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Die Kreuzspinne

 

 

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

 

Band 381 (Band 13)[1]

 

Die Kreuzspinne

 

Roman von

Wally Lebka

 

Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H.
Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die unbezahlte Rechnung.

Frau Tessa von Grüttner schaute den kleinen aufgeregten Herrn belustigt an und sagte mit feiner Ironie:

„So nehmen Sie doch bitte Platz, Herr Silberstein. Ein Mann von Ihrer Bedeutung wird noch nicht wie irgend ein Handwerker gleich grob werden, wenn’s mit dem Bezahlen einer Rechnung nicht recht klappt. Wir können die Angelegenheit doch in Ruhe durchsprechen.“

Der Inhaber des großen Modehauses schäumte jetzt förmlich vor Wut. Aber er beherrschte sich. Er schluckte die grobe Antwort, die er schon auf der Zunge hatte, wieder hinunter – vorläufig! Man konnte ja nicht wissen: vielleicht stand’s mit diesen Grüttners doch nicht so schlecht, wie ihm die Auskunft heute früh mitgeteilt hatte.

Er setzte sich also wirklich auf einen der vergoldeten Stühle des eleganten Damensalons und erklärte verlegen und unsicher:

„Ich betone nochmals, gnädige Frau, – ich muß bis spätestens morgen abend mein Geld haben! Ich muß! – Ihre Rechnung beträgt 14 752 Mark. Ich – kann nicht länger warten. Heutzutage arbeiten wir mit so geringem Gewinn in meiner Branche –“

„– mit 200 Prozent mindestens,“ warf die schöne Frau lächelnd ein.

Silbersteins mageres Vogelgesicht rötete sich.

„200 Prozent!“ stieß er hervor. „Keine Rede – keine Rede!“

„So?! – Ich könnte Ihnen das beweisen, lieber Herr Silberstein – Tatsache! Ich bin nicht so geschäftsunkundig wie Sie denken. Sie werden das ja auch sofort merken. – Bitte hören Sie mich ruhig an. Ich bin vor drei Monaten mit meinem Mann hier nach Berlin gekommen, nachdem wir unser Rittergut verkauft hatten.“

Silberstein konnte sich jetzt doch nicht beherrschen, ließ ein höhnisches Meckern dem Gehege seiner von Goldplomben glänzenden Zähne entfliehen und sagte geringschätzig:

„Rittergut?! – Ich weiß Bescheid! 1200 Morgen Sandboden in Westpreußen – e feines Gut! Ihr Mann hat’s gekauft vor ’m halben Jahr für 28 000 Mark mit 5000 Mark Anzahlung von ’m kassubischen Bauern! – E feines Gut, wo nicht stand e einziges Pferd im Stall und wo waren im Wohnhaus die kaputten Fenster mit Papier verklebt.“

Frau Tessa von Grüttner nickte und seufzte.

„Ja – es war ein kolossaler Reinfall,“ meinte sie. „Wir waren froh, als wir’s für das Doppelte an Herrn Alfons Scheibek losschlugen, der im Kriege ein paar Milliönchen zusammengeschoben hatte und den lediglich an dem Titel Rittergutsbesitzer etwas lag. – Wir sind jedoch vom Thema abgekommen, Herr Silberstein. Wir zogen also nach Berlin und mieteten diese möblierte Wohnung von einem Landgerichtspräsidenten a. D., der mit seiner Pension allein hätte verhungern müssen. Gott ja – bei den jetzigen Zeiten! Jedenfalls war er froh, daß wir für ein Jahr 10 000 Mark bezahlten und daß er mit seiner Frau zu seiner verheirateten Tochter ziehen konnte. Das heißt – wir wollten 10 000 Mark bezahlen. Bisher hat er leider nur 1000 Mark erhalten können, da mein Mann in einem hiesigen Spielklub so unglaubliches Pech hatte, daß wir bereits vier Wochen nach unserer Ankunft hier völlig mittellos dastanden.“

Moritz Silberstein fuhr hoch.

„Völlig – mittellos!“ stammelte er entsetzt. „Und – und da – haben Sie bei – mir für 14 752 Mark Waren entnommen?! – Völlig mittellos –!“ Er sprach immer schneller und fließender. „Das – das ist Hochstapelei! Das ist Betrug! Sie haben sich bei mir als Frau Rittergutsbesitzer eingeführt –“

„– was ich damals noch war. Die Auflassung erfolgte erst vierzehn Tage später,“ fiel ihm Frau Tessa ins Wort. „Im übrigen, Herr Silberstein, habe ich zuerst das Gekaufte bezahlt –“

„Bezahlt –! E reiner Witz! 400 Mark haben Sie bezahlt!“

„Ja – bis Sie selbst mir den Pelzmantel für 8000 Mark förmlich aufdrängten, obwohl ich betonte – in Zeugen Gegenwart, Herr Silberstein! – daß ich ihn vorläufig nicht –“

Moritz Silberstein wurde blaß. – Himmel – das stimmte! Dies verfluchte Weib hatte den Pelzmantel nur auf sein Drängen gekauft –!

„Setzen Sie sich doch wieder, lieber Herr Silberstein,“ meinte Frau von Grüttner mit überlegenem Spott. „Sie regen sich dieser Kleinigkeit von rund 15 000 Mark wegen zu sehr auf. Das könnte Ihnen schaden. Einer der Jüngsten sind Sie ja nicht mehr, Herr Silberstein. – Kommen wir zu Ende mit dieser peinlichen Erörterung. Die Beleidigungen – Hochstapelei, Betrug –, die Sie vorhin ausstießen, werden natürlich ein gerichtliches Nachspiel haben. Ich würde sie Ihnen verzeihen, aber mein Mann ist in solchen Dingen sehr empfindlich, dürfte sie mitangehört haben – er sitzt im Nebenzimmer und wird sich von mir kaum beschwichtigen lassen. – Mit dem, was Sie mir dann noch geliefert haben, Herr Silberstein, verhält es sich genau so wie mit dem Pelzmantel. Mir gefielen die Sachen, und Sie waren es dann stets, der mich bat, sie zu erwerben; mit der Bezahlung hätte es ja Zeit!“

Moritz Silberstein trocknete sich den Schweiß von der Stirn. – Beleidigungsklage – auch das noch! – Dieses dreimal vermaledeite Weibsbild! Oh – daß all das gerade ihm passieren mußte – gerade ihm!

„Kurz und gut,“ fuhr Frau Tessa fort „Sie waren es, der mich zu diesen Einkäufen bei Ihnen bestimmte. – Die Sachlage ist nun die: ich besitze nichts, und mein Mann erst recht nichts. Zur Zeit leben wir von dem Erlös Ihres – oder besser des bei Ihnen gekauften Pelzmantels! Es ist ja jetzt April. Ich brauchte ihn nicht mehr.“

Silberstein hatte einen Ton ausgestoßen wie das dumpfe Brüllen eines Ochsen, dem man einen Erkennungsstempel auf den Hinterschenkel brennt und der diese schmerzhafte Prozedur wehrlos erdulden muß.

Er schnappte dann nach Luft, sprudelte hervor:

„Sie – Sie sollen mich kennen lernen! Mein Rechtsanwalt wird gegen Sie –“

Frau Tessas silberhelles Lachen ließ ihn schweigen.

„Rechtsanwalt – Rechtsanwalt?“ meinte sie. „O mein lieber Herr Silberstein, ich hätte Sie für klüger gehalten. Glauben Sie, daß Ihr Anwalt bei dieser Sachlage etwas ausrichtet?! – Aber – bitte – es steht Ihnen frei, mich zu verklagen. Mir kann es nur lieb sein. Ich muß nämlich ohnedies am 22. dieses Monats den Offenbarungseid schwören. Dann kann Ihr Anspruch gleich mit einbezogen werden. Dann bin ich Sie für alle Zeiten los.“

Silberstein glotzte die schlanke Frau mit dem dunklen gewellten Cleo de Merode-Scheitel aus vorquellenden Augen wie eine Geistererscheinung an.

„Wenn ich Ihnen denselben Rat geben darf, lieber Herr Silberstein, den ich bereits dem Inhaber des Schuhgeschäfts „Sirius“, dem Delikateßwarenhändler Mangler und sechs anderen Kaufleuten gab, so empfehle ich Ihnen, uns nicht zu verklagen, denn – dann bekommen Sie vielleicht Ihr Geld – vielleicht. Klagen Sie aber, so können Sie genau wie die eben genannten acht Herren Ihre Rechnung sich einrahmen lassen – zum Andenken an mich!“

Moritz Silberstein beleckte sich die trockenen Lippen. Aber – er gab den Kampf noch nicht auf!

„Ich werd’ Sie verklagen!“ sagte er jetzt mit unnatürlicher Ruhe. „Und ich werd’ Sie anzeigen der Staatsanwaltschaft – von wegen dem verkauften Pelzmantel!“

Er griff nach seinem Hut. „Sie werden sehen,“ fügte er giftig hinzu, „– ich bring’ Sie ins Loch! Mein Rechtsanwalt –“

„– heißt Wolfsberg –, das weiß ich ja alles, lieber Herr Silberstein. Sogar noch viel, viel mehr weiß ich! So zum Beispiel, daß der Pelzmantel, den Sie mir aufgedrängt haben, nebst einem halben Waggon anderer Luxusartikel unverzollt von Holland eingeschmuggelt worden ist. – Woher ich das weiß?! Ja, denken Sie: von Ihrem Anwalt, von Wolfsberg, der freilich nicht ahnt, daß ich bei Ihnen Kundin bin und der mir so etwas den Hof macht. Männer, die verliebt sind, lassen sich leicht ausholen. Wolfsberg ist schlau, ohne Frage, nur nicht schlau genug für mich. Er kennt Ihre Geschäftsgeheimnisse, er kennt übergenug von Ihren Machenschaften, um einen Staatsanwalt ein volles Jahr damit zu beschäftigen. – Legen Sie Ihren Hut nur wieder hin. Ich möchte Ihnen nämlich folgendes vorschlagen. Sie leihen mir auf einen Dreimonatswechsel 25 000 Mark. 40 000 Mark erhalten Sie zurück. Ich habe nämlich ein sehr – sehr sicheres Geschäft in Aussicht bei dem ich Millionen verdienen werde. Mir fehlt nur das nötige Kleingeld.“

Moritz Silberstein war sprachlos. Er stierte die lässig in einer Sofaecke dasitzende schlanke Frau abermals ganz fassungslos an. Durch das eine Fenster fiel ein breiter Sonnenstreifen auf das Haupt des eleganten Weibes, ließ den Strich des gescheitelten Haares weißlich schimmern und die kleinen Steine des schmalen Goldreifens sprühen, der sich quer über den Scheitel aus dem Mittelkopf von Ohr zu Ohr zog, so daß Scheitellinie und Goldreifen ein Kreuz bildeten.

Ein seltsamer Gedanke zuckte plötzlich in Silbersteins Hirn auf:

„Eine gefährliche Spinne ist’s – eine richtige Kreuzspinne, dieses raffinierte Weib, – so eine von der Art, die sicher schon manches Opfer in ihr Netz gelockt und ihm dann das Blut ausgesogen hat!“

Wieder das silberhelle Lachen jetzt.

„Was starren Sie so auf meinen Haarreifen, Herr Silberstein?! O – er ist unecht, genau wie diese Ringe, diese Armbänder, – wie ich selbst!“

„Kreuzspinne!“ flüsterte Silberstein gegen seinen Willen, biß sich dann auf die Lippen und sagte lauter:

„Es hat keinen Zweck, mit Ihnen vernünftig reden zu wollen. Sie werden sich doch wohl selbst klar darüber sein, daß ich eher die 25 000 Mark in die Spree schmeißen würde, als sie Ihnen –“

„Halt – halt, – seien Sie vorsichtig!“ rief Frau von Grüttner dazwischen. „Gestern abend war ich mit Staatsanwalt Veltmann bei Kommerzienrat Partenklau zusammen. Und heute nachmittag kommt er zu mir zum Tee. Vielleicht zeige ich ihm das Spitzenkleid, das ich als letztes von Ihnen kaufte, und lasse es ihn taxieren: vielleicht bringt es der Zufall dann mit sich, daß wir auf eine gewisse Art von Wareneinfuhr über die holländische Grenze … – Ist Ihnen so heiß, lieber Herr Silberstein? – Oh – zur Abkühlung dürfen Sie jetzt auf Ihre Bank gehen und die 25 000 Mark holen. Inzwischen fülle ich das Wechselformular aus. Ich gebe Ihnen übrigens mein Ehrenwort, daß Sie 40 000 bestimmt zurückerhalten. – Gehen Sie nur! Sie sehen ganz angegriffen aus. In einer Stunde können Sie wieder hier sein. – Auf Wiedersehen, lieber Herr Silberstein –“

Und Moritz Silberstein machte wirklich eine sehr unbeholfene Kehrtwendung wie ein Trunkener und verließ den Salon und die Wohnung.

 

2. Kapitel.

Das Tippfräulein.

Unten im Flur blieb er stehen, murmelte: „Bin ich verrückt – ist die ganze Welt plötzlich verrückt geworden?! Habe ich das wirklich soeben alles erlebt?!“

Dann ballte er die Hände zu Fäusten, schüttelte die Arme in einem Anfall maßloser Wut und zischte:

„Satan – schöner Satan –! Warte – ich will – ich –“

Die Arme sanken wieder herab.

„Gott der Gerechte – ich muß ja – ich muß ihr das Geld geben! Dieser Wolfsberg, dieser alte Schürzenjäger, dieser –!“ Er fand so schnell keine Beschimpfung, die für seinen Anwalt genügt hätte.

Dann – seufzte er geradezu kläglich und trat auf die Straße hinaus.

Bis zu seinem Geschäft am Kurfürstendamm waren’s nur drei Minuten. Er rannte jetzt förmlich weiter, rannte durch den hocheleganten Laden bis in sein Privatkontor, sank hier wie vernichtet in einen Klubsessel.

An dem großen, nach dem Hofe hinausgehenden Fenster saß vor der[2] Schreibmaschine ein blondes Mädchen mit überzartem Gesicht – Silbersteins Korrespondentin Melanie Müller.

Mela hatte sich beim Eintritt des Chefs umgewandt.

Und Moritz Silberstein schaute sie nun wie hilfesuchend an, sagte mit schwerer Zunge:

„Hab’ ich der Frau von Grüttner – Sie wissen, der mit dem Scheitel und dem Zigeunergesicht – wirklich hier damals zugeredet, daß sie den Pelzmantel kaufen sollte, Fräulein Müller? Sie waren doch dabei, als –“

Mela Müller hatte schon genickt. „Sie haben sogar sehr zugeredet, Herr Silberstein.“

„Ochse – Ochse!“ brummte der Chef und seufzte wieder. „Fräulein Müller, Sie müssen mal zur Bank – sofort. 25 000 Mark brauch’ ich. Beeilen Sie sich aber. Und – dann bringen Sie das Geld nach der Gervinusstraße[3] 11 zu Frau von Grüttner. Sie wird Ihnen einen Wechsel aushändigen. – Aber – schweigen Sie, Fräulein Müller! Na – Ihnen brauch’ ich das nicht mehr zu sagen. Sie sind keine Plaudertasche.“

Mela Müller nahm ihren billigen Mantel vom Kleiderhaken, setzte dann auch den schlichten grauen Filzhut auf.

Silberstein beobachtete sie. – „Fräulein Müller, Sie sollten sich besser pflegen,“ meinte er. „Sie werden jeden Tag schlanker. – Wie geht’s Ihrem Vater übrigens?“

„Immer dasselbe,“ erwiderte sie leise und mit einer trostlosen Gleichgültigkeit.

Dann verließ sie das kleine Zimmer. –

Neben dem Damensalon mit den vergoldeten Stühlen lag das Herrenzimmer dieser möblierten Wohnung, die das Ehepaar Grüttner nun morgen verlassen mußte, da der Präsident Merkler endlich einen Exmissionsbefehl erreicht hatte.

Frau Tessa hatte kaum gehört, wie Silberstein die Flurtür ins Schloß warf, als sie auch schon hastig sich erhob und das Herrenzimmer betrat, wo auf einem altmodischen Paneelsofa ein Herr mit stark verlebtem, aber recht aristokratischem Gesicht mit der Zigarette im Mundwinkel lag, während ein zweiter, offenbar jüngerer Mann in einem Klubsessel ebenfalls mehr lag als saß und die Beine sehr weit ausgestreckt hatte, so daß das Sonnenlicht von der Seite seine tadellosen Lackknopfstiefel traf, die ohne Frage ein Beamten-Monatsgehalt gekostet hatten.

