulos schlug einmal lang hin – mitten in einen Schneehaufen …

So langte man vor Nr. 9 an. Palargo hatte die Haustür schon geöffnet …

„Schnell hinein!!“ sagte er kurz …

Die Straße war leer …

Im Hausflur wandte er sich an Herrn Macheiros …

„Ich werde mich jetzt empfehlen … Gute Nacht und viel Vergnügen …“

Herr Macheiros verstand, zog die Brieftasche und drückte dem Kellner-Kavalier hundert Mark in die Hand, worauf dieser das Haus wieder verließ …

Änne schloß ab … Evi leuchtete mit einer Taschenlampe …

Dann ging man in die Hochparterrewohnung empor, in einen behaglich warmen Salon, dessen ganze Einrichtung erstaunlich elegant und geschmackvoll war.

Die Balkanesen sanken erschöpft in die weichen Klubsessel …

Herr Kastubulos war überrascht … Wenn er wirklich aus Sofia und wirklich Jugoslawe gewesen wäre, würde er wahrscheinlich nicht so überrascht gewesen sein, denn er hätte wohl kaum ein Verständnis für die richtige Bewertung einer Wohnungseinrichtung nach der künstlerischen Seite hin gehabt.

Dieses große Zimmer verdiente die Bezeichnung Salon …

Besonders, was da an Gemälden zu sehen war, und die Art, wie man auch den sonstigen Zimmerschmuck zusammengestellt hatte, war für das Heim zweier Bardamen und noch dazu zweier doch so fragwürdiger Geschöpfe geradezu erstaunlich.

Kastubulos-Harst sollte noch mehr staunen.

Kaum hatte er den Salon gemustert, und zwar mit Detektivaugen, denn auch er huldigte dem Satz: Zeige mir, wie du wohnst, und ich werde dir sagen, wer du bist … – kaum war diese erste Prüfung so sehr zum Vorteil der beiden Mädchen ausgefallen, als die Sachlage durch Evi eine jähe Wendung erhielt …

Evi hatte sich nämlich vor Harsts Sessel aufgepflanzt …

Ihr bleiches, schmales Gesicht zuckte vor mühsam unterdrückter Erregung …

„Herr Kastubulos,“ sagte sie leise … „geben Sie sich bitte alle Mühe, völlig nüchtern zu werden …“

Der Balkanese grinste töricht, da er nicht ahnte, was kommen würde …

Evi wurde grob …

„Herr, lachen Sie nicht so … einfältig! Sie müssen nüchtern werden – – müssen!!“ Das war in einem Tone gesagt, auf den selbst ein wirklich Betrunkener reagiert hätte …

Harst setzte sich aufrecht …

„He – was Sie wollen, Evichen?“ fragte er mit weit klareren Augen …

Änne lehnte drüben am Damenschreibtisch …

Sie … weinte plötzlich …

„Herr Kastubulos,“ fuhr die energische Evi fort, „man hat Sie hier in eine … Hölle gelockt … – in eine Hölle der Verdammten, in der ein leibhaftiger Satan regiert …! Oder – um mich deutlicher auszudrücken: in ein Verbrechernest! Sie sollen ausgeplündert werden. Sie beide sind fremd in Berlin. Sie würden niemals ……“

Änne schluchzte laut auf …

„Evi!!“ flehte sie …

Evi stampfte mit dem Fuße den dicken Perser …

„Es muß sein, Änne!!“ – Und zu Kastubulos …:

„Ich will mich kürzer fassen … Sie würden hier … spurlos für immer verschwinden!“ – Ihre Erregung wuchs … Jetzt, wo die Entscheidung da war, versagten ihre gefolterten Nerven … Ihre Zähne schlugen wie im Fieberfrost aufeinander … Ihre Worte wurden undeutlich …

Aber sie preßte die Hände zu Fäusten, bohrte die spitzen Nägel in die Haut … Der Schmerz schaffte einen Ausgleich …

„Änne und ich sind die Werkzeuge dieses … dieses … dieses Teufels,“ flüsterte sie heiser. „Wir … wollen es aber nicht länger sein … Ihnen beiden wird nichts geschehen … Ich werde die Kriminalpolizei anrufen … Unten im Keller liegt noch ein Opfer dieses Scheusals …! Der Herr muß gerettet werden … Sie aber dürfen uns das Spiel nicht verderben, Herr Kastubulos. Sie dürfen nicht etwa fliehen … Sie müssen uns helfen … Sonst … entwischt der Unhold … Er ist ungeheuer mißtrauisch … Er würde auch der Polizei …“

Sie schwieg …

Schwieg, weil das Gesicht des Herrn Kastubulos sich jetzt im Ausdruck merkwürdig verwandelt hatte …

Harst erkannte, daß Evi die Wahrheit sprach, daß ein Zufall ihn und Schraut gerade zu einem Zeitpunkt hierhergeführt hatte, wo diese beiden Mädchen die schmachvollen Fesseln abzuschütteln gedachten …

In verändertem Tone, in einem fließenden Deutsch meinte er leise:

„Wenn es so steht, brauchen wir nicht mehr unsere Karten verdeckt zu halten … Fräulein Holm, ich bin der Detektiv Harst, und der andere Herr ist mein Freund Max Schraut …“

Evi Holm war vor Überraschung einen Schritt zurückgetreten …

Vom Schreibtisch her ein leiser Schrei …: Änne – die blonde Änne war dort in die Knie gesunken und hatte den Kopf in die auf die Tischplatte gestützten Hände vergraben …

In diesem Moment nahm Änne Abschied von einem kurzen, kurzen und doch so zarten sehnsüchtigen Traum eines verschwiegenen Liebesglücks … Jetzt wußte sie: dies war das Ende der Qual, aber auch das Ende alles dessen, was sie von der Bekanntschaft mit Egon Eggert erhofft hatte … Seine Küsse waren’s gewesen, die das Weib in ihr geweckt hatten … Unter seinen Küssen war das wilde Verlangen nach einem seligen Frühlingsrausch in ihr erwacht … Gehofft hatte sie – gehofft wie eine kleine, verträumte Törin … – gehofft, daß er nochmals den Weg zu ihr finden würde, – er, der erste Mann, dem sie sich mit Freuden hingegeben hätte, denn sie war rein geblieben, rein trotz allem!

