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Der gestohlene Ruhm

 

 

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

 

Band 386 (Band 18)[1]

 

Der gestohlene Ruhm

 

Roman von

Swea v. Münde

 

Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H.
Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H., Berlin.

 

Der Schneesturm draußen nahm noch mehr an Stärke zu. Die großen Glasfenster des Dachateliers traf der Winterorkan mit voller Wucht. Hin und wieder, wenn die Schneelast auf dem stark geneigten Fenster zu hoch angehäuft war, rutschte sie polternd abwärts und enthüllte dann dem Bewohner dieser kalten, luftigen Behausung für kurze Zeit die Aussicht auf den Ringbahnhof Halensee mit all den unzähligen Laternen, die heute jedoch nur wie ferne glühende Pünktchen sich ausnahmen.

Stets nur für kurze Sekunden lag dieses Bild vor den Augen des jungen, schlanken Mannes, der, eingehüllt in einen dicken, schon etwas schäbigen Ulster frierend mit den Händen in den Taschen dastand und immer dasselbe dachte:

„Geld haben – Geld! Essen und trinken dürfen, so recht nach Herzenslust! Und – es warm haben, endlich wieder einmal!“

In dem kleinen Atelier brannte eine einfache elektrische Hängelampe. Die Einrichtung war überaus dürftig. Die Tür des Kachelofens, halb geöffnet, ließ einen rötlichen, schwachen Schimmer auf die grauen, unsauberen Dielen fallen. Im Ofen brannte Papier: alte Zeitungen, wertlose Zeitschriften, ein dicker Band einer Monatsschrift und anderes.

Bernhard Scherlberg drehte sich langsam um. Das Unwetter draußen hatte doch ein Gutes: es hatte ihm Lust zur Arbeit eingeflößt, ihm Stimmung gegeben.

Er rückte den Fichtentisch mit dem zerrissenen Glanzleinwandbezug ganz dicht an den Ofen, zog die Lampe tiefer und befestigte sie mit einer Schnur so, daß sie nun schräg hängend genügend Licht zum schreiben gab.

Jetzt, wo der weißglühende Draht in der Birne das schmale Gesicht Berd Scherlbergs so nahe beschien, gewann man von diesem Antlitz einen anderen Eindruck als vorhin im Halbdunkel am Atelierfenster. Dort hatte das unsichere Licht diese weichlichen, für einen Männerkopf zu regelmäßigen Züge in angenehmer Täuschung mehr verschwimmen lassen, hatte etwas vorgegaukelt, was nicht vorhanden: Energie, Zielbewußtsein, starke Männlichkeit.

Nein – all das sprach jetzt nicht aus diesem blassen, verlebten, verbitterten Gesicht. Selbst diese scharfen Linien steter Unzufriedenheit, steten Haderns mit dem Geschick konnten den Grundzug dieses Männerkopfes nicht verwischen, und das war träumerische, energielose Weichheit.

Die dunklen, langbewimperten Augen, groß und mandelförmig, waren die eines Träumers. Das hätte ja nun bei einem Schriftsteller, einem Künstler, nichts geschadet. Aber in der Tiefe dieser Augen glomm noch neben dem weichen Licht der Träumerei etwas anderes: Genußhunger, zügelloses Temperament und etwas schwer zu Bezeichnendes, etwas Verstecktes, Unaufrichtiges, Falsches. –

Scherlberg hatte sich auf den Rohrstuhl gesetzt und griff nun nach der Feder.

„Ich fühle das Wehen des Genius über mir,“ dachte er und schrieb auf ein leeres Blatt als Titel:

Wintersturm
von Berd Scherlberg.

Dann sann er einen Augenblick nach, schrieb weiter:

„Vom tollen Schneeorkan gehetzt,
Kämpft sich ein alter Rabe
Mit mattem Flügelschlag
Dem Kirchturm zu.
Der Sturm gönnt keine Ruh
Dem armen –“

So weit war er gekommen, als draußen in dem kleinen Flur die Glocke schrillte.

Sein Kopf fuhr hoch.

„Verdammt, vielleicht wieder die Portierfrau nach der Miete!“ murmelte er und warf die Feder hin. „Und noch so spät! Fast gegen zehn Uhr ist’s! Eine Frechheit! – Mag das Weib nur klingeln. Ich – schlafe schon. Doch – natürlich, die Stimmung ist futsch! Herr im Himmel – nie hat man –“

Da wieder die Glocke, jetzt so anhaltend, daß Scherlberg fluchte:

„Die Pest dem Weibe in den Hals! Eine solche Unverschämtheit!“

Ah – nun sogar ein starkes Pochen gegen die Flurtür!

Nein – das hätte die Mieseke doch nie gewagt! Das mußte jemand anders sein!

Scherlberg stand auf, zündete einen Lichtstumpf an, der auf ein Stück Pappe geklebt war, und ging hinaus. Der Flur, der zum Atelier gehörte, war winzig.

Er schloß die Tür auf. Draußen im Treppenflur war das Licht schon ausgeschaltet. Der kümmerliche Kerzenschein zeigte Scherlberg eine verschleierte Frauengestalt. Der lange Mantel glänzte vor Nässe. Das Pelzmützchen war tief in die Stirn gezogen. An den Schläfen hingen ein paar nasse blonde Haarsträhnen. Der weiße Schleier, feucht und doppelt gelegt, schmiegte sich stellenweise an das Gesicht der Unbekannten an.

Dann klang es überhastet und unsicher hinter dem Schleier hervor:

„Verzeihen Sie. Ich weiß mir aber keinen Rat. Meinem Großvater geht es so sehr schlecht. Ich muß einen Arzt holen. Da Sie nun doch Großvaters Nachbar sind und er mit Ihnen wenigstens oberflächlich bekannt ist, wollte ich Sie bitten –“

Scherlberg verstand, fiel dieser Enkelin des alten Merlins, von deren Existenz er bisher nichts geahnt hatte, nun liebenswürdig ins Wort:

„Oh – ich werde selbst zum Arzt gehen, sehr gern sogar. Für eine Dame ist dies Unwetter nichts. Haben Sie einen bestimmten Arzt bereits?“

„Nein, nein!“ rief sie leise. „Das nehme ich nicht an. Auf keinen Fall! Wenn Sie nur so freundlich sein wollten, und während meiner Abwesenheit sich an Großvaters Bett setzen. Sie wissen vielleicht, daß er sehr menschenscheu ist. Er duldet niemand um sich. Sonst hätte ich die Portierfrau geholt.“

„Gut denn,“ meinte Scherlberg. „Ich muß mich fügen, obwohl es mir unangenehm ist, daß Sie bei dem Orkan –“

Sie hatte sich aber schon umgewandt, ihm zugewinkt und schritt nun auf die halb offene Flurtür der Mansardenwohnung zu.

Scherlberg hatte gute Augen für alles, was Frauen betraf. Er sah, daß diese Enkelin Merlins einen leichten, federnden Gang und eine fast selbstbewußt-gerade Haltung mit etwas zurückgebogenem Kopf hatte. Gang und Haltung stimmten wenig zusammen mit der unsicheren Art, wie sie ihn soeben angesprochen hatte.

Er verschloß seine Flurtür und befand sich gleich darauf in den ihm wohlbekannten Räumen des alten Merlins.

Dieser wohnte hier in den zwei Mansardenstübchen bereits so lange, als das Haus stand, und das waren so gegen zwanzig Jahre. Was er gewesen, wußte niemand. Er nannte sich Rentier. Aber es mußte mit seinen Zinsen sehr knapp bestellt sein. Bescheidener als dieser breitschultrige, hagere Greis mit dem langen, weißen Patriarchenbart konnte kein Eremit leben. –

Hilmar Merlin lag in seiner Schlafstube in dem eisernen Feldbett unter einer bezogenen Steppdecke. Auf einem plumpen Holzstuhl am Kopfende des Bettes brannte eine kleine Küchenlampe mit Messingscheinwerfer.

Als der Greis den jungen Schriftsteller eintreten sah, hob er matt den Kopf, richtete sich halb auf und streckte ihm die Hand hin.

„Ich danke Ihnen, Nachbar,“ sagte er dazu mit pfeifenden Atemzügen. „Nora will ja durchaus einen von den albernen Flickschustern holen, die sich einbilden, auf Grund eines fünfjährigen Studiums unseren menschlichen Kadaver wieder so etwas auffrischen zu können, wenn er aus dem Leim zu gehen droht. – Na – meinetwegen! Mag sie! Sie hat ja stets ihren Kopf für sich gehabt. – Dann lauf’ also nur, Nora, und wirf einem der sogenannten Herren Ärzte dreißig Mark für einen zwecklosen Nachtbesuch in den Rachen.“

Die Verschleierte, die an der Tür stehen geblieben war, eilte wortlos davon. Scherlberg hatte nur noch etwas wie ein leises Aufschluchzen zu hören geglaubt.

In der Mansardenstube hier war es eisig kalt.

Der Greis mit den fiebergeröteten Wangen und den in[2] Fieberglut schillernden Augen war wieder in die Kissen zurückgesunken.

Jetzt packte ihn ein Schüttelfrost. Die Zähne klapperten im Munde; das Bett bebte und flog hin und her.

Scherlberg sah sich um, suchte nach einer Decke oder dergleichen, um sie dem alten Manne noch überzulegen. Er bemerkte aber nur dessen langen Radmantel, nahm ihn und hüllte den Greis[3] besser ein. Dann bückte er sich, hob sogar den abgetretenen Fellbettvorleger auf und benutzte ihn gleichfalls als Decke.

Der Sturm traf auch hier das kleine Fenster mit voller Kraft. Die Scheiben klirrten zuweilen unter den Stößen des Orkans, und draußen verfing sich der Wind irgendwo in einer Öffnung der Dachpfannen und heulte hin und wieder so gellend, daß Scherlberg jedes Mal zusammenzuckte.

Er hatte sich an das Fußende des Bettes auf einen Schemel gesetzt und schaute mit einem gewissen Gefühl der Angst auf den mit geschlossenen Augen Daliegenden. Der Schüttelfrost war vorüber. Aber desto unheimlicher pfiff jetzt der Atem des Kranken über die bärtigen Lippen. Merlin keuchte und röchelte immer stärker.

Und Berd Scherlberg dachte: „Wenn er nur nicht jetzt stirbt, wo ich mit ihm allein bin. Ich kann keinen Toten sehen, – will nichts von Sterben und Vergehen wissen! Leben will ich – und genießen!“

Ihm wurde trotz der Eiseskälte hier ganz heiß vor Grauen. Er hatte noch nie jemand sterben sehen – noch nie! Und wie alle schwachen Naturen fürchtete er alles, was mit Sterben zusammenhing, wie etwas, das ihn selbst bedrohte. Er mochte nicht daran erinnert sein, wie nahe jedem Menschen in jeder Sekunde der Sensenmann ist. Mit seinen 28 Jahren wollte er sich ja erst das wahre Leben erobern: den Ruhm – und damit Ehren – Geld – Reichtum!

Unverwandt stierte er in das gerötete Gesicht des Alten. Unwillkürlich stiegen da all die Fragen wieder in ihm auf, die er sich selbst und anderen Hausbewohnern, besonders dem Portier, schon so und so oft vorgelegt hatte: Wer war dieser Hilmar Merlin[4], der seine Vergangenheit in ein so undurchdringliches Dunkel zu hüllen verstand? – Und – weshalb tat er’s? Weshalb auch war er zu einem so brutalen Zyniker geworden, der alles mit der Lauge seines finsteren Spottes bespritzte, – dieses Spottes, aus dem ein so tiefer Haß gegen die ganze Menschheit sprach?

Ja – wer war Hilmar Merlin. Und – wer war diese schlanke Enkelin mit der selbstbewußten Haltung, diese Nora? War’s ein Mädchen, ein verheiratetes Weib, war sie schön, häßlich oder plumper Durchschnitt?

Scherlberg fuhr hoch. Er hatte sich so in seine eigenen Gedanken eingesponnen, daß er entsetzt zusammenzuckte, als jetzt ein besonderer lauter Heulton des Orkans in den Dachpfannen und ein Anruf des Kranken sich vereinten.

„Herr Scherlberg – kommen Sie näher,“ rief Merlin mit überschnappender Stimme, die ihm nicht mehr recht gehorchte. „Ganz nahe. Ich – will – Ihnen –“

Die Lider sanken plötzlich herab. Auf der Stirn des Greises erschienen dicke Schweißperlen.

Mit zitternder Hand hob Scherlberg die Lampe und leuchtete dem Sterbenden ins Gesicht.

Dessen Wangen verloren schnell jede Spur von Röte, fielen ein; die Augenlider flatterten, als ob der Greis sich Mühe gäbe, sie zu heben.

Draußen umbrauste der Schneesturm die Mansarde; vom Bahnhof her kam ein schnell verhallender Pfiff einer Rangiermaschine; wieder klirrten die Fensterscheiben, jaulte der Wind in den Ziegeln wie ein Hund, der den Mond anheult.

Da – nun öffnete der Alte doch noch einmal die jetzt matten, glanzlosen Augen. Seine Lippen bewegten sich.

„Näher – näher heran –“, flüsterte er.

Scherlberg beugte sich tiefer herab. –

– – – – – – – –

Nora Decker saß in[5] einem wackligen Rohrsessel in Scherlbergs Atelier. Soeben war der Arzt wieder gegangen, und da hatte Scherlberg die Enkelin des Toten gebeten, noch für einen Augenblick sich bei ihm zu erholen, bevor sie den Heimweg antrat.

Er hatte ihr gegenüber an der andern Tischseite Platz genommen. Er sah jetzt, als[6] sie den Schleier hochstreifte, ein feines, schmales Gesicht mit ein Paar ernsten, grauen Augen und ein Paar so köstlich roten, schön geschwungenen Lippen, daß schon allein dieser frische Mund genügt hätte, die junge Witwe zu einer anziehenden Erscheinung zu machen.

Sie mußte Witwe sein. Scherlberg entgingen nicht die beiden Ringe an der rechten Hand, diese schmalen, goldenen Ringe, die so bedeutungsvoll sind.

Nora Decker hatte ihm soeben ihren Namen genannt, fügte nun hinzu:

„Diese Sturmnacht hat uns miteinander bekannt gemacht, Herr Scherlberg. Seltsam genug ist’s, – auch meine Eltern starben im Schneesturm bei der Überfahrt von Neuyork nach Bremen in der Nordsee. Der Dampfer ging unter. Nur wenige Menschen wurden gerettet. Und – auch meinen Mann verlor ich durch ein Winterunwetter. Er war Redakteur hier in Berlin, nebenbei eifriger Hochtourist. Er kam auf dem Mont Blanc, auf dem Brenva-Gletscher um. Das sind nun fünf Jahre her. Und heute –“

Sie schwieg, lehnte sich zurück und versank offenbar in schmerzliche Erinnerungen.

Scherlberg beobachtete sie mit halb zugekniffenen Augen. Er wagte nicht, die Augen voll zu öffnen. Er fürchtete, die Unruhe in seinem Blick müßte ihn verraten.

Er wartete eine Weile, sagte dann, nur um der Höflichkeit zu genügen:

„Ja – all das ist sehr traurig –“

Sie hob die ernsten, grauen Augen, nickte ihm zu, meinte:

„Traurig wie mein ganzes Dasein. Der Haß hat es vergiftet, – der Haß eines alten Mannes gegen alles, was Decker heißt –“

Scherlberg wollte dem Gespräch eine andere Wendung geben.

„Merkwürdig!“ sagte er leise. „Bevor Sie mich zu Ihrem Großvater riefen, gnädige Frau, hatte ich ein Gedicht begonnen: „Wintersturm“. Ich wollte darin den Tod eines alten Raben schildern, den der Orkan seine alte Zufluchtsstätte, einen Kirchturm, nicht mehr erreichen läßt und der schließlich erstarrt aus der Luft herabfällt, in einer Schneewehe versinkt und stirbt.“

Nora Decker wiederholte versonnen:

„Merkwürdig“ –, fügte aber sogleich hinzu:

„Sie ahnten wohl nicht, daß der Großpater hier in Berlin eine so nahe Verwandte hat?“

„Nein. Er sprach nie über sich,“ erklärte Scherlberg hastig. „Auch vorhin, als es mit ihm zu Ende ging, waren seine letzten Äußerungen nur bittere Anklagen gegen die Welt und die Menschen.“

„Das glaube ich gern. Und – leider, leider! – all die Bitterkeit, all der Haß waren grundlos. Ich will ehrlich sein, mag dies auch wenig pietätvoll klingen. Großvater hätte sich sein Dasein ganz anders gestalten können, wenn er auch nur den Versuch gemacht hätte, seinen Eigensinn zu überwinden. Aber – lassen wir das – Er ist tot. Und der Tod mildert alles –“

Sie begann sich wieder die Handschuhe überzustreifen.