Der auf dem Sofa war Herr Theo von Grüttner, der letzte Träger eines vor Zeiten sehr angesehenen Adelsnamens, den man jetzt jedoch zusammen mit einer Photographie und genauestem Signalement in einem Album verewigt finden konnte, das in der Kriminalabteilung der Kriminalpolizei der Reichshauptstadt aufbewahrt wird.

Der andere, im Gegensatz zu Grüttner dunkelblond und mit frischen, sehr energischen Gesichtszügen sowie einer schmalen Hakennase, gehörte zu jenen Großstadtexistenzen, von denen niemand so recht weiß, woher sie die Mittel zu einem luxuriösen Lebenswandel nehmen, die sich über ihre Vergangenheit entweder in undurchdringliches Schweigen hüllen oder diese Vergangenheit irgend wohin ins Ausland verlegen, so daß niemand diese Angaben nachzuprüfen vermag. Sie wechseln ihre Namen wie andere ein Hemd: sie sprechen mehrere fremde Sprachen, haben gewandte Umgangsformen und bestechen durch eine glänzende Art der Unterhaltung und durch ein zwanglos-vornehmes Auftreten, dessen feinste Schattierungen richtig einzuschätzen, nur wenigen gegeben ist.

Als Tessa eintrat, zog der im Sessel sofort höflich die Beine an und erhob sich, verbeugte sich und meinte:

„Bewundernswert – geradezu bewundernswert, Gnädigste! In der Tat – ich hätte das nicht besser machen können! Armer Silberstein! Weshalb kamst Du auch persönlich die Rechnung präsentieren!“

Tessa setzte sich in den zweiten Klubsessel. Dann erst nahm auch Herr Arthur Falk wieder Platz.

Theo von Grüttner rauchte ein paar Züge und brummte:

„Er wird sich den Deubel tun und die 25 000 bringen! Ich bin durchaus nicht so hoffnungsfreudig wie Du, lieber Arthur – durchaus nicht!“

„Weil Du die Menschen nicht kennst, Theo,“ sagte Falk achselzuckend. „Jeder Geschäftsmann steht heute mindestens schon mit einem Bein vor der Strafkammer. Reelle Leute kannst Du Dir auf dem Mond oder im Asyl für Obdachlose suchen. Wer nicht zu schieben versteht, hungert und macht Pleite. Silbersteins Schuldkonto in dieser Beziehung wird nicht größer und nicht kleiner sein als das von hunderttausend anderen. Aber – er hat eben Pech gehabt, daß gerade wir zu ihm in Beziehungen traten.“

„Na – dann hätten wir auch gleich 50 000 erpressen können,“ meinte Grüttner schlecht gelaunt. „Die 25 000 nützen uns mit Verlaub zu sagen ’n Dreck!“

Falk beschaute seine lackierten Fingernägel. „50 000 hätte Silberstein sich nie abgerungen. Dann hätte er’s lieber auf einen Krach ankommen lassen. 25 000 war die Höchstgrenze.“

„Sie haben recht, lieber Falk,“ nickte Frau von Grüttner. „Theo hat keine Ahnung von derlei Dingen. Sonst hätte er auch kaum so viel Pech im Leben gehabt.“ Worunter Frau Tessa zwei Gefängnis- und drei Zuchthausstrafen verstand.

Tessa hatte ihren Gatten etwas geringschätzig gemustert. Dann lächelte sie plötzlich. Sie erinnerte sich an Silbersteins merkwürdige Bezeichnung für sie.

„Denkt Euch, der Moritz nannte mich in seiner Wut Kreuzspinne! – Kreuzspinne! Ich finde das sehr hübsch!“

Arthur Falk musterte sie ernst. „Um Sie ist es schade, Frau Tessa,“ meinte er mit einer gewissen Wärme. „Kreuzspinnen zertritt man, wo man sie findet. Ich hätte Ihnen eine andere Entwicklung gewünscht.“ Seine Augen glitten zu dem adligen Hochstapler hin.

Grüttner lachte kurz auf. „Willst Du mir etwa die Schuld dafür zuschieben, daß Tessa – Kreuzspinne geworden ist?!“ rief er mit seiner stets etwas heiseren Stimme. „Sie wußte ja, wen sie vor zwei Jahren heiratete. Und – sie war damals heilfroh, daß –“

„Laß doch all das!“ meinte Tessa gelangweilt. „Was soll nun werden, falls Silberstein die 25 000 springen läßt? – Zunächst müssen wir doch dem Präsidenten telegraphisch 3000 davon schicken, damit wir nicht dieses nette Heim verlieren. Und – was dann?! So wie bisher kann es doch nicht weitergehen. Wir müssen eine neue, reich fließende Einnahmequelle finden – müssen! Bester Falk, haben Sie denn so gar keine Idee, wie wir –“

Arthur Falk putzte jetzt sein Monokel mit dem seidenen Taschentuch, fiel Tessa ins Wort:

„O – die Idee habe ich längst. Es fehlt nur noch das Betriebskapital. Aber –“

„Nun – aber?“ fragte Grüttner und setzte sich aufrecht.

„Aber – es kann beschafft werden. Im Pensionat Loschwitz wohnt zur Zeit ein Apothekenbesitzer aus Kolberg, der offenbar eine Menge Geld mit sich herumschleppt. Ein sehr ulkiger alter Herr ist’s, dessen Sohn und Erbe hier jetzt das zweite Apotheker-Staatsexamen ablegen soll, jedoch ein furchtbarer Angstmeier zu sein scheint. Da hat denn Papachen sich aufgemacht, um dem Filius Mut zuzusprechen und gleichzeitig so etwas – unter der Hand einzukaufen, – Medikamente und so weiter, die ja auch in Schieberkreisen erhältlich sind. Dieser Herr August Schmolke würde einen Aderlaß vertragen. Ich habe mich mit ihm schon angebiedert. Und wenn er zur Ader gelassen ist, dann – kommt die ganz große Sache!“

Frau Tessa war aufgestanden, lehnte sich neben Falk an den Tisch, flüsterte gespannt:

„Weiter – weiter, Falk! Um was handelt es sich.“

Arthur Falk nahm eine Zigarette aus dem silbernen Etui und klopfte den Tabak fest, sprach dabei zwei Worte, sprach sie langsam, mit Nachdruck.

Tessas pikantes Gesicht zeigte eine Miene deutlicher Enttäuschung. Und Theo von Grüttner pfiff durch die Zähne und meinte:

„Ich danke – mir zu gefährlich! Dabei sind selbst die Schlauesten abgefaßt worden.“

„Nein – nur stets die Dummen, mein Lieber!“ sagte Falk kühl und rieb ein Streichholz an. „Wir werden eben nicht zu diesen Dummen gehören. Wenn ich so etwas in die Hand nehme, dann ist nur ein Minimum von Gefahr dabei. Selbstredend muß der Artikel prima prima sein. Und dazu gehören in erster Linie tadellose Platten. Unsere Aufgabe wird also sein, uns nach jemandem umzusehen, der es versteht, solche herzustellen.“ Er sprach weiter, immer in derselben überlegen-ruhigen Art, die auch jede seiner Bewegungen auszeichnete.

„Du scheinst ja in diesem Artikel bereits gereist zu sein,“ wunderte sich Theo von Grüttner kopfschüttelnd. „Allerdings, so großzügig, wie Du die Sache anfangen willst, da –“

Frau Tessa war nicht für viele Worte. Sie unterbrach ihren Mann beinahe unhöflich:

„Natürlich machen wir also mit, lieber Falk.“ Sie stand noch immer neben ihm, legte ihm jetzt leicht die linke Hand auf die Schulter. „Wie wird nun die Sache mit dem ulkigen Apotheker? Trägt er denn sein Geld immer bei sich?“

Falk blies tadellose Rauchringe. „Allerdings. Aber gut versteckt.“ Er lächelte. „Das Männchen hat sich, wahrscheinlich von seiner Gattin, in seine Beinkleider in der Sitzgegend noch eine Tasche einnähen lassen. Dort hält er seine Schätze für geborgen. Ich bin nur durch sehr genaues Beobachten seiner echt apothekermäßig duftenden Persönlichkeit dahinter gekommen. Wir wohnen ja nebeneinander.“

Tessas dunkle Augen leuchteten. „Wie vielseitig Sie sind, lieber Falk! – Wenn ich nur ergründen könnte, was Sie früher gewesen sein mögen.“

Ihre Hand ruhte noch immer auf seiner Schulter. Theo von Grüttner auf dem Sofa grinste etwas. Er glaubte jetzt die Gedanken seiner Frau erraten zu können: sie ärgerte sich fraglos, daß Falk ihren Reizen gegenüber so völlig kalt blieb, wenn sie’s auch gut zu verheimlichen wußte.

Arthur Falks Stirn lag plötzlich in Falten. „Das wird nie jemand erfahren,“ meinte er kurz. „Nie! Ich selbst bin tot. Was hier im Klubsessel, behängt mit Kleidern, sitzt, was sich jetzt Arthur Falk nennt, bin nicht ich!“

Tessa lachte leise und girrend. Es war ein seltsam aufreizendes Lachen.

„Sie verstehen es prächtig, den Geheimnisvollen zu spielen. Vielleicht sind Sie gar –“

Draußen hatte die Flurglocke angeschlagen.

Falk sprang auf. „Ich werde nachsehen gehen. ob es vielleicht Moritz Silberstein –“

Er führte den Satz nicht zu Ende, öffnete schon lautlos die Tür nach dem Flur und glitt mit eigentümlich schleichenden Schritten bis vor das Guckloch der Wohnungstür.

Falk trat wieder ein.

„Es ist ein junges Mädchen,“ erklärte er. „Gehen Sie nur ruhig öffnen, Frau Tessa.“

Tessa sah sich gleich darauf Melanie Müller gegenüber.

„Ah – Sie sind doch das Schreibmaschinenfräulein von Herrn Silberstein,“ sagte sie freundlich. Sie hatte ein vorzügliches Personengedächtnis.

„Sehr wohl, gnädige Frau. Ich bringe –“

„Bitte – treten Sie näher.“ Und Tessa führte das blonde, zarte Mädchen, das so überaus bescheiden angezogen war, in den Damensalon. Sie sah, daß die Tür nach dem Herrenzimmer eine Handbreit offenstand. Falk wollte also wohl mitanhören, was das Mädchen auszurichten hatte.

Mela Müller hatte ihren Auftrag sehr bald erledigt. Sie prüfte das ausgefüllte Wechselformular sehr genau. Sie war kaufmännisch genügend geschult, und Moritz Silberstein verließ sich auf sie in vielen Dingen vollständig.

Jetzt reichte ihr Tessa mit einem liebenswürdigen: „Bitte – Sie können sich vielleicht einen kleinen Wunsch erfüllen –“ einen Hundertmarkschein hin.

Mela wurde flammend rot, trat unwillkürlich zurück. Dann aber dachte sie an daheim, an den siechen Vater, an die drückende Not der Zeit.

„Ich danke Ihnen herzlich, gnädige Frau,“ hauchte sie, ohne aufzusehen. „Ich – ich habe einen gelähmten Vater zu Hause. Für den –“

Ein leises Aufschluchzen erstickte das weitere.

Tessa beobachtete das blonde junge Mädel mit wachsendem Interesse. Gerade sie hatte ja Blick für Gesichtszüge, für seine Linien, für alles, was ein Frauenantlitz reizvoll macht.

Sie dachte: „Wenn dieses Tippfräulein sich anders frisieren, anders kleiden würde, – das wäre ein wundervolles Geschöpf!“

Mela hatte die Banknote eng zusammengeballt in der Hand behalten.

„Ich darf dann wohl gehen, gnädige Frau,“ meinte sie wieder in ihrer etwas verschüchterten Art und blickte unter Tränen auf.

„Gewiß, liebes Kind! – Alles Gute. Sollten Sie mal in Not sein, so denken Sie an mich,“ fügte sie herzlich hinzu, denn sie war gutmütig wie die meisten von denen, die den dunklen Pfad des heimlichen Kampfes gegen Gesetz und fremdes Eigentum wandeln.

„Ich danke Ihnen,“ sagte Mela nochmals schlicht, aber voller Wärme.

Sie wollte zur Tür. Sie hatte sich jedoch erst halb umgewandt, als hinter ihr eine Männerstimme erklang:

„Noch einen Augenblick, mein Fräulein.“

In der Herrenzimmertür stand Arthur Falk. Mela hatte sich jäh umgedreht. Eine seltene Hast war in dieser Bewegung. Nicht lediglich der Schreck über die unerwartete Einmischung eines Mannes konnte sowohl dieses hastige Herumfahren als auch diese auffällige Spannung in ihrem Gesichtsausdruck veranlaßt haben.

Sie starrte Falk mit merkwürdigem Interesse, beinahe forschend und wie irgend etwas in ihrer Erinnerung suchend unverwandt an. Und auch er betrachtete sie genau so prüfend, genau so durchdringend.

Frau Tessa stand als stille Zuschauerin dabei. Sie, die gewöhnt war, alles ringsum zu beachten, die jede Kleinigkeit abwog, jedes nur irgendwie besondere Verhalten von Menschen stets sorgfältig kritisierte, wie es die tun, die dauernd mit irgend einer Gefahr rechnen oder auf eine Gelegenheit zu irgend einem günstigen Moment lauern, – gerade sie mußte in dieser Szene so viel Seltsames entdecken, daß nun auch ihre in gewisser Weise argwöhnische Aufmerksamkeit für das ferne Benehmen des blonden Mädchens und des schlanken Falk durchaus berechtigt war.

Falk verbeugte sich jetzt leicht.

„Hoffentlich habe ich Sie durch meine Anrede nicht erschreckt, mein Fräulein,“ sagte er harmlos. „Sie sind also bei Herrn Silberstein Stenotypistin, wie ich vorhin verstand. Fertigen Sie auch daheim vielleicht Abschriften an? Ich hätte da eine Arbeit abschreiben zu lassen, die ich jedoch nur einer Dame anvertrauen könnte, die unbedingt verschwiegen ist. Ich würde sehr gut bezahlen –“

„Oh – gewiß übernehme ich auch Hausarbeit,“ sagte Mela schnell, wobei ihr Gesicht wieder den früheren Ausdruck von schwermütigem Ernst annahm. „Verschwiegenheit sichere ich Ihnen zu, mein Herr,“ fuhr sie eifrig fort, von dem Wunsche beseelt, diesen Nebenverdienst sich nicht entgehen zu lassen. „Herr Silberstein gestattet mir vielleicht, die Schreibmaschine über Sonntag mit heim zu nehmen. Ich kann Sonnabend abend[4] und Sonntag dann eine ganze Menge schaffen.“

„Geben Sie mir bitte Ihre Adresse, Fräulein,“ meinte Falk kurz und zog sein Notizbuch hervor.

„Mela Müller, Charlottenburg, Lietzenseeufer 2, Mansarde,“ diktierte sie ihm langsam.

„Danke. Ich werde morgen abend zu Ihnen kommen und Ihnen das Manuskript bringen. Treffe ich Sie um 8 Uhr bestimmt an?“

„Ja –,“ erklärte sie zögernd und errötete etwas. „Vater und ich – wohnen aber – sehr ärmlich, mein Herr –“

„Falk heiße ich,“ sagte er mit dem Anflug einer Verneigung. „Armut ist keine Schande, Fräulein. Nein – eher der Beweis für Ehrlichkeit und Bravheit – wenigstens heutzutage. – Auf Wiedersehen, liebes Fräulein –“

Mela wurde von Frau v. Grüttner bis an die Flurtür geleitet. Hier fragte Tessa dann flüsternd:

„Fräulein Müller, haben Sie Herrn Falk schon früher mal gekannt oder gesehen? Es machte vorhin ganz den Eindruck auf mich, als seien Sie beide sich nicht fremd.“

Melas braune Augen schauten an Tessa vorbei wie in eine weite, weite Ferne.

„Ich weiß nicht, ob ich ihn schon mal gesehen habe,“ erwiderte sie nachdenklich. „Nein – ich weiß es nicht. Wenigstens nicht bestimmt. Mir ist so, als müßte ich ihm schon begegnet sein. Aber – es wird wohl ein Irrtum sein, – obwohl auch seine Stimme mein Ohr traf wie die eines Menschen, mit dem ich oft zusammen gewesen.“

Tessa von Grüttner stand mit dem Rücken nach der Tiefe des Wohnungsflurs zu.

Da – neben ihr war lautlos Arthur Falk aufgetaucht, drückte sich an die Wand, daß Mela ihn nicht sehen konnte, winkte nun der schönen Frau sehr energisch zu, die Tür zu schließen.

Tessa gehorchte verwirrt, indem sie zu Mela sagte: „Auf Wiedersehen, Fräulein. Grüßen Sie Herrn Silberstein von mir.“

Sie legte noch schnell die Sicherheitskette vor, wandte sich dann Falk zu.