Die Schwester Evi aber hatte sich jetzt wieder von ihrer Überraschung erholt …

Heiße Röte flutete ihr ins Gesicht …

Röte der Freude …

Einer Freude, die aus der Quelle unendlichen Hasses entsprang …

Harst – – Harst als Verbündeter gegen den … Satan!!

Das bedeutete dessen Untergang …

Und Evi preßte die Hand gegen das jagende Herz, schaute den Detektiv an und flüsterte:

„Was … soll geschehen?!“

Mehr brachte sie nicht über die Lippen …

Harst erwiderte:

„Nichts anderes als sonst … Alles muß sich so abspielen wie stets …“

Er deutete auf Änne …

„Ihre Schwester muß sich zusammennehmen … Was Sie beide auch unter dem Einfluß Ihres Schwagers getan haben: Fürchten Sie nichts! Ich werde Sie zu schützen wissen …!“

Er erhob sich …

Ging zu Änne hin, sprach leise auf sie ein …

Niemals hätte die blonde Änne geglaubt, daß dieser Mann, von dem sie bereits so viel gehört hatte und den Palargo als einzigen Gegner fürchtete, wie er des öfteren zugegeben, so zart und liebevoll die Worte wählen und den Ton der Stimme diesen Worten ebenso gut anpassen könne …

Ihre Verzweiflung wandelte sich in gläubiges Vertrauen … Und zugleich mit diesem Vertrauen auf Harsts Fürsprache und Beistand kam ihr auch der Mut zum Handeln.

Sie stand auf … trocknete die Tränen …

Meinte mit einer Energie, die ihr sonst fremd:

„Ich werde den Tisch decken … wie immer … Wir müssen lebhafter sein … Er könnte unten horchen.“

Schraut half Änne …

Evi legte eine Platte auf das elegante Schrankgrammophon …

Gedämpfte Musik … ein Foxtrott …

Die Komödie begann …

Die Mokkamaschine blitzte auf dem Tische … Der Spiritus flammte auf … Likörflaschen und Gläser leisteten zierlichen Mokkatäßchen Gesellschaft …

Zigarettenrauch zog in grauen Schwaden um die Birnen der elektrischen Krone …

Lachen … laute Stimmen …

Schraut krähte wieder im Balkanjargon …

Harst … hatte telephoniert …

Auf dem Schreibtisch stand der Apparat …

Hatte seinen Freund Bechert angerufen … Kriminalkommissar Bechert … Wenige Sätze genügten … Dann war er wieder Herr Kastubulos aus Sofia geworden …

Tanzte mit Evi um den Tisch … –

Der Mokka war fertig …

Süßigkeiten wurden genascht …

Bis Evi auf die Armbanduhr blickte …

„Drei!! Es wird Zeit …“

Der Lärm dieser Nachfeier verstummte allmählich.

Die beiden Balkanesen waren in ihren Sesseln eingeschlafen – – scheinbar …

Änne ging hinüber in das Hinterzimmer, wo der alte Landowsky wohnte …

Von hier führte eine Wendeltreppe mit einer Fußbodenklappe in den Produktenkeller hinab …

Die blonde Änne hob die Klappe empor und schritt zögernd die Stufen abwärts, in der Linken eine Taschenlampe …

Immer zaghafter setzte sie die Füße mit den Lackschühchen …

Wie eine dumpfe schwere Ahnung lastete es auf ihrer jungen Seele …

Sie empfand dunkel das Vorgefühl eines unausbleiblichen Verhängnisses …

Ihre Wangen wurden kalt …

Die Füße immer träger …

Nun stand sie inmitten der stinkenden Lumpen, der Berge von Altpapier …

Links an der getünchten Mauer war in eine Fuge der Druckknopf einer elektrischen Klingelleitung eingelassen …

Änne wollte das Zeichen geben …

Wie immer …

Eine Hand packte ihren Arm …

Riß sie herum …

Palargo!!

Palargo – – nicht mehr im Frack …

Nicht mehr Palargo …

„Du – – du, wo ist der Rüthel geblieben?!“

Er fauchte wie ein gereizter Tiger …

„Ihr habt ihn freigelassen – – ihr beide!! Die Kiste ist leer …! Und – – ihr habt die dort oben für euch gewonnen – – den Harst und seinen Freund! Soeben[9] war ich oben, habe gelauscht, – – und ein Glück, daß ich gelauscht habe!! Ein Glück, daß ich nach Rüthel sehen wollte …! – Verräterin – – Kanaille …!!“

Seine Hand fuhr nach Ännes Kehle …

Mit der anderen stieß er zu …

Lachte schrill …

Ein Satanslachen …

Klirrend fiel Ännes Taschenlampe auf die Steinfliesen …

Erlosch …

Stille …

Nur noch im Finstern des Unholdes keuchendes Atmen …

Dann blitzt ein Zündholz auf …

Eine Laterne wirft rötlichen Schein auf den reglosen Körper eines jungen Weibes …

* * *

Die Geschwister Stuckner und Egon Eggert hatten den Abend in einem Kabarett der Friedrichstadt verbracht, waren dann noch in einem Café gewesen und schritten jetzt in der winterklaren Nacht durch die Bellevuestraße dem Tiergarten zu, um noch etwas frische Luft zu schöpfen.