„Ich muß aufbrechen,“ meinte sie dabei. „Ich habe Pflichten. Jedenfalls danke ich Ihnen nochmals, Herr Scherlberg, weil Sie –“

Er wehrte ab. „Bitte, kein Wort davon. Das war Nächstenpflicht.“

Sie erhob sich. Er begleitete sie dann hinab bis zur Haustür. Er hatte sie nach Hause bringen wollen, aber sie hatte abgelehnt.

Sie verschwand im Schneegestöber, nachdem sie ihm kräftig die Hand gedrückt hatte.

Zögernd stieg er die Treppen wieder empor. Sehr zögernd. Sein Herz schlug schnell. Sein Gewissen meldete sich. Und – er fürchtete den Toten jetzt, schaute sich oben im Vorraum des Hausbodens scheu um, schloß schnell seine Flurtür hinter sich ab.

Dann setzte er sich dicht an den Ofen, hüllte sich in eine Decke ein und las; las noch viele Stunden. Als er schlafen ging, befand er sich wie im Fieber.

Ja – der Tote hatte recht gehabt mit seinen letzten Worten – nur zu recht!

Aber – diese Worte hatten anders gelautet, als Berd Scherlberg es vorhin Nora Decker gegenüber angedeutet hatte.

Er tat kein Auge zu in dieser stürmischen Dezembernacht; er ließ das Licht brennen; ihn schreckte das Dunkel. –

Drei Tage drauf wurde der Rentier Hilmar Merlin vormittags begraben. Nur acht Menschen folgten dem Sarge, außer Nora Decker und Berd Scherlberg alles Neugierige, die den Greis von Ansehen gekannt hatten. Der Geistliche sprach kurz und ohne jede Wärme. Ihm war der Tote ein Wildfremder.

Über den freiliegenden Kirchhof in der Berliner Straße von Berlin-Wilmersdorf pfiff ein eisiger Luftzug hin. Aber die Sonne schien, und irgendwoher trug der Wind einen flotten Militärmarsch herüber, während unweit des Grabes sich eine Schar hungriger Krähen um irgend eine Beute krächzend stritt.

Berd Scherlberg sah erst heute Nora Decker seit jener Sturmnacht wieder. Er hatte es vermieden, ihr zu begegnen, obwohl sie doch in den letzten Tagen häufig in dem Atelierhause in der Ringbahnstraße in Halensee gewesen war, um den kleinen Haushalt des Großvaters aufzulösen.

Scherlberg beobachtete sie auch jetzt wieder verstohlen. Sie sah heute in dem dunklen, tadellos sitzenden Kostüm und dem Trauerhut mit schwarzem Schleier noch anziehender aus als damals nachts in ihren durchnäßten Sachen. Er gestand sich offen ein, daß sie, wenn nicht schön, so doch jedenfalls überaus reizvoll und vornehm aussah und daß sie ihm trotz der flüchtigen Bekanntschaft als Weib nicht gleichgültig war. Immer wieder mußte er auf diesen frischen, roten Mund blicken, der ihm als Frauenkenner allerlei süße Seligkeiten zu verheißen schien.

Dann dachte er an anderes: daß er von ihr so gut wie gar nichts wüßte. Er kannte nicht einmal ihre Wohnung, kannte nichts von ihrem jetzigen Leben, ob sie Kinder hätte, ob sie in guten Verhältnissen sei.

Er fror in seinem nicht gerade dicken, schon sehr schäbigen Ulster. Aber – er nahm das gelassen hin. Alles mußte jetzt ja anders werden, – alles! Seit dem Tode Hilmar Merlins lebte er wie in einem Fieberrausch. Die bestimmte Hoffnung, nunmehr endlich den Weg zum Ruhm, zu Geld und Ehren gefunden zu haben, wirkte auf ihn wie ein stetes Nervengift. Diese letzten Tage hatte er dauernd am Schreibtisch gesessen, hatte mit flüchtiger Feder fast übereilt Seite um Seite gefüllt. Und gestern nachmittag war er dann mit einer Novelle zu einem ihm bekannten Schriftleiter einer illustrierten Monatsschrift gegangen, hatte seine bedrängte Lage geschildert und um sofortige Prüfung der Arbeit gebeten.

Der Wunsch war ihm erfüllt worden. Der Redakteur hatte mit steigender Spannung gelesen, hatte nachher gesagt:

„Hören Sie, bester Scherlberg, das ist ja so ganz anders als Ihr bisheriges, für uns leider nicht verwendbares Genre. Diese Novelle ist mustergültig, dabei durchaus modern geschrieben. Ja – Sie sollen als Honoraranzahlung sofort 500 Mark erhalten.“

Da hatte Berd Scherlberg tief aufgeatmet! Ah – er hatte sich also nicht getäuscht! Der Weg zum Ruhm war wirklich gefunden. –

Das Begräbnis war vorüber.

Nora Decker trat auf Scherlberg zu, reichte ihm die Hand.

„Ich danke Ihnen, daß Sie meinem Großvater die letzte Ehre erwiesen haben,“ sagte sie einfach. „Falls Sie nach Hause gehen, haben wir denselben Weg. Ich hätte ohnedies mit Ihnen noch einiges zu besprechen.“

Scherlberg erschrak, wurde verwirrt.

„Ja – ich wollte heim,“ stotterte er. „Ich habe dringend zu arbeiten.“

Ihre grauen Augen blickten ihn prüfend an.

„Also gehen wir,“ meinte sie. Schweigend verließen sie den Friedhof. Erst auf dem freien Gelände zwischen dem Westteil der Berliner Straße und dem Vorort Halensee begann Nora Decker wieder:

„Herr Scherlberg, wir sind ja so halb und halb Kollegen. Mein Mann war ja Redakteur. Ich kenne also den Dornenpfad, den die meisten Poeten mühsam wandern. Nicht wahr – Sie befinden sich nicht gerade in glänzender Lage? Nehmen Sie mir ein offenes Wort nicht übel.“

Scherlberg wußte nicht recht, wohinaus seine Begleiterin mit diesen eine gewisse Vertraulichkeit verratenden Sätzen wollte. Er hielt es daher für angebracht, mit einer nichtssagenden Redensart zu antworten.

„Oh – ich verüble Ihnen dies in keiner Weise,“ meinte er. „Gewiß, der Weg zum Ruhm ist schwer zu finden. Aber – vielleicht habe ich ihn doch schon entdeckt, diesen schmalen Weg zum Glück.“

Sie blickte ihn wieder von der Seite an – offen und fraglos ohne jeden Hintergedanken, wie er jetzt festzustellen glaubte.

Dann sagte sie etwas zögernder: „Hätten Sie für einige Möbelstücke aus meines Großvaters Arbeitszimmer Verwendung? – Verkaufen möchte ich zum Beispiel gerade den Schreibtisch nicht, ebensowenig den Bücherschrank. Es sind das sehr alte Sachen. Schon mancher Antiquitätenhändler bot darauf. Ich möchte sie Ihnen schenken, Herr Scherlberg, – als Dank für Ihre Menschenfreundlichkeit.“

Er atmete heimlich erleichtert auf, denn stets fürchtete er ja von ihrer Seite eine Frage – eine ganz bestimmte Frage! Aber – Nora Decker schien zum Glück nichts zu wissen von dem, was bei der Sterbeszene ihres Großvaters die Hauptrolle gespielt hatte.

Er antwortete ihr nun abermals mit ein paar Redensarten, die keine direkte Ablehnung ihres großmütigen Geschenks enthielten, sondern nur die Andeutung, daß er die beiden Möbelstücke auch gern bezahlen würde.

Sie wieder wollte hiervon nichts wissen. Nach einigem Hin und Her dankte er ihr dann sehr wortreich und mit einer Herzlichkeit, die insofern echt war, als das Bewußtsein, die Ereignisse jener Nacht würden nun stets verborgen bleiben, ihn froh und heiter stimmte.

Als sie die Treppen des Atelierhauses in der Ringbahnstraße emporstiegen, reinigte dort gerade die Portierfrau Mieseke die Flurfenster.

Sie sprach Scherlberg an. Sie war jetzt wieder gut Freund mit ihm, da er gestern abend die rückständige Miete bezahlt und sogar noch fünf Mark mehr gegeben hatte.

„Denken Sie nur, Herr Scherlberg, – denken Sie nur!“ rief sie ganz[7] aufgeregt. „Heut erst is rausjekommen, daß die Langfinger bei uns letztens ’n Besuch abjestattet haben. Die Bodenkammer von ’n Jeheimrat Fentzke und von ’n Kaufmann Meyersohn haben sie so ziemlich ausjeräubert, jrade das Beste natierlich mitjenommen. So ’ne Bande! Wissen Se, Herr Scherlberg, das is sicher in der Nacht von Montag zu Dienstag jewesen, wo doch das Unwetter war. Die Kriminaler waren schon hier. Die Halunken – ick meene die Diebe – sind von’s Dach jekommen – durch ’n Bodenfenster.“

Scherlberg beschlich wieder ein unbehagliches Gefühl. Wenn die Spitzbuben womöglich beobachtet hatten, wie –

Aber nein! tröstete er sich schnell. Das war ja ausgeschlossen! Die Mansarde und das Atelier waren ja vom Hausboden durch die eiserne Tür getrennt. Nein – niemand hatte mitangesehen, was ja nur wenige Minuten gedauert hatte.

Er zuckte daher jetzt nur die Achseln.

„Es wird so unheimlich viel gestohlen, liebe Frau Mieseke,“ meinte er. „Heutzutage, wo alles so enorm teuer ist, gerät mancher auf Abwege, der sonst ein ehrlicher Kerl geblieben wäre.“

Er fügte diese letzten Sätze absichtlich hinzu. Es machte ihm Freude, sozusagen heimlich sich selbst zu verteidigen. Er rechnete sich ja zu den vom Schicksal Verfolgten, sah nicht ein, daß es ihm sowohl an Talent als auch an Stetigkeit fehlte, Großes zu schaffen und sich aus eigener Kraft aus diesem leichtfertigen Bohemiendasein herauszuarbeiten.

Nora Decker nahm dann seine Einladung, sich in seinem Heim erst ein wenig zu erwärmen, dankbar an. Heute strahlte der mit Briketts überfüllte Ofen Glutwellen aus; heute konnte Scherlberg seinem Gast sogar eine Tasse Bohnenkaffee und etwas Gebäck vorsetzen.

Frau Nora hatte die Kostümjacke abgelegt und saß wieder in demselben Rohrsessel. Scherlberg stellte erneut fest, daß sie tadellos gewachsen und von fraulicher Fülle war.

Sie tranken dann den starken Kaffee aus ein Paar Japantäßchen ohne Ohren. Nora taute immer mehr auf. Und ganz unvermittelt begann sie nun von sich selbst zu sprechen.

Von ihrem verstorbenen Gatten, der 21 Jahre älter als sie gewesen und den sie nur geheiratet, um versorgt zu sein. Nur drei Jahre hatte diese Ehe gedauert, die kinderlos geblieben war.

„Mein Mann hinterließ mir kein Vermögen. Also mußte ich mir wieder wie vordem mein Brot verdienen. Mit dem Großvater war ich dieser Heirat wegen noch mehr auseinander gekommen. Doch – das ist ein Thema, das ich nicht berühren will. Großvater hat mir einst ein Versprechen abverlangt, über gewisse Dinge zu schweigen. Und diesen halben Schwur möchte ich nicht brechen. – Ich fand eine Stelle als Empfangsdame bei einem älteren Zahnarzt, einem Junggesellen, wurde dann dort auch Hausdame, Wirtschafterin. Sie kennen wohl den Namen Doktor Gudenbleit, Herr Scherlberg. Er hat eine sehr große Praxis, ist sehr reich.“

„Ah – Gudenbleit auf dem Kurfürstendamm,“ nickte Scherlberg. „Siegfried Gudenbleit. Ein Lebemann, sagt man –“

Sie errötete jäh, senkte den Blick.

„Ja – leider! – Ich hatte es dort im Anfang nicht ganz leicht,“ erklärte sie hastig, wohl von dem Wunsche getrieben, in Scherlberg keinerlei Verdacht aufkommen zu lassen, sie könnte zu ihrem Brotherrn in vertrauteren Beziehungen stehen. „Gudenbleit war – etwas zudringlich. Nun, ich verstand es sehr gut, ihm klarzumachen, daß ich – Nein, nein,“ unterbrach sie sich plötzlich. „Ich mag auch hierüber nicht sprechen, zumal der Doktor jetzt ja seit langem mich fast zu sehr respektiert.“

Ein harmloses Lächeln lag jetzt um ihren Mund. „Wirklich, – zu sehr respektiert!“ wiederholte sie. „Ich glaube, ich könnte Frau Doktor Gudenbleit werden, wenn ich es wollte.“ – Sie lächelte stärker. „Aber – das will ich nicht. Ich heirate nie mehr einen bedeutend älteren Mann, nie mehr! Ich – fühle mich noch so jung zuweilen, so sehr jung.“

Sie schaute Scherlberg jetzt plötzlich in mädchenhafter Verlegenheit an.

„Ach – was schwatze ich da nur alles zusammen,“ meinte sie. „Ja – das ist ein Charakterfehler von mir. Ich bin innerlich so unausgeglichen. In vielem fast altjüngferlich ernst und streng, dann wieder wie ein Backfisch – so unsicher, so schwärmerisch, so – so, als müßte ich noch einmal irgendwie und irgendwo ein ganz, ganz großes Glück finden –“

Sie nahm schnell ihre Japantasse und trank, griff dann nach einer Zigarette, beugte sich vor und ließ Scherlberg das brennende Zündholz an die Zigarette halten.

Scherlberg fühlte immer stärker einen seltsamen Einfluß, den diese reizende junge Witwe auf ihn ausübte. Sie war wirklich reizend, war so ganz Weib. Das, was sie selbst an sich Unausgeglichenheit nannte, erkannte er als Frauenkenner schnell als etwas ganz anderes: Sie lechzte nach Glück, Liebe, Seligkeit; sie ahnte dies selbst kaum; und deshalb hielt sie diesen schnellen Wechsel in ihrer Stimmung für innere Unfertigkeit.

Dem war nicht so. Dem Leben gegenüber war sie fraglos ein fertiger Mensch. Nur in ihrem Herzen lebte das unbekannte Unbefriedigtsein. Und das machte sie so widerspruchsvoll; das machte aber auch gerade ihren besonderen Reiz aus. –

Beide fuhren dann fast entsetzt auf, als der Wecker auf dem Bücherbrett, der durch einen Zufall nicht gesichert war, plötzlich zu schrillen begann. Es war jetzt ein Uhr mittags.

Nora Decker erhob sich schnell.

„Ich muß fort, Herr Scherlberg. Eine volle Stunde haben wir hier verplaudert. Nun ist es auch zu spät geworden, noch hinüber in Großvaters Wohnung zu gehen. – Leben Sie wohl, und besten Dank für die freundliche Bewirtung.“

„Auf Wiedersehen hoffentlich,“ meinte er und drückte ihre Hand leise und zärtlich.

Sie entzog sie ihm schnell, wurde glühend rot.

„Oh – wir sind doch halbe Kollegen,“ fügte er hinzu. „Vergessen Sie das nicht, gnädige Frau. Künstler verkehren zwangloser miteinander als andere Menschen.“

Sie nickte. Sie lächelte auch.

„Ja, das stimmt. Und deshalb – auf Wiedersehen. Vielleicht läute ich nachmittags an Ihrer Tür. Herr Scherlberg. Ich – ich fürchte mich so etwas, allein des Großvaters leere Räume zu betreten.“

„Tun Sie’s – tun Sie’s!“ sagte er eifrig und streckte ihr wieder die Hand hin, die sie ihm jetzt willig überließ. „Übrigens ein Gedanke: ich werde die Wohnung drüben mieten. Mit dem Wohnungsamt werden wir schon fertig werden. Wenn nicht anders, dann vermieten Sie sie mir zum Schein möbliert. Drehen läßt sich ja alles –“

Als er dies kaum ausgesprochen hatte, gereute es ihn schon wieder. – Wie – er wollte dort hausen, wo Hilmar Merlin über zwei Jahrzehnte allein mit seinen bitteren, feindseligen Gedanken gewesen war?! Dort, wo vor vier Tagen bei jenem Schneesturm etwas geschehen, das ihm vorläufig noch lange Zeit immer wieder trotz aller Versuche, das eigene Gewissen zu beschwichtigen, beunruhigen würde?!