„Weshalb haben Sie mich belauscht?“ fragte sie leicht erregt. „Sie kennen diese Melanie Müller, – leugnen Sie nicht!“

Im Flur brannte die rosa Ampel und beschien mit mildem, gedämpftem Licht Falks längliches Gesicht, in dem fast jede Linie Kraft, Selbstvertrauen und Willensstärke verriet.

„Kennen?!“ meinte er sehr kühl. „So wie Sie denken, Gnädigste, kenne ich Fräulein Müller nicht. Aber – ich weiß jetzt, wo wir – die Platten herbekommen, Frau Tessa. Und – diese Möglichkeit hätten Sie mir durch dieses Ausfragen des harmlosen Kindes beinahe zerstört. Deshalb mischte ich mich ein! Melanie Müller darf nicht ahnen, daß sie mir keine Fremde ist. Als sie ihren gelähmten Vater erwähnte, kam mir unwillkürlich die Erinnerung an einen Mann, der einst in eine sehr dunkle Angelegenheit verwickelt war. Ich habe mich nicht getäuscht: ich habe Robert Müller wiedergefunden!“

Tessa wollte noch mehr fragen. Aber Falk sagte sehr bestimmt: „Diesen Teil unseres Programms erledige ich allein. Da hat also Müller für Sie kein Interesse, Frau Tessa.“

Und er ging ihr voran ins Herrenzimmer zurück.

Sie folgte ihm; sie verschlang ihn mit den Augen; sie hätte ihn herumreißen mögen und ihm ins Gesicht schreien: „Du – Du, merkst Du denn nicht, daß ich mich in Sehnen nach Dir verzehre?! Bist Du aus Eis, daß selbst ich Dich nicht zu erwärmen vermag?!“

 

3. Kapitel.

Heimlich verlobt.

Robert Müller saß im Lehnstuhl am Fenster des Wohnstübchens und schaute mit seinen halb erblindeten Augen hinweg über den kleinen See, über das frische Grün der Anlagen und die Häuserreihe, hinter der am Horizont jetzt das feurige Rot des Sonnenuntergangs lohte.

Neben ihm saß Mela und hielt seine Rechte in ihren kühlen Fingern.

„Vater – ich freue mich ja so sehr,“ sagte sie recht laut und recht deutlich, denn auch sein Gehör hatte gelitten. „Ich werde nun etwas dazu verdienen können. Oh – dann – dann werde ich Dir wieder einmal Dein Leibgericht kochen. Vater – hörst Du: Dein Leibgericht!“

„Rot – alles rot –!“ murmelte der Gelähmte. „Alles – Feuer, – alles!“ Ein Beben ging durch seine Gestalt. „Verbrannt – verbrannt –! Sie – sie fanden nichts mehr. Alles rot – so rot – alles Feuer – wie damals!“

Mela lauschte atemlos. Es geschah nicht oft, daß in dem trägen Hirn des Kranken Erinnerungen an jene Katastrophe auftauchten, bei der sein Weib den Tod gefunden, bei der er ein armer Mann geworden und mit der sein Niedergang begonnen hatte.

Nie hatte er mit seinem einzigen Kinde über all diese Dinge gesprochen. Mela war damals, eine zehnjährige, in einem Dresdener Pensionat für Töchter wohlhabender Familien untergebracht. Erst ein halbes Jahr nach der Katastrophe hatte ihr Vater sie eines Tages abgeholt und mit sich nach Berlin genommen in dieselbe Mansardenwohnung mit den drei Stübchen, wo Vater und Tochter noch heute hausten. Da erst hatte Mela die Wahrheit erfahren: daß ihre Mutter nicht schwer krank sei, wie man ihr erzählt hatte, sondern längst – längst begraben war.

Und dann hatte das einsame, freudlose Leben zu zweien begonnen, dann hatte das heranwachsende Mädchen nichts anderes Tag ein Tag aus vor Augen gehabt als den bitteren, aufreibenden Kampf ums Dasein. Dann hatte sie bald mitverdienen helfen, da es mit der Gesundheit des geistig und körperlich gebrochenen Mannes schnell schlechter und schlechter wurde, bis vor drei Jahren seine Arbeitskollegen von der Eisenbahnwerkstätte Grunewald, wo er als Lackierer sein Brot erwarb, ihn als Gelähmten der damals achtzehnjährigen Tochter ins Haus getragen hatten.

Der Kampf ums Dasein ging weiter. Mela fand die Anstellung bei Silberstein. Nebenbei besorgte sie allein die kleine Wirtschaft. Was Zerstreuungen, Vergnügungen waren, wußte sie nicht. Sie kannte nur eins: Arbeit – immer und immer Arbeit. Sie war Krankenpflegerin, Tippfräulein, Hausfrau, – alles in einer Person.

Längst war es Mela klar geworden, daß es in ihres Vaters Vergangenheit weit trübere Merksteine gab, als sie je geahnt hatte; da hatte sie angefangen, ihn vorsichtig und liebevoll auszufragen; da hatte sie sich nur noch einsamer gemacht, weil er nunmehr noch verschlossener wurde, oft sogar heftig und ungerecht, oft wieder sie mit spitzen Bemerkungen quälend, die aus einem maßlos verbitterten Herzen hervordrangen wie häßliche Blasen, die einem Sumpfe entsteigen.

Das war Melas Leben gewesen bis – bis vor zwei Monaten, bis eines Tages der erste Mieter für die Vorderstube sich gemeldet hatte, die sie nun abgeben wollte, weil die furchtbare Teuerung nach dem Kriege selbst diesen Verzicht von ihr verlangte: den Verzicht auf das eigene Stübchen, in dem sie so oft still sich ausgeweint hatte. –

„Vater, Dein Leibgericht!“ wiederholte sie jetzt noch lauter, da er wieder in das dumpfe Vorsichhinbrüten verfallen war, in dem er nun seit drei Jahren dahinvegetierte.

Er drehte den Kopf mit dem langen, schneeweißen Bart ihr zu und musterte ihr vom Widerschein der Himmelsröte in rosige Farben getauchtes Gesicht wie das einer Fremden.

„Leib–ge–richt!“ murmelte er. „Ja – Schlemmen – Prassen, – hab’s zu – sehr – geliebt. Kein Leib–ge–richt –, will – nicht, damit – Du noch – weniger ißt und – noch mehr – wünschest, ich – läge erst – unter der Erde –!“

Mela drückte seine Hand.

„Vater – wie kannst Du nur so etwas reden!“ sagte sie mit einem Seufzer, ohne jedoch irgendwie gekränkt zu sein. Sie kannte diese seine Art schon, sie hatte sich allmählich auch damit abgefunden.

Sie stand auf, als er wieder zum Fenster hinausstierte.

„Vater, ich gehe noch eine halbe Stunde ins Freie,“ rief sie ihm zu und verließ dann das ärmliche Stübchen, nachdem sie Hut und Mantel angelegt hatte.

Ein hohler Wind sauste durch die frischgrünen Bäume und Sträucher der Anlagen am Lietzensee. Im Osten über dem Häusermeer Charlottenburgs stand eine finstere Regenwand, die langsam am Himmel höher kroch.

Mela fühlte sich mit jedem Schritt, den sie von dem alten Hause sich entfernte, freier und jünger. Ja – auch jünger! Der Frühling kam ja, meldete sich überall. Die Luft war lau, fast schwül.

Mela wollte alles jetzt hinter sich lassen, alles vergessen, was vom Morgen bis zum Abend, Tag aus, Tag ein, wie Zentnergewichte auf ihren Schultern ruhte und jeden Frohsinn aus ihr herauspreßte. Ihr Körper straffte sich; sie atmete tief; sie merkte, wie das Blut ihr in die Wangen schoß; sie spürte den Frühling – die Jugend – das Weibsein.

Sie bog in die Anlagen ein. Hier war es bereits dunkel. Schwarze Schatten umspielten die Gebüsche, die Ränder der Rasenflächen. Die Zweige mit den winzigen Blättchen schwangen im Winde hin und her. Ein Liebespaar kam Mela entgegen – eng umschlungen.

Mela lächelte.

Ein Liebespaar! Ach – sie konnte ja lächeln! Sie war ja seit acht Tagen eine heimliche Braut.

Tagsüber durfte sie nicht daran denken, an dieses selige Glück. Sonst litten die Pflichten darunter, die um sie her in so wechselnder Form Erfüllung heischten. Nein – sonst machte sie Fehler in der Korrespondenz für Silberstein; sonst vergaß sie dies und das!

Jetzt – jetzt gehörte sie nur sich selbst für eine kurze halbe Stunde, nur sich, ihrem Glück, – und dieses Glück war Er – Er!

Was hatte sie bis dahin von Männern gekannt, gewußt?! – Nichts – oder doch jedenfalls nichts, das bis an ihr Herz vorgedrungen wäre.

Und dann war Alexander Schmolke eines Tages gekommen und hatte das Vorderstübchen gemietet, hatte so entzückt gerufen: „Oh – welch herrliche Aussicht! Hier werde ich den Flügelschlag der göttlichen Muse deutlicher spüren denn je, hier werde ich das große Werk schaffen, das meinen Eltern beweist, daß ich nicht zum – Pillendreher tauge!“ –

Mela näherte sich der versteckten Bank.

Dort saß Alexander Schmolke, saß da etwa in der Haltung wie Napoleon vor der Einschiffung nach St. Helena.

Den Velourshut hatte er neben sich gelegt. Wie immer hing ihm aus der Künstlermähne eine Locke halb in die Stirn. Sein weichliches, nichtssagendes Gesicht war heute düster wie der östliche Horizont dieses Abends.

Als er Mela kommen hörte, entrang sich seiner Brust ein so tiefer Seufzer, daß sie ihn notwendig vernehmen mußte. Er schaute sie an, regte sich nicht. Mela stand mit schlaff herabhängenden Armen vor ihm. Eine namenlose Angst hatte sie gepackt.

„Du – Du hast heute Examen gehabt,“ stammelte sie.

Er nickte nur, seufzte noch kläglicher.

„Und Du bist durchgefallen?“ fügte sie leise hinzu.

„Natürlich – natürlich!“ rief er, jäh lebendig werdend, sprang auf und reckte die Arme hoch.

„Wahnsinn ist’s, einen Menschen wie mich vor dieses Kollegium stumpfsinniger Pedanten zu schleppen! Wahnsinn – eine elterliche Verrücktheit! Nun geht die Quälerei wieder von vorne los! Nun muß ich heim nach Kolberg, werde am Tage Aspirin und Rizinusöl verkaufen und abends büffeln – büffeln!“

Mela hatte sich leicht an ihn gelehnt, legte den Arm um ihn.

„Ach – sei doch nicht so verzagt,“ meinte sie. „Es wird sich auch das alles ertragen lassen, Liebster! Glaube mir, man kann alles – alles, wenn man nur will!“

Er ließ schnell die Arme sinken.

„Du redest genau so wie mein Vater es heute nachmittag tat,“ sagte er leicht gereizt. „Unsinn ist’s – man kann noch lange nicht alles, wenn man nur will, – noch lange nicht! Wir Menschen tragen als Heiligstes unsere individuelle Veranlagung in uns! Wo diese geknechtet, getreten wird, da entstehen Unglückliche wie ich! Mein Vater ist – ein Banause, ein sogenannter „Mann des praktischen Lebens“, – das heißt ein Mensch, der für höhere geistige Interessen genau so viel Sinn hat wie – wie –“ Er war immer erregter geworden. Das Theatralische in seiner ganzen Art zeigte sich aber auch jetzt. Und jetzt zum ersten Male empfand Mela ganz deutlich, daß ihrem heimlich Verlobten etwas Unfertiges, Unreifes, Unmännliches trotz seiner 27 Jahre anhaftete.

„Beruhige Dich doch,“ unterbrach sie ihn, noch immer zärtlich und weich, sehnsuchtsvoll und erfüllt von dem Glück, bei ihm sein zu dürfen.

Doch wie alle schwachen Naturen, denen jeder gefestigtere Charakter wie ein stiller Vorwurf der eigenen Unzulänglichkeit ist, konnte er über ihre leise Mahnung von vorhin, über diesen Hinweis auf energisches Wollen nicht so schnell hinwegkommen.

„Beruhigen – beruhigen?! – Das ist wohl etwas viel verlangt bei den Zukunftsaussichten! Jedenfalls solltest Du mich nicht auch noch durch einen schulmeisterlichen Ton kränken, Mela! Freilich! – Du gehörst ja auch zu diesen – diesen Kraftmenschen, die andere nicht begreifen können, – andere, deren Sinn auf Höheres gerichtet ist!“

Mela hatte schon eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Ihr war allerdings ein so weichliches Wesen unverständlich. Bisher war dies bei Alexander Schmolke nie so augenfällig geworden wie gerade heute, – dieser Mangel an Tatkraft, dieses Phrasentum, dieses zwecklose Liebäugeln mit „höheren Zielen“, worunter er Dichterruhm und ähnliches verstand. – Mela schwieg, dachte nur: „O – wäre ich er! Könnte ich ihm etwas abgeben von all dem Arbeitswillen der in mir schlummert!“

Er hatte sich gesetzt. Er hielt den Kopf gesenkt. Er war Mela heute wie ein Fremder.

Still nahm sie neben ihm Platz.

„Wann reist Du mit Deinem Vater ab?“ fragte sie nach einer Weile.

„Übermorgen früh.“

Kein Wort des Bedauerns fand er, daß nun so bald für sie beide die Trennungsstunde schlug, – kein einziges Wort.

Mela fühlte, wie ein Eiseshauch den Frühling in ihrer Brust hinschwinden ließ. – Ein Mann?! War Alexander Schmolke ein Mann?! Nein – wie ein unreifer Knabe erschien er ihr heute! – Und all das, weil – er im Examen durchgefallen war!

Wieder beklemmende Minuten eines unglücksschwangeren Schweigens.

Dann begann er zögernd, wieder wie sonst den zärtlichen Liebhaber zu spielen, denn er merkte, daß sich eine trennende Wand heute zwischen ihnen erhoben hatte. Und – das durfte nicht sein! Nein – niemals! Er liebte Mela ja – freilich auf seine Art! Er hatte sie als seine Muse betrachtet. Das Mansardenheim dort im alten Hause, der gelähmte Mann mit seinen Geheimnissen, all das hatte so viel Romantik enthalten, hatte seine Dichterseele angeregt. Er wollte Mela nicht verlieren. obwohl er nicht wußte, was aus dieser Liebe je werden sollte. Eine Ehe –?! Bei den Anschauungen seiner kleinstädtischen Mutter, die ihm doch längst die reiche Kusine als Gattin bestimmt hatte! – Aber – noch wirkte die Nähe Melas; noch hatte er sie hier neben sich, noch hielt das vor, was er sich an Gefühlen halb eingeredet hatte.

„Mein Liebling!“ flüsterte er und haschte nach ihrer Hand, rückte ihr näher.

Es tröpfelte leicht. Bald fielen die kalten Tränen des düsteren Aprilhimmels reichlicher.

Sie mußten vor dem Regen flüchten. Er spannte den Schirm auf. Arm in Arm gingen sie heim.

Aber – die Wand zwischen ihnen blieb. Mela konnte nicht vergessen, was ihr heute so klar zum Bewußtsein gekommen war: Er war kein Mann! Und – er war ihr fremd in seiner ganzen, so aufdringlichen Unfertigkeit. –

Hinter der Bank, auf der sie gesessen, hatte sich aus den Büschen die Gestalt eines Mannes herausgelöst. Der Lauscher, der Mela gefolgt war und dann lautlos sich hinter die Bank geschlichen hatte, schritt mit hochgeklapptem Ulsterkragen hinter dem Paare drein. Laternenschein traf sein Gesicht, traf ein glitzerndes Monokel, einen kurz geschnittenen Schnurrbart, eine schmale Hakennase und tiefe Falten zielbewußter Willenskraft um Kinn und Mund.

 

4. Kapitel.

Jugendbilder.

Eine Strecke vor dem Hause trennte das Liebespaar sich. Der Abschied war genau so kühl wie das ganze Beisammensein heute. Nicht einen einzigen Kuß hatte Mela dem Geliebten gewährt, hatte dem mit seinen Liebkosungen stürmischer Werdenden zwar nicht unfreundlich, aber doch mit einem gewissen würdigen Ernst, der ihn schnell abkühlte, erklärt, ihr sei heute nicht nach Tändeleien zumute.

So gingen sie denn mit einem lauen Händedruck auseinander. Mela eilte voraus dem Hause zu. Alexander Schmolke machte kehrt, um nicht so kurz nach Mela das Haus zu betreten.