An der Siegesallee blieb Margot plötzlich stehen …

Sagte ganz unvermittelt:

„Wißt ihr, – ihr könntet mir mal die Krumme Straße zeigen … Ich möchte mir die Häuser Nr. 8 und 9 wenigstens von außen ansehen …“

Benno schüttelte bedenklich den Kopf …

„Zu riskant, Margot …! Wenn zum Beispiel die Schwestern Holm zufällig gerade …“

„Unsinn!! Zufällig! – Auto – – halt!“

Gegen Margot war nicht aufzukommen …

Egon zuckte die Achseln …

„Sie tragen die Verantwortung, Margot!!“

„Trage ich!!“

Sie stiegen ein … Eggert befahl dem Schofför: „Krumme Straße Nr. 1 …!“

Benno Stuckner meinte brummig, als das Auto ruckte:

„Wenn Harst uns bemerkt, können wir uns auf was gefaßt machen!!“

Margot lachte … „Harst ist auch nicht allgegenwärtig!“

„Weiberlaunen!!“

„Bitte, etwas höflicher, Benno … Diese Laune ist nichts im Vergleich zu einem Frühschoppen, der sich bis in die Nacht ausdehnt!“

Da hielt Benno es für ratsam, zu schweigen …

Eggert desgleichen …

Und Margot dachte: „Wenn wir nur das Glück hätten, den Schwestern zu begegnen … Diese Änne möchte ich mir so gern anschauen … Natürlich hat Egon sie geküßt – – natürlich! Und – – ich?! Ich … muß mit seiner sogenannten Jugendfreundschaft fürlieb nehmen … ich – – Margot Stuckner!!“

Sie … liebte Eggert …

Hatte ihn schon als Backfisch angehimmelt, wenn er auf dem Gute als Gast weilte …

Sie preßte die Lippen aufeinander …

Und jetzt – jetzt war aus dem unreifen Mädel ein reifes junges Weib geworden …

Jetzt litt Margot Stuckner unter dieser Kälte des einen Mannes, den sie … begehrte …

Hier dicht neben ihr saß er im Auto … So dicht … Im Dunkeln …

Ahnte er wirklich nicht, wie’s um sie stand?! Ahnte er nicht, daß nur die Eifersucht sie jetzt nach jener Straße trieb?!

War sie ihm gleichgültig?! Hatte sie … nichts zu hoffen?! Sollte sie ihr Dasein dort in der grünen Einsamkeit des Gutes ihres Bruders in unbefriedigtem Sehnen vertrauern?! Denn – einen anderen heiraten?! Niemals – niemals!!

Und unwillkürlich stahl sich jetzt ein Seufzer über ihre Lippen …

Egon hörte ihn …

Wandte den Kopf …

Gerade da fuhr ein anderes Auto vorüber …

Die Scheinwerfer beleuchteten zwei Gesichter – zwei Augenpaare, die, noch soeben in Dunkel gehüllt, ihren Ausdruck nicht in gesellschaftlicher Heuchelei gemeistert hatten …

Diese Augenpaare starrten sich an …

Einen Moment …

Dann wieder die Dunkelheit …

Und doch hatte dieser Moment genügt …

Egon Eggert hatte Margots Geheimnis erraten … Aus ihren Augen hatte ihm Liebe entgegengestrahlt …

Liebe … Und – wenn eine Margot Stuckner liebte, dann hieß das: Ich bin dein – ganz dein … Bin deine Geliebte, deine Freundin, deine treue verständige Lebenskameradin!

Es gab nur eine Margot …

Noch nie hatte Egon – und er kannte übergenug junge Damen der verschiedensten Gesellschaftskreise – ein Weib von so ausgesprochener Eigenart angetroffen, noch nie eine so gesunde Vollnatur, noch nie einen solchen Mangel an Koketterie, eine so selbstbewußte Ruhe und kraftvolle Grazie …

Noch nie …! Und doch, – gerade die Vertrautheit mit allen Eigentümlichkeiten der Jugendfreundin hatten ihn bisher gleichsam blind gemacht für das seltene Glück einer Ehe, das ihm hier mit reinen Händen dargeboten wurde …

Gerade diese Vertrautheit hatte ihn Margot als Weib gleichsam übersehen lassen …

Ein flüchtiger Gedanke an die blonde Änne irrte jetzt noch durch das Reich seiner jüngsten Erinnerungen.

Flüchtig – voller Wehmut trotzdem …

Änne – – eine Diebin!! Undenkbar fast … Undenkbar fast, daß er dieses Mädchen geküßt hatte … Aber – sich zum Richter über sie aufwerfen, nein, das konnte er nicht! Er ahnte, daß ihre Schuld geringer als es jetzt scheinen mochte …

Und – so begrub er diese kurze Episode, die er Änne Holm nannte, hier in dem rasch dahingleitenden Auto, um einer anderen willen für immer … –

Das Auto hielt …

Benno bezahlte …

Egon stand neben Margot …

Auf der anderen Straßenseite zwei Paare … Arm in Arm …

Egon schaute schärfer hin …

Und Margot – hastig rasch begreifend:

„Die Schwestern?“

„Ja …“

„Oh – – und wieder in Herrenbegleitung …!! Da – – betrunken sind diese Kavaliere … Der eine liegt im Schnee … – – widerwärtig!“

„Ich denke, wir fahren mit demselben Auto gleich wieder heim …“

„Nein!“ Margot blickte den beiden Paaren nach … Die verschwanden jetzt um die Straßenbiegung …

„Nein …!“ wiederholte sie … „Wir werden warten, bis sie in Nr. 9 verschwunden sind … Und dann suchen wir uns den Schließer, lassen uns das Haus öffnen und werden Harst benachrichtigen – oben im ersten Stock bei Winkler … Benachrichtigen, daß die … Damen zwei neue Opfer gefunden haben!“

„Margot, – – wir …“

„Ich tue es …! Sie werden doch wohl einsehen, Egon, daß diesen Schwestern schleunigst das Handwerk gelegt werden muß – – schleunigst!!“

Benno Stuckner hob nur die Schultern – – bis zu den Ohren …

Gegen sein Schwesterlein ankämpfen – unmöglich!!

So schritten sie denn in die Krumme Straße hinein.