Da – Nora Decker hatte schon geantwortet:

„Ja – Sie müssen auch ein gemütlicheres Heim haben, das ist richtig. Ich helfe Ihnen gern, sich die kleine Wohnung zu erobern –“

Dann ging sie.

Und Berd Scherlberg war allein, stand an dem großen Atelierfenster und schaute auf den Bahnhof Halensee hinab, auf die schwarzen Striche der Geleise im weißen Schnee, auf den ausfahrenden Zug.

Und dachte: „Nimm Dich in acht, mein Sohn! Diese Nora ist kein Liebchen, diese Nora wird geheiratet sein wollen!“

Geheiratet?! – Zum ersten Mal kam ihm da der Gedanke an eine Ehe. Er lachte ironisch auf. Heiraten – heiraten wie jeder Philister?! Unmöglich! Ganz unmöglich!

– – – – – – – –

„Hast Du mich lieb, unendlich lieb?“

Ein scheues Flüstern nur war’s. Eine versteckte Angst klang hindurch: daß die Antwort nicht so ausfallen könnte, wie das junge Weib hoffte, das da im Dämmerlicht eines Januarnachmittags auf dem Schoße des Geliebten saß und wieder einmal dieses Hangen und Bangen mit aller Qual auskostete, dieses stete Empfinden: Er ist Deiner schon überdrüssig!

Berd Scherlberg langweilte nichts so sehr als diese und ähnliche Fragen Noras. Überhaupt: wenn er jetzt hätte offen, – brutal offen sein wollen, dann hätte er erwidern müssen: „Nein – ich liebe Dich nicht mehr. Ich habe Dich auch nie geliebt. Du hast mich als Weib eine Zeitlang gereizt. Aber das ist längst dahin. Denn Du verweigertest Dich mir: Du ließest Dich küssen, – doch Du bliebst stets – die anständige Frau, die geheiratet sein will.“

So hätte vielleicht einer, wenn auch in zarter Umschreibung, gesprochen, der – ein Mann war, ein Charakter.

Das war Scherlberg nicht. Nein – er war es jetzt weniger als zuvor, – jetzt, wo er sein Leben wieder auf seine Weise genießen konnte, wo er genug Geld hatte, die Nächte im Freundeskreise zu durchtollen und sich – beneiden zu lassen als angehende Berühmtheit.

Seit jener Schneesturmnacht war der ohnedies so ungefestigte Charakter des jungen Schriftstellers langsam immer mehr verflacht und hinübergeglitten in jene Art von Selbstüberschätzung und Selbstentschuldigung, die das Merkmal aller verbrecherischen Naturen ist. Was er damals getan, erschien ihm jetzt als etwas, das sein gutes Recht gewesen. Daß er Nora als Hilmar Merlins Erbin dadurch schwer geschädigt, erkannte er vor sich selbst nicht an.

Und jetzt – jetzt abermals dieses Bohren von ihrer Seite, dieses unbequeme Forschen und Fragen, dieses halbe Betteln um Liebe.

Scheußlich war ihm das! Wo sollte man auch immer die süßen Redensarten hernehmen, diese junge, ehehungrige Witwe bei Laune zu erhalten?! –

Berd Scherlberg streichelte ihre Hand.

„Ja, ich habe Dich lieb. Das weißt Du – Du bist mein Alles, mein Glück, meiner Seele Seligkeit. Wenn Du hier in diesen Mansardenstübchen weilst, erscheinen sie mir wie ein Feenpalast –“

Er atmete auf, als er diese Antwort in zärtlichstem Ton über die Lippen gebracht hatte.

Nora Decker schmiegte sich dichter an ihn, bog seinen Kopf zurück und küßte ihn lange und heiß.

„Berd, wenn nun auch Dein neuester Roman angenommen wird, – können wir’s dann nicht wagen, zu heiraten?“ fragte sie nach einer Weile. „Sieh’, ich könnte Dir Deine Manuskripte abschreiben. Ich schreibe ja so deutlich und so schnell, genau so wie der Großvater. Merkwürdig, daß sogar die Handschrift sich vererbt –“

Es gab ihm einen schmerzhaften Stich, als sie gerade hiervon sprach. Er lenkte schnell ab.

„Heiraten?! – Liebling – was gehört heute für eine Menge Geld dazu?! Denk’ mal, was alles uns noch fehlt, was wir alles anschaffen –“

„Oh – nichts brauchten wir anschaffen,“ unterbrach sie ihn. „Gar nichts. Ich habe ja so viel Wäsche aller Art, habe –“

Draußen schrillte die Flurglocke.

Nora lachte leise. „Mögen sie nur klingeln! Wer es auch sei! Wir sind nicht daheim!“

Scherlberg stieß ein scheinbar ärgerliches „Donnerwetter!“ aus.

„Richtig – mir fällt eben ein,“ fügte er hastig hinzu, „daß ich Bernstedt herbestellt habe, – Doktor Bernstedt von der Neuen Post! – Kind, den darf ich nicht umsonst läuten lassen. Unmöglich. Ein einflußreicher Redakteur! – Ja – Schatz – es heißt also verschwinden. Leb wohl, Liebling. Deine Sachen liegen ja wie immer in der Küche.“

Sie glitt von seinen Knien herab. Ach, sie war so bitter enttäuscht. Sie hatte ja gerade heute bis 7 Uhr Zeit. Und nun mußten sie sich trennen, wo es kaum 5 Uhr war!

„Ich – ich werde in der Küche warten, bis Bernstedt wieder gegangen ist,“ flüsterte sie schnell. „Sage doch, Du hättest zu arbeiten. Dann bleibt er nicht lange.“

Sie huschte schon davon. Sonst hätte er ihr dies noch schnell auszureden versucht.

Wieder das Schrillen der Glocke.

Scherlberg schaltete die Schreibtischlampe ein und ging hinaus, um zu öffnen.

„Ah – Sie sind’s, Malakewitz!“ begrüßte er den sehr großen, hageren Herrn, den er etwa vor einem Monat zufällig in einer Kneipe kennengelernt hatte, wo dieser an seinen Tisch gekommen war. Sie waren dann bald in eine angeregte Unterhaltung geraten, und dadurch hatte sich so etwas wie eine neue Freundschaft angesponnen.

Guido von Malakewitz trat ein, zog die Flurtür hinter sich zu und meinte:

„Ich muß doch mal wieder schaun, wie’s mit der schnell anwachsenden Berühmtheit steht, mein lieber Scherlberg.“

Er hing den Zylinder an den Garderobenständer und legte auch den Gehpelz ab.

„Ich glaubte, es sei Doktor Bernstedt,“ sagte Scherlberg möglichst laut, damit Nora es ebenso hörte. „Er hatte sich zu einer Besprechung angemeldet. Bitte treten Sie ein, Malakewitz.“

Dieser sog prüfend die Luft ein.

„Dichtersmann, Dichtersmann, – hier riecht’s nach Damen!“ scherzte er.

„Unsinn – keine Rede! – Bitte – hier hinein!“

Aber Malakewitz stand wie angemauert und starrte auf die Tür der winzigen Küche.

„Hm – soll ich mal Zauberer spielen, Scherlberg?“ meinte er. „Hokus Pokus Fidibus – eins, zwei, drei –“

Da hatte er die Küchentür schon geöffnet und gleichzeitig eine winzige elektrische Taschenlampe aufflammen lassen, deren Lichtkegel nun die erschrocken zurückweichende Nora traf.

Malakewitz verbeugte sich.

„Pardon, meine Gnädige! Ich konnte es aber unmöglich dulden, daß Sie sich hier in der kalten Küche einen Schnupfen oder noch Ärgeres holen. – Sie gestatten: von Malakewitz, ehemaliger preußischer Regierungsreferendar, geschwenkt wegen allerlei Dummheiten, zur Zeit Gelegenheitsarbeiter, Filmstatist für Serenissimus-Trottel-Rollen und Ähnliches. – Bitte, Gnädigste werden mir doch den Vorzug gönnen, eine Weile mit Ihnen plaudern zu dürfen –“

Berd Scherlberg stand stumm und wütend dabei. Dieser verd… Malakewitz war schon wieder im besten Zuge! Hatte der Mensch nur eine Gabe, sich jeder Situation gewachsen zu zeigen!

Scherlberg mochte nun doch nicht länger den Stummen spielen. Er wollte sich vor Nora doch nicht derart bloßstellen, als ob er nicht genau so gewandt wie dieser fragwürdige Kavalier sich aus der Affäre ziehen könnte.

„Liebe Freundin,“ sagte er schnell, „Sie gestatten – Herr von Malakewitz – Frau Nora Decker, die Enkelin meines Vorgängers hier in dieser Wohnung,“ stellte er vor und setzte hinzu:

„Bitte, nun aber hinein ins Warme!“

Der lange, elegante Guido reichte Nora den Arm und führte sie in das kleine Arbeitszimmer.

„Gnädigste können überzeugt sein, daß ich volles Verständnis dafür habe, daß eine Dame auf ihren Ruf Rücksicht nimmt,“ sagte er liebenswürdig und rückte Nora einen der Plüschsessel zurecht. „Selbstverständlich schweige ich wie das Grab. Wenn ich auch alles in allem ein großer Lump bin: Frauen stehen mir noch immer zu hoch, als daß ich an ihnen eine Lumperei beginge.“

Nora hatte ihre Verlegenheit sehr bald überwunden.

Einen Mann von dem internationalen Großstadttyp dieses Malakewitz hatte sie bisher nicht kennen gelernt. Noch nie hatte sie jemand so anregend plaudern gehört wie diesen Menschen, dessen nachlässige Sicherheit des Benehmens die gute Erziehung und Herkunft deutlich verriet.

Trotz all seiner Zwanglosigkeit und all seinen ironischen Bemerkungen über sich selbst wirkte Malakewitz stets vornehm und dabei wie ein seltsames Rätsel. Er schien die ganze Welt zu kennen. Den Weltkrieg hatte er als Freiwilliger und Verteidiger von Tsingtau in Ostasien, dann als Kriegsgefangener in Japan, nachher nach einer geglückten Flucht in Ostafrika mitgemacht.

Er hatte ein sehr mageres, frisches Gesicht mit kleinem blonden Bärtchen, dazu große, dunkle, stets wie verschleierte Augen und einen etwas zu großen Mund, dessen Lippen nur wie schmale rote Striche sich ausnahmen. Er trug ein randloses Monokel vor dem rechten Auge, war bis ins kleinste tadellos angezogen und hatte sehr schmale, sehr lange, weiße Hände mit von Lack schillernden Nägeln. Sein Organ war hart, fast rauh, konnte aber trotzdem sich angenehm ins Ohr schmeicheln.

Scherlberg war jetzt froh, daß Malakewitz dieses Tete a Tete mit Nora gestört hatte, besonders die Erörterung dieser widerwärtigen Frage einer baldigen Heirat, die er niemals ernstlich in Erwägung gezogen hatte.

Er war ganz liebenswürdiger Gastgeber, hatte seinen Gästen Tee, Gebäck, Likör, Zigarren und Zigaretten vorgesetzt und fühlte sich bei alledem nur insofern unbehaglich, als er sehr wohl merkte, daß er neben Malakewitz’ eigenartigem Männertyp selbst als angehende Berühmtheit nicht zur Geltung kam. Kleinlich wie alle minderwertigen Charaktere, ärgerte er sich über Malakewitz’ unaufdringliche Galanterie gegenüber Nora und suchte diesen durch gelegentliche Andeutungen über sein offenbares Drohnendasein in Noras Augen herabzusetzen.

Trotzdem war es in dem behaglich durchwärmten Zimmer intim-gemütlich. Die Zeit verstrich Nora wie im Fluge. Als sie um dreiviertel sieben aufbrach, reichte sie Malakewitz die Hand und sagte ehrlich:

„Es waren sehr angenehme Stunden. Auf Wiedersehen, Herr von Malakewitz.“

Er küßte ihr die Hand.

„Es war mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, gnädige Frau.“ – Er blieb respektvoll bis zuletzt.

Scherlberg begleitete Nora die Treppen hinunter bis vor die Haustür.

„Weswegen stelltest Du mich Malakewitz nicht als Deine Braut vor?“ meinte Nora etwas vorwurfsvoll.

„Ach – ich war so – so verwirrt über seine Frechheit, als er die Küchentür aufriß, Liebling. Übrigens ist er ein sehr fragwürdiges Subjekt, sehr aufdringlich und – mit Vorsicht zu genießen. Ich werde zusehen, daß ich diese Bekanntschaft mir schleunigst wieder abwimmele. Der Mensch – paßt mir nicht!“

„So?! – Na – so übel finde ich ihn nicht. Ein schlechter Mensch ist er niemals. Er besitzt Gefühl, sucht es aber zu verbergen.“

Scherlberg lachte kurz auf. „Ein Abenteurer ist’s sehr wahrscheinlich! Vielleicht noch Schlimmeres!“

„Nein – das glaube ich niemals, Berd! Wirklich – schlecht kann er nicht sein! So weit bin ich doch Menschenkennerin.“

„Du hast Dich wohl so etwas –“ Er biß sich schnell auf die Lippen. Ihm war plötzlich ein Gedanke gekommen.

Und hastig beendete er den begonnenen Satz nun so:

„– so etwas durch Malakewitz’ tadellose Manieren bestechen lassen. Immerhin: vielleicht irre ich mich; vielleicht tut Malakewitz nur so, als wäre an ihm kein gutes Haar dran. Er will sich wohl nur interessant machen.“

Noch ein flüchtiger Kuß im Hausflur, und Nora huschte davon. –

Oben in Scherlbergs Arbeitszimmer aber hatte Guido von Malakewitz, nachdem er die Tür nach dem Flur etwas geöffnet hatte, um besser auf die Schritte des zurückkehrenden Scherlberg achten zu können, sehr gewandt mit einem offenbar nach einem Wachsabdruck gefertigten Nachschlüssel das unterste, spindartige Fach des altertümlichen Schreibtisches geöffnet und mit seiner Taschenlampe hineingeleuchtet.

„Ah – also wirklich hier!“ murmelte er befriedigt. „Schade, daß ich nicht die Zeit habe, den Inhalt zu untersuchen.“

Er verschloß den Schreibtisch wieder und schaute sich nun die auf der ausgezogenen Schreibplatte liegenden Papiere an, fand jedoch nichts, das für ihn irgendwie wichtig gewesen wäre.

Dann drückte er die Stubentür wieder ins Schloß, setzte sich in seinen Sessel, steckte sich eine frische Zigarette an und ließ seine Gedanken die Person des jungen Weibes umspielen, das seiner Überzeugung nach von Scherlberg irgendwie pekuniär schwer geschädigt worden war.

Er hatte heute nur so getan, als wäre Nora Decker ihm eine Fremde. Von Ansehen kannte er sie bereits mehrere Wochen, hatte sie heimlich beobachtet und alles über sie und ihre Vergangenheit ermittelt, soweit ihm diese in Bezug auf die Ereignisse jener Nacht interessant war.

Noras zartes Parfüm erfüllte noch das kleine Zimmer. Malakewitz schloß jetzt halb die Augen und rief sich Noras Bild ins Gedächtnis zurück. Ein Mann wie er, der die Frauen aller Weltteile kannte, hatte sofort gemerkt, daß diese junge Witwe sowohl äußerlich als innerlich den Durchschnitt weit überragte. Desto unverständlicher war es ihm, daß gerade dieser fade Scherlberg dieses reizende Geschöpf sich erobert hatte. –

Scherlberg trat ein, stellte sich vor Malakewitz hin und fragte heiteren Tones:

„Nun sagen Sie mir mal ehrlich, – wie konnten Sie wissen, daß Frau Decker in der Küche steckte?“

Malakewitz lächelte gleichfalls.

„Schlüsselloch der Flurtür!“ meinte er. „Ich schaute hindurch, um festzustellen, ob hier bei Ihnen im Flur Licht brannte, Sie also daheim wären. Da sah ich eine Frauengestalt nach rechts hinüberhuschen.“

Scherlberg beschlich schon wieder ein unbehagliches Gefühl. Er wußte nicht recht, was er von Malakewitz zu halten hätte. – Seine Gedanken veränderten seinen Gesichtsausdruck unwillkürlich.