Der junge Apotheker sah mit seinem blonden Spitzbart alles in allem recht würdig aus, jedenfalls älter, als er es war. Seine Charakterveranlagung verriet sich jedoch schon aus seiner Körperhaltung und seinem Gange. Alles an ihm war schlaff und ohne Saft und Kraft. Auch die Gedanken, die ihn jetzt bewegten, paßten ganz zu seiner träumerischen Energielosigkeit. Er kam sich selbst äußerst bemitleidenswert vor: er grollte Mela, weil sie heute so eisig-kühl gewesen. Wie gern hätte er sich gerade heute an ihren Küssen berauscht und über heißen Wünschen all sein Ungemach vergessen!

Ein Herr kam Alexander Schmolke entgegen, sprach ihn dann an.

„Entschuldigen Sie, ich habe wohl Herrn Schmolke vor mir,“ sagte der Fremde, leicht den Hut lüftend. „Mein Name ist –“

Den Namen verstand Schmolke nicht. Verlegen und überrascht verbeugte er sich fast zu tief und riß den Hut zu eifrig vom Kopf. Er ärgerte sich stets darüber, wie sehr ihm Leute mit einer so nachlässig-vornehmen Ruhe imponierten.

„Schmolke – Alexander Schmolke,“ stotterte er und ärgerte sich noch mehr. Was der Kerl mit dem Monokel im Auge ihn nur so durchdringend zu fixieren hatte?!

„Sie wünschen?“ fügte er sofort hinzu, wobei er sich alle Mühe gab, ebenfalls den gelassenen Ton anzuschlagen, über den dieser Mensch da verfügte.

„Darf ich Sie ein Stück begleiten? Ich hätte einiges mit Ihnen zu besprechen,“ erklärte der elegante Herr in einer Art, die keinen Widerspruch zu dulden schien.

Schmolke wurde unbehaglich zumute. „Ich wüßte wirklich nicht, was –“

Der Fremde unterbrach ihn. „Es handelt sich um Fräulein Melanie Müller. – Oh, Sie brauchen nicht zu erschrecken. Ich habe keinerlei Anrechte an die Dame, nur – Pflichten ihr gegenüber. So besonders die, nicht zuzulassen, daß Fräulein Müller durch Sie ins Gerede gebracht wird, wo Sie doch nie die ernste Absicht haben, dieses heimliche Verlöbnis als etwas anderes zu betrachten als nur einen – angenehmen Zeitvertreib. – Bitte – ich bin sofort fertig. Ich werde mich auch weiter kurz fassen. – Ihr Herr Vater weilt jetzt hier in Berlin. Weshalb haben Sie ihm denn nichts von dieser Verlobung mitgeteilt, wenn es Ihnen Ernst damit ist? – Sie schweigen, Sie haben eben nicht den Mut, Ihren Eltern einen solchen Heiratsplan zu unterbreiten. Ihre Frau Mutter wünscht, daß Sie Ihre Kusine Gertrud Milke heiraten. Das wissen Sie sehr gut. Sie wissen auch ebenso gut, daß Sie – gerade Sie niemals die Kraft finden werden, sich gegen den Willen Ihrer Mutter aufzulehnen. – Weshalb also diese Liebelei hier mit einem anständigen, vertrauensvollen jungen Mädchen?! Herr Schmolke – das ist gewissenlos, das ist gemein!“

Alexander Schmolke schnappte nach Luft. Endlich konnte er dann mit stark gemachter Gereiztheit hervorstoßen:

„Herr – ich bin Akademiker! Sie werden mir für diese Frechheiten in der unter Kavalieren üblichen Weise –“

„Ich bin kein Kavalier,“ lächelte der Fremde. „Wenigstens keiner, der für Sie – satisfaktionsfähig ist, wie die schöne Bezeichnung für die Würdigkeit lautet, sich im Duell runterknallen zu lassen. – Entweder teilen Sie Ihrem Vater morgen vormittag mit, daß Sie mit Mela Müller verlobt sind, oder ich schreibe es Ihrer Mutter nach Kolberg. Sollten Sie mir jetzt erklären, daß Sie ersteres nicht wagen, so werden Sie eben Fräulein Müller volle Klarheit darüber geben, wie die Dinge liegen und daß von einer Heirat keine Rede sein kann. – Sie haben jetzt also die Wahl. Bitte – Ihre Entscheidung.“

Der Regen hatte aufgehört. Schmolke suchte seinen roten Kopf und seine Verlegenheit dadurch zu verbergen, daß er umständlich den Schirm schloß. Dann sagte er mit einem neuen Anlauf, etwas Mut und Selbstbewußtsein zu zeigen:

„Ich muß mir diese unerhört anmaßende Art der Einmischung in meine persönlichen –“

„Gut – wie Sie wollen,“ fiel ihm der Fremde ins Wort. „Ich muß dann also den bereits fertigen Brief an Ihre Mutter absenden, werde außerdem Fräulein Müller über Sie die Augen öffnen. Sie wird nicht weiter erstaunt sein, wenn ich ihr sage, daß Sie ein viel zu großer – Waschlappen sind, um eine Heirat gegen den Willen Ihrer Eltern erzwingen zu können. Ich glaube, sie hat Sie bereits durchschaut, wozu ja keine große Menschenkenntnis nötig ist. – Guten Abend.“

Er faßte an den Hut und ging.

Alexander Schmolke zitterte vor Wut am ganzen Leibe. Umbringen hätte er diesen Kerl können – umbringen! Wie alle derartigen Charaktere flammte bei ihm nichts so leicht auf als eine feige Rachsucht. – Oh – wenn er nur an diesen Monokel-Fritzen irgendwie herangekonnt hätte – wenn! Aber – er mußte ja klein beigeben – mußte! – Brief an seine Mutter. Und dann übermorgen heimkommen – als Durchgefallener und heimlich Verlobter! Nein – das war gar nicht auszudenken!

Er beeilte sich, den verdammten Kerl wieder einzuholen, blieb halb vor ihm stehen, sprudelte hervor:

„So viel liegt mir denn doch nicht an Mela, als daß ich mich mit den Meinigen ihretwegen überwerfen sollte. – Ich werde also Fräulein Müller – freigeben. – Guten Abend.“

Er rannte im Sturmschritt weiter.

„Kavalier!“ murmelte Arthur Falk. „Wie richtig ich den Burschen nach der Szene auf der Bank eingeschätzt hatte –! Nun – einen kleinen Teil meiner Schuld gegen den alten Mann habe ich auf diese Weise wieder gut gemacht. Das Mädchen ist vor einer schweren Herzensenttäuschung bewahrt.“ –

Mela hatte den Vater zu Bett gebracht. Nun richtete sie sich selbst auf dem alten Glanzledersofa im Wohnstübchen das Nachtlager her.

Sie war allein mit ihren Gedanken. Sie überlegte nochmals das heutige Beisammensein mit Alexander Schmolke. Da überkam sie doch der Schmerz über diese Enttäuschung. Das – das also war ihr Liebeshoffen gewesen, ihr Liebesfrühling! Wie schnell war das Erwachen, die Enttäuschung gefolgt! Kaum eine Woche hatte sie in dem halben Selbstbetrug gelebt, in Alexander Schmolke den Mann gefunden zu haben, der ihr die Zukunft bedeutete. Selbstbetrug! Ja – das war es gewesen. Und erleichtert worden war diese Selbsttäuschung durch ihre Einsamkeit, durch den Mangel an Liebe, an Zärtlichkeit, die ihr nicht einmal der Vater gab, für den sie rastlos arbeitete, sorgte und den sie ja auch liebte trotz all seiner finsteren, bissigen Verschlossenheit.

Ja – da hatte es Alexander Schmolke leicht gehabt, ihr Herz zu erwärmen; da hätte es gar nicht seiner leidenschaftlichen oder zart-schwärmerischen Gedichte bedurft, die er morgens, bevor er wegging, auf den Tisch legte, damit Mela sie fände; da wäre es wohl von selbst gekommen, daß sie ihm so namenlos dankbar war für seine Anteilnahme, seine Freundlichkeit, für dieses stille Anhimmeln ihrer Person, worin sie nicht sofort das vermißte, was diesem Werben einen Stich ins erkünstelt – Romantische gab. Nein – erst langsam war ihr dies und jenes aufgefallen, wobei die Männlichkeit, die Kraft, fehlte; so kleine Einzelheiten waren’s gewesen, die sie gestört hatten. Bis er dann eben heute sich in seiner ganzen Unzulänglichkeit gezeigt hatte, die gerade einem Mädchen, wie Mela es war, besonders unverständig blieb, da sie selbst im harten Daseinskampf sich all das angeeignet hatte, was ihm fehlte: Energie, Zielbewußtsein und eine gewisse trotzige Härte den vielfachen Unzulänglichkeiten des Lebens gegenüber. Daß sie trotzdem die Zartheit ihrer Weibesseele bewahrt hatte und Fremden gegenüber sogar oft unsicher und verlegen schien, änderte nichts an der Tatsache ihrer innerlichen seelischen Ausgeglichenheit. –

Sie hatte sich auf den alten Sessel am Fenster gesetzt, den tagsüber der Vater innehatte. Sie schaute in die Dunkelheit hinaus, die jetzt über dem See und den Anlagen lagerte. Nur noch ein ganz schmaler Streifen des verglühenden Abendrots war am Horizont sichtbar.

Sie hörte Alexander heimkehren und die Tür seiner Vorderstube lauter als sonst schließen.

Ja – sonst hatte ihr Herz stets schneller geschlagen, wenn sie des Geliebten Schritt vernommen hatte. Dann war auch immer die Sehnsucht in ihr Herz wie eine vorsichtige Verführerin eingeschlichen und hatte ihr zugeflüstert: „Geh’ hinüber zu ihm! Mache Dir irgend ein Gewerbe dort, das Dein Sehnen scheu umhüllt. Stiehl Dir noch ein paar Minuten des Alleinseins mit ihm!“

Nie – nicht ein einziges Mal war sie der Stimme der Verführerin gefolgt. Nie hatte sie dem Geliebten gestattet, wenn sie drüben bei ihm etwas zu besorgen gehabt hatte, sich ihr irgendwie vertraulich zu nähern. Nein – das Haus, die Wohnung ihres Vaters wollte sie nicht entweihen. Es war ihr schon schwer genug gewesen, vor dem alten Manne dies Geheimnis zu bewahren. Aber sie wußte ja: sie hätte von ihm nur wieder höhnische, verletzende Bemerkungen zu hören bekommen, vielleicht das, was sie am meisten kränkte und was er so oft bei dem geringsten Anlaß vorbrachte: „Ja – ja, ich lebe zu lange; ich bin Dir unbequem! Na – vielleicht wirst Du bald frei sein!“ –

Immer klarer fühlte sie jetzt, daß sie sich heute innerlich von Alexander Schmolke losgelöst hatte. Aber – seltsam genug: der Schmerz über diese Herzensenttäuschung war weit geringer als die Angst vor der Einsamkeit, die sie nun wieder Tag für Tag umlauern würde, – vor diesem Alleinsein, vor dieser Unmöglichkeit, sich je mit einem ihr nahestehenden Menschen aussprechen zu können.

Ihr graute vor dieser Einsamkeit, vor den Abenden, die jetzt kamen, wenn die Tage länger und länger wurden, wenn die Menschen noch hinaus in Freie pilgerten, wenn nur sie wieder so allein hier am Fenster sitzen würde, ausgeschlossen von aller Lebensfreude, allem, was jung erhält.

Die Abende – die vielen Stunden, wo man nur grübelte und grübelte und die Unzufriedenheit dann herbeischlich.

Da dachte sie an – richtig, Falk hieß der Herr, der ihr hatte die Abschrift übertragen wollen. Ob – wenn das Manuskript doch nur recht – recht lang wäre! Arbeit – Arbeit, – das lenkte ab, das verscheuchte alle dummen Gedanken!

Falk – Falk –! – Mela rief sich sein Bild zurück, sein etwas bleiches Gesicht mit den tiefen Falten um Mund und Kinn. Es wurde ihr so leicht, dieses Bild vor ihrem geistigen Auge hervorzuzaubern, so sehr leicht, so, als ob sie diesen Herrn doch schon früher mal gesehen haben müßte – früher, ganz früher, als sie noch Kind gewesen und der Vater das eigene Haus dort in München besessen hatte und ein berühmter Mann gewesen sein sollte.

Falk – Falk?! Sie schüttelte den Kopf. Nein – sie mußte sich doch wohl irren. Sie besann sich nicht auf ihn, auf nichts, was mit ihm irgendwie zusammenhing.

Sie erhob sich und begann sich langsam zu entkleiden. Bevor sie einschlief, waren ihre Gedanken jedoch abermals zurückgeeilt in die Wohnung der schönen Frau von Grüttner, in den Damensalon, und abermals hatte sie sich die Szene vergegenwärtigt, wie sie ahnungslos dagestanden hatte und dann in ihrem Rücken diese – diese Stimme erklungen war, wie sie herumfuhr, wie in demselben Moment wie durch einen Blitz, der ein in Dunkelheit gehülltes Landschaftsbild für den Bruchteil einer Sekunde erhellt, in ihrem Gedächtnis ein sonnenbeschienener Rasenplatz auftauchte mit einer Schaukel und einem lustigen Mädel mit fliegenden Zöpfen darauf und einem schlanken Herrn, der die Schaukel immer höher trieb.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann war alles wieder in Dunkel begraben.

Und jetzt – jetzt wollte sich dieses Bild der Schaukel und des sonnigen Rasenplatzes nicht wieder herbeizwingen lassen. Nein – es kam nicht wieder, so sehr Mela es auch nochmals wachzurufen versuchte.

Darüber schlief sie schließlich ein.

 

5. Kapitel.

Leidenschaft.

An demselben Abend erfüllte sich auch das Schicksal des Herrn August Schmolke, der, sobald er einmal der Fuchtel seiner teuren Gattin entronnen war und in Berlin Geschäfte zu erledigen hatte, den biederen Provinzonkel nach Möglichkeit abstreifte und „Lebemann“ wurde, – natürlich nur, wenn sein Alexander nicht dabei war.

Dann legte er den soliden Nickelkneifer ab, baumelte sich ein an dünner Seidenschnur hängendes Einglas um den Hals, zog sich eine weiße Weste und Lackstiefel an, parfümierte sich, steckte eine Nelke ins Knopfloch seines weggeschnittenen Rockes und – ging seinen besonderen Geschäften nach.

Wo er erschien, erregte er Aufsehen. Solche O-Beine und solche knallroten Elefantenohren, so eine funkelnde Rotweinnase mit warzenähnlichen „Ablegern“ und eine so kühn geschwungene Unterlippe, gewöhnlich Karpfenmaul genannt, waren selten, selbst in Berlin.

Heute hatte August der Kahle, wie er in Kolberg allgemein seines haarlosen Kürbisschädels wegen hieß, besonderen Dusel gehabt. Als er bei Kempinski „geschlemmt“ hatte und seine Abendbrotrechnung bereits in die achtziger Mark ging, hatte sich eine Dame an seinen Tisch gesetzt, hatte ihn zunächst total als „Luft“ behandelt, bis er ihr dann Feuer für die Zigarette reichte. Da war das Eis des Hochmuts von ihrer tadellos gewölbten Brust geschmolzen, da war allmählich ein Gespräch in Gang gekommen, da hatte August sofort herausgehört, daß er eine Ausländerin vor sich hätte. Von dem Gesicht konnte er nicht viel sehen. Den gestickten Schleier hatte die Schöne nur bis zur Nasenspitze hochgezogen. Aber – daß dahinter ein feines Näschen sich verbarg und ein Paar dunkle Glutaugen flammten, das konnte er doch wahrnehmen.

Dann stellte er sich der Gnädigen in aller Form vor. Dann teilte sie ihm so nebenbei mit, daß sie die Gattin des rumänischen Militärattachees Major Avaresku sei. Ihr Mann weile zur Zeit dienstlich in Paris – und so weiter.

Oh – sie radebrechte das Deutsche geradezu entzückend. Sie war so überaus vornehm. Und köstliche Löckchen quollen unter dem schicken Hut hervor; und Hände hatte sie – Hände! – wie ein Gedicht!

August schwamm in Wonne. So etwas hatte er doch noch nicht erlebt! Eine Rumänin! Die sollten ja so überaus temperamentvoll sein!

Er bestellte Sekt – 90 Mark die Flasche. – Sie lehnte jedoch das Mittrinken sehr kühl ab. Erst nach langem Bitten nippte sie dann an ihrem Glase.

An dem Tischchen, wo man so hübsch unbeobachtet war, machte August die ganze Stufenleiter jener Empfindungen durch, die in einem „Lebemanne“ rege werden, wenn er einem so berückenden Weibe gegenübersitzt[5] und langsam – langsam zu hoffen beginnt –!

Frau Avaresku wollte heim. August flehte: nur noch eine Schale Mokka – irgendwo in einem eleganten Cafee.