Auf der anderen Seite entlang – schauten zu den Fenstern empor …

Waren vorüber …

„Nun der Schließer!“ sagte Margot …

„Da werden wir lange suchen können,“ brummte Benno …

„Dann suchen wir eben lange …!“

„Weiberlaunen!!“

„Benno!!“

„Na ja – – meinetwegen …! Wenn ich nur meine Brieftasche zurückbekomme …!“

Sie trafen einen Polizeiwachtmeister. Der beschrieb ihnen den Häuserblock, den der Schließer versorgte …

Sie suchten …

* * *

Im Salon der Schwestern Holm lagen die beiden Balkanesen in den Klubsesseln – – schnarchten, die Beine weit von sich gestreckt, die Köpfe auf die Brust gesunken …

Aber – die rechten Hände unter den Jackenaufschlägen … In diesen Händen die kleinen schwarzen Kugelspeier …

Und … blinzelten durch die Wimpern nach der Tür.

Von dorther mußte Palargo kommen …

Vielleicht gleichzeitig mit Änne … –

Evi hatte sich in die Sofaecke gesetzt …

Blaß – fiebernd vor Erwartung …

Kein Entrinnen mehr für den … den Satan …

Die Polizei draußen …

Die Polizei, die auch sie und Änne vielleicht mit davonführen würde – und auch die unglückliche Schwester, Palargos Frau …

Vielleicht, – – falls Harst nicht eingriff …

Evi starrte auf die Tür …

Niemand kam …

Evi fühlte ihr Herz bis zum Halse klopfen …

Blickte auf die Armbanduhr …

Niemand kam …

Evi erhob sich … Sie taumelte fast … Ein wahnsinniges Angstgefühl schnürte ihr plötzlich die Kehle zusammen …

Hilflos blickte sie auf Harst … Der öffnete für Sekunden die Augen, schloß sie wieder … Seine Haltung gab Evi wieder Mut …

Sie setzte sich abermals …

Dann aber – nur Minuten später – packte abermals die ungewisse Angst nach ihrem pochenden Herzen.

Änne hätte längst, längst zurück sein müssen …

Wenigstens Änne …

Palargo konnte ja noch irgend eine Abhaltung haben.

Und – – da stand auch Harst schon plötzlich auf den Füßen …

„Schraut!“

Der schnellte hoch …

„Schraut … – Ernst von Rüthel, – – Palargo wird sein Verschwinden bemerkt haben …!!“

Die Freunde standen und blickten sich an …

Mit zwei Schritten war Evi neben ihnen …

„Sie … Sie haben Rüthel schon befreit?!“ Ihre Lippen waren farblos … Ihr Körper schwankte hin und her …

Dann – ein Aufschluchzen:

„Änne – – Änne!!“

Harst riß die kleine elektrische Lampe aus der Tasche.

„Schraut, – – Fenster auf …! Signal für Bechert – – unser Pfiff!“

Und er stürmte in das Hinterzimmer …

Evi ihm nach …

Die Wendeltreppe hinab …

Evis gellender Schrei hallte durch den Keller …

Ein Schrei, der bis nach draußen gehört wurde.

Evi war Harst in die Arme gesunken …

Wie von Sinnen lallte sie nur immer der Schwester Namen …

„Änne … Änne … Änne …“

Stierte auf die Gestalt dort auf dem Lumpenberg.

„Änne … Änne … Änne …“

Harst, der große, berühmte Harst, kam sich vor wie ein Mörder …

Niemals würde er’s vergessen, daß er die Schuld an diesem Morde trug, daß durch sein Versehen hier ein junges Geschöpf erbarmungslos hingeschlachtet worden war …

Er war blaß … Sein Gesicht wie versteinert … Er brauchte Minuten, bis er sich aufraffen konnte, bis er die zitternde Evi wieder die Wendeltreppe emportrug – hinein in den eleganten Salon, der jetzt von Menschen angefüllt war …

Da standen die Geschwister Stuckner, Eggert, Schraut, Kommissar Bechert und zwei andere Beamte.

Evi war inzwischen ohnmächtig geworden. Harst legte sie auf das Sofa …

„Änne ist tot,“ sagte er, indem er die Anwesenden nur mit einer Verbeugung begrüßte, – und seine Stimme klang verstört und wie durchzittert von schuldbewußtem Schmerz.

Margot Stuckner (sie und ihre Begleiter waren dem Kriminalkommissar gerade vor der Haustür begegnet und so mit in die Wohnung gelangt) – Margot Stuckner lehnte sich plötzlich in einer Anwandlung von Schwäche an Egon Eggert und flüsterte:

„Mein Gott – und … ich … habe noch soeben so … schlecht von dem Mädchen gesprochen … – Egon, ich möchte Änne sehen … Ich …“ – Sie weinte plötzlich leise in sich hinein …

Harst und Bechert wechselten rasch ein paar Sätze.

„Flucht ist ausgeschlossen,“ betonte der Kommissar … „Gehen wir in den Keller hinab …“

Schraut und Stuckner bemühten sich um Evi. Der Gutsbesitzer rieb ihr die Schläfen mit Kognak …

Harst und die Beamten begaben sich nach dem Hinterzimmer …

„Hier wohnte also der alte Landowsky,“ meinte Bechert leise. „Wo der Händler nur stecken mag …? Das Bett ist unberührt …“

Harst schaute ihn merkwürdig an … Schritt schon die Wendeltreppe hinab, erwiderte mit zurückgewandtem Kopf:

„Ich glaube, es gibt keinen Landowsky … Hat nie einen gegeben … Palargo spielte Landowsky …“

„Wie kommen Sie denn darauf?!“ sagte der Kommissar kopfschüttelnd …

„Oh – durch die Spuren im Schnee …! Palargos Fährte lief die Kellertreppe zur Produktenhandlung hinab … Davon später …“

Hinter Harst und den Beamten folgten ein wenig zögernd Margot und Egon.