Malakewitz fixierte ihn durch das Monokel, sagte ironisch:

„Nicht wahr, ich bin ein gefährlicher Mensch?! – Ja, das hat schon mancher gemerkt. – Aber – Scherz beiseite, lieber Scherlberg. Wie stehen Sie nun eigentlich mit diesem famosen Weibe?! Man könnte Sie beneiden.“

„Dazu ist nicht der geringste Grund vorhanden. Mein Wort darauf, daß diese Dame für mich ganz Dame ist und bleiben wird.“

Dies klang so aufrichtig, daß Malakewitz etwas erstaunt, aber keineswegs in zweifelndem Tone rief:

„Also nur Freundschaft?!“

„Allerdings. Unsere Bekanntschaft begann recht ungewöhnlich.“ Scherlberg erzählte die Ereignisse jener Nacht, ließ aber alles weg, was ihn irgendwie gefährlich dünkte.

Malakewitz hörte scheinbar aufmerksam zu. Scheinbar! Ihm war ja das meiste davon schon bekannt. Er hatte es sozusagen miterlebt.

Er verabschiedete sich dann sehr bald. Kaum war er gegangen, als die Portierfrau erschien und fragte, ob sie für Scherlberg etwas zum Abendbrot einkaufen solle. Sie spielte jetzt hier Aufwärterin.

Nachher erzählte sie Scherlberg so nebenbei das Allerneueste: daß sämtliche damals aus den beiden Bodenkammern gestohlenen Sachen heute mittag in einem unbenutzten Bodenverschlag von ihrem Manne aufgefunden worden seien.

„Na – was sagen Sie nu, Herr Scherlberg?! Ist das nicht wirklich ’ne janz unglaubliche Jeschichte?! Ich möcht’ bloß wissen, weshalb die Spitzbuben sich die Mühe gemacht haben, die Sachen dort zu verstauen?! – Ja – und meinen Sie, daß der Kaufmann Meyersohn sich nu darüber jefreut hat, weil er nu allens bis auf eenen alten, kleenen Lederkoffer wiederjekriecht hat?! Keine Rede davon! Jar nich hat er sich jefreut – jar nich! Ihm scheint bloß wat an den Koffer zu liegen. Und ’s war doch man zerbrochenes Kinderspielzeug drin, hat er auf der Polizei anjejeben. – Herr Scherlberg, Herr Scherlberg, hier stimmt irjend wat nich!“

Und mit dieser dunklen Andeutung verließ sie die kleine Wohnung wieder.

Scherlberg waren der Diebstahl und der reiche Kaufmann Meyersohn. der die ganze erste Etage bewohnte, recht gleichgültig. Er setzte sich an den Schreibtisch und griff zur Feder. –

Am andern Morgen erhielt er von einem großen Leipziger Verlag die Nachricht, daß sein Roman „Menschen abseits der Heerstraße –“ ebenfalls angenommen sei. – Das Honorar, das er dafür erhielt, war glänzend. So hatte er denn nun auch den vierten Roman glücklich untergebracht.

– – – – – – – –

Scherlbergs Daseinsführung änderte sich jetzt immer mehr. Seine beiden ersten Romane, die in den besten Wochenschriften erschienen, dann auch der dritte, als Buch herausgekommene Roman, der in drei Wochen völlig vergriffen war, hatten aus dem bis dahin so gut wie unbekannten Schriftsteller eine Tagesberühmtheit gemacht.

Er fand schnell Eingang in den Salons von Berlin W. Man schmeichelte ihm, man feierte ihn. Er wieder lernte es schnell, den geistvollen Gesellschafter zu spielen. Es lag mit in seiner zur Unaufrichtigkeit neigenden Natur, daß es ihm leicht wurde, sich anders zu geben als er war. Er wurde jetzt ein vollkommener Schauspieler auf jener Schaubühne des Lebens, die man allgemein so milde als Geselligkeit großen Stils bezeichnet. Seine früheren Freunde hielt er immer mehr von sich fern. Das bohemienhafte Sichaustoben gab er auf. Er suchte diese Art von Zerstreuungen nunmehr an Stätten, wo das Geld ein Nichts bedeutete, wo neben dem Talmi-Lebemann sich jene Weltstadtbummler trafen, die jedem Bettler ausweichen und jeder Dirne mit Gönnermiene Hunderte spenden. Er konnte sich all das jetzt leisten. Die Redaktionen rissen sich nach den Arbeiten Berd Scherlbergs, mochte er noch so hohe Honoraransprüche stellen. Er war eben im Laufe von kaum 2½ Monaten in Mode gekommen.

Gern hätte er eine andere Wohnung bezogen. Hauptsächlich deshalb, weil er in den Mansardenstuben beständig an den Toten erinnert wurde und an das, was er nicht mehr als Schuld empfinden wollte. Nein – nicht wollte! Er glaubte sein Gewissen und die Angst vor einer Entdeckung beruhigt zu haben. Aber es gab genug Augenblicke, wo er sehr wohl spürte, daß all dies nur Selbstbetrug war. Das kleine Schlafzimmer, in dem der alte Merlin seinen letzten Seufzer ausgehaucht hatte, war von ihm noch nicht ein einziges Mal benutzt worden. Er schlief stets in seinem Arbeitszimmer auf dem Diwan und hielt die Tür nach jenem Nebenraum ängstlich verschlossen. Häufig war es ihm, als ob er dort allerlei Geräusche hörte, besonders nachts, wenn alles im Hause still war. Dann saß er mit jagendem Herzen am Schreibtisch; dann bedeckte sich seine Stirn mit kaltem Schweiß; dann lauschte er, und seine erregten Nerven ließen ihn Töne hören, die wie das Ächzen eines Schwerkranken klangen.

In solchen Momenten sehnte er sich nach jemand, der dauernd um ihn wäre, diese Geräusche machten ihm den Gedanken an eine Ehe erträglicher. Aber sobald die Angst vorüber, spottete er zunächst über sich selbst. Doch diese Schrecken der nächtlichen Stunden wuchsen. Er wurde nervös; er gewöhnte es sich an, reichlich Alkohol zu genießen. Immer häufiger kam ihm die aus Furcht geborene Sehnsucht nach einer Lebensgefährtin. Zuweilen, wenn er auf dem Gesellschaftsparkett jungen Mädchen begegnete, prüfte er sie gleichsam auf ihre Geeignetheit, ihm das Ehejoch auch erträglich zu machen.

Nora Decker schied hier als Weib für ihn völlig aus. Er wollte nur reich, sehr reich heiraten, und ferner nur jemand aus sehr guter, womöglich adliger Familie. –

Zwei Wochen waren seit jenem Besuch Malakewitz’ bei Scherlberg hingegangen. Nora war krank, Grippe, wie sie ihm schriftlich mitgeteilt hatte. Sie hatten sich seit jenem Nachmittag nicht wiedergesehen. Er schrieb ihr nun jeden dritten Tag, richtete es aber so ein, daß seine Briefe ganz auf einen kameradschaftlichen Ton gestimmt waren. Nora merkte das, und in zwei mit Bleistift flüchtig auf dem Krankenbett gekritzelten Zetteln beklagte sie sich bitter über die Kälte seiner schriftlichen Grüße. Der zweite Zettel hatte noch eine Nachschrift erhalten:

„Was macht Malakewitz?“

Da hatte Scherlberg sich zufrieden die Hände gerieben und gedacht: „Aha – sie hat Feuer gefangen! Das paßt ja sehr fein in meinen Kram – sehr fein!“

Dann kam eines Morgens wieder ein Brief von Nora. – „Ich darf ausgehen. Nachmittags um 5 bin ich bei Dir. Ich sehne mich unendlich, mein Geliebter! Sorge, daß wir nicht gestört werden –“

Scherlberg überlegte. – Hm – heutzutage erreichten so viele Briefe den Empfänger nicht! Da konnte auch Noras Brief verloren gegangen sein!

Er setzte sich an den Schreibtisch und schrieb einen Rohrpostbrief an Malakewitz, den er inzwischen nur zweimal in Weinrestaurants getroffen hatte. Er bat ihn um ½5 heute zu ihm zu kommen. Er hätte etwas Dringendes mit ihm zu besprechen.

Mit einem überlegenen Lächeln gab er den Brief dann auf dem Postamt Halensee ab. Noras Schreiben hatte er im Ofen verbrannt. – So – nun war diese kleine Intrige eingefädelt; nun würde sich alles weitere von selbst ergeben. –

Malakewitz erschien pünktlich. Scherlberg bat ihn, es sich recht behaglich zu machen; er müsse nachher für eine Stunde zu Gondrowskis, wo er eine Theateraufführung für den großen Hausball leiten solle.

Als Malakewitz fragte, was es denn so Wichtiges zwischen ihnen zu erörtern gebe, meinte er, das könnte man besser nachher erledigen; es handele sich um Geldsachen.

Malakewitz war sehr einverstanden damit, daß er nun diese eine Stunde in Scherlbergs Räumen allein sein würde. Zum Schein tat er jedoch ein wenig ungehalten, hier so lange warten zu müssen.

Um dreiviertel fünf verließ Scherlberg das Haus. Malakewitz wartete noch geduldig zehn Minuten. Dann öffnete er zur Sicherheit wieder die Stubentür, um jedes Geräusch besser und rechtzeitig zu vernehmen. Er schloß nun das Spindfach des Schreibtisches auf und zog einen großen Holzkasten heraus, der grellbunt bemalt war.

Da – draußen wurde ein Schlüssel ins Schloß der Flurtür gesteckt. Malakewitz feine Ohren hatten gerade noch rechtzeitig gewarnt.

Blitzschnell schob er den Kasten zurück, verschloß das Fach, war mit einem Satz an der Stubentür öffnete sie ganz und sagte gelassen:

„Schon wieder da, Scherlberg?“

Aus dem Dunkel des Flurs erklang ein leiser Aufschrei.

„Mein Gott – Sie?!“

Dann hatte Nora Decker die Flurlampe eingeschaltet.

Enttäuscht und verlegen stand sie da. – Malakewitz begrüßte sie mit einer gewissen Wärme.

„Ah – wieder genesen, gnädige Frau? – Das freut mich aufrichtig. – So treten Sie doch näher. Scherlberg ist nur für eine Stunde zu Exzellenz Gondrowski gegangen. Die Familie wohnt in der Grunewaldkolonie, also ganz nahe.“

„Scherlberg – muß – meinen Brief nicht erhalten haben,“ meinte Nora zögernd und nahm dann Platz, nachdem Malakewitz ihr aus der Kostümjacke geholfen hatte.

„So, – Sie hatten sich wohl angemeldet für heute?“ fragte Malakewitz leichthin und schenkte Nora ein Gläschen Burgunder ein.

„Ja –, ich bin heute zum ersten Mal ausgegangen,“ nickte sie und fügte hinzu: „Ich fühle mich noch recht matt. Der Wein wird mir guttun.“

Malakewitz trank ihr zu. „Auf Ihr Wohl, gnädige Frau, und – vielleicht auf gute Freundschaft.“

Seine herrische Stimme war jetzt weich und zart.

Nora schaute ihn mit ihren ehrlichen, großen Augen voll an.

„Ja – auf gute Freundschaft, Herr von Malakewitz.“

Sie trank das Glas in kleinen Zügen leer, setzte es auf den Tisch zurück und meinte:

„Ich habe sehr oft an all das Wunderbare gedacht, das Sie uns damals aus fernen Ländern erzählten. Und – ich habe Sie beneidet! Es muß schön sein, die Welt kennen zu lernen.“

Guido von Malakewitz antwortete erst nach einer Weile.

„Das Schöne – die Welt – bezahlt man sehr teuer, gnädige Frau,“ sagte er leise. „Sehr teuer! Nämlich zumeist mit Menschenkenntnis. Reisen bildet, weitet den Blick. Aber – derselbe Blick liest dann auch in den Seelen derer, die diese Welt verhunzen.“

Dann eine kurze, abwehrende Handbewegung. „Lassen wir das Thema ruhen. – Dürfen wir nicht einmal von Ihnen sprechen?“

„Von mir?! – Das wäre wohl sehr uninteressant.“

„Kaum. Vielleicht hätte ich auch einen besonderen Grund, aufdringlich zu erscheinen, denn das ist es ja, wenn ich es wage, trotz der Kürze unserer Bekanntschaft mich in Ihr Vertrauen gleichsam einzudrängen.“

Nora war aufmerksam geworden.

„Einen besonderen Grund?!“ fragte sie etwas unruhig. „Sie erklärten doch soeben selbst, daß Sie mich erst so kurze Zeit kennen. Wie kann es da möglich sein, daß –“

Er beugte sich etwas vor, fiel ihr jetzt mit der vollen Härte seiner Stimme ins Wort:

„Es ist möglich! – Vielmehr: es ist so! Ich habe einen Grund, Sie jetzt zum Beispiel zu fragen: Wie stehen Sie mit Bernhard Scherlberg?“

Sie war zunächst peinlich berührt durch diesen scheinbaren Mangel an Zartgefühl. Dann aber dachte sie an das erste Beisammensein mit Malakewitz und an den tiefen Eindruck, den dieser seltsame Mann in ihrer Seele zurückgelassen hatte, – daran, daß sie ihn ja Scherlberg gegenüber so warm verteidigt hatte. – Nein – aus bloßer Neugier stellte er gerade diese Frage an sie gewiß nicht!

Malakewitz flüsterte jetzt in diese ihre Gedanken störend hinein:

„Nicht wahr, Sie werden zu der Überzeugung gelangt sein, daß von der Beantwortung dieser Frage für Sie viel abhängt. Sonst hätte ich sie ja nicht an Sie zu richten mich erkühnt.“

Nora schoß das Blut in die Wangen. Sie sah sich auf ihren geheimsten Gedankengängen ertappt. Aber sie erwiderte nun ehrlich und mutig:

„Ich halte Sie für einen vornehmen Charakter. – Ich bin mit Scherlberg seit sechs Wochen heimlich verlobt.“

Er blickte auf die blinkenden Spitzen seiner Lackstiefel. Er hatte die Beine zwanglos über einander geschlagen und bewegte den rechten Fuß langsam auf und ab.

„Das dachte ich mir,“ sagte er wieder in demselben harten Tone. „Weshalb aber heimlich verlobt – weshalb nicht öffentlich?“

„Auf Bernhards Wunsch. Er wollte sich erst einen Namen machen, bevor er –“

„Danke, gnädige Frau. Das genügt mir. – Sie haben ihm gestern wohl einen Brief geschickt, der ihn heute früh erreichen sollte.“

„Ja. Er wird aber fraglos verloren gegangen sein. Sonst hätte ich Sie hier nicht angetroffen. Wir wollten doch allein sein nach so langer Trennung.“

„Sehr verständlich. – Nein, den Brief hat Scherlberg nicht erhalten. Er hat mich nämlich für heute ½5 herbestellt gehabt. Und das hätte er natürlich nie getan, wenn er eine Ahnung gehabt haben würde, Sie könnten ihn zur gleichen Zeit besuchen. – Haben Sie den Flurschlüssel zu Scherlbergs Wohnung hier schon lange?“

„Ja – gleich nach unserer Verlobung gab er ihn mir. Er meinte, es sei besser, wenn ich sofort eintreten könnte, ohne erst läuten zu müssen. – Jetzt seien Sie aber bitte mal ehrlich, Herr von Malakewitz. Sie haben mich etwas besorgt gemacht. Weshalb diese Fragen?“

„Oh – aus Freundschaft nur, Frau Nora.“ Er gebrauchte zum ersten Male diese vertrauliche Anrede. „Ich verspreche, Ihnen dies alles zu erklären, wenn es Zeit ist. Bis dahin sind Sie in guter Hut. – Bitte – forschen Sie jetzt nicht weiter. Aber – kein Wort von diesem Gespräch zu Scherlberg. Sie würden ihm nur unnötig die Stimmung verderben. Es handelt sich hier ja um eine Angelegenheit, die ich erst ganz klar übersehen muß. – Machen Sie kein so grüblerisches Gesicht, Frau Nora. Darf ich Ihnen das Glas wieder vollschenken? – So – bitte, – nochmals auf gute Freundschaft.“

Nora sah heute mit dem schmalen, blassen Gesicht noch lieblicher aus, noch anziehender als sonst. Malakewitz hatte seine Freude an ihr. Es war die Freude eines Mannes, der Harmonie am Weibe liebt, Harmonie in allem. Er freute sich über ihre zwanglos-graziösen Arm- und Handbewegungen, über die Art, wie sie den Kopf trug, wie sie das Glas zum Munde führte.

Nora fand sich jedoch nur schwer in den leichten Plauderton hinein, den er nun anschlug. Ein Druck lastete auf ihrem Herzen wie die Ahnung irgend eines unbekannten Unheils. Und diesen Druck hatten Malakewitz’ Andeutungen hervorgerufen. – Er merkte bald, daß sie zerstreut war und über das Gespräch von vorhin nachgrübelte. Unvermittelt fragte er:

„Sie dürfen nicht mehr an diese Fragen denken, Frau Nora. Sie dürfen nur eins: überzeugt sein, daß der, den ich schützen will, völlig sicher ist – vor allem.“

Sie konnte es nicht verhindern, daß ihre köstlichen Lippen zuckten und sich ihr Tränen in die Augen drängten. – „Hätten Sie lieber nichts gefragt!“ rief sie leise. „Ich – ich habe jetzt das Empfinden, als ob –“

Sie weinte nun wirklich, drückte das Tüchlein gegen die Augen und saß zusammengesunken da.

Er stand auf und trat hinter ihren Plüschsessel, strich ihr sacht über das volle, aschblonde Haar und flüsterte:

„Mut, Frau Nora, – Mut! Sie sind doch kein Kind mehr! Sie werden vielleicht Trübes erleben, aber dann werden Sie nachher glücklicher sein als jetzt.“

Sie ließ die Hände sinken, schaute zu ihm auf, schaute in sein mageres, scharf geschnittenes Gesicht und in das schillernde Monokel hinein, das den Ausdruck dieses Auges verbarg. Und das andere lag im Schatten.

Ein ganz eigenes Gefühl beschlich sie plötzlich. Sie war Weib, und sie empfand ganz deutlich, daß dieser Mann hier dicht neben ihr zu denen gehörte, die eine große Macht über Frauen kraft ihrer starken Persönlichkeit besitzen. Sie spürte etwas wie eine angenehme Wehrlosigkeit. Blitzschnell schoß ihr der Gedanke durch den Kopf: „Wenn er sich jetzt über Dich beugt und Dich küßt, dann müßtest Du ganz still halten –“

Da ging er schon zu seinem Korbsessel zurück und begann ihr von Japan zu erzählen. –

Die Stunden vergingen wieder im Fluge. Als es ½8 geworden, brach Nora auf. Scherlberg war noch nicht zurückgekehrt. Nora fühlte sich geradezu schuldbewußt, weil sie ihn kaum vermißt hatte. Sie fuhr dann mit der Straßenbahn nach Hause. Der Wagen war leer. Sie saß tief in Gedanken da und erinnerte sich an vieles, was Malakewitz in seine Schilderungen als harmlose Lebensweisheiten eingestreut hatte; und sie erinnerte sich noch deutlicher daran, daß sie ihn unwillkürlich mit ihrem Verlobten verglichen hatte. –

Kaum war Nora aus der Mansardenwohnung die Treppen hinuntergehuscht, als Malakewitz auch schon in das dunkle, ungeheizte Schlafzimmer Scherlbergs trat und das eine Fenster öffnete. Er lehnte sich ganz weit hinaus und konnte so die Straße unten übersehen. Jetzt erschien Nora, eilte davon. Und dann löste sich von der anderen, unbebauten Straßenseite, wo ein hoher Zaun kleine Gärten abgrenzte, aus dem Dunkel eine Männergestalt heraus, trat in die Mitte des Fahrdammes und blickte Nora nach.

Es war Scherlberg. Der helle Velourhut und der helle Pelzkragen des leichten Gehpelzes verrieten ihn.

„Kuppler!“ murmelte Malakewitz verächtlich und schloß das Fenster. – Drei Minuten später betrat Scherlberg seine Wohnung, tat, als ob er ganz atemlos vom schnellen Gehen wäre und konnte gar nicht genug Worte des Bedauerns finden, daß er Nora auf diese Weise verfehlt hätte, schimpfte auf die unzuverlässige Post und erklärte Malakewitz dann, er habe von ihm sich Rat erbitten wollen, wie er wohl sein erstes Kapital von 50 000 Mark am gewinnbringendsten anlegen könnte; nur deshalb hätte er ihn hergebeten.

Malakewitz meinte, er solle noch warten und vorläufig das Geld bei einer Bank deponieren. Er würde ihm nach einiger Zeit angeben, welche Papiere er am besten erwerben solle.

Sie blieben noch bis 8 Uhr zusammen. Dann verabschiedete Malakewitz sich. Von einem Weinrestaurant aus läutete er dann Exzellenz Gondrowski an und fragte unter falschem Namen, ob Herr Scherlberg noch dort sei. Der Diener erklärte, dieser habe die Villa im Grunewald bereits um ¼7 verlassen.

Malakewitz sah jetzt in allem klar.

„Arme Frau Nora!“ dachte er. „Das wird noch viel Tränen kosten.“

– – – – – – – –

Am nächsten Nachmittag erhielt Scherlberg von Nora einen Rohrpostbrief; er solle sie heute abend um 8 Uhr vor dem Theater des Westens erwarten.

Er schrieb sofort Antwort, daß er zu Exzellenz Gondrowski eingeladen sei; es täte ihm sehr leid, sei aber nicht zu ändern; morgen verreise er für mehrere Tage – nach Dresden, zu seinem Verleger; er würde ihr seine Rückkehr mitteilen.

Diesen sehr kühlen Brief sandte er durch einen Dienstmann zu Zahnarzt Gudenbleit.

Er wollte jetzt um jeden Preis mit Nora brechen. Und – Malakewitz sollte ihm dabei auch weiter Mittel zum Zweck sein.

Ja – es mußte ein Ende haben mit diesem törichten Verlöbnis! Denn jetzt hatte er ja ein Ziel vor Augen, jetzt glaubte er das Mädchen entdeckt zu haben, das seinen Ansprüchen genügte.

Exzellenz von Gondrowski war unlängst aus einem der kleinen thüringischen Staaten nach Berlin gezogen, hatte für 1½ Millionen eine Villa im Grunewald erworben und sofort auch in den Kreisen der Geldaristokratie von Berlin W. gesellschaftlichen Anschluß gesucht. –

Als Scherlberg um ½9 das Gittertor der Parkmauer der ausgedehnten, an den Königsee grenzenden Besitzung öffnete, sah er dicht vor sich die überschlanke Gestalt Thea von Gondrowskis, die hier auf den mit gelbem Zierkies bestreuten Wegen offenbar noch frische Luft geschöpft, vielleicht aber auch ihn erwartet hatte.

Gehüllt in einen modernen, weiten Pelzmantel, den sie aber ganz eng vorn zusammenhielt, mit bloßem Haupt und wie immer stark gepudertem Gesicht, das wohl absichtlich interessant-blaß wirken sollte, trat sie Scherlberg entgegen, reichte ihm die Hand und sagte sofort:

„Es ist noch niemand von den anderen Gästen da. Wir wollen noch hinab zum Seeufer gehen.“

Scherlberg war an Theas Absonderlichkeiten bereits gewöhnt. Er kannte das einzige Kind des reichen früheren Ministers nun drei Wochen, hatte sie aber bis vor kurzem nicht recht beachtet. Sie war ihm doch etwas zu übermodern in allem, zu verwöhnt, zu verzogen und – zu klug. Eine kluge Frau war unbequem. Wenn er trotzdem jetzt auf dieses Entgegenkommen, das Thea ihm sehr deutlich zeigte, seit gestern einzugehen sich entschlossen hatte, so hatte dies lediglich den einen Grund: er wußte jetzt bestimmt, daß Gondrowskis mindestens zehn Millionen besaßen und daß der ehemalige Minister sehr einflußreiche Bekannte überall hatte. Thea die Erbin von zehn Millionen – das genügte ihm! –

Sie schritten unter rauschenden Kiefern dahin, stiegen die Zickzacktreppen hinab und betraten den zur Villa gehörigen Bootssteg.

Thea schwieg beharrlich. Scherlberg mochte von diesem, von jenem sprechen, – sie blieb stumm. Er begriff sie heute weniger als je. Sie war für ihre seltsamen Launen bekannt. Sie konnte Herren, die ihr mißfielen, geradezu verletzend unhöflich oder aber mit so feiner Ironie behandeln, daß sie geradezu gefürchtet war.

Dieser Märzabend heute war bereits erfüllt von Frühlingsahnen. Auf dem kleinen See zogen lautlos zwei Schwäne dahin, umstrahlt von dem Lichte des beinahe vollen Mondes. Die kleine Insel in der Mitte des Sees mit ihren entlaubten Büschen und Weiden nahm sich bei dieser Beleuchtung wie ein hübsches Gemälde aus.

Thea Gondrowski stand an der Spitze des Steges und schaute regungslos auf das stille Gewässer hinaus.

Scherlberg lehnte neben ihr am Holzgeländer. Auch er schwieg jetzt.

Dann sagte das junge Mädchen plötzlich sehr laut, ohne den Kopf zu wenden:

„Wissen Sie auch, daß es meine Mutter ist, auf deren Veranlassung Sie nun zu den Intimen unseres Hauses gehören?“

Diese Sätze waren für Scherlberg wie ein Blitz der Erkenntnis.

Frau Agna Gondrowski – die noch immer schön sein wollende Exzellenz –! Ah – also diese überreife, begehrliche Frau, die den Gatten völlig beherrschte, hatte ihre Augen gerade auf ihn geworfen! – Vieles verstand er nun, – nein, alles! Verstand die Herzlichkeit, die ihm diese gefärbte Schönheit in scheinbar mütterlicher Weise entgegengebracht hatte, verstand die Händedrücke, die häufigen Einladungen zum Nachmittagstee, die Verabredungen in der Stadt, wenn er Ihrer Exzellenz bei Einkäufen hatte helfen sollen –! – Ach, in diesem Falle war er wirklich blind und taub, kurzsichtig wie ein harmloser Jüngling gewesen! –

„Jetzt – jetzt erst weiß ich’s,“ erwiderte er leise. – Er fand keine bessere Antwort.

„Und was nun?“ fragte sie schnell und wandte sich ihm zu.

Er war so verwirrt, daß er fast ängstlich in das blasse, schmale Gesicht mit den übergroßen, dunklen Augen starrte – wie hypnotisiert.

Dann sprach sie weiter.

„Ich kann ganze Seiten Ihres Romans „Menschen abseits der Heerstraße –“ auswendig. An einer Stelle heißt es: „Liebe ist stets ein Traum; Leidenschaft stets ein Rausch. Auf beide folgt das Erwachen. Weib und Mann, die sich zu treuer Kameradschaft die Hände reichen, brauchen kein Erwachen zu fürchten, dürfen stets hoffen, daß aus dieser innigen Kampfesgemeinschaft gegen des Lebens Unzulänglichkeiten langsam ein Schöneres erwächst: eine tiefe Herzensneigung, die das stärkste Fundament aller Gefühle hat –“ – Kampfesgemeinschaft! Wie richtig das ist! – Bernhard Scherlberg, ich biete Ihnen diese Gemeinschaft an. Ich möchte heraus aus dieser Umgebung, aus dieser Öde! Ich habe all diesen Tand satt. Mich dürstet nach Arbeit – nach Kampf!“

Und wieder war er so völlig benommen von dem, was hier soeben über Mädchenlippen gekommen war, daß er trotz des plötzlichen Unbehagens ihr in fast mechanischer Bewegung die Hand hinstreckte und sagte:

„Ich – ich nehme diese Gemeinschaft an, Thea.“

Sie hielt seine Hand fest umspannt.

„Also sind wir das, was die Welt verlobt nennt,“ meinte sie tief aufatmend. „Verlobt! Ver–lobt!“

Sie lächelte plötzlich. Der Mond schien ihr gerade ins Gesicht.

Scherlberg erschrak. Es war ein Lächeln, vor dem er zurückbebte. Etwas so leidenschaftlich Feindseliges, Haßerfülltes lag darin, daß er unwillkürlich flüsterte:

„Was – was bedeutet dieses –“

Sie ließ ihn nicht aussprechen.

„Kommen Sie.“ Sie schritt schnell voraus, blieb dann auf dem ersten Treppenabsatz stehen, drehte sich um, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn.

Wieder zuckte er zusammen. Ihre Lippen waren so dünn, so kalt.

„Übermorgen habe ich Geburtstag,“ sagte sie dann. „An diesem Tage wirst Du um mich anhalten. Bis dahin bleibt alles Geheimnis zwischen uns –“

Sie ging weiter, ging so schnell, daß er sie nicht mehr einholte. –

Es waren heute nur vierzehn Gäste bei Gondrowskis. Scherlberg beobachtete bei Tisch Frau Agna mit jenem Interesse, das wohl jeder Mann dem Weibe entgegenbringt, die sich ihm mit unverhüllten Wünschen nähert. Und abermals sagte er sich: „Wie konntest Du bisher nur so blind sein?!“

Dann wieder verglich er Mutter und Tochter. Thea war genau so überschlank, wie Ihre Exzellenz üppig und überkräftig war. Aber beide hatten dieselbe etwas große, messerscharfe Nase, dieselben leidenschaftlichen Augen und dasselbe rotbraune Haar.

Thea gab ihm keine Gelegenheit mehr, sie heute allein zu sprechen. Nur einmal flüsterte sie ihm zu:

„Morgen nachmittag um 6 komme ich zu Dir.“

Als Scherlberg um Mitternacht nach diesem Verlobungsabend, den selbst er in dieser Art nie für möglich gehalten hätte, heimwanderte, überkam ihn in verstärktem Maße dasselbe Unbehagen wie vorhin auf dem Bootsstege.

Es war mehr als Unbehagen – es war die unbestimmte Angst vor etwas, das als drohendes Geheimnis hinter diesem Verlöbnis stand. Er dachte immer wieder über Theas Worte nach. Was sollte das nur?! Kampf?!

Und dann – dann Nora! Noch zwei Tage! Bis dahin mußte er mit ihr für alle Zeit gebrochen haben!

Langsam, sorgenvoll, mit jäh erwachtem Gewissen, das ihm immer wieder zuraunte: „Du bist ein Dieb – ein Lump!“ stieg er die fünf Treppen zu seiner Mansarde empor. Zögernder als sonst öffnete er die Flurtür. Er hatte heute wenig getrunken. Nur unter dem Einfluß des Alkohols betrat er sonst ohne Scheu das frühere Heim Hilmar Merlins. Er holte sofort die Kognakflasche aus dem Likörschränkchen, trank drei Sherrygläser hintereinander und setzte sich an den Schreibtisch, nachdem er aus dem buntbemalten Kasten aus dem Spindfach einen blauen Umschlagbogen herausgenommen hatte.

Er begann zu schreiben – abzuschreiben.

Dann ruckte er hoch, stand halb ausgerichtet da, den Kopf nach der Tür der Schlafstube gewandt.

Seine Augen weiteten sich. Leichenfahl wurde sein Gesicht. Ein nervöses Zittern lief über seine Gestalt hin.

Da – war es wieder – ganz deutlich, dieses Ächzen. Jetzt knarrte eine Diele.

Nein – das war keine Täuschung! Heute bestimmt nicht!

Schweißperlen rannen ihm die Schläfen, die Wangen entlang. Er wagte nicht sich zu bewegen.

Wieder dieses entsetzliche Ächzen.

Das konnte nur aus menschlicher Kehle kommen; das war keine Gehörtäuschung.

Eine wahnsinnige Angst packte ihn. Er nahm all seinen Mut zusammen.

Ein paar Sätze, und er war im Flur, riß Pelz und Hut vom Garderobenständer, rannte die Treppen hinab, auf die Straße. Hier erst setzte er den Hut auf, zog den Pelz an.

Dann fand er einen Polizeibeamten, bat ihn, mitzukommen. Es seien Einbrecher in seiner Wohnung; er sei soeben erst nach Hause gekommen, und da hätte er im Schlafzimmer Schritte gehört, – so log er, um seine Feigheit zu bemänteln.

Der Beamte begleitete ihn. Sie betraten das Schlafzimmer. Nichts Verdächtiges darin – nichts. Sie durchsuchten die kleine Wohnung – ebenfalls erfolglos.

Der Beamte lächelte gutmütig. „Sie werden sich wohl getäuscht haben, Herr Scherlberg.“ –

Scherlberg wäre am liebsten noch jetzt in der Nacht in ein Hotel gegangen. Aber ein paar weitere Gläser Kognak machten ihm Mut. Er blieb – und im Schlafzimmer regte sich nichts mehr.

Er schlief auch halb berauscht bald ein. Seine letzten Gedanken galten Thea. Mit ihrem Gelde würde er anderswo ein neues Heim beziehen – mit ihr gemeinsam, mit seiner Frau! Dann – dann würde er endlich herauskommen aus diesen verd… Räumen! –

Morgens um neun fand sich Malakewitz bei ihm ein. Er hatte einen großen Wolfshund bei sich.

„Sie sehen übernächtigt aus, lieber Scherlberg,“ meinte er.

„Oh – ich habe schlecht geschlafen,“ erklärte der Schriftsteller leichthin.

Beim Anblick des Hundes war ihm ein besonders glücklicher Gedanke gekommen.

„Ich möchte mir ebenfalls einen Hund zulegen,“ sagte er ziemlich unvermittelt.

Er sah nicht, daß Malakewitz ironisch die Mundwinkel verzog.

„Bitte – ich schenke Ihnen gern meinen Tyras,“ entgegnete Malakewitz. „Sie müssen mir nur gestatten, mit dem braven Tier täglich einen Spaziergang zu machen, und ihn mir zurückgeben, falls er Ihnen lästig wird.“

Sie einigten sich dahin, daß Malakewitz abends Tyras endgültig an Scherlberg abtreten sollte.

Dann war Scherlberg wieder allein. Er befand sich jetzt in sehr gehobener Stimmung. Wenn er den Hund nachts bei sich hatte, würde er sich durch keine Geräusche mehr narren lassen.

Er schrieb sogleich den Abschiedsbrief an Nora. Die begonnene Intrige weiterzuspinnen, dazu fehlte jetzt die Zeit. Er mußte sich auf andere Art diese Frau für immer fernhalten – mußte rücksichtslos mit ihr brechen. So schrieb er ihr denn, daß er nach sorgfältiger Prüfung seine Gefühle zu der Überzeugung gekommen sei, daß eine Ehe zwischen ihnen beiden unmöglich wäre. Sie würden beide nur unglücklich werden.

– – – – – – – –

Um fünf Uhr nachmittags erhielt Nora diesen phrasenreichen, heuchlerischen Brief gleichzeitig mit einem zweiten, der von Malakewitz kam.

Schon Scherlbergs kühle Absage am Tage vorher hatte ihr gezeigt, daß dieser Liebestraum zu zerflattern drohte. Sie hatte sich hiermit jedoch weit besser abgefunden, als sie selbst jemals hätte annehmen können. Gewiß – es waren Tränen geflossen. Aber bald waren es nur noch Tränen verletzten weiblichen Stolzes, gekränkter Eitelkeit, hervorgerufen durch die Überzeugung, daß sie nicht imstande gewesen, Scherlberg dauernd an sich zu fesseln, und weiter auch durch die Einsicht, ihren guten Ruf durch die Besuche bei ihm leichtsinnig aufs Spiel gesetzt zu haben.

Dann jetzt seine endgültige Absage. Nun erst durchschaute sie diesen Mann vollständig. Hätte er all die durchsichtigen, gleisnerischen Redensarten fortgelassen, hätte er nicht diesen überschwenglichen, fast weinerlichen und daher so unmännlich wirkenden Ton angeschlagen, dann würde sie seine Hohlheit, seine Charakterlosigkeit und Unaufrichtigkeit wohl kaum so deutlich empfunden haben.

Heute vergoß sie keine Träne mehr. Lediglich das Bewußtsein, nun wieder auf der Welt ganz allein dazustehen, denn nähere Verwandte besaß sie nicht, lastete schwer auf ihr.

Aber – Malakewitz’ Brief beseitigte dann auch diese trübe, trostlose Stimmung des Gefühls völliger Vereinsamung.

Wie anders war doch dieser Brief! Kein Wort zu viel darin; keine Phrase. Jeder Satz hauchte eine starke Persönlichkeit aus.

„Frau Nora!

Das Unheil, das ich Ihnen voraussagte, ist bereits eingetreten, Scherlberg wird Sie aufgeben, und Sie werden noch dazu den Schmerz erleben, daß er sehr bald ein neues Verlöbnis eingeht. Trauern Sie diesem Menschen nicht nach. Er war Ihrer nie wert. Sie haben sich an ihn lediglich deshalb so eng angeschlossen, weil Jugend zu Jugend drängt, weil Ihre Liebesfähigkeit noch so völlig unerschöpft ist. – Heute kann ich schon deutlicher werden als damals an jenem Nachmittag: Scherlberg hat Sie bestohlen! Aber – er wird wieder hergeben müssen, was er Ihnen nahm. Auch die Strafe wird folgen. Gedulden Sie sich nur noch ein paar Wochen. Die Dinge müssen erst ganz ausreifen. – Sollten Sie mich sprechen wollen: ich bin jeden Nachmittag von 5 – 6 im Cafee des Westens anzutreffen. – Ihr sehr ergebener G. v. Malakewitz.“

Nora überflog diese Zeilen mehrmals.

Bestohlen sollte Scherlberg sie haben – bestohlen?! – Sie begriff nicht, was Malakewitz damit meinte. An einen Diebstahl im wahren Sinne des Wortes konnte sie nicht glauben. Und doch: was sollte dieser Ausdruck „bestohlen“, diese harte, klare Anklage, wenn dem nicht wirklich so war?!

Sie sah nach der Uhr. Es war ½6. – Doktor Gudenbleit war nicht daheim, war auf zwei Tage zur Jagd gefahren. Sie konnte also frei über ihre Zeit verfügen.

Sie kleidete sich rasch um und begab sich nach dem bekannten Cafee, wo sie Malakewitz auch sehr bald bemerkte. Er kam ihr entgegen, führte sie an seinen Tisch und sprach dann über alles Mögliche, nur nicht von dem, was ihr doch am meisten am Herzen lag. Erst als sie nachher zusammen den Kurfürstendamm entlangschritten, als sie in stille Nebenstraßen einbogen, sagte er ohne jeden Übergang:

„Ich freue mich sehr, daß Sie meinen Brief so gefaßt hingenommen haben, Frau Nora. Scherlberg ist ein noch größerer Lump als – ich.“

Er hatte dieses letzte „ich“ scharf betont. Nora blickte ihn daraufhin denn auch von der Seite an, meinte schnell:

„Weshalb machen Sie sich nur immer selbst so schlecht?! Wie können Sie von sich sagen, Sie seien ein Lump?! Auf andere könnte diese Art der Selbstherabsetzung leicht so wirken, als wollten Sie sich interessant machen. Ich glaube Sie besser zu kennen.“

Er schwieg, und deshalb fuhr sie nach einer Weile fort: „Gleichzeitig mit Ihrem Brief erhielt ich auch Scherlbergs Absage. Ich bin – frei.“

„Ah – er hat es eilig. Thea von Gondrowski wird verlangt haben, daß die Verlobung bald veröffentlicht wird.“ Er ließ ein kurzes, ironisches Auflachen hören. „Man könnte diesen Narren bemitleiden, wenn er eben Mitleid verdiente.“

„Thea – Thea von Gondrowski?“ stammelte Nora und fühlte nun doch einen brennenden Schmerz in ihrer Seele, die sie diesem Unwürdigen mit all ihren köstlichen Reichtümern dargeboten hatte.

„Ja – Thea von Gondrowskis, 22 Jahre, einziges Kind sehr reicher Eltern; ein sehr widerspruchsvoller Charakter; klug. übermodern, übersättigt und erfüllt von einem unendlichen Haß gegen die eigene Mutter, eine Frau, die seit Jahren beweist, daß es für das Weib tatsächlich ein gefährliches Alter gibt. – Gestern abend hat Scherlberg sich mit Thea von Gondrowski verloben müssen – im Parke der Villa, auf dem Bootssteg am See. Es war äußerlich alles sehr stimmungsvoll: Mondschein, rauschende Bäume, der stille See, ein paar Schwäne darauf –“

„Wo – woher wissen Sie denn das alles? Kennen Sie Gondrowskis persönlich?“ fragte Nora ganz sprachlos vor Staunen. „Sie tun ja gerade so, als ob Sie –“

„– der Verlobung beigewohnt hätten –“, vollendete er den Satz. „Dem ist auch so. Allerdings als heimlicher Zeuge – hinter einem Gebüsch am Seeufer hervor. All das ist sehr einfach, Frau Nora, ich habe seit der Sterbenacht Ihres Großvaters für Scherlberg ein ganz besonderes Interesse. Ich habe mir die Mühe gemacht, ihn und alle Leute, mit denen er näher verkehrt, zu beobachten, habe ihre intimen Verhältnisse ausspioniert und war daher stets in der Lage, Scherlberg zu jeder beliebigen Stunde zu vernichten.“

Nora war stehen geblieben, schaute ihn nun ganz fassungslos an.

„Ich – ich begreife –“, begann sie jetzt in fast ängstlichem Ton. Er ließ sie jedoch wiederum den Satz nicht zu Ende führen.

„Sie werden alles begreifen. – Gehen wir weiter, Frau Nora. – Ich hatte damals in dem Atelierhause in der Ringbahnstraße eine kleine Sache zu erledigen, damals in jener Schneesturmnacht. So wurde ich Zeuge, daß Scherlberg Sie als Erbin Ihres Großvaters bestahl.“

„Zeuge?“ fragte Nora rasch. „Zeuge?! Wie ist das möglich?!“

„Darüber kann ich mich leider nicht genauer äußern. Jedenfalls: er bestahl Sie! – Ich suchte dann seine Bekanntschaft! Ich setzte mich in einem Restaurant an seinen Tisch, und es entwickelte sich bald ein näherer Verkehr zwischen uns. Ich habe dann versucht, künstlich bei Scherlberg das Gewissen zu wecken. Er sollte den Raub wieder herausgeben – halb freiwillig. – Er ist zu alledem ein Feigling. Ich spielte deshalb verschiedentlich den Geist in seinem Schlafzimmer, das er aus Angst vor einem Toten nie benutzt.“

Nora blieb schon wieder stehen, rief leise: „Mein Gott – so sind Sie also heimlich bei ihm eingedrungen? Aber – wozu nur dieses Wagnis?!“

„Das ist kein so großes Wagnis für einen Menschen wie mich, Frau Nora.“ Er lächelte eigentümlich. „Ich sagte ja schon: ich wollte Scherlbergs Gewissen wecken! Schon bevor ich Sie persönlich kennen lernte, kannte ich Sie, Ihre Vergangenheit und die Ihres Großvaters ziemlich vollständig. Ich hatte eben festgestellt, daß Sie zu Scherlberg in vertrautere Beziehungen getreten waren. Ich wußte aber auch, daß er Sie nie heiraten würde. So weit hatte ich ihn längst durchschaut. Da sollte er denn eben Ihnen das wieder aushändigen, was er Ihnen stahl was für Sie sehr wertvoll gewesen wäre.“

„Großvater besaß nichts von Wert. Sein kleines Kapital war bis auf einen Rest von 8000 Mark aufgezehrt, als er starb. Und dieses Geld befand sich auf einer Bank. Was kann Scherlberg also gestohlen haben?! Es kann sich nur um Dinge von mäßigem Geldwert handeln.“

„Sie irren, liebe Frau Nora. Doch – davon an dem Tage der Abrechnung. Überlassen Sie mir es bitte, diese Abrechnung herbeizuführen. Ihre Sache liegt in guten Händen.“

Er ging weiter und zwang sie so, neben ihm zu bleiben.

Nora war jetzt verstummt. Zu viel war in den letzten Stunden auf sie eingestürmt. Es entsprach aber ganz ihrer Weibesnatur, daß ihre Gedanken jetzt immer wieder zu dem Mädchen zurückkehrten, die nun ihre Nachfolgerin geworden: zu Thea von Gondrowski!

Ihr fiel plötzlich ein Wort aus Malakewitz’ Charakteristik dieser Thea ein: „Haß“ – hatte er gesagt. – Thea sollte ihre eigene Mutter hassen!

Ihr erschien das so undenkbar, daß sie jetzt allen Ernstes glaubte, sich verhört zu haben oder Malakewitz’ Worte sich falsch auszulegen. Sie hätte dieserhalb nun gern eine Frage an ihn gerichtet. Sie tat es nicht. Sie wollte den Eindruck vermeiden, als hätte sie ein eifersüchtiges Interesse für Thea von Gondrowski.

Dann begann Malakewitz, wieder ganz unvermittelt, von Scherlbergs Furcht vor dem Schlafzimmer der Mansardenwohnung zu sprechen, erwähnte, daß er in der vergangenen Nacht ganz besonders kräftig den Geist gespielt und heute früh Scherlberg seinen Wolfshund nur deshalb angeboten hätte, damit dieser die Wohnung nicht etwa aus Angst aufgäbe.

„Die Gegenwart des Hundes wird ihm Mut machen,“ sagte er hart. „Und – er soll dort bleiben, dort, wo Ihr Großvater starb. Dort soll er auch herabstürzen von dem Gipfel des Ruhmes, den er jetzt so schnell und mühelos erklommen hat; dort wird er einsehen lernen, daß man nicht ungestraft mit Frauenherzen spielt.“

Nora fühlte jetzt, heute zum zweiten Male etwas wie Angst vor diesem seltsamen Manne, der ihr immer rätselhafter vorkam. Halb gegen ihren Willen entschlüpfte ihr nun die scheue Frage:

„Sie müssen doch wohl irgend eine persönliche Rechnung mit Scherlberg wettzumachen haben, Herr von Malakewitz? Sonst würden Sie doch kaum –“

Sie stockte. Er hatte ihr den Kopf zugewandt. Sie fühlte geradezu seinen Blick, der heiß und werbend auf ihrem Antlitz ruhte. Sie wurde so verwirrt, daß sie schnell den Kopf senkte. Eine jähe Erkenntnis blitzte in ihr auf: Malakewitz liebte sie – hatte sie lieben gelernt! Deshalb tat er dies alles – deshalb wollte er ihr zu dem zurückverhelfen, was Scherlberg ihr gestohlen hatte!

Da antwortete er schon.

„Nein, Frau Nora, keine persönliche Rechnung. Ich spiele nur gern Vorsehung. Ich tat es schon des öfteren. Noch ein anderer Mann aus demselben Hause hat dies zu seinem Leidwesen erfahren. Bei Scherlberg tue ich’s jetzt – um Ihretwillen, liebe Frau Nora. Weshalb soll ich’s leugnen?! Scherlberg soll diesen ungeheuerlichen Betrug, mit dem er jetzt alle Welt blendet und der ihm eine goldene Ernte einbringt, bitter büßen! Sie hat er geschädigt, und sein Verbrechen ist so gemein, daß selbst ich geradezu Ekel vor diesem Menschen empfinde, in dessen Seele nun alle schlechten Keime so schnell hochgeschossen sind.“ Eine kleine Pause. „Ja – den Kuppler hat dieser schlaue Intrigant ebenfalls spielen wollen! Den Kuppler – zwischen uns beiden, um Sie dann auf diese Weise loszuwerden!“ Und er erklärte ihr nun, daß Scherlberg gestern nachmittag absichtlich das Alleinsein zwischen ihnen herbeigeführt hätte, daß er Noras Brief sehr wohl erhalten, aber gerade deshalb die Rohrposteinladung an ihn geschickt hätte; er nannte Nora auch all die Beweise für diese abscheuliche Intrige, so daß Nora aus tiefster Empörung heraus mehrmals ihrem Widerwillen gegen Scherlberg durch kurze Ausrufe offen Ausdruck gab.

Sie waren jetzt in die Nähe der Wohnung Doktor Gudenbleits gelangt. – Malakewitz sagte Nora lebewohl. – „Auf Wiedersehen, liebe Freundin. Sie hören rechtzeitig von mir. Inzwischen suchen Sie all dies Häßliche zu vergessen.“ –

Nora verbrannte noch an demselben Abend Scherlbergs Briefe und Bilder.

Es lag so nahe, daß sie jetzt, wo sie allein in ihrem Zimmer war, immer wieder sich die Frage vorlegte, was Scherlberg ihrem Großvater gestohlen haben könnte. Sie fand jedoch keine Antwort. Auf das Richtige konnte sie auch unmöglich kommen, auf – den gestohlenen Ruhm!

Thea von Gondrowski fand sich an demselben Nachmittag ganz pünktlich bei Scherlberg ein, der diesem Besuch mit einer kaum zu unterdrückenden Befangenheit entgegengesehen hatte und dies bei der Begrüßung auch kaum bemänteln konnte. Er war gewiß seiner Ansicht nach ein überaus modern, also frei denkender Mensch. Daß seine Braut ihn aber sofort am Tage nach der Verlobung heimlich in seiner Wohnung besuchte, ohne hierzu von ihm irgendwie gebeten worden zu sein, erschien selbst ihm unweiblich und allzu sehr gegen die Anstandsregeln.

Thea, umgeben von einer Wolke eines indischen, sehr eigenartigen Parfüms, reichte ihm lediglich die Hand, warf ihren Pelz, Handschuhe und Hut auf den Diwan und nahm ohne weiteres in demselben Plüschsessel Platz, den auch Nora stets innegehabt hatte.

Dann hielt sie ihr langstieliges Lorgnon vor die Augen, musterte das Zimmer und meinte: „Also so sieht das Heim eines berühmten Schriftstellers aus. – Hm – eigenartig wirkt dieses zusammengewürfelte Mobiliar ja wohl, aber – geschmackvoll nicht.“

Sie ließ das Lorgnon sinken. – Scherlberg stand vor ihr und kam sich wie ein dummer Junge vor. Kaum ein paar Phrasen hatte er sich bisher abgequält. Diese Thea wurde ihm immer mehr ein peinvolles Rätsel.

Sie griff jetzt mit der mageren, langen Hand nach der Zigarettenschale, setzte sich bequemer, schlug ein Bein über das andere und meinte:

„Nimm doch gleichfalls Platz, Berd.“ Sie lächelte etwas, wobei ihre dünnen Lippen in ihrer verzogenen Linie nicht recht erraten ließen, ob dieses Lächeln ironisch, höhnisch oder liebenswürdig sein sollte.

Scherlberg dachte jetzt empört: „Den Teufel auch, – Du stellst Dich dieser Sphinx gegenüber wie ein Trottel an! Reiß’ Dich zusammen! Blamiere Dich nicht!“

Er versuchte es jetzt gleichfalls mit einem Lächeln, das überlegen-ironisch wirken sollte.

„Liebe Thea, sehr herzlich bist Du nicht gerade. Weiß Gott nicht,“ sagte er und rieb ein Streichholz an, das sie ihm dann mit den Worten abnahm:

„Legst Du Wert auf die unter Brautleuten üblichen Zärtlichkeiten?!“

Wieder schien es ihm, als ob ihre Lippen sich verzogen. War es wirklich Spott?!

Und wieder hatte Scherlberg das demütigende Gefühl: Sie behandelt Dich wie einen unreifen Knaben!

Er rollte den anderen Sessel näher an den ihrigen, setzte sich und langte gleichfalls nach einer Zigarette. Ihre letzte Bemerkung konnte er unmöglich unbeantwortet lassen, wenn dieses Übergewicht über ihn, das Thea schon jetzt klar zum Ausdruck brachte, sich nicht noch mehr steigern sollte.

„Eine Frage,“ sagte er nun allzu gemacht nachlässig, als daß der Ton echt geklungen hätte. „Wenn ich Dir als Liebhaber gleichgültig bin, – weshalb trugst Du denn gerade mir diese Kameraden-Gemeinschaft an?“

„Bitte – erlaß mir die Antwort,“ meinte sie stets in derselben langsamen, etwas monotonen Sprechweise, die aber sehr gut zu ihrer ganzen Erscheinung paßte. Dann schaute sie ihn plötzlich mit ganz anderen Augen an. Er glaubte in deren Tiefen jetzt doch etwas wie ein leidenschaftliches Aufflammen zu bemerken. Er dachte an den Kuß gestern abend im Park auf dem Treppenabsatz. Gewiß – ihre Lippen waren eisig kalt dabei gewesen. Aber – sie war’s doch, die diese Zärtlichkeit gespendet hatte! Liebte sie ihn?! Wollte sie dies nur nicht offen bekennen? Entsprach es mehr ihrer durch das moderne Gesellschaftsleben angekränkelten Natur, sich nur durch Kampf gewinnen zu lassen? – Er mußte dies wohl annehmen, denn anders war ihr Verhalten ja völlig unverständlich.

Eine lange Pause folgte. Scherlberg fühlte sich jetzt sicherer, fühlte sich schon so halb als Herr der Situation. Ein Weib, das liebt, ist von einem schlauen Manne stets leicht zu lenken, sagte er sich.

Dann begann Thea von der Hochzeit zu sprechen. „Wir können nach einem Monat standesamtlich verbunden sein. Vorläufig behalten wir ruhig dieses Heim. Ich möchte einmal ohne jeden Komfort leben.“ So sprach sie noch eine ganze Weile, ohne Scherlberg zu Worte kommen zu lassen.

Er hätte gegen das, was sie da über die gemeinsame Zukunft äußerte, tausend Einwendungen gehabt. Er war grenzenlos enttäuscht. Diese ihre Marotte, hier in der Mansarde so ärmlich zu hausen, erschien ihm denn doch als der Gipfel blasierter Sucht nach Extravaganz. – Endlich konnte er die Frage einwerfen:

„Aber Deine Eltern, Thea?! Was werden die dazu sagen, daß ihr einziges Kind hier in diesen beiden Dachstuben –“

Ein hartes Auflachen schnitt ihm das Wort ab.

„Oh – die Eltern werden sich fügen, Berd. Der Papa ist seit zehn Jahren bei uns nur noch Attrappe, das heißt – eine totale Null. Und meine Mutter – Du wirst ja sehen, was sie bei Deiner Werbung zu erklären hat.“

Sie stand plötzlich auf, lehnte sich an seinen Sessel und strich ihm spielend über das Haar hin.

„Die Hauptsache ist, daß wir beide fest zusammenstehen, Berd,“ sagte sie dann leiser als bisher. Und mit einem Male beugte sie sich herab und bog seinen Kopf fast mit rauhem Griff zurück und preßte ihre Lippen auf die seinen.

Er zog sie auf den Schoß.

Ah – also doch Weib! triumphierte er. Und – ein verliebtes Weib!

Sie schmiegte sich ganz eng an ihn. Ihr indisches Parfüm benebelte die Sinne. Dazu kam noch der feine, zarte Duft ihres rotbraunen Haares, kam noch anderes. –

Erst um ½9 verließ sie ihn. Als er wieder allein war, sank er erschöpft in einen Sessel, starrte vor sich hin.

Es kam ihm immer klarer zum Bewußtsein, daß er ihr nun ganz verfallen war. Jetzt, wo er diese letzte Stunde nochmals mit allen Einzelheiten sich vergegenwärtigte, mußte er sich notwendig eingestehen, daß Thea das, was vorgefallen, fraglos beabsichtigt gehabt hatte.

Da – draußen die Glocke. – Es war Malakewitz, der den Hund brachte.

„Donnerwetter – dieses Parfüm?!“ meinte Malakewitz. „Das sollte ich kennen. Warten Sie mal, Scherlberg, Sie alter Sünder, – ich werde mich schon besinnen! Halt – nun hab’ ich’s! Vor mir im Blüthner-Konzert saß letztens eine rotbraune, sehr elegante junge Dame – hm ja! Thea von Gondrowski – hm ja –! – Ei – ei, mein Lieber, was wird denn nun Frau Nora Decker dazu sagen?!“

Scherlberg zuckte die Achseln. „Frau Decker gegenüber habe ich nicht die geringsten Verpflichtungen irgend welcher Art.“ –

Malakewitz verabschiedete sich sofort. Tyras winselte eine Weile, beruhigte sich dann aber. Und an diesem Abend fühlte Scherlberg sich zum ersten Male völlig sicher und behaglich daheim. Der Hund war in der Tat ein gutes Nervenmittel. –

Scherlberg hatte sich schriftlich bei Exzellenz Gondrowski „zu einer wichtigen, rein persönlichen Rücksprache“ angemeldet.

Das Ehepaar empfing ihn also an Theas Geburtstag um elf Uhr vormittags allein im Salon.

Scherlberg im neuen Gehrock, auf Seide gearbeitet, machte eine gute Figur. Er hatte sich daheim so etwas Mut angetrunken. Den Minister fürchtete er nicht. Das war ein harmloses, künstlich zu einem Manne in den besten Jahren zurechtgemachtes Männchen mit der kühlen, undurchdringlichen Miene des hohen Beamten, die hier aber einen gänzlichen Mangel persönlicher Eigenart verdeckte. – Desto mehr fürchtete er die imposante Erscheinung Ihrer Exzellenz, die ihn sofort bei der Begrüßung so eisig behandelte, daß er nur stotternd seinen Spruch vorbringen konnte.

Seine Exzellenz sagte gar nichts. Desto mehr sagte dieses überreife, stattliche Weib, die gehofft hatte, ihren unersättlichen Liebeshunger durch diesen jungen, berühmten, äußerlich so gut aussehenden Schriftsteller für längere Zeit stillen zu können. Und – was sie sagte, stürzte Scherlberg aus allen Himmeln.

„Wir haben gegen diese Verbindung so vielerlei einzuwenden,“ erklärte sie mit feindseliger Schärfe, „daß es sich erübrigt, die einzelnen Punkte aufzuzählen. Thea ist mündig. Sollte sie darauf bestehen, diese Ehe zu schließen, so hat sie von uns lediglich eine angemessene Aussteuer zu erwarten. Vermögen bekommt sie nicht mit. Das, was wir besitzen, gehört mir allein. Und Thea hat sich mir gegenüber nie so benommen, daß –“

Sie konnte nicht weitersprechen. Die Portieren nach dem Nebenzimmer teilten sich. Thea trat schnell ein, rief, geradezu bebend in leidenschaftlichster Verachtung:

„Schweig’ – schweig’, oder ich vergesse mich und teile Bernhard sofort mit, was Du einst getan hast, wie Du Dich an Deinem Kinde versündigt hast! – Wir brauchen Dein Geld nicht; wir brauchen auch keine Aussteuer! Ich bin ja so unendlich glücklich, daß ich nun einen Menschen gefunden habe, dem ich eine treue Gefährtin sein darf! Und ich, Mutter, – ich werde treu sein –! Ich werde Berd nie betrügen! Ich werde für ihn arbeiten wie eine Magd! Nur – nur heraus will ich aus dieser vergifteten Luft hier – endlich einmal wieder andere Luft atmen – endlich!“

Ihre Stimme war immer schriller geworden. Ihre Lippen zitterten; ihr ganzer Körper flog.

Scherlberg glaubte sich als Zuschauer in ein Theater versetzt, wo ein modernes Sittendrama gegeben wurde. Diese in ihrer Art ungeheuerliche Szene, diese schlecht verhehlten Vorwürfe, die eine Tochter hier der Mutter machte, – dazu der Vater, der ohne jede Teilnahme durch das Fenster in den Park hinausblickte, – das alles hätte er nie für möglich gehalten.

Und nun – spielte er sogar in dieser Tragikomödie eine Hauptrolle mit! Und – was für eine Rolle!

Dahin waren die Millionenträume – alles, alles! Jetzt durchschaute er Thea erst vollständig. Sie hatte gewußt, daß bei dieser Werbung an den Tag kommen würde, wie bettelarm sie war. Und – damit er nicht mehr zurück könnte, damit er sie heiraten müßte, – deshalb hatte sie ihn besucht, deshalb hatte sie sich ihm hingegeben mit einer schrankenlosen Wildheit.

Er hörte jetzt kaum mehr, was Thea sprach. Dann aber horchte er plötzlich auf.

„Wenn Ihr also nicht haben wollt, daß es hier in Berlin, in den „feinen“ Kreisen, einen Skandal gibt,“ sagte sie jetzt mit einer geradezu unnatürlichen Ruhe, „dann willigt wenigstens zum Schein in diese Verlobung und behandelt Berd als Schwiegersohn, der Euch willkommen ist –“

Frau Agna von Gondrowski erhob sich.

„Niemals!“ rief sie. „Wir fürchten den Skandal nicht. Du bist unser Kind nicht mehr, sobald Du –“

Ihre Augen waren dabei auf Scherlberg gerichtet gewesen. Deutlich fühlte er jetzt, daß dieses Weib ihn haßte, wie einst Potiphars[8] Weib Joseph mit ihrem Haß verfolgt hatte. Aber sie konnte den begonnenen Satz nicht beenden. Thea hatte plötzlich Scherlbergs Hand ergriffen, zog ihn hinaus aus dem Salon, half ihm selbst in den Pelz, flüsterte:

„Erwarte mich nachmittags gegen vier Uhr –“

Dann schritt er wie im Traum den Kiesweg entlang.

Erst zu Hause kam er so recht zur Besinnung. Eine ungeheure Wut packte ihn da gegen sich selbst, gegen Thea, gegen dieses Elternpaar. Als er sich dann beruhigt hatte, war auch sein Entschluß gefaßt: Er würde Thea heute nachmittag erklären, daß von einer baldigen Eheschließung keine Rede sein könne! Und – Zeit gewonnen, alles gewonnen!

– – – – – – – –

Thea kam – kam mit drei großen Riesenkoffern, die ein Chauffeur keuchend die fünf Treppen emporschleppte.

Scherlberg war auch jetzt der Lage nicht gewachsen. Als der Chauffeur gegangen, als Thea weinend an seinem Halse hing, als sie dann an ihm herabglitt, ihn umklammert hielt und unter wildem Schluchzen rief:

„Ich liebe Dich –! Ich wollte, daß Du mein würdest! Stoße mich nicht zurück –“

– da brachte er kein Wort von dem über die Lippen, was er zu sagen sich vorgenommen gehabt hatte.

Thea hatte mit ihren Eltern völlig gebrochen. Sie wollte jetzt so lange in eine nahe Pension ziehen, bis man sich standesamtlich trauen lassen konnte. Sie war jetzt ganz Liebe, ganz Hingebung. Aber – sie war Scherlberg noch mehr ein Rätsel als zuvor.

Liebte sie ihn wirklich?! Heuchelte sie nur?! – Er wurde sich nicht klar darüber. Nur eins war gewiß: er hatte jeden eigenen Willen verloren. Er war mit allem einverstanden, was sie vorschlug. Sie hatte Schmucksachen mitgebracht, die ihr gehörten und die einen hohen Wert darstellten. Das war wenigstens ein kleiner Trost für ihn.

Sie siedelte dann in das Fremdenheim Gruber am Henriettenplatz über. Am nächsten Tage schon meldete sie sich zu einem Kursus in Stenographie und Stenotypie in einer Privathandelsschule an. Sie wollte Scherlberg später bei seiner Arbeit helfen. Sie bewies in allem eine Energie, die er ihr nie zugetraut hätte.

Ein paar Skandalblättchen brachten lange Artikel über diese Verlobung, die Scherlberg in einigen Zeitungen auf Theas Drängen angezeigt hatte. Scherlberg begriff nicht, woher diese Revolverblätter all die Einzelheiten herbekommen hatten.

Nach den ersten Aufregungen, die diese unselige Verlobung für ihn zur Folge gehabt hatte, begann sein Leben langsam wieder in die alten Bahnen einzulenken. Thea besuchte ihn nie mehr. Sie wahrte ihren guten Ruf. Ein paar Familien, in denen Scherlberg intimer verkehrte, stießen sich nicht daran, daß Thea das Elternhaus aufgegeben hatte, luden das Brautpaar ein und – gewannen für ihre Gesellschaften dadurch gleich zwei „Berühmtheiten“. –

Malakewitz hatte Scherlberg zur Verlobung erst schriftlich und dann auch, als er Tyras zum Spaziergang abholen kam, mündlich gratuliert.

Nora Decker war durch die Nachricht von diesem neuen Verlöbnis, das nun also wirklich, wie Malakewitz es vorausgesagt hatte, Tatsache geworden, nicht im geringsten mehr berührt worden. Scherlberg war so gut wie ausgelöscht aus ihrer Erinnerung. Gerade diese Leichtigkeit, mit der sie über die Zerstörung dieser ihrer Zukunftshoffnungen hinweggekommen war, bewies ihr am besten, daß es niemals die wahre, große, einzige Liebe gewesen, die sie für Scherlberg empfunden hatte. Ihre Gedanken gehörten jetzt einem Anderen: ihr stilles Sehnen galt Guido von Malakewitz. Und diese Sehnsucht wuchs von Tag zu Tag. Aber – er blieb ihr fern. Keine Zeile kam von ihm – nichts. Sie hoffte, ihm einmal zu begegnen. Es geschah nicht. Und in das Cafee des Westens mochte sie nicht gehen. Sie wollte sich ihm nicht aufdrängen. Sie hoffte jedoch, daß der Tag kommen würde, wo ihrem Sehnen die Erfüllung ward.

Drei Wochen waren vergangen. Gestern hatte Nora die Vermählungsanzeige Scherlbergs und Thea von Gondrowskis in der Zeitung gefunden, in derselben Nummer aber auch eine Besprechung von Scherlbergs allerneuestem Roman, die geradezu überschwenglich lobend war. Man pries Scherlberg jetzt als den berühmtesten der derzeitigen deutschen Schriftsteller; man nannte die fabelhaften Honorare, die man ihm zahlte.

Die Gesellschaft von Berlin W. hatte sich jetzt allgemein mit dieser Ehe, die unter so außergewöhnlichen Begleitumständen geschlossen war, völlig abgefunden. –

Am Tage nach der Veröffentlichung der Vermählung war die kleine Mansardenwohnung ein Meer von Blumen.

Thea, jetzt ohne die Puderschicht recht frisch aussehend, öffnete mittags Malakewitz die Flurtür, der seinen Tyras zum gewohnten Spaziergang holen wollte. – Malakewitz hatte es zu Scherlbergs Ärger höflich abgelehnt, Trauzeuge zu sein. – „Ich bringe Unglück,“ hatte er kurz erklärt. „Sie finden leicht jemand anders, lieber Scherlberg.“

Thea begrüßte diesen Bekannten ihres Mannes kühl wie immer. Sie und Malakewitz waren zu sehr verwandte Naturen, um sich sympathisch zu sein. Theas feiner weiblicher Instinkt witterte in Malakewitz denjenigen, der vielleicht als einziger Mann sie in allem überragte und der gleichzeitig diesem Glück, das sie sich so willensstark erobert hatte, irgendwie gefährlich werden könnte.

Er küßte ihr die Hand, überreichte ihr ein paar wundervolle Chrysanthemen sowie zwei Logenkarten für die heutige Wagner-Vorstellung in der Staatsoper, die er angeblich selbst geschenkt erhalten hatte und nicht verwenden konnte. –

Um Mitternacht kehrten Scherlbergs dann aus dem Theater heim. Tyras begrüßte sie mit freudigem Winseln. Aber Thea mochte den Hund nicht leiden und hatte heute bei ihrem Manne durchgesetzt, daß er ihn Malakewitz zurückgab.

Das junge Ehepaar nahm noch im Arbeitszimmer am Sofatisch Platz. Thea hatte noch kalte Speisen aufgetragen. Man war hungrig, aß mit gutem Appetit und plauderte angeregt. Scherlberg war jetzt mit dieser Heirat so ziemlich ausgesöhnt. Seine Einnahmen waren so glänzend, daß man auch ohne die Zinsen eines Vermögens behaglich leben konnte. Er hatte jetzt sogar Malakewitz im ganzen bereits 160 000 Mark zur Anlage in sicheren Industriepapieren übergeben können.

Thea kehrte aus dem kleinen Schlafzimmer zurück, wo sie das Kleid mit einem eleganten Morgenrock vertauscht hatte. Sie setzte sich neben Berd auf das Sofa, nahm seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn lange und heiß, flüsterte dann: „Glaubst Du nun endlich, daß ich Dich liebe?!“

Sie schaute ihn an. Ihre Augen schimmerten feucht. – „Du sollst es glauben, Berd! – Oh – hege keine Zweifel mehr! – Ich will Dir heute nun auch endlich sagen, weshalb ich meine Mutter – hasse und verachte.“ – Sie nahm seine Hände und hielt sie fest. „Ich war vor zwei Jahren verlobt, Berd. Während des Krieges noch – mit einem Offizier, den ich als Pflegerin im Lazarett kennen gelernt hatte. Ich habe ihn geliebt, Berd. Er war meine erste große Leidenschaft. Und – dieses Glück hat meine Mutter mir zerstört. Erspare mir Einzelheiten. Jedenfalls: es gelang ihr, jenen Rittmeister in ihre Netze zu locken. Er – betrog mich, seine heimlich Verlobte, mit – meiner Mutter! – Dann zogen wir hier nach Berlin. Denn Mama hatte sich in der kleinen Residenz unmöglich gemacht; dann – sah ich Dich, die angehende Berühmtheit; dann merkte ich, daß meine Mutter auf Dich ein Auge geworfen hatte. Und – zweierlei war’s, das mir zunächst den Gedanken eingab, Dich für mich zu gewinnen: Du warst berühmt oder mußtest es doch in kurzem werden; und – ich wollte meiner Mutter das Spiel verderben! Deshalb mein Interesse für Dich, mein erstes Interesse, das aber schnell sich wandelte und – ehrliche Neigung wurde. – Berd – ich schwöre es Dir: ich habe Dich aus Liebe geheiratet! Du sollst jetzt –“

Sie schwieg plötzlich, flüsterte angstvoll:

„Hörtest Du?! Das – das klang soeben wie ein Ächzen – dort aus dem Schlafzimmer!“

Sie saßen jetzt beide wie erstarrt und lauschten. Scherlberg war leichenblaß geworden. Seine Hände begannen zu flattern.

Da – ganz deutlich aus dem Nebenraum diese entsetzlichen Töne.

„Mein Gott, was – was bedeutet das?!“ hauchte Thea und schaute Scherlberg an, fuhr dann zurück bei seinem völlig verstörten Aussehen.

Scherlberg nahm all seine Energie zusammen. Der Wolfshund lag vor dem Ofen und schlief.

Er erhob sich, winkte Thea zu, stieß Tyras mit dem Fuße an. – Gerade jetzt wiederum das furchtbare Stöhnen und schwere Ächzen, gleichzeitig auch das Knarren von Dielen.

Der Hund wurde aufmerksam, ging zur Schlafzimmertür, knurrte.

Scherlberg hetzte ihn leise, öffnete dann die Tür nur gerade so weit, daß Tyras durchschlüpfen konnte. Dann schlug er sie wieder zu, wartete.

Nichts – nichts! Der Hund blieb still.

Nun jedoch – und Scherlbergs Haar sträubte sich vor namenlosem Grauen – nun eine röchelnde Stimme dort drinnen:

„Dieb – Dieb – Dieb –“

Und der Hund blieb wieder still!

Scherlberg taumelte in den nächsten Sessel, sank halb ohnmächtig matt zusammen.

Thea war aufgesprungen, flößte ihm schnell ein Glas Kognak ein. Dann ging sie mutig zur Schlafzimmertür, stieß sie weit auf, griff sofort rechts nach dem elektrischen Schalter. Das Licht flammte auf.

Wedelnd kam Tyras heraus. Das Zimmer war leer. Thea trat ein, schaute sich um, schaute in jeden Winkel, unter die Betten, fand nichts Verdächtiges, kehrte zu ihrem Manne zurück. Der trank gerade mit zitternder Hand den dritten Kognak, versuchte ein Lächeln und sagte mit abschreckend verzerrtem Gesicht:

„Ein schlechter Witz – oder dergleichen.“

Thea setzte sich. – „Berd,“ bat sie, „sage mir die Wahrheit. – Was bedeutet dieses Entsetzliche? Du – mußt es schon des öfteren gehört haben. Sonst wärest Du kaum sofort so besinnungslos vor Angst gewesen.“

Jetzt gelang ihm das Lügen schon besser. Er beruhigte sie; er faselte allerlei von Bauchrednerkunststücken, die jemand hier vom Dache aus produziert hätte, um das junge Ehepaar zu erschrecken. – Der Alkohol wirkte. Er wurde immer kühner. Eine unnatürliche Lustigkeit überkam ihn. Er scherzte mit Thea, und sie ließ sich wirklich täuschen.

Dann schickte er sie zu Bett. Als er nun allein war, langte er schnell nochmals nach der Kognakkaraffe.

Ihm graute vor dem Schlafzimmer. Er wollte erst seine Nerven völlig beruhigen, wollte noch arbeiten, schloß das Spindfach des Schreibtisches auf, um dem großen, verschließbaren Kasten das Romanmanuskript zu entnehmen, das er gerade – abschrieb.

Er fuhr zurück. – Der Kasten war verschwunden! – Er rieb sich die Augen, schaute wieder hin. Es half nichts: der Kasten mit den Manuskripten Hilmar Merlins, den er damals gestohlen hatte, war nicht mehr da.

Er fiel in den Schreibsessel; wieder flog sein Körper wie im Krampf. Dann kniete er nieder, tastete in das Fach hinein, fühlte ein einzelnes Blatt Papier, riß es heraus, schaute hin.

Malakewitz’ Schrift bedeckte das Blatt. Und die Überschrift lautete:

Die Abrechnung.

Kniend überflog er die Zeilen.

„Bernhard Scherlberg, ein Zufall brachte mir zur Kenntnis, daß Sie in der Todesnacht Hilmar Merlins aus dessen Wohnung einen Kasten, gefüllt mit Manuskripten von Romanen und Novellen, in Ihre Behausung hinübergetragen haben. Sie können nur von dem Sterbenden erfahren haben, daß dieser Kasten bisher unveröffentlichte Arbeiten Merlins enthielt. Der Sterbende wird Sie gebeten haben, diese Manuskripte im Interesse seiner Enkelin Nora zu verwerten. – Merlin hat als Schriftsteller seiner Zeit keine Würdigung gefunden. Verbittert über die abfälligen Besprechungen seiner Arbeiten, zog er sich völlig in seine kleine Behausung zurück, schrieb nur noch für sich, ließ niemand ahnen, daß er immer noch insgeheim eifrig schaffte. Der verstorbene Ehegatte seiner Enkelin hatte zu den Kritikern gehört, die ihn am meisten heruntergerissen hatten. Daher sein Groll auch gegen Nora, die diesen Redakteur Decker nachher heiratete.

Ihr Ruhm, Bernhard Scherlberg, ist gestohlen! Ihre Romane sind wörtliche Abschriften der Arbeiten Merlins – nichts weiter! Erst im Laufe der Zeit konnte ich dies feststellen. Zunächst wußte ich nur, daß Sie eben eine große Holzkiste gestohlen hatten.

Ihre Handlungsweise ist doppelt verwerflich: einmal haben Sie Nora um Geldeswert betrogen, dann aber auch sich in einem Ruhme gesonnt, der Ihnen gar nicht gebührt! Heute, als Sie im Theater waren, habe ich die Kiste geholt und werde Sie nun Nora Decker aushändigen. Ebenso werde ich ihr aber die 160 000 Mark übergeben, die Sie mir anvertrauten und auf die Sie keinerlei Anspruch haben. Nora soll dann entscheiden, ob Ihre Verfehlungen an die Öffentlichkeit gebracht werden sollen. So wie ich diese Frau kenne, wird sie es nicht wollen! Sie sind ja auch bereits genugsam dadurch bestraft, daß der gestohlene Ruhm nun notwendig schnell wieder verblassen muß, denn – aus eigener Kraft werden Sie nie einen Roman zustande bringen, der auch nur annähernd den Arbeiten Merlins gleichkommt. Zu Ihrer Beruhigung noch eins: der Geist des Schlafzimmers war ich! Er wird sich nicht mehr melden. Morgen wünsche ich meinen Hund zurück. – G. von Malakewitz.“ –

Thea hörte einen dumpfen Fall im Arbeitszimmer, schlüpfte schnell in den Morgenrock, fand Scherlberg bewußtlos vor dem Schreibtisch, fand das Blatt Papier, las – las nochmals und lächelte fast glücklich, murmelte: „Nun bist Du ganz mein – ganz! Ich traue es mir zu, Dich zu heilen. Und dann werden wir sehr glücklich sein.“ –

In den nächsten Tagen stand in den Zeitungen eine Notiz, daß der berühmte Schriftsteller Bernhard Scherlberg Berlin für immer verlassen habe und in einem kleinen Badeorte an der Ostsee Villenbesitzer geworden sei. – Dies stimmte nicht ganz. Scherlbergs hatten dort ein Pensionat gekauft, und Frau Thea hat es nachher auch verstanden, dem großen Haushalt vortrefflich vorzustehen, während ihr Gatte sich nur noch gelegentlich als Schriftsteller betätigte und – schnell vergessen wurde. Sein Ruhm schwand ebenso rasch dahin, wie er sich einst vergrößert hatte.

– – – – – – – –

 

Schluß.

Zwei Tage nach dieser Abrechnung mit Berd Scherlberg erhielt Nora ganz unerwartet einen Brief von Malakewitz, in dem er ihr ganz ausführlich mitteilte, was es mit dem Ruhme Scherlbergs auf sich gehabt hätte und bei welcher Bank er sowohl die Kiste mit den Manuskripten, als auch das Geld, die 160 000 Mark, deponiert habe. Er gab ihr auch allerlei Ratschläge, wie sie diese Hinterlassenschaft Hilmar Merlins am besten verwerten und dem Toten endlich zu der wohlverdienten Anerkennung als Schriftsteller verhelfen könnte. – Der letzte Abschnitt des Briefes lautete dann:

„Sie haben mir einmal gesagt, Frau Nora, ich suchte mich durch die Herabsetzung meiner eigenen Person interessant zu machen. Wenigstens deuteten Sie dieses an. Sie trauten mir keine Schlechtigkeit zu. Und doch habe ich eine solche begangen, – besser – begehen wollen. Daß ich dann schließlich auf die Beute verzichtete, daß mein Gewissen heute so ziemlich rein ist, verdanke ich Ihnen. – Ich hatte nach dem Weltkrieg mich an allerlei Spekulationen beteiligt, die nicht direkt als Schiebergeschäfte zu bezeichnen sind. Aber – ich hatte wenig Glück dabei. Ich merkte, daß der Mann, der damals sozusagen mein Kompagnon war, der Kaufmann Meyersohn aus dem Atelierhause in der Ringbahnstraße, mich betrog. Nach längeren Beobachtungen stellte ich fest, daß er eine große Summe Bargeld in einem zerrissenen Koffer unter Kinderspielzeug in seiner Bodenkammer versteckt hielt. Gerade in der Sterbenacht Ihres Großvaters stahl ich diesen Koffer. So kam es, daß ich von draußen zufällig durch eins der Mansardenfenster nicht nur Zeuge des Diebstahls wurde, den Scherlberg beging, sondern daß ich auch Sie zum ersten Male erblickte. – Ich habe jetzt Meyersohn die ganze Summe wieder[9] zugestellt. Ich selbst wandere aus – nach Südamerika. Wenn Sie diesen Brief erhalten, entführt mich von Hamburg aus ein Schiff für immer der alten Heimat. – Nora – es ist besser für uns beide, daß wir uns nicht wiedersehen! Leben Sie wohl! Alles Gute für Ihr ferneres Leben wünscht Ihnen Ihr treu ergebener Guido v. Malakewitz.“

Nora verstand sehr wohl zwischen den Zeilen zu lesen: Er liebte sie, aber er fürchtete, nach dieser offenen Beichte würde sie ihn zurückweisen.

Sie überlegte nicht lange. Sie klammerte sich an eine Hoffnung – daß sie noch zur Zeit käme! – Mit dem nächsten Zuge gedachte sie nach Hamburg zu fahren. Der Zug verließ Berlin um 1 Uhr mittags. Als sie kurz vor 12 Uhr mit einem kleinen Reisekoffer aus dem Hause trat, ahnte sie nicht, daß jemand ihr folgte.

Am Schalter des Lehrter Bahnhofs verlangte sie eine Fahrkarte nach Hamburg.

Da – hinter ihr eine Stimme, die sie aus tausenden herausgekannt hätte:

„Nora –“

Sie fuhr herum. Dicht hinter ihr stand Malakewitz.

„Nehmen Sie die Fahrkarte nicht, Nora,“ sagte er leise, und seine Stimme und seine Augen strahlten die gleiche Zärtlichkeit aus. „Jetzt weiß ich, daß der gestohlene Ruhm Scherlbergs mir mein Lebensglück eingetragen hat.“

Dann bestiegen sie ein geschlossenes Auto, ließen sich durch den bereits von Frühlingsahnen erfüllten Tiergarten fahren. –

Er hielt sie umfangen, küßte sie.

„Nora,“ sagte er weich, „wenn Du nicht wenigstens den Versuch gemacht hättest, mich in Hamburg noch anzutreffen, dann wäre ich wirklich ausgewandert – dann hättest Du eben die Prüfung nicht bestanden!“

„Ich wäre Dir gefolgt,“ flüsterte sie und legte ihm den Arm um den Hals. „Ganz bestimmt wäre ich Dir gefolgt, und ich hätte Dich gefunden – glaube es mir!“

Sie schwiegen jetzt. Ihre Herzen waren übervoll. Und das wahre Glück bleibt stumm.

Sie blickten hinaus in den lachenden Sonnenschein des Apriltages. Und dann sagte Nora verträumt:

„Jetzt wird für mich das Leben beginnen –“

„Für uns beide, mein Liebling!“ ergänzte er und küßte sie innig. –

Und es wurde auch ein großes, ungetrübtes Lebensglück, und geschaffen hatte es – der gestohlene Ruhm!

 

Ende!

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 26.

 

 

Anmerkungen:

  1. Dieser Text ist der Neuauflage (ab 1929) Die guten Vergiß mein nicht-Romane, Band 18 entnommen. Copyrightvermerk von 1920 und Druckplatten stammen aus der Erstauflage, vom Verlag ist lediglich die Titelseite neu erstellt worden.
  2. In der Vorlage steht: „im“.
  3. In der Vorlage steht: „Gres“.
  4. In der Vorlage steht: „Merling“.
  5. In der Vorlage steht: „ind“.
  6. In der Vorlage steht: „daß“.
  7. In der Vorlage steht: „ganze“.
  8. Siehe auch Wikipedia: Potiphar.
  9. In der Vorlage steht: „hieder“.