Sie ließ sich erweichen. Ihre goldene Handtasche rutschte ihr vom Schoß unter den Tisch. August verschwand und suchte sie, sah dabei ein Paar Lackstiefelchen – Lackstiefelchen!

Das war unter dem Tisch. Und oben ließ Frau Avaresku sehr geschickt und sehr unauffällig eine gelbliche kleine Tablette in Augusts Sektglas fallen, wo diese sich sofort auflöste.

Nachher trank August sein Glas aus. Man brach auf, fand ein geschlossenes Auto und fuhr nach dem Cafee des Westens am Kurfürstendamm.

Unterwegs wurde August plötzlich entsetzlich übel – so übel, daß ihm jäh die Sinne schwanden. Als er wieder zu sich kam, befand er sich auf einem Polizeirevier. Seine Patenthosentasche war leer. Die Brieftasche und mit ihr 95 000 Mark waren futsch!

Der Polizeiwachtmeister lächelte, als August von der vornehmen Frau Avaresku berichtete.

„Von der Sorte gibt’s hier tausende,“ meinte er. „Sie haben eben ein Betäubungsmittel beigebracht bekommen, Herr Schmolke. Die – „Dame“ stieg vor dem Cafee aus und reichte dem Chauffeur zwanzig Mark, sagte: „Fahren Sie meinen Mann nach dem Eden-Hotel. Er fühlt sich nicht ganz wohl.“ – Ja – Herr Schmolke, – in Berlin erlebt man dolle Sachen.“

August gab eine Personalbeschreibung der Gaunerin zu Protokoll. Aber – damit war nichts anzufangen. Den Schleier hatte das Weib ja nie ganz gelüftet –

Es war halb elf Uhr abends, als Frau Tessa von Grüttner heimkehrte. Im Herrenzimmer saß Arthur Falk und las die Abendzeitung. Theo von Grüttner war nebenan in die Bar gegangen. Eifersucht kannte er nicht. Er hatte sich bereits bei der Eheschließung gesagt, daß die Treue in dieser Ehe auf beiden Seiten ein leerer Wahn sein würde.

Als Tessa eintrat, erhob Falk sich höflich wie immer.

Tessa hatte jetzt den Schleier hochgeschlagen. Sie strahlte. Ihre Augen blitzten. Wortlos warf sie eine Brieftasche auf den Tisch.

„Gratuliere,“ sagte Falk und küßte ihr die Hand.

Sie behielt seine Hand in der ihren, schaute ihn verlangend an.

„Und Ihr Dank, Arthur?“ flüsterte sie.

Er schüttelte den Kopf.

„Können wir denn nicht auch so Freunde bleiben, Tessa?!“ meinte er fast herzlich. „Weshalb wollen Sie durchaus in unsere Gemeinschaft zu dreien das hineintragen, was stets nur Unfrieden stiftet?! Für Leute, wie wir es sind, taugt die Liebe nichts. Glauben Sie es mir!“

Sie biß sich auf die Lippen.

„Vielleicht haben Sie recht,“ sagte sie etwas gepreßt, scheinbar aber durchaus nicht verletzt durch seine abermalige kühle Ablehnung.

Sie ging ins Schlafzimmer. Während sie vor dem Spiegel ihr Haar wieder zum Scheitel ordnete, nahm ihr Gesicht einen ganz anderen Ausdruck an. Sie liebte Falk! Noch nie hatte ein Mann ihr Blut wirklich zu heißerem Pulsieren gebracht – noch nie! Was sie bisher an Liebesabenteuern erlebt hatte, war stets Mittel zum Zweck gewesen. Dann lernte sie Falk kennen; dann spürte sie, wie von Tag zu Tag in ihrem Herzen dieses leidenschaftliche Wünschen wuchs und wuchs, bis es kein anderes Gefühl mehr aufkommen ließ.

Sie liebte ihn! Und – er mußte ihr gehören, mußte! Wenn nicht anders, dann – durch ein Ränkespiel! Sie hoffte ja: hat er Dich nur einmal erst geküßt, so wirst Du ihn zu fesseln wissen! – Sie vertraute auf die Glut ihrer Sinne, darauf, daß sie ihn an sich ketten würde durch ihre Reize, durch schrankenlose Hingabe.

Ein seltsames Lächeln umspielte jetzt ihren begehrlichen Mund: halb das Lächeln einer schönen Teufelin, halb das einer unendlichen Sehnsucht. –

Sie kehrte ins Herrenzimmer zurück.

Falk hatte das Geld aus der Brieftasche auf den Tisch gezählt.

„Genau 95 000 Mark. – 35 000 betrachte ich als meinen Anteil,“ sagte er ganz geschäftsmäßig.

Sie stellte sich neben seinen Sessel, ganz dicht. „Ich denke, es sollte das gemeinsame Betriebskapital sein,“ meinte sie gleichgültig.

„Allerdings. Aber bei Ihres Mannes Spielwut ist es sicherer, sofort zu teilen.“

Sie war einverstanden. Sie hatte sich auf die Lehne des Klubsessels gesetzt, sich an Falks Schulter mit der Hüfte gelehnt.

„Falk – ich möchte so gern etwas von Ihrer Vergangenheit wissen,“ sagte sie bittend. „Haben Sie denn so wenig Vertrauen zu mir, daß Sie –“

Er hatte zu ihr aufgeblickt. Sie sah, wie seltsam finster sein Gesicht war. Da schwieg sie.

„Weshalb immer wieder dieser Wunsch?!“ meinte er streng. „Weshalb müssen auch Sie heute wieder an Dinge rühren, die plötzlich nur zu stark wieder aufgelebt sind!“

Die Falten um seinen Mund verrieten jetzt etwas wie Seelenqual. „Ich habe schau mehrfach betont,“ fügte er hinzu, „daß nie ein Mensch erfahren wird, wer und was ich einst war. Es darf niemand erfahren! Das bin ich meiner Familie schuldig, die jetzt ohnedies böse Zeiten durchgemacht hat. Ich bin tot – ich! Was lebt, ist ein Mensch mit tausend Namen – zur Zeit Arthur Falk.“

Tessa beugte sich tiefer, legte ihm den Arm um die Schultern.

„Arthur,“ flüsterte sie heiß, „Arthur – es sind nicht allein die Sinne, die mich zu Ihnen hinziehen. Meine Seele lechzt nach einer Liebe, die hoch über allem Gemeinen steht! – Arthur – Ihretwegen könnte ich sogar arbeiten wie eine Dienstmagd, Ihretwegen würde ich auf jeden Luxus verzichten! – Arthur – irgendwo ein kleines Häuschen, vielleicht an der See, von Wald umrauscht, – dort mit Ihnen leben – mit Dir allein leben, ganz Dein sein, – das wäre der Frieden, das Glück!“

„Für wie lange?!“ lachte er grausam auf. „Frau Tessa, Menschen wie wir brauchen den prickelnden Reiz der Gefahr, wie die Blume die Sonnenstrahlen braucht! In der Einsamkeit würden wir – wir beide in kurzem Todfeinde werden! Ich kenne mich. Ich kenne Sie. – Ich habe gut ein dutzendmal versucht, mein Abenteurerdasein aufzugeben. Es war alles umsonst. Zwei Monate waren die längste Zeit, die ich einst als – gewöhnlicher Landarbeiter auf einem Gute aushielt. – Nein, Tessa, – nein, nur nicht derartige Gefühle in unsere Gemeinschaft hineinmengen! Das lähmt, das trübt den Blick. das macht – schlaff!“

Er stand auf, so daß ihr Arm herabglitt. „Bedenken Sie, Tessa, daß uns jetzt Millionen winken – Millionen, daß wir es sein werden, die vielleicht in einem halben Jahr der Schrecken aller Bankkassierer, aller Kassenbeamten sind! Millionen, Tessa! – Ich selbst bin mit dreien zufrieden.“

Er schaute auf die Banknoten auf dem Tisch.

„Morgen verlasse ich das Fremdenheim Loschwitz,“ änderte er das Thema. „Ich beziehe ein sehr bescheidenes Heim, wo weder Sie noch Theo sich je blicken lassen dürfen, wenn Sie nicht alles gefährden wollen.“

„Ah – bei Müllers!“ rief sie hastig.

„Ja – ein Mansardenstübchen wird dort morgen frei. – Seltsame Ironie des Schicksals: dort wohnte bisher der Sohn des Mannes, den Sie heute ein wenig erleichtert haben, Frau Major Avaresku, – nämlich der junge Apotheker Alexander Schmolke.“

Er langte nach einer Zigarette.

„Denken Sie, Tessa, dieser Alexander, der alles andere als ein Held ist, hatte sich so gewissermaßen mit unserer Freundin Melanie Müller verlobt. Sein alter Herr aber hatte mir von einer steinreichen Nichte erzählt, die Alexanderchen heiraten muß. Da habe ich denn heute abend so etwas Vorsehung gespielt und Alexanderchen freundlichst ersucht, hübsch seine Finger von dieser blonden Mela zu lassen –“

„Die Sie von früher kennen,“ warf Frau von Grüttner schnell ein.

„Vielleicht –, vielleicht auch nicht. – Jedenfalls ist mir nur etwas unsympathisch bei meinem jetzigen Plan: daß dieses blonde Mädel seine Tochter ist – Robert Müllers Tochter! – Es ist ja dumm, noch so etwas wie ein Gewissen zu haben. Aber – zuweilen regt es sich bei mir doch noch.“

Tessa trat ganz nahe an ihn heran, blickte ihn forschend an. „Arthur – wir beide wären noch zu retten! Arthur – weshalb wollen wir nicht gemeinsam versuchen, wieder auf den engen Pfad der Tugend einzulenken?! Wir würden uns gegenseitig –“

„– gegenseitig die Rückkehr auf den breiteren, bequemeren Weg, den wir jetzt gehen, erleichtern – ganz recht!“ vollendete er mit bitterer Ironie ihren Satz. „Nein, Frau Tessa, – erst drei Millionen, dann – vielleicht die – Liebe!“

Er drehte sich um, griff nach dem einen Banknotenhäufchen und schob es in die Tasche.

Gleich darauf hatte er sich mit einem Handkuß von Frau von Grüttner verabschiedet.

Um halb zwölf kehrte Theo stark angeheitert heim. Er hatte im Hinterzimmer der Bar gespielt und – ausnahmsweise gewonnen. Als er von Tessa hörte, daß ihr August Schmolke „durch die Lappen“ gegangen sei, daß sie dafür aber einen anderen gerupft hätte, ließ ihn das alles sehr kalt. Er hatte weit mehr gewonnen, als er ihr erzählte, weit mehr und deshalb gab er sich gar nicht die Mühe, über Tessas „Mißgeschick“ weiter nachzudenken.

 

6. Kapitel.

Sturmzeichen.

Moritz Silberstein ging mit den Händen in den Hosentaschen im Privatkontor auf und ab und diktierte Mela einen Brief an eine Amsterdamer Firma, mit der er in „Schieberverbindung“ stand. Der Brief sah sehr harmlos aus, hatte aber für den Eingeweihten zwei Texte: einen für Schnüffleraugen und einen geheimen.

Mela las jetzt vor.

„Tadellos!“ lobte Silberstein. „Fräulein Müller, vom Ersten kriegen Sie hundert Mark mehr. – Nischt zu danken – wirklich nicht! Es ist mir e Freid’, Ihnen zuzulegen.“

Mela brachte jetzt ihre Bitte vor, ob sie wohl die Schreibmaschine gelegentlich mit heimnehmen dürfe.

„Wenn Sie für den eventuellen Verlust aufkommen – meinetwegen!“

Er setzte sich und nahm die Abendzeitung vor. Mela klapperte andere Briefe herunter. Plötzlich fuhr Silberstein hoch.

„Gott der Gerechte – wär’ das ein Dusel!“ rief er und schwenkte die Zeitung. „Fräulein Müller – ein Momangchen! Hören Sie zu, was hier zu lesen steht: „Gestern abend hat eine Hochstaplerin einen Herrn, der sich geschäftshalber hier aufhält, in einem Autotaxameter seiner gesamten Barschaft beraubt, nachdem sie mit ihm in einem bekannten Weinrestaurant in der Leipzigerstraße zusammen soupiert hatte. Der Bestohlene, ein Apothekenbesitzer Sch. aus K. in Pommern –““

Mela hatte einen leisen Schrei ausgestoßen.

Silberstein schaute von der Zeitung auf. „Was gibt’s denn, Fräulein?“

„Oh – nichts, nichts!“ stammelte sie errötend.

Er las weiter. Aber er glaubte an dieses „Nichts!“ durchaus nicht!

„– in Pommern, ist fraglos infolge eines ihm in den Sekt getanen Betäubungsmittels in dem Auto bewußtlos und dann ausgeplündert worden.“

Silberstein schwenkte die Zeitung abermals und flüsterte Mela dann geheimnisvoll zu:

„Sie wissen – vor Ihnen hab’ ich keine Geheimnisse, Fräulein Müller. – Denken Se, – gestern abend war ich mit Sally Rosenstock aus Stettin bei Kempinski im Muschelsaal. Kam da mit einem Mal ein schickes Weib an – verschleiert! Mich sah sie nicht. Wir saßen in der anderen Ecke. Und – die Person trug einen von unseren Modellhüten! Und dazu – ’nen gestickten Schleier! Und weiter – hören Sie genau hin! – einen modernen, großkarierten Frühjahrsmantel mit Atlasaufschlägen. Und hier in der Zeitung steht weiter zu lesen, daß die Hochstaplerin genau dasselbe anhatte – genau! Und – nun kommt’s, Fräulein Müller: Ich nehme Gift drauf, daß diese Gaunerin – die feine Frau von Grüttner war. Ich kenn’ sie doch – ihre Figur, ihren Gang, – ich kenn’ doch meine Sachen, die sie hier von uns – gepumpt hat! – Fräulein Müller, kein Wort hiervon zu irgend wem – kein Wort! Moritz Silberstein wird die Sache allein näher untersuchen. Und –“

Das weitere behielt er für sich. Er hatte sagen wollen: „Und dann werde ich sie zwingen, mit meinen 25 000 Mark sofort wieder herauszurücken! Anzeigen werde ich sie nicht – sonst zeigt sie mich an! Aber – e großen Schreck werd’ ich der Person einjagen. Und das wird meine Rache sein.“

Es klopfte, so daß Moritz diese Sätze sehr bequem unterschlagen konnte. – Es war ein Lehrling mit einem Brief für Mela.

Sie öffnete ihn sofort. Sie hatte Alexander Schmolkes Handschrift erkannt. – Sie las – und wurde blaß. Silberstein beobachtete sie.

„Eine schlechte Nachricht?“ fragte er besorgt. Und er meinte es ehrlich.

Mela zerriß den Brief in ganz kleine Fetzen und warf ihn in den Papierkorb, sagte dabei:

„Oh – unser Mieter hat plötzlich gekündigt, ist bereits ausgezogen.“

„So so – schade. – War’s nicht ’n junger Apotheker, Fräulein? Sie erzählten mal so etwas –“

Mela nickte.

„Sie werden schon Ersatz finden,“ tröstete Silberstein. „Möblierte Zimmer werden ja genug gesucht.“

Wieder nickte Mela nur und dachte: „Ersatz – für das Zimmer allerdings, nicht aber – für meine Einsamkeit, für – einen zerstörten Zukunftstraum!“

Alexander Schmolke hatte ihr ja in dem phrasenreichen Schreiben mitgeteilt, daß er leider – leider gezwungen sei, sie freizugeben. –

Als Mela um sechs Uhr das Privatkontor verlassen hatte, suchte Silberstein fein säuberlich alle Fetzen des Briefes zusammen, ordnete sie mühsam, klebte sie auf durchsichtiges Zeichenpapier und – – stutzte, als er in dem Schreiben den Ortsnamen Kolberg und den Vater, den Apothekenbesitzer erwähnt und als Unterschrift fand: Alexander Schmolke.

Er nahm die Zeitung und verglich. – Ja – es stimmte: der Beraubte war der – Apothekenbesitzer Sch. aus K. in Pommern!

„Merkwürdiger Zufall!“ dachte Silberstein. „Der Vater wird bestohlen, und der Sohn hat bei Müllers gewohnt und das arme Mädel ganz offener an der Nase herumgeführt! Für so was ist die Mela doch zu schade! – Armes Mädel –! Deshalb wurde sie auch so blaß!“

Dann steckte er sich eine Zigarre an und überlegte – überlegte lange und sorgfältig, wie er diesem Weibsbild, der Grüttner, ordentlich eins auswischen könnte. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie die Hochstaplerin gewesen, die den alten Schmolke um die 95 000 Mark erleichtert hatte. Aber – er mußte ja vorsichtig sein. Sonst verbrannte er selbst sich hierbei gehörig die Finger! –

Mela hatte sich mit dem endgültigen Ende dieses kurzen Liebesglücks bereits völlig abgefunden, als sie daheim anlangte. Es war eben eine Enttäuschung, ein Irrtum gewesen; sie hatte Alexander Schmolke nie wahrhaft geliebt; sie hätte ihn nie lieben können, nachdem sie erst eingesehen, ein wie erbärmlicher Mensch er war.