Unten im Keller besichtigte Harst kurz die Tote … Auch Bechert hatte sich über den leblosen Körper gebeugt …

„Zwei Stiche ins Herz …,“ flüsterte der Detektiv … Und wieder bebte seine Stimme leicht.

Die beiden Kriminalassistenten durchsuchten die Kellerräume.

Harst und Bechert standen vor der Zinktonne …

Und Eggert und Margot hatten nun die Tote dicht vor sich, beschienen von dem gelblichen Licht der Gaslampe oben an der Decke, die Harst angezündet hatte.

Margot faltete unwillkürlich die Hände …

Tränen rannen ihr über die Wangen …

Eggert war wie betäubt …

Selbst im Tode hatte Ännes Gesicht noch den traurigen, tief melancholischen Zug bewahrt, und auch in den offenen, gebrochenen Augen lag ein Ausdruck erschütternder Seelenqual – nichts von dem Grauen der Todesangst …

Dann tastete Eggert nach Margots Hand …

Seine Finger waren eiskalt …

Margot nahm diese Hand und preßte sie innig …

Ihre Blicke begegneten sich …

Egon sagte ernst – nur für Margot verständlich:

„Nun werden wir beide ein neues Leben beginnen … Ich habe dich lieb, Margot …!“

Sie lehnte sich an ihn …

„Ich … war … so … eifersüchtig auf Änne … Arme, arme Änne …!“

Eggert legte den Arm um sie – ganz zart …

„Komm … gehen wir nach oben … Ich habe nun … Abschied von ihr genommen … Komm …“

Sie gingen … Die Treppe empor …

Selten wohl werden sich zwei Menschen in solcher Umgebung, unter solchen Umständen gefunden haben[10] … – –

* * *

Harst bückte sich und hob den Deckel der Tonne empor …

„Bechert, ich muß hier Komödie spielen …,“ meinte er gedämpft. „Wundern Sie sich nicht – über nichts.“

Und laut zu den beiden Assistenten:

„Hallo – hier scheint ein Durchschlupf durch diesen Berg von Lumpen und Papier zu sein …!“

Er kroch durch die Tonne …

Die andern hinter ihm drein …

Nun waren sie vor der Bretterwand … in dem schmalen Gang zwischen Mauer und der Kulisse der aufgetürmten Ballen …

Harst wandte sich nach links, wo die Geheimtür in der Mauer sich befand …

Rief wieder:

„Dachte ich’s doch! Eine Tür nach Palargos Kellerwohnung …!“

Er öffnete sie …

Dahinter ein Schrank mit beweglicher Rückwand … Die Schranktür verschlossen …

Man hörte drüben Stimmen … Das waren die Beamten, die Nr. 8 bewacht hatten und jetzt in die Kellerwohnung eingedrungen waren.

Harst klopfte gegen die Schranktür …

„Hallo – – aufschließen!! Harst!!“

Dann standen Bechert und der Detektiv in dem kleinen Schlafraum des Ehepaares Palargo.

Auf dem einen Bett lag eine blasse, verhärmte Frau, in einen Schlafrock gekleidet …

Einer der Beamten flüsterte:

„Sie gibt keine Antwort … Sie scheint krank zu sein …“

Harst trat an das Bett …

Und – erschrak …

Frau Anna Palargo besaß auffallende Ähnlichkeit mit Änne …:

Ähnlichkeit …

Doch – durch ihr blondes Haar zogen sich bereits graue Strähnen hin, und das Gesicht war von Falten durchfurcht wie das einer Greisin …

Ihre dunklen Augen stierten mit leerem Ausdruck zur Decke empor …

Sie schien weder zu sehen noch zu hören, was um sie herum geschah.

Harst rief sie an:

„Frau Palargo!!“

Nichts …

Kein Zeichen, daß sie die Worte vernommen …

Er rüttelte sie leicht …

Beugte sich über sie …

„Frau Palargo, – – erwachen Sie!! Sehen Sie mich an! Erwachen Sie!!“

Ein Ruck ging durch ihren Körper …

Bechert flüsterte: „Verstehe – – Hypnose!!“

Die Frau blickte verwirrt um sich …

Harst hatte sich auf den Bettrand gesetzt … Hatte die Hände der Frau ergriffen … Seine Stimme war sanft und freundlich …

„Frau Palargo, Sie haben nichts zu fürchten … Ihre Leidenstage sind vorüber … Ihr Mann wird Sie nicht mehr quälen …“

Der Blick der Ärmsten ruhte bewußt und doch wie erloschen auf dem Gesicht des ihr fremden Mannes …

„Es … ist … ja … alles so … gleichgültig,“ sagte sie tonlos …

Ihre Worte waren wie eine herbe Anklage gegen das Schicksal …

„Alles … so gleichgültig …,“ wiederholte sie … „Er … er … hat … uns … drei Schwestern … zugrunde gerichtet … Und – – ich habe ihn … geliebt … Ich kam nicht los von ihm … Er … er hat …“

Mit einem jammervollen Aufschluchzen warf sie sich in die Kissen zurück …

Harst erhob sich, flüsterte einem der Beamten zu: „Bleiben Sie bei ihr …“ –

Dann begann man von neuem die beiden Häuser 8 und 9 zu durchsuchen. Man fand Palargo nicht.

Ein Aufgebot von zwanzig Kriminalbeamten war zur Stelle. Man durchforschte jeden Winkel, jede Wohnung. Die Einwohner der beiden Häuser standen auf den Treppen umher. Alles war in Aufregung. Die Witwe Winkler erfuhr nun auch, wer ihre Mieter gewesen waren.

Palargo blieb verschwunden … –

Gegen sechs Uhr morgens waren im Salon der Geschwister Holm dann folgende Personen versammelt: Frau Anna Palargo, Evi, die beiden Detektive und Bechert sowie ein Kriminalassistent, der die Aussagen der Schwestern sofort zu Protokoll nehmen sollte.

Stuckners und Eggert hatten sich schon vor anderthalb Stunden entfernt. Die Leiche Ännes war in aller Stille fortgeschafft worden. Das Eingreifen der Mordkommission hatte sich als überflüssig erwiesen, da der Tatbestand völlig klar lag.

Evi hatte sich leidlich erholt. Frau Palargo zeigte dieselbe Teilnahmlosigkeit wie bisher und lag müde und abgespannt auf dem Sofa. Neben ihr im Sessel saß Evi.

Evi begann auf Becherts Fragen hin mit einer genauen Schilderung alles dessen, was hier erörtert werden mußte … –

Der praktische Arzt Doktor Holm, der in dem Berliner Vorort Zehlendorf gewohnt hatte, war 1923 kurz nach seiner Gattin verstorben und hatte seinen drei Töchtern lediglich die Einrichtung der Fünfzimmerwohnung hinterlassen.

Die Töchter hatten die Wohnung dann gegen eine kleinere in Berlin eingetauscht und von diesem neuen Heim zwei Zimmer vermietet, suchten sich durch Hausschneiderei und Handarbeiten durchzuschlagen.

Einer ihrer Mieter war Viktor Palargo, damals noch Agent einer Versicherungsgesellschaft.

Palargos äußere Erscheinung, seine tadellosen Manieren und sein bestechendes Wesen führten sehr bald zu einer gewissen Vertraulichkeit zwischen ihm und den Schwestern.

Allmählich verstand er es, die drei Geschwister für Okkultismus, Spiritismus und Hypnose zu interessieren und stellte mit ihnen hypnotische Experimente an.

Dann verlobte er sich mit der Ältesten, und in kurzem fand auch die Hochzeit statt.

Zu spät merkten die Schwestern, daß Palargo inzwischen über sie bereits eine unheimliche Macht gewonnen hatte. Sein suggestiver Einfluß auf die drei Mädchen war infolge der zahlreichen Einschläferungen, die er mit ihnen vorgenommen hatte, so groß geworden, daß er sie lediglich scharf anzusehen brauchte, um jede eigene Willensäußerung in ihnen zu ersticken.

Mit Entsetzen erkannten Änne und Evi dann eines Tages, daß sie völlig unbewußt in hypnotischem Zustand auf Palargos Befehl zu … Ladendiebinnen geworden waren.

Die Beute blieb jedoch stets gering, und die Gefahr erschien auch Palargo wohl in keinem Verhältnis zu dem Werte der gestohlenen Waren zu stehen.

Er änderte seine Pläne, mietete die beiden Keller, den einen unter der Maske Landowskys, eines früheren Händlers, dessen Papiere er sich irgendwie beschafft hatte, und tauschte die bisherige Wohnung gegen die im Hochparterre von Nr. 9 ein. Der wirkliche Josef Landowsky war schon vor Jahren in Hamburg verstorben.

Mit dem Tage, wo Palargo mit Frau und Schwägerinnen nach der Krumme Straße übersiedelte, begann für die drei Geschwister die Hölle auf Erden.

Palargo hatte Änne und Evi, denen er mit zynischer Offenheit stets ihre Ladendiebstähle vorhielt, genau so schrankenlos in seiner Gewalt wie seine Frau. –

Als Evi nun die Szenen schilderte, die sich in der Kellerwohnung abgespielt, wenn sie es einmal wagten, gegen Palargo irgendwie aufzutreten, – als Evi erzählte, daß dieser Unmensch sie mit einer Reitpeitsche geschlagen habe und in perverser Lust besonders sein armes Weib fast täglich gezüchtigt hatte, da rann es den Zuhörern mehr wie einmal eiskalt über den Rücken.

Palargos teuflische Schlauheit führte dann Änne und Evi in die Flamingo-Bar, wo er selbst eine Stellung als Oberkellner annahm.

Sträuben gab’s für Änne und Evi nicht … Wagten sie ihm zu trotzen, so unterlagen sie doch stets dem Einfluß seiner stechenden Augen, wurden zu willenlosen Marionetten, die alles taten, was er befahl …

So begann er denn die Gäste der Bar, die einen Beutezug verlohnten, auf seine Weise auszuplündern.

Gelang es ihm nicht, die Betreffenden zu hypnotisieren, so mußten Änne und Evi diese ahnungslosen Opfer ausforschen, um einen späteren Einbruchsdiebstahl möglich zu machen.

Den türkischen Arzt Doktor Mustafir hatte Palargo tatsächlich ermordet, da dieser hier in der Wohnung der Schwestern plötzlich Verdacht geschöpft hatte.

Die Mädchen hatten den Mord nicht verhindern können … Ebensowenig die schändliche Behandlung des Chemikers Doktor von Rüthel …

„… Wir waren zum Schweigen verdammt!“ rief Evi jetzt unter heißen Tränen. „Wir waren die Mitschuldigen dieses Ungeheuers und doch – – schuldlos!! Wir hatten keinen eigenen Willen mehr … Palargos Macht über uns war so groß, daß er uns sogar die Gedanken aus den Augen ablas … Einmal hatten wir alles zur Flucht vorbereitet … Anna wollten wir mitnehmen. Da … hypnotisierte er Anna und – sie gestand alles ein! Längst hätten wir uns ja an die Polizei gewandt, fürchteten aber, daß man uns nicht glauben würde, daß wir mit verurteilt werden würden. Wir waren in Wahrheit Verdammte, die in einer Hölle lebten …!“

Evi schlug die Hände vor das Gesicht …

Bechert tröstete die Weinende …

„Ihnen wir nichts geschehen … nichts … Sie hätten nur schon früher den Mut finden sollen, diese Ketten abzuschütteln … – Und jetzt, Fräulein Holm, eine andere Frage … Palargo ist nicht aufzufinden, wie Sie wissen … Ist Ihnen bekannt, ob er hier irgendwo ein Versteck vorbereitet hat?“

„Nein …! – Die Geheimtür nach Nummer 8 haben Sie ja entdeckt, Herr Kommissar …“

Harst hatte bisher geschwiegen …

Jetzt wandte auch er sich an Evi …

„Sie wissen also nichts von dem Zugang zum Keller der Witwe Winkler?“ fragte er …

„Nichts, Herr Harst …“

Bechert warf Harst einen erstaunten Blick zu …

„Ein Zugang?!“

„Ja, Bechert … Schraut und ich haben ja Rüthel nur auf diese Weise aufgefunden … – Palargo hält sich fraglos im Keller der Winkler verborgen …“

„Dann – vorwärts!“ rief Bechert energisch … „Wir werden …“

„… Sie werden ihn dann niemals lebend fangen, lieber Bechert … Er ahnt nicht, daß Schraut und ich das Schlupfloch zum Keller der Winkler kennen … Er wird dort in einer der Kisten stecken … – Warten wir also bis zur nächsten Nacht … Dann wird er sich ins Freie wagen … Dann … haben wir ihn lebend … Ihm soll keine Zeit bleiben, etwa Selbstmord zu begehen … Dieses Scheusal gehört auf den Richtblock.“

Und zu Evi und Frau Anna:

„Wenn es Ihnen recht ist, bringe ich Sie beide jetzt zu meiner Mutter … Sie müssen völlig heraus aus dieser Umgebung … Sie sollen vergessen lernen … In meinem alten behaglichen Familienhause werden Sie in der Gesellschaft meiner gütigen Mutter rasch wieder aufleben …“ –

Ein Auto führte die beiden Schwestern und die Detektive nach Schmargendorf, Blücherstraße 10 …

Der neue Tag war schon angebrochen … Ein klarer Wintertag, der Sonne und Windstille verhieß …

Doktor von Rüthel hatte das Haus auf Harsts telephonische Mitteilung hin, daß der Chemiker heimkehren könne, bereits verlassen, so daß Evi der Demütigung entging, ihm hier zu begegnen.

Frau Auguste Harst nahm die Geschwister auf das liebevollste auf, und auch die alte Köchin Mathilde sorgte aufs beste für die Unterbringung dieser beiden Bedauernswerten, denen das Leben so hart mitgespielt hatte. –

Harald Harst und Schraut saßen dann gegen acht Uhr früh in Harsts Arbeitszimmer beim Kaffee.

Besprachen den Fall Palargo auf ihre Art …

Harst erklärte unter anderem, daß Ännes Tod ihm eine Lehre für die Zukunft sein würde – eine ernste, traurige Lehre …

„… Wir beide haben nicht daran gedacht, mein Alter, daß Palargo durch das Verschwinden Rüthels argwöhnisch werden mußte … Und – ich habe Änne in den Tod geschickt, als ich duldete, daß sie allein in den Keller hinabstieg …“

Er rauchte mit versonnenem Gesicht seine Zigarette … Sie schmeckte ihm heute nicht …

Nachher legten die Freunde sich zu Bett, um den Schlaf zweier durchwachter Nächte nachzuholen …

* * *

Auch dieser Tag verging …

Nachmittags zog Schneegewölk auf …

Um sieben Uhr schüttete Frau Holle wieder in verschwenderischer Fülle ihre weißen Flocken über Berlin aus … –

Im Keller der Witwe Winkler nagten ein paar hungrige Mäuse an einer alten Speckschwarte, die irgendwie hierher zwischen die Preßkohlen geraten war.

Dunkel war’s im Keller …

Nur das Fenster oben unter der Decke zeichnete sich als helleres Viereck ab …

Plötzlich huschten die Mäuslein davon …

Ein Geräusch hatte sie verscheucht …

Ebenso plötzlich blitzte ein dünner Lichtstrahl auf …

Neben den Preßkohlen bewegte sich ein Teil des Mauerwerks … Es war die Außenmauer nach dem Hofe zu.

Eine Gestalt trat gebückt aus dem Erdloche hervor.

Palargo – – in der Verkleidung als Landowsky.

Palargo blickte durch das Fenster hinaus …

Das Fenster hatte er schon früher gelockert – damals, als er sich hier diesen Schlupfwinkel schuf …

Er öffnete das Fenster …

Hob das Gitter heraus …

Palargo nahm den falschen Bart und die Perücke ab, faßte in die Tasche seines Pelzes und streifte einen schwarzen Vollbart über, der sich mit Draht an den Ohren befestigen ließ.

Der Verbrecher zitterte vor Kälte …

Mit zitternden Fingern setzte er nun auch eine Hornbrille auf, drückte die Reisemütze tiefer in die Stirn …

Stellte eine Kiste unter das Fenster, stieg hinauf …

Horchte …

Alles still …

Gewandt kroch er durch das Fenster, richtete sich schnell auf …

Nur fünf Schritte bis zur Hoftür … Dann in den Flur …

Seine rechte Hand hatte er in der Pelztasche um die Mauserpistole gekrallt …

Lebend fing ihn niemand …

Ruhig durchschritt er den Flur, erreichte die Straße.

Ein paar Leute gingen vorüber …

Beachteten ihn nicht …

Er atmete auf …

Sein Schritt wurde hastiger …

Er wandte sich nach rechts … Dort glühten die Laternen eines Autos durch das Schneegestöber …

Palargo fragte den Schofför: „Frei?“

„Jawohl, Herr …“

„Potsdamer Bahnhof – rasch!“

Er stieg ein …

Wollte einsteigen …

Hatte die Tür geöffnet …

Ein Mann packte seine Arme …

Der Schofför packte gleichfalls zu … Menschen tauchten auf …

Palargo fand doch noch Zeit, abzudrücken …

In der Tasche …

Quer durch den Leib schlug das Geschoß …

Palargo fühlte den Schmerz, lachte dem Manne ins Gesicht, der im Auto gesessen hatte …

„Nicht ganz gelungen, Herr Harst …! Ich werde nur noch die Ärzte, aber nicht mehr den Scharfrichter bemühen!!“

Er wurde denn auch in ein Krankenhaus geschafft. In seinem Pelz fand man einen großen Teil der Beute, die er seinen Opfern abgenommen hatte, so auch Benno Stuckners Brieftasche.

Da die Pistolenkugel die Därme mehrfach zerrissen hatte, war Hilfe unmöglich. Man machte Palargo eine starke Morphiumeinspritzung, und zwölf Stunden später starb er, ohne auch nur im geringsten seine Schandtaten bereut zu haben. Nicht einmal seine arme Frau hatte er irgendwie erwähnt. Seine Gewissenlosigkeit und Roheit, seine zynische Frechheit und unbegreifliche Gleichgültigkeit selbst gegenüber dem Tode, ließen vermuten, daß er zum mindesten geistig nicht ganz normal gewesen war.

* * *

An einem der nächsten Tage waren Harst und Schraut einer Einladung des Gutsbesitzers Stuckner zu einer stillen Verlobungsfeier in einem Weinrestaurant der Friedrichstadt gefolgt.

Margot, die jetzt als Eggerts Braut ihre etwas burschikose Art völlig abgelegt hatte, war es dann, die dem Bruder vorschlug, Frau Palargo und Evi, deren Nerven unbedingt Ruhe und frische Luft brauchten, mit nach dem Gute zu nehmen …

Sehr ehrlich begründete sie diesen ihren Vorschlag damit, daß sie an den Geschwistern vieles gutzumachen habe, über die sie so vorschnell den Stab gebrochen, ohne die näheren Umstände zu kennen.

Benno Stuckner war auffallend schnell bereit, Margots menschenfreundlichen Gedanken in die Tat umzusetzen …

„… Es sind ja gebildete Damen,“ betonte er. „Und ihre Vergangenheit ist nicht ihre Schuld … Da geben Sie mir doch recht, Herr Harst …“

„Vollkommen, Herr Stuckner,“ nickte der Detektiv. „Sie tun ein gutes Werk, wenn Sie diesen Ärmsten beweisen, daß nicht nur Schraut, meine Mutter und ich sie aufrichtig bedauern[11] und sie wieder in die Kreise zurückführen wollen, denen sie einst angehörten … Ich würde Ihnen nur raten, die beiden Schwestern gleichsam inkognito, also unter anderen Namen, Ihren Bediensteten vorzustellen, damit nicht Neugier und Klatschsucht das Gute verdirbt, das Ihr Fräulein Schwester beabsichtigt.“

Margot reichte Harst die Hand …

„Genau dasselbe habe ich gewollt – genau dasselbe … Am einfachsten wäre es“ – sie wandte sich an Egon Eggert – „die beiden Damen als Verwandte von dir zu bezeichnen … Jetzt, wo wir verlobt sind, Egon, wird es ganz natürlich erscheinen, daß Verwandte von dir uns zur Erholung besuchen …“

Eggert war sofort einverstanden … Und dies um so mehr, als er auf diese Weise den Schwestern der blonden Änne einen geringen Liebesdienst erweisen konnte … – genau wie er schon Ännes Beerdigung auf seine Kosten in würdigster Form hatte stattfinden lassen …

* * *

Drei Monate später …

Auf dem Gute Benno Stuckners meldete sich der Frühling mit Macht …

Im Gutspark pfiffen die Stare, und über den grünen Feldern jubilierten bereits die Lerchen …

Margots Hochzeitstag war’s …

Sonniger, klarer Himmel … Milde, würzige Luft, die den Menschen Liebessehnsucht ins Herz goß …

Frau Anna Palargo, jetzt kaum wiederzuerkennen, befestigte gerade den Kranz und den Schleier auf der glücklichen Braut blonder Haarfülle, als Hand in Hand Benno und Evi mit erregten Gesichtern und strahlenden Augen ins Zimmer stürmten …

„Margot – – du kannst uns gratulieren,“ rief Benno lachend … „Rate mal, wozu?!“

Das holde Bräutchen lachte gleichfalls …

„Haltet ihr mich für blind?! Ich hätte euch diese Überraschung schon in Berlin prophezeien können – schon als Benno es so eilig hatte, Evi und Anna hier aufs Land zu entführen!“

Benno machte ein verdutztes Gesicht …

„Komisch,“ meinte er … „Wir trafen soeben im Flur unsere Hochzeitsgäste Harst und Schraut … Und Harst sagte genau dasselbe wie du, Margot: daß er diese Verlobung vorausgesehen habe!“

„Wozu nicht viel Scharfsinn gehörte!“ neckte Margot und küßte Evi auf den Mund. „Freilich – mit Scharfsinn bist du nicht gesegnet, Brüderlein … Dafür hast du einen ausgesprochenen Sinn für … Schafzucht!“

Alles lachte …

Selbst Frau Anna Palargo …

Es gab keine Hölle der Verdammten mehr … Es gab nur noch glückliche, zufriedene Menschen …

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „noch“.
  2. Das Ständchen Komm herab, o Madonna Teresa aus „Don Cesar“ (1885), einer Operette von Rudolf Dellinger, Libretto von Oscar Walther, war bereits vor der Schallplattenaufnahme mit dem Tenor Joseph Schmidt (Parlophon 1933) zu einem richtigen Schlager geworden.
  3. In der Vorlage steht: „errinnert“.
  4. In der Vorlage steht: „half“.
  5. In der Vorlage steht: „er“.
  6. In der Vorlage steht: „dessenwegen“.
  7. „Ein Walzertraum“ (1907), Operette von Oscar Straus, Libretto von Felix Dörmann und Leopold Jacobson.
  8. In der Vorlage steht: „vollgepropft“.
  9. In der Vorlage steht: „Soeebn“.
  10. Doppeltes Satzfragment: „Umständen gefunden haben …“ entfernt.
  11. In der Vorlage steht: „bedauere“.