Vergiß mein nicht
Bibliothek der besten Romane
Band 388 (Band 20)[1]
Originalroman von
Waltraut Kebla
Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H.
Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H., Berlin.
Reikmers saßen in der Küche an dem dicht an[2] den warmen Herd gerückten Tisch. Die Frau Amtsgerichtsrat und die jüngere der Schwestern stichelten an den Handarbeiten für das große Geschäft in der Leipziger Straße, das für diese Sachen ein Spottgeld bezahlte und nachher von den[3] Käufern einfach unerhörte Preise forderte. Diese Art schamloser Ausnutzung der Hausarbeit war jetzt nach dem Weltkriege mit seinen bitteren Nachwehen noch ärger geworden als ehedem. Es gab eben Unzählige, die gezwungen waren, irgendwie etwas zu verdienen. Und zu diesen Opfern der Zeitverhältnisse gehörte auch die verwitwete Amtsgerichtsrätin mit ihren drei Kindern, nein, eigentlich nur zwei, denn Willi Reikmer wußte noch immer nichts von der Not der Zeit und wollte auch nicht begreifen, daß jetzt jeder die Hände rühren mußte, wenn er nicht verhungern oder den bequemeren Pfad der Schieber und Drohnen gehen wollte.
Dieser Willi Reikmer, ein hübscher Mensch mit ein paar Schmissen im Gesicht, hatte vor dem Referendarexamen gestanden, als der Krieg ausbrach. Er wurde sofort eingezogen, wurde auch sehr bald, obwohl er vorher nicht gedient hatte, Offizier und erhielt bereits 1915 einen Armschuß, der ihn für immer garnisondienstfähig machte.
Bis zum Jahre 1917 hatte die Familie keine Not und Sorge gekannt. Dann war der Amtsgerichtsrat, der freiwillig als Major der Landwehr in der Etappe stand, krank nach Hause gekommen. Ein altes Gallensteinleiden machte eine Operation erforderlich, und bei dieser verstarb der Rat in der Narkose.
Jetzt hatten Reikmers von ihrer Vierzimmerwohnung am Stuttgarter Platz in Charlottenburg drei möbliert vermietet, und zwar an ein junges Ehepaar, das so schlau gewesen, sich die Zimmer durch schriftlichen Vertrag gleich für drei Jahre und für die geringe Summe von 150 Mark monatlich zu sichern, – gering nach den Preisen, die jetzt für möblierte Räume bezahlt wurden.
Das vierte, einfenstrige Zimmer nach dem Hofe heraus bewohnte Willi. Frau Reikmer und die jüngere Tochter Else schliefen in der Mädchenstube, während Traude sich zur Nacht ein Rahmenbett in der Küche aufstellte, wo man während der kalten Jahreszeit aus Sparsamkeitsgründen sich auch den Tag über aufhielt.
Die beiden Töchter hatten mit der anwachsenden Teuerung immer energischer versucht, irgendwo eine feste Anstellung zu finden. Da sie jedoch nichts Besonderes gelernt hatten, da weiter auch der Andrang zu allen offenen Stellen jetzt so ungeheuer groß war, und da sie beide schließlich es auch nicht recht verstanden, sich vorzudrängen und um Einstellung zu betteln, blieb ihnen schließlich nur die Hausarbeit für das große Handarbeitsgeschäft von Schmulitzer u. Co. als Erwerbsquelle.
Sie mußten froh sein, wenigstens diese sichere, wenn auch sehr mäßige und sehr mühsame Einnahme gefunden zu haben. Jedenfalls betonte dies Herr Sigurd Schmulitzer jedesmal, wenn Traude die fertigen Sachen im Geschäft ablieferte und den Bettelverdienst einkassierte.
Traude war soeben erst von einem dieser Gänge heimgekehrt und saß noch völlig erschöpft auf einem Stuhl, während neben ihr ein großer, dicht umschnürter brauner Pappkarton stand.
Mutter, Schwester und Bruder hatten es Traude sofort angesehen, daß sie irgend etwas Ungewöhnliches erlebt haben mußte. Bisher hatte sie jedoch auf alle Fragen nur erklärt:
„Ich muß mich erst etwas erholen. Gönnt mir Ruhe –“
Die Rätin und die blonde, sehr zarte Else stichelten weiter. Untätig waren die beiden nie. Ihre Erholung bildete ein einstündiger Spaziergang nachmittags. Traude, die alle Besorgungen erledigte, weil sie die am praktischsten Veranlagte war, kam durch diese Ausgänge genügend an die frische Luft.
Willi Reikmer, der einen Kriminalroman bisher geradezu verschlungen hatte, war der einzige Ungeduldige. Er witterte hier irgend etwas, das fraglos nicht alltäglich war. Das deutete ja auch schon der Karton an, dessen Gewicht offenbar Traudes infolge der schmalen Kost nicht übergroße Kräfte völlig erschöpft zu haben schien.
Er beobachtete die Schwester unausgesetzt und konnte gar nicht die Zeit abwarten, bis sie endlich sprechen würde.
Er, der weder für die Mutter noch für die Geschwister jemals den Finger rührte oder sich fürsorglich zeigte, stand jetzt auf und nahm die große Emailleteekanne von der Herdplatte, schenkte eine Tasse Tee ein und brachte sie Traude.
„Da – trink!“ meinte er kurz.
Mutter und Schwester schauten von ihrer Arbeit erstaunt auf. Die blasse Else, ein schmächtiges, neunzehnjähriges Mädchen mit zwei kreisrunden, hektischen Flecken auf den Wangen, lächelte in feindseliger Ironie. Sie durchschaute den Bruder; sie wußte, daß er Traude diese Tasse Tee nur reichte, damit sie sich schneller erhole und seine Neugier befriedigte. Sie vertrug sich mit dem leichtfertigen Menschen am schlechtesten.
Traude trank. Es war nur deutscher Tee, Teeersatz. Aber er tat ihr doch gut.
Sie richtete sich auf, öffnete den Mantel, den sie sich selbst aus einem Ulster des Vaters zurechtgeschneidert hatte, blickte dann auf den großen Karton neben sich und seufzte.
Willi trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf die Tischdecke.
„Nun?!“ fragte er aufmunternd. „So sage doch endlich, wo Du den Karton herhast!“
Traude lehnte sich zurück und behielt den Hut im Schoße.
„Ich muß sehr bald wieder gehen. Ich treffe ihn nachher noch am Brandenburger Tor,“ sagte sie fast scheu. Man merkte, daß sie ihre Gedanken zu ordnen suchte, aber dies noch immer nicht recht konnte. Daher auch dieser unklare Beginn ihrer Schilderung dessen, was ihr zugestoßen war.
Die Rätin, eine große, sehr hagere Frau mit einem länglichen, faltenreichen und stets wie verängstigt aussehenden Gesichtsausdruck, fragte sofort voller Interesse:
„Ihn – ihn?! Einen Herrn?“
Sie hatte ja nur einen Wunsch: daß ihre Töchter heiraten möchten! Mit Schrecken dachte sie stets daran, sie könnte plötzlich sterben und die beiden Mädchen dann ganz unversorgt zurücklassen. Als Traude nun von einem Manne soeben gesprochen hatte, war eine leise Hoffnung in ihr aufgetaucht, Traude könnte irgend eine aussichtsreiche Bekanntschaft gemacht haben.
Traude zuckte leicht die Achseln.