Zu Hause ging sie dann mit einer gewissen nervösen Unruhe ihren Pflichten nach. Sie mußte immer wieder daran denken, daß heute abend um 8 Uhr jener Herr Falk das Manuskript hatte bringen wollen. Aber – jetzt freute sie sich auf diesen Nebenverdienst gar nicht mehr. Sie grübelte darüber nach, wie dieser Falk mit jener eleganten Dame stehen mochte, bei der sie ihn gestern kennen gelernt und die Silberstein heute eine Hochstaplerin genannt hatte.

Wer – was war dieser Falk, der doch mit der Grüttner offenbar sehr vertraut verkehrte?! – Mela wurde ängstlich. Wenn Falk nun ebenfalls ein – ein solcher Glücksritter war?! – Jedenfalls wollte sie die Augen gut offen halten, wollte ihn heute beobachten, wollte sich ein eigenes Urteil über ihn zu bilden suchen. –

Und er kam. Sie führte ihn in das leere Mansardenstübchen, in dem die besten Möbel standen. Er hatte das Manuskript mit. Es war eine Reisebeschreibung über einen Ritt durch Teile der Insel Neuguinea. Er blieb bis nach 9 Uhr. Und als er ging, reichte er Mela die Hand und sagte: „Also morgen vormittag ziehe ich ein. Auf Wiedersehen, Fräulein Müller.“

Er stieg die steilen Treppen hinab. Und Mela stand in dem Vorraum und hörte, wie die Stufen unter seinen Schritten knarrten, hörte noch immer dieses so wechselvolle Organ, das so weich klingen konnte, das dann wieder so hart tönte wie Stahl, sah noch immer dieses Gesicht vor sich, das in jeder Linie wie ein Charakterkopf wirkte.

Und – Mela suchte und suchte nun wieder in ihrer Erinnerung. Aber auch jetzt wollten der sonnige Platz und die Schaukel und das Mädel mit den fliegenden Zöpfen nicht wieder auftauchen.

Nur eins wußte Mela genau: dieser Mann konnte nie und nimmer ein Glücksritter sein! Nein – dazu hatte dieser Falk in zu vielen kleinen Zügen zu viel Gemüt verraten! –

Sie ging in das Wohnstübchen, setzte sich neben den Vater, erzählte von dem großen Glück: daß sie die Vorderstube an den Schriftsteller Arthur Falk vermietet hätte und daß Falk ihr dauernd Abschriften übertragen würde.

„Vater – Herr Falk zahlt 200 Mark mit Morgenkaffee, und Silberstein hat mir 100 Mark zugelegt,“ sagte sie jetzt und streichelte des Gelähmten Hände. „Vater, paß auf, jetzt werden wir sogar sparen können!“

Robert Müller lachte hart auf, murmelte:

„Armselig – armselig –! Hunderttausende hätten – mein – sein können –! Aber – alles rot – und nur verbrannte Knochen!“ Ein Zittern lief über seinen Leib hin. „Knochen – Knochen – und – vielleicht – die Strafe –!“ flüsterte er weiter mit flatterndem Unterkiefer.

Mela lauschte atemlos. Aber der Kranke schwieg jetzt und sprach auch an diesem Abend kein Wort mehr. –

Falk hatte sich den einen Stubenschlüssel seines neuen Junggesellenheims sofort geben lassen, damit er morgen einziehen könnte. Er wanderte jetzt zu Fuß die Kantstraße hinunter. Die Pension Loschwitz, in der er bisher gewohnt hatte, lag unweit der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche. Er ging sehr langsam und tief in Gedanken versunken dahin. Er war sich nicht recht klar darüber, ob in Melas Gedächtnis nicht doch vielleicht durch ihn Erinnerungsbilder geweckt wären, die, falls sie allzu deutlich auftauchte, ihm leicht hinderlich hätten werden können. Er hatte sehr wohl gemerkt, daß sie ihn mit ganz besonderen Blicken verstohlen gemustert hatte. In ihrem ganzen Verhalten hatte sich für ihn, der Menschen und deren Sichgeben so gut beurteilen konnte, ein gewisses Mißtrauen ihm gegenüber ausgeprägt. Er sann und sann: konnte Mela wirklich sich noch an den damaligen großen Spielgefährten jener kurzen Pfingstferien so genau erinnert haben, daß sie ihn wiedererkannt hatte? – Schließlich kam er doch zu der Überzeugung, daß hier ein anderer Grund für dieses heimliche Beobachten und Prüfen seiner Person vorliegen müßte. Aber welcher – welcher?!

Dann dachte er an Moritz Silberstein und Tessa Grüttner. Mela hatte ihm vorhin mit gewissem Stolz so nebenbei erklärt, wie gut sie mit ihrem Chef stände. War es da nicht möglich, daß Silberstein in seiner Wut über diese halbe Erpressung der 25 000 Mark ihr mitgeteilt hatte, wie dieses Darlehnsgeschäft zustande gekommen war?! Hatte nicht Mela das Geld Tessa gebracht und ihn bei dieser Gelegenheit als nahen Bekannten der Grüttners zum ersten Male gesehen – oder besser: seit vielen Jahren wiedergesehen? Konnte sie nicht auch ihn jetzt für einen Menschen ähnlicher Denkungsart halten, wie die Grüttners es waren?!

Aber – wenn sie eine so wenig günstige Meinung von ihm hatte, würde sie ihn dann als Mieter angenommen haben?! – Er gelangte zu keiner Klarheit über diese Fragen. Und all diese Gedanken hinterließen jetzt bei ihm nur ein Gefühl des Unbehagens. Er war in manchen Dingen abergläubisch. Die Einleitung des neuen, großzügigen Planes schien ihm jetzt unter einem ungünstigen Vorzeichen zu stehen. Der siegesgewisse Eifer, mit dem er an die Sache zunächst herangegangen war, hatte einen starken Dämpfer erhalten.

Überhaupt: es würde nicht ganz leicht sein, Robert Müller so weit zu umgarnen, daß er das verriet, worauf es hier ankam. Die Gefahr, von dem Kranken wiedererkannt zu werden, war ja nicht allzu groß, da dessen Augenlicht schwer gelitten haben sollte. Wenn man die Stimme etwas verstellte, dann konnte Müller kaum irgendwie argwöhnisch werden.

Je mehr Falk jetzt über diese schwierigen Aufgaben der nächsten Zeit nachsann, desto mehr verstärkte sich sein Unbehagen. Immer wieder drängte sich ihm Melas Bild auf, – das Bild dieses ernsten, stillen Mädchens, das so tapfer alles ertrug, das so arbeitsfreudig war, das so rein und groß in jedem Empfinden erschien.

Er sah sie vor sich stehen, wie sie ihm beim Abschied so vertrauensvoll die Hand reichte, wie ihre Augen froh geleuchtet hatten, als er sie bat, ihn ganz als Hausgenossen zu betrachten, als guten Kameraden, mit dem man sich über alles aussprechen könne.

Mela! Weshalb mußte auch gerade sie nun gewissermaßen mit hineinverwickelt werden in seine Pläne?! Wenn Robert Müller keine Tochter gehabt hätte oder wenn diese ein leichtfertiges Geschöpf gewesen wäre, dann – dann würde sich jetzt bei ihm nicht wieder das geregt haben, was er immer noch nicht hatte völlig töten können: sein Gewissen!

Ja – es war so! Weshalb sollte er sich belügen?! Mela störte ihn! Der Gedanke, daß er den Vater dieses braven Mädels nun in so – so hinterlistiger Weise abermals für seine Zwecke ausnutzen wollte, war ihm unangenehm, rief Empfindungen in ihm wach, die seiner Tatkraft nur nachteilig waren.

Mela! Mela Müller! – Er mußte plötzlich lächeln. Es war ein heiteres, so junges Lächeln! Mela mit den beiden Blondzöpfchen –! Und wie hatte sie vor Vergnügen gekreischt, wenn sie in dem großen Garten Haschen spielten und er einmal gestolpert und lang hingefallen war: da hatte sie um ihn herumgehüpft wie ein Kobold und gerufen: „Ungeschickt läßt grüßen!“

Ein Kind damals – und jetzt ein reifes Weib! Und was für ein Weib! setzte er seine Gedanken, wieder ernst werdend, fort. Ein Weib, das Achtung verdiente, das so fest mit ihren beiden, ein wenig verarbeiteten Händen das störrische Leben am Zügel hatte und – das eine wundervolle, traute Gefährtin abgegeben hätte für einen Mann, der ausruhen sollte nach aufreibenden Jahren eines heimlichen Kampfes gegen Recht und Gesetz. –

Arthur Falk schob sich plötzlich den Hut aus der Stirn.

Unsinn – wo bin ich mit meinem Denken hingeraten! schoß es ihm durch den Kopf. – Sie, die Reine, Gute, und – Du – Du –?!

Falk begegnete im Flur der Pension Herrn August Schmolke.

„Gut, daß ich Sie treffe,“ meinte der Kolberger Lebemann mit verstörtem Gesicht. „Herr Falk – bitte, kommen Sie mit auf mein Zimmer. Oder nein – gehen wir zu Ihnen hinein. Mein Sohn ist bei mir.“

Dann schüttete er Falk sein sorgenbelastetes Herz aus.

„Denken Sie, die verdammten Zeitungsschreiber haben über mein Pech in einer Art berichtet, daß ich für jeden Bekannten, besonders aber für meine Frau, herauszukennen bin. Wenn meine Frau von der Geschichte was erfährt – ich meine von der Autofahrt mit dieser verfl… falschen Rumänin usw. – dann – dann – Na vielleicht können Sie sich, da Sie ja Schriftsteller sind, ausmalen, was dann geschieht. – Ich flehe Sie an: geben Sie mir einen Rat, Herr Falk, wie ich dem Unheil entrinne. Meine Frau braucht nur in der Zeitung diese Abkürzungen zu lesen, dann – dann –“

Falk tat der Ärmste leid. – „Ironie des Schicksals!“ dachte er. „Das Opfer holt sich Rat bei dem, der es schröpfen ließ!“ – Laut aber sagte er: „Zunächst eine Frage. Weiß Ihr Sohn etwas von Ihrem – Pech?“

„Mein Sohn?! Noch besser! Werde mich hüten.“

„So. – Dann also folgendes, Herr Schmolke. Sie setzen sich jetzt sofort hin und schreiben an Ihre Gattin einen Brief, der etwa lauten muß – Heute traf ich hier zufällig einen Kollegen – Schulz aus Kammin in Pommern –, der mir sein Leid klagte. Ihm sind von einer Hochstaplerin – und so weiter. – Flechten Sie nur genügend Einzelheiten ein, Herr Schmolke, und Sie haben durch diesen Brief einen Wall gebaut der Sie genügend schützt. – Hier in der Pension ahnt ja bisher niemand etwas von Ihrem – Reinfall. Sorgen Sie dafür, daß dies so bleibt und – reisen Sie schleunigst ab.“

Schmolke war gerührt und drückte Falk kräftig die Hand.

„Ich danke Ihnen herzlich. – Ja – Ihr Rat ist weit besser, als der, den mir heute – hm ja, eigentlich sollte ich nicht darüber sprechen, aber Ihnen gegenüber –! Es war nämlich vorhin ein Herr Silberstein – Moritz Silberstein, Modenhaus – bei mir. Was er so recht wollte, ist mir nicht klar geworden. Jedenfalls tat er so, als könnte er mir vielleicht zu einem Teil der 95 000 Mark zurückverhelfen und fragte mich ganz genau über meine „Rumänin“ aus – übrigens ein süperbes Weib war’s, Herr Falk. Nun, der Silberstein meinte, ich solle zu allen Zeitungsexpeditionen fahren und bitten, daß eine Notiz gebracht würde, es handle sich bei dem Diebstahl nicht um einen Apothekenbesitzer Sch., sondern um einen Hotelbesitzer St. – und so weiter.“

Falks Gesicht hatte sich nicht im geringsten verändert. Und doch war es ihm schwer geworden, den Schreck zu verbergen, den er bei der Erwähnung Silbersteins bekommen hatte.

Schmolke verabschiedete sich. – Falk aber verließ sofort wieder das Haus und eilte zu Grüttners.

Tessa war daheim. Wenige Minuten später wurde im Küchenherd – Bedienung hielten Grüttners nicht, nur eine Aufwartung für den Vormittag – ein Riesenfeuer angefacht und alles von Kleidungsstücken verbrannt, was irgendwie an die „Rumänin“ erinnert hätte.

Tessa nahm die Warnung Falks, jetzt außerordentlich vorsichtig zu sein, sehr kühl hin.

„Silberstein und mir gefährlich werden?! Lächerlich!“ meinte sie.

Falk wühlte mit der Kohlenschaufel in der glühenden Asche, die er nachher herausnehmen und in den Mülleimer tun wollte. „Unterschätzen Sie den Mann nicht, Tessa!“ meinte er. „Ich wette, er ist damals ebenfalls bei Kempinski gewesen. Er wird sich rächen wollen! – Haben Sie den anderen Gläubigern Abschlagszahlungen zukommen lassen?“

„Ja. Ich wollte dem Offenbarungseid entgehen.“

„Hm – sehr gefährlich auch das!“ sagte er ernst. Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: „Tessa – verschwinden Sie von hier mit Theo und zwar sofort. Gehen Sie in irgend ein Solbad, das jetzt schon Besuch hat. Es ist besser, glauben Sie mir!“

Sie blickte auf die Fliesen des Küchenfußbodens. Dann schaute sie ihn forschend an. „Sie möchten mich los sein, Arthur,“ flüsterte sie und trat näher auf ihn zu. Ihre Wangen waren plötzlich gerötet. In ihren Augen glomm das Mißtrauen. „Arthur – ich werde gehen, wenn – wenn Sie mir reinen Wein darüber einschenken, woher Sie Robert Müllers Vergangenheit so genau kennen, daß Sie hoffen, bei ihm das zu finden, was wir so nötig brauchen!“ Ihre Stimme hatte wieder den Klang sehnsüchtiger Leidenschaft angenommen. „Arthur – sagen Sie mir die Wahrheit! Ich flehe Sie an! Retten Sie mich – retten Sie uns beide! Wenn Sie – mir verloren gehen, dann – dann –“

Ihr kamen Tränen in die Augen. – Jetzt fühlte Arthur Falk deutlich, daß die Empfindungen, die diese schöne Frau ihm entgegenbrachte, anderer Art waren, als er bisher vermutet hatte. Das war ganz offenbar kein Aufflackern der Sinne, das ging mehr in die Tiefe, das war das Wünschen eines noch nicht ganz verderbten Weibes nach sittlichem Aufstieg – nach Rettung, wie sie es nannte.

Er streckte ihr beide Hände hin.

„Tessa, warten Sie ab,“ bat er. „Verlangen Sie heute noch nicht die Aufklärung über meine einstigen Beziehungen zu Robert Müller. Ich verspreche Ihnen aber, daß Sie alles erfahren sollen, sobald – wir das Ziel erreicht haben. Und ich wiederhole: Dann – dann wird sich auch über eine Zukunft reden lassen, die Ihr Sehnen erfüllt!“

Ihre Augen strahlten auf. Mit einem unterdrückten Jubelschrei schlang sie ihm die Arme um den Hals, riß ihn an sich, küßte ihn.

Er drängte sie sanft von sich. „Verständig sein, Tessa,“ lächelte er freundlich. „Und – vorsichtig! – Morgen früh verschwinden Sie mit Theo von hier ganz unauffällig, aber auch nicht so, daß es nach Flucht aussieht. Nun – in diesen Dingen sind Sie ja nicht weniger bewandert als ich.“

 

7. Kapitel.

Die Platten.

Robert Müller blinzelte in den gleißenden Sonnenschein hinaus, der so grell den Lietzensee bestrahlte und dessen Oberfläche wie Silber leuchten ließ.

„Gesund werden – gesund!“ murmelte er. „Ja – wenn das möglich – wäre – möglich! Aber –“

Falk, der neben ihm saß, fiel ihm rasch ins Wort. „Es ist möglich. Es gehört nur Geld dazu. Heutzutage freilich viel Geld – sehr viel Geld. Dann – erreicht man alles!“ Er sprach heiser, und sein Organ klang ganz anders als sonst.

„Geld!“ Der Kranke stieß ein häßliches Lachen aus. „Wo – sollte ich – es wohl – hernehmen?!“ Er wandte den Kopf und blickte Falk mit zusammengekniffenen Augen an, um dessen Gesichtszüge etwas deutlicher zu erkennen. „Ich – ich war – einst sehr – lebenslustig – sehr. Und meine Frau – half mir, das Geld – mit vollen Händen ausgeben. Wir waren – gleich leichtsinnig. Lebten weit – über unsere Verhältnisse – weit! Sie ahnen nicht, Herr Falk, daß – ich mal – bessere Tage gekannt habe –“ Er wurde lebhafter. „Sie – haben mich, seit – Sie hier bei uns wohnen, so etwas – aufgeheitert, haben – mir auch klar gemacht, daß – mein Kind – Lieb und Dankbarkeit verdient. Sie – verstehen es, sich – erstarrte Herzen zu erschließen. Ich bin – Ihnen sehr dankbar, sehr –“

„Oh – wozu das alles, lieber Müller. Ich brauche keinen Dank. Mir genügt es, wenn ich Ihrem Kinde und Ihnen wieder das Lächeln –“

Der Gelähmte war schon wieder bei seinen eigenen Gedanken, flüsterte halblaut vor sich hin: „Geld – Geld – gesund werden – oh – gesund werden, noch einmal leben können – leben – leben! – Geld!“ Ein heiseres Auflachen. „So leicht ist’s – herzustellen – so leicht. Wenn nur –“ Das weitere verstand Falk nicht mehr.

Er wartete ein paar Minuten, sagte dann leichthin:

„Sie glauben gar nicht, Herr Müller, wieviel falsche Banknoten jetzt im Umlauf sind. Freilich – die meisten sind Stümperarbeit.“

Des Gelähmten Kopf war mit einem Ruck herumgefahren; seine Augen bohrten sich förmlich in Falks Gesicht ein, erkannten aber doch nur ganz verschwommen dessen Züge.

Falk hatte ohne Pause weitergesprochen. „Ich denke mir, es kann kaum schwer sein, täuschend ähnliche Banknoten herzustellen, wenn man nur tadellos gestochene Druckplatten zur Verfügung hat. Ihnen will ich’s ganz im Vertrauen mitteilen, Herr Müller: Vor einem Jahr ging es mir so hundsmiserabel, daß ich alles – alles getan hätte, mir Geld zu verschaffen. Ich war körperlich so herunter, daß ich keine Zeile mehr schreiben konnte. Wenn da jemand mir das Anerbieten gemacht hätte, mit ihm in Kompagnie so eine kleine Fabrik für „Blüten“ aufzumachen, ich hätte nicht Nein gesagt! Gesundheit ist doch das Beste, was wir haben. Wenn man merkt, daß man so langsam siecher und siecher wird, wenn man hungert und andere prassen sieht, dann –“

Robert Müller hatte mit zitternder Hand nach der Falks gesucht, hielt diese nun mit seinen stets eiskalten Fingern umklammert.

„Was – was reden Sie da,“ flüsterte er keuchend. „Sie – Sie würden – so was – tun können?“

„Wenn es um das Höchste, um meine Gesundheit geht, – ja! Und wenn ich’s verstände, würde ich’s auch für Sie tun, Herr Müller, – eben weil ich Mitleid mit Ihrer Hinfälligkeit habe –“

Die eiskalte Hand des weißbärtigen Mannes zog Falk näher.

Falk ahnte, was jetzt kommen würde. Er sah den Sieg voraus. Aber – er freute sich dessen nicht! Nein – noch nie hatte ihm der Ekel vor sich selbst so würgend die Kehle zugeschnürt wie jetzt – noch nie! Noch nie war er sich der ganzen Schändlichkeit, die in dieser freventlichen Ausnutzung seiner geistigen Überlegenheit zu Tage trat, so deutlich bewußt geworden, wie in diesem Moment, wo er durch ein raffiniert schlaues Spiel diesem Kranken ein Geheimnis entlocken wollte. Er war nahe daran, aufzuspringen und zu rufen:

„Schweigen Sie, Robert Müller, – schweigen Sie! Zum zweiten Male steht derselbe Verführer vor Ihnen, der einst Ihr Unheil wurde!“

Aber – er schwieg. Er beschwichtigte sein Gewissen, dachte: „Wenn er Dir den Ort verrät, so brauchst Du ja noch lange nicht Deinen Plan auch auszuführen! Du kannst immer noch zurück!“

Da flüsterte auch schon der Gelähmte mit vor Erregung gurgelnden Tönen: „Ich will gesund werden. Wenn’s nur am – Gelde liegt, ich – kann es beschaffen helfen – helfen! – Hören Sie, Falk, – ich – vertraue Ihnen jetzt – was an, das – nur ich weiß. Ich war – einst in München ansässig. Ich habe – vor Jahren – im Englischen Garten in München – eine Kiste – vergraben – eine Kiste mit Zinkblecheinsatz, – darin befinden sich – zwei Platten – für deutsche Banknoten – für Hundert- und Tausendmarkscheine, Platten, die so – vorzüglich gestochen sind, daß sie – nicht den geringsten Fehler enthalten. Und weiter – liegt da – Banknotenpapier und – Farben, Druckfarben, – alles, was –“ Ihm versagte vor Erregung die Stimme. Er atmete keuchend, fügte dann hinzu:

„Vom Chinesischen Turm – genau nach Nordwest, fünfhundert Meter, Eiche, drei Meter – nach Norden.“

Und der Alte krallte seine Finger noch enger um die Hand des Verführers.

„Falk – holen Sie – die Kiste. Dann – dann Geld – Geld – Gesundheit – leben, leben –!“ Er begann zu schluchzen. Er malte sich aus, daß er wieder hinauskönnte aus diesen engen vier Wänden, hinaus in die Sonne, – und genießen – genießen –!

Er weinte; beruhigte sich langsam. Und hörte zu, was Falk ihm vorschlug. –

Das war an einem Sonnabend vormittag Ende April.

Und am nächsten Tage saßen Vater und Tochter und Arthur Falk nachmittags um den sauber gedeckten Kaffeetisch. Falk hatte Tortenstücke gespendet. Und dazu gab’s echten Bohnentrank, keinen Aufguß von Kaffeeersatz.

Der alte Mann war seit gestern wie umgewandelt. Mela konnte nur immer staunend zu ihm hinüberschaun, wie frisch er aussah und wie heiter er lächelte.

Dann aber glitt stets ihr Blick weiter zu Arthur Falk hin, diesem Zauberer, der doch fraglos auch diese neue Wandlung zum Besseren bei dem bisher so stillen Kranken hervorgerufen hatte.

Oh – wie unendlich dankbar war sie Falk! Seit er bei ihnen wohnte, hatte ja jeder Tag neue, freudige Überraschungen gebracht, – aller Art, – vielleicht als größte die, daß Mela jetzt erkannte, daß das, was sie für Alexander Schmolke empfunden, niemals Liebe gewesen.

Jetzt – jetzt wußte sie, was – ein Mann war, was bei einem Weibe Liebe zu einem Menschen wie Falk bedeutete, wie eine solche Leidenschaft dann für nichts anderes mehr Raum ließ – für nichts!

Ja – lachen und singen, Liedlein trällern und Sonne in den Augen haben – all das war ihr jetzt angeflogen – all das in vierzehn Tagen! –

Sie trug jetzt das Kaffeegeschirr hinaus, stellte für die beiden Männer die Aschbecher zurecht. Falk schnitt dem alten Herrn die Spitze von der Zigarre, gab ihm Feuer. Und als das Plauderstündchen vorüber, da kommandierte Robert Müller sehr energisch:

„Nun – ins Freie – mit Euch beiden – vorwärts.“

Im Nu war Mela zum Ausgehen angezogen. – Diese Spaziergänge mit ihm, dieses Durchstreifen der rauschenden Kiefernwälder! War das ein Genuß, ein Glück! Alles – alles, was von ihm kam, war ja ein Glück – alles! Jede kleine Aufmerksamkeit, jedes Blumensträußchen, jedes Buch, jede Leckerei, mit der er sie überraschte! –

Nach Halensee gingen sie heute; hinein in die Hunderte von Ausflüglern, die alle den Frühling in besonderer Schrift auf den angeregten Gesichtern hatten.

Vorüber an einem Tanzlokal kamen sie; Musik schallte heraus – Walzermusik.

Mela hatte nie in ihrem Leben einen Tanzboden besucht. Walzertanzen hatte sie bei den Ausflügen gelernt, die das Personal von Moritz Silberstein zuweilen veranstaltete.

Falk war stehen geblieben, lachte Mela an. „Wie wär’s mit uns –?!“ meinte er und deutete auf die offene Saaltür, vor der Mädchen in hellen Kleidern standen, die sich Kühlung zufächelten und mit ihren Herren scherzten.

Mela schaute ihn verwirrt an. Da zog er sie schon mit sich fort.

Und dann – dann ruhte sie zum ersten Male an seiner Brust – eng – ganz eng.

Ihr drohten die Sinne zu schwinden. Sie fühlte nur eins: eine so namenlose Seligkeit, daß alles um sie her versank.

Sie wußte kaum mehr, was geschah. Wie im Traum ließ sie sich von ihm hinausführen in den großen Garten – immer weiter, bis hin zu den Treibhäusern der kleinen Gärtnerei, bis zu den Büschen, die sie vor jedem Blick verbargen.

Hier nahm er ihre Hände, schaute sie strahlend an.

„Mädel – soll ich Dir noch sagen, wie’s um mich steht? Ach – Du weißt es ja längst! Du mußt es wissen –“

Sie nickte. „Gehofft habe ich – gehofft –“

Und ohne Scheu legte sie ihm die Arme um den Hals, schmiegte sich an ihn, bog den Kopf zurück und flüsterte:

„Ich liebe Dich!“

Ihre Lippen fanden sich in einem langen, keuschen Kuß.

Melas Augen schwammen in Tränen vor Glück.

„Du – Du – alles täte ich für Dich!“ stammelte sie und legte ihren Kopf an seine Brust. „Alles, Du, – alles! Du hast mir ja die – Sonne geschenkt!“

Arthur Falk wurde ernst. „Nein – ich will sie Dir erst schenken, mein Liebling! Das, was ich Dir bisher gab, war nur – der Widerschein eines fernen, vielleicht trügerischen Sternes. Ja – echte, wahre Sonne und Wärme sollst Du haben – immer – immer! Ein neues Leben soll beginnen für uns beide, fern von hier – irgendwo –“

Da kam ihm die Erinnerung an Tessa Grüttner, an ihre Worte, die einst fast dieselben gewesen, als sie ihn angefleht, mit ihr zu fliehen – irgendwohin, – in ein Häuschen, meer- und waldumrauscht –!

Wie ein leichtes Unbehagen beschlich es ihn da.

„Was – was hast Du, Lieber? Dein Gesicht – es sieht plötzlich so – so anders aus,“ flüsterte Mela und drückte ihn an sich.

„Nichts – nichts – vielleicht häßliche Erinnerungen vielleicht Gespenster, die ich nun für immer verscheuchen werde –“

Sie wurde ängstlich. „Gespenster? – Ach, Lieber, bei mir daheim gehen genug Gespenster um – übergenug! Nur nicht noch –“

Er küßte sie schnell, lachte sorglos.

„Ich bin ja ein Zauberer, Mela, – ich werde die Geister bannen –“

Da wurde sie wieder froh. „Ja – Du, Du – bringst alles fertig –“

Es durchzuckte ihn wie ein schmerzhafter Stich.

„– Bringst alles fertig! – Wenn Du wüßtest, Du Reine, Gute –!“ dachte er. –

Dann gingen sie heim; dann aßen sie wieder zu dreien zu Abend; dann – huschte Mela nachher noch hinüber zu ihm in das Vorderstübchen. Und saß ihm auf dem Schoß, kuschelte sich an seine Brust und ließ sich erzählen, was und wie nun alles werden sollte.

Kündigen sollte sie bei Silberstein, gleich morgen. Und Silberstein bitten, sie zu entlassen, sobald er für sie Ersatz gefunden. Dann – der Umzug – nach dem kleinen Ostseebade – in aller Stille, wo Falk ein Häuschen schon jahrelang besaß, so eine Einsiedelei, die er stets ausgesucht hatte, wenn – der Ekel vor sich selbst übermächtig geworden.

Ach – wie wundervoll würde diese Zukunft sein, wie herrlich. Wenn der Vater unter den blühenden Obstbäumen im Garten sitzen konnte, wenn die Hühner mit reizenden gelben Küklein sich gackernd umhertreiben würden, wenn man säen und ernten würde. Und dazu das Meer, das freie, weite Meer. –

Mela streichelte seine Hand.

„Lieber, denk’ Dir, – zuweilen taucht in meiner Erinnerung ein Bild auf – etwas, das ich nicht recht begreife. Eine Schaukel, auf der ich als kleines Mädel sitze. Und dann – dann ist’s mir stets, als wärest Du der, der hinter der Schaukel steht und sie in Schwung setzt –“

Er schwieg erst, sagte dann leise: „Ja – unser Gedächtnis vermittelt uns oft Bilder, die wir nur aus Traumgesichten schöpfen –“

Dann huschte Mela wieder zurück in das andere Stübchen. Und Arthur Falk schrieb einen Brief an Frau Tessa und bereitete sie darauf vor, daß der große Plan wohl daran scheitern würde, daß man „dem Alten“ sein Geheimnis nicht entlocken könnte. – Er bereitete sie vor. Und nach ein paar Tagen wollte er ihr dann mitteilen, daß er den ganzen Plan als unausführbar aufgegeben hätte und – eine Weltreise antrete.

 

8. Kapitel.

Die Vergangenheit.

Moritz Silberstein hatte keine Kosten gespart. Der Privatdetektiv, den er angenommen hatte, war nicht billig gewesen. Aber – es hatte wenigstens gelohnt. Gestern, Sonntag nachmittag, hatte der geschickte Spürer ihm das Material ausgehändigt, alles schriftliche Aufzeichnungen, fein säuberlich geordnet. –

Silberstein nickte Mela freundlich zu. „Morgen, liebes Fräulein Müller – Morgen! – Na – gestern auch so ’n bißchen im Freien gewesen? War ein Prachtwetter! – Hm – die Woche fängt für uns gut an – glänzend an, Fräulein Melachen! Jetzt – jetzt haben wir sie nämlich fest –!“

Mela schüttelte den Kopf. „Fest?! Wen denn?“

„Nu – die feine Frau von Grüttner! – Setzen Sie sich erst mal, Kind. – So – Sie sind ja meine rechte Hand sozusagen, meine Vertraute. Sie sollen alles wissen – alles! Aber – reinen Mund gehalten, Melachen, bis – bis ich zugreife! Aber – ohne Polizei!“

Er holte die Aufzeichnungen des Detektivs hervor.

„Hören Sie mal zu. – Zuerst Theo von Grüttner. Ehemaliger Leutnant bei der ehemaligen Gardeinfanterie. Wechselschulden, Wechselfälschungen. 1910 erste Gefängnis- nein, Zuchthausstrafe wegen Urkundenfälschung, Betrug und so weiter. 1913 zweite Strafe. 1915 dritte. 1918, Herbst, Heirat mit Emilie Minzloff, Soubrette, Taschendiebin, Hochstaplerin, zweimal vorbestraft. – Das ist „unsere“ Tessa, dies Emilie!“

Silberstein schaute Mela triumphierend an.

Sie war sehr blaß geworden. Sie dachte – und diese Gedanken waren wie Berge, die einstürzten und ein großes Glück unter sich begruben: „Das – das waren Falks Freunde – das! Verbrecher – Verbrecher –!“

Silberstein lachte. „Ja – glaub’ schon, daß Sie so entsetzt sind, Melachen, besonders da doch dieses Jammerlappens, dieses Alexander Schmolkes[6] Vater von diesem Weibe sich hat bestehlen lassen und da Sie doch damals meine schönen 25 000 Mark hintrugen! – Aber – es kommt noch besser, Melachen. Da wohnt doch jetzt dieser Herr Arthur Falk bei Ihnen, nicht wahr? Und – der war der dickste Freund dieses Gaunerpärchens, ist eine sehr, sehr mysteriöse Persönlichkeit, bei der Polizei gut bekannt, nur – nie zu fassen gewesen bisher, nie! Hat aber viermal in Untersuchungshaft gesessen. War ihm nischt nachzuweisen. Zu schlau eben – ein Aal, den niemand festhalten kann. Da nun der Theo von Grüttner ein Trottel ist, dürfte wohl Falk „der Macher“ bei dieser Geschichte mit Schmolke gewesen sein. Sie wohnten ja in derselben Pension, und Falk hatte sich so etwas mit dem Kolberger Idioten, der auf die „Rumänin“ hereinfiel, angebiedert, wird also gewußt haben, daß Schmolke die Zechinen in einer besonderen Tasche auf – der Kehrseite verwahrt trug. – Fein, was, Melachen! Netten Mieter haben Sie da!“

Er räusperte sich. „Hm, übrigens hat „mein“ Detektiv sich auch so etwas um Ihren Vater gekümmert, liebes Kind. Ich weiß nun nicht recht, ob ich Ihnen –“

Melas gesenktes, geisterbleiches Gesicht war hochgeschnellt „Sie – Sie sollen! Sie müssen mir mitteilen, was Sie über meines Vaters Vergangenheit erfahren haben. Es ist ja auch die meine! Und ich will endlich – in allem klar sehen!“

Ihre zitternden Lippen, ihre unnatürlich großen Augen erschreckten Silberstein.

„Gott – Sie werden sich sehr aufregen,“ meinte er zögernd.

„Oh – durchaus nicht! Mehr, als mir schon zerstört worden ist, kann mir gar nicht mehr zerstört werden –!“

„Nu – gut denn. – Also Ihr Vater, der war seiner Zeit ein sehr bekannter, ein berühmter Kupferstecher in München, Lehrer an der Kunstakademie, sehr angesehen, sehr ein – flotter Herr, dem ’s seine Frau gleichtat in allem. Geld spielte keine Rolle. In der Villa draußen am Isarufer wurden Feste gefeiert, die Tausende verschlangen. Dann – tauchten plötzlich in München eine Unmenge falsche Banknoten auf – so gut nachgemachte Banknoten, daß nur die Kassierer der Banknoten hin und wieder eine entdeckten. Nur die Farbe stimmte nicht ganz. – Die Polizei suchte ein halbes Jahr nach den Herstellern umsonst. Dann – wurde eines Tages eine Dame angehalten, die auf der Post einen Tausendmarkschein gewechselt hatte, der – zu den Fälschungen gehörte. Die Dame hatte noch vier weitere dieser Scheine bei sich. Als sie aber auf der Polizei sich als – als Frau Gerda Müller, Gattin des bekannten Lehrers an der Akademie, auswies, gab man sie sofort wieder frei. Das geschah abends sieben Uhr. Und um zehn Uhr kam in der Villa an der Isar ein Brand auf[7] – verbreitete sich so schnell, daß Frau Müller – in den Flammen umkam. Ihr Mann war um halb neun zu einer Vereinssitzung gegangen, mußte erst geholt werden. Die Polizei – verhaftete ihn unter dem Verdacht der Brandstiftung, da man Anzeichen dafür fand, daß das Feuer in den beiden Stockwerken gleichzeitig aufgeloht und – angelegt war. Man beschuldigte Müller, in der Villa eine vollständige Druckerei für falsche Banknoten eingerichtet gehabt und diese Druckerei durch den Brand vernichtet zu haben, nachdem er durch das Pech seiner Frau auf der Post eine Entdeckung befürchtet hätte. Er saß sehr lange in Untersuchungshaft. Man konnte nichts beweisen. Er verschwand dann für immer aus München. – Seit dem Brande war aber auch einer seiner Schüler spurlos verschwunden, ein sehr talentierter, aber auch ebenso leichtsinniger junger Adliger, ein Sohn des Fürsten von Imberg-Falkenfels. Die Polizei vermutete, daß dieser Edgar, Felix, Albert, Arthur von Imberg-Falkenfels seinen Lehrer zu den Banknotenfälschungen verführt hätte, da man ihn im Verdacht hatte, aus der Reichsdruckerei in Berlin vorher auf sehr raffinierte Art das Faserpapier für die Banknoten gestohlen zu haben, was jedoch ebensowenig bewiesen werden konnte wie irgendeine Schuld Ihres Vaters, liebes Fräulein Mela, der natürlich infolge dieser Verdächtigungen für alle Zeiten ein gebrochener Mann war. – Ja, Melachen, – nichts hat man ihm beweisen können – nichts –“

Er wollte noch mehr hinzufügen. Aber Mela war schon aufgestanden, hatte nach Hut und Mantel gegriffen.

„Ich – ersticke hier,“ sagte sie mit ganz fremder Stimme. „Ich – muß – ins Freie –“

 

9. Kapitel.

„Hoffe – wie ich!“

Tessa von Grüttner und ihr Mann waren nach Bad Pyrmont übergesiedelt. Eines Abends, nach einem regnerischen Tage, sagte Tessa zu ihrem Gatten, der gerade wieder in die nahe Weinkneipe gehen wollte: „Ich reise mit dem Nachtzuge nach Berlin. Falk läßt so wenig von sich hören, daß ich dort einmal nach dem Rechten sehen muß.“

Theo grinste, meinte nur: „Aha – Sehnsucht! – Na – viel Vergnügen!“

Tessa hatte ganz andere Gründe, Pyrmont zu verlassen. Seit drei Tagen hatte sie bemerkt, daß sie beobachtet wurde – ohne Frage von Kriminalbeamten. Sie richtete sich danach, ging auf Umwegen zum Bahnhof und hoffte auch, unbemerkt den Zug bestiegen zu haben.

Es war Sonntag, als sie dann nachmittags vorsichtig das Haus am Lietzensee umschlich, damit sie Falk ansprechen könnte, sobald er ausging. Sie wollte ihn warnen und mit ihm gemeinsam die Flucht fortsetzen. Sie hatte sich sehr einfach angezogen, trug graue Perücke und schwarzen Schleier und fühlte sich in dieser Verkleidung sehr sicher.

Es wurde halb sechs Uhr, bevor Falk vor der Haustür erschien – mit Mela Müller. Tessa blieb hinter ihnen, betrat ebenfalls das Tanzlokal. Sie sah das Paar eng aneinander geschmiegt im Walzertakt sich drehen. Sie sah Melas glückstrunkene Augen. Verzehrende Eifersucht lohte in ihr auf.

Sie – sah noch mehr. Nur sie war Zeugin der ersten Küsse hinter den Büschen. –

Falk hatte soeben sein Frühstück beendet, stellte sich jetzt ans offene Fenster und blickte hinab auf die Straße. Plötzlich zogen sich seine Augenbrauen höher.

Ah – wieder stand da der Mann im Malerkittel und pinselte an der Haustür des Gebäudes gerade gegenüber herum, ohne mit seiner Arbeit seit Sonnabend irgendwie weitergekommen zu sein. – Falk trat zurück, lächelte etwas, murmelte: „Kriminalpolizei – alter Trick!“ wurde ernst, überlegte. Dann – schrieb er einen langen Brief an Mela, fügte ihm ein paar Papiere bei, ging mit dem versiegelten Brief hinüber zu Robert Müller und erklärte diesem ganz offen, daß er soeben den Beweis erhalten hätte, daß ihm die Polizei auf der Spur sei, händigte ihm den Brief aus und verabschiedete sich von dem schwer enttäuschten Manne, der nun alle seine Hoffnungen auf ein anderes, besseres Leben schwinden sah. Eine halbe Stunde drauf hatte er bei Wertheim durch geschickte Fahrstuhlbenutzung die Verfolger irregeführt.

So kam es, daß Tessa um halb zehn vormittags vergeblich bei Falk Einlaß begehrte. Sie verließ das Haus wieder. Da – auf der anderen Straßenseite – das war unzweifelhaft einer der beiden Leute aus Bad Pyrmont! Tessa[8] stockte für einen Moment der Herzschlag. Sie wußte jetzt, daß sie sich hier nicht mehr sehen lassen durfte, daß sie jeden Augenblick verhaftet werden konnte. Sie hatte sich eben getäuscht: die Häscher hatten sich doch nicht abschütteln lassen! –

Sie bestieg eine Straßenbahn und fuhr bis zum Zoologischen Garten. Der kleine dicke Mann aus Pyrmont stand auf dem Hinterperron des Anhängers, blieb ihr also aus den Fersen! Mochte er! Wenn sie nur noch unangefochten bis zu Silberstein kam. Dort würde sie ja Mela vorfinden, dort konnte sie dann auch gleich mit Moritz Silberstein abrechnen, dem allein sie diese Verfolgung durch die Kriminalpolizei zuschrieb.

Zu Fuß ging sie den Kurfürstendamm empor, möglichst ruhig, möglichst sicher tuend.

Da – sie stutzte. – Ja – das war Mela Müller, die ihr mit völlig verstörtem Gesicht entgegenkam.

Oh – das paßte nicht ganz in ihre Absichten hinein, diese Begegnung auf offener Straße. Nun – man konnte ja in eine stille Seitenstraße einbiegen.

Sie schritt auf Mela zu, zwang sie, stehen zu bleiben.

„Guten Tag, Fräulein –“

Mela fuhr zusammen. Diese Stimme –! Aber – das graue Haar –!

„Sie erkennen mich wohl nicht wieder,“ fügte Tessa hinzu. „Ich bin Frau von Grüttner –“

Mela wurde noch bleicher, konnte kein Wort hervorbringen.

„Ich habe mit Ihnen einiges zu besprechen, Fräulein,“ sagte Tessa wieder. „Ich werde Sie ein Stück begleiten.“

„Nein – nein –!“ stieß Mela hervor. „Lassen Sie mich – was wollen Sie von mir?! Ich habe mit Ihnen nichts zu schaffen.“ Sie hatte sich jetzt gefaßt. „Ich wünsche Ihre Begleitung nicht,“ erklärte sie ruhiger und wollte an Tessa vorüber.

Tessa konnte sich nicht länger beherrschen. „Oh,“ lachte sie höhnisch auf, „ich wollte Ihnen nur Aufschluß über Ihren Geliebten geben – über Arthur Falk.“

Mela blickte sie starr an. „Das – brauchen Sie nicht mehr,“ kam es langsam über ihre Lippen. „Ich – weiß jetzt, wer und – was er ist.“ Dann ging sie weiter.

Tessa schaute ihr unschlüssig nach. Ein Auto hielt an der Bordschwelle des Bürgersteiges. Neben Tessa tauchte der Mann aus Pyrmont aus, flüsterte: „Ich erkläre Sie für verhaftet – Kriminalpolizei!“ – Das Auto brachte die Hochstaplerin nach dem Polizeipräsidium. –

Mela hastete nach Hause. Sie wollte Falk sprechen; sie konnte sich nicht denken, daß soviel Falschheit und Gemeinheit in seinem Herzen wohnen könnten, daß es wirklich wahr wäre, was sie jetzt vermutete: daß er nur zu ihnen gezogen sei, um mit dem Vater abermals irgendwelche gesetzwidrigen Dinge vorzubereiten.

Sie kam heim. Der Kranke saß zusammengesunken in seinem Lehnstuhl. Bei ihrem Eintritt wandte er matt den Kopf, murmelte: „Er – ist – fort, – geflohen! Da – diesen Brief –“

Mela riß ihm den Brief aus der Hand. – Vier eng beschriebene Seiten waren es, eine vollständige Beichte, zum Schluß die Versicherung, daß er nur Mela geliebt habe und daß er aus Liebe zu ihr hätte anders werden wollen. Auch über Tessa gab er ihr rückhaltlos Aufschluß, – wie sie ihn bestürmt hätte, mit ihr zu fliehen.

Dann standen da noch folgende Sätze: „Ich bitte Dich bei der unendlichen Liebe, die ich für Dich empfinde und die mich gebessert hat: ziehe mit Deinem Vater in das Häuschen nach Blankhafen. Es ist mit ehrlich verdientem Gelde erworben, genau wie die Summe ehrlich erarbeitet ist, über die das beifolgende Sparbuch lautet. Ich füge ein Schreiben an den Gemeindevorsteher von Blankhafen bei. Man wird Euch ungehindert dort wohnen lassen, wo man mich nur unter dem Namen Arthur Imberg kennt. – Mela, ich beschwöre Dich: nimm dies Anerbieten von dem an, der Dein ist und Dein bleiben wird, den Du gerettet hast! Du weißt jetzt, daß ich den anderen, den schmalen Pfad der Ehrlichkeit betreten habe. Mela – sorge, daß das Schicksal mich nicht wieder hinabstößt in den Sumpf! Vielleicht sehen wir uns nie wieder! Mela – wenn Du in meinem Häuschen in Blankhafen wohnst, dann – dann hast Du mir verziehen! – Leb’ wohl! Schweige und – hoffe – wie ich! – Auf ewig – Dein Arthur.“

– – – – – – – –

Tessa atmete nach ihrer ersten Vernehmung befreit auf: Sie war nur der Kreditschwindeleien wegen verhaftet worden! – Sie hatte inzwischen wieder anders denken gelernt. Sie konnte Melas verstörtes Gesicht, diese todestraurigen Augen nicht vergessen. Sie war Weib genug und auch noch mitfühlend genug, zu begreifen, daß Mela weit mehr durch Arthur Falk verloren haben müßte als sie selbst. Haß und Rachsucht waren geschwunden. Nur der Drang nach Freiheit beherrschte sie jetzt. Sie verriet nichts, was ihr hätte gefährlich werden können. Und da Moritz Silberstein aus sehr schwerwiegenden Gründen all das für sich behielt, was er der Polizei als Material gegen sie hätte vorlegen können, verstand sie es, sich meisterlich aus allen Schlingen herauszuwinden. Einen Monat später bereits war sie mit Theo an der Riviera – zu neuen Taten!

Zu derselben Zeit hatten Mela und Robert Müller die kleine, abseits gelegene Villa in Blankhafen bezogen. Der alte Mann lebte hier sehr bald auf. Die kräftige Seeluft tat ihm wohl. An zwei Stöcken humpelte er bald im Garten umher und machte sich nützlich, wo er konnte. – Von Falk hörten und sahen Vater und Kind nichts – nichts! – Dann las Mela Ende Juni in der Kreiszeitung, daß der alte Fürst Imberg-Falkenfels gestorben und daß sein großes Vermögen an seine drei Söhne gefallen sei, von denen der jüngste jetzt plötzlich sich wieder gemeldet habe, nachdem er ein Jahrzehnt für verschollen galt. – Und wieder acht Tage drauf erhielt Mela zwei Briefe: einen von Silberstein, den anderen von Apotheker August Schmolke, – beide des Inhalts, daß ihnen jetzt ein früherer Geldverlust auf Heller und Pfennig zurückerstattet worden sei und daß sie die Empfangsbestätigung hätten an sie schicken sollen. – Mela begriff sofort: Falk machte wieder gut, was er und seine Genossen anderen einst geschadet hatten! – An diesem Tage sang und trällerte Mela wie ein Vögelchen, das man in ein Paradies versetzt hat.

Der Abend kam. Der Himmel glühte in wundervollem Rot; ein frischer Seewind schüttelte die Bäume des Gartens, wo Mela emsig die Beete goß. Leicht gebräunt waren ihre Wangen jetzt; voller und stattlicher war sie geworden; stille Heiterkeit lag in ihren reinen Augen.

Arthur Falk stand an der Gartenpforte. Dann schlich er näher – ganz leise, legte Mela plötzlich von hinten die Hände über die Augen. Sie war einen Moment wie gelähmt. Dann – ein jubelndes: „Du – Du!“ und sie lag an seiner Brust, lachte, weinte vor Seligkeit. –

Vier Wochen drauf wurde Mela Frau von Imberg-Falkenfels. Es war nur eine ganz, ganz kleine Hochzeit. Nur ein Berliner Hochzeitsgast war erschienen: Moritz Silberstein! – Er hatte es sich nicht nehmen lassen, seinem ehemaligen Tippfräulein abermals zu beweisen, wie hoch er sie stets geschätzt hatte. –

Im September desselben Jahres ging eine Notiz durch die Presse, daß eine sehr berüchtigte Lebedame, Tessa v. G., in Mailand bei einem Volksaufstand von der Menge buchstäblich zertrampelt worden sei.

Auch Arthur von Imberg las diese Notiz, erinnerte sich jetzt an das, was er einst warnend zu Tessa gesagt hatte: „Kreuzspinnen zertritt man!“ – Seltsame Fügung des Schicksals: Nun hatte dieser Tod sie wirklich ereilt!

 

Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

Anmerkungen:

  1. Dieser Text ist der Neuauflage (ab 1929) Die guten Vergiß mein nicht-Romane, Band 13 entnommen. Copyrightvermerk von 1920 und Druckplatten stammen aus der Erstauflage, vom Verlag ist lediglich die Titelseite neu erstellt worden.
  2. In der Vorlage steht: „dem“.
  3. In der Vorlage steht: „Gerwinusstraße“.
  4. In der Vorlage steht: „Abend“.
  5. In der Vorlage steht: „gegenübersietzt“.
  6. In der Vorlage steht: „Schmolke“.
  7. In der Vorlage steht: „aus“.
  8. In der Vorlage steht: „Mela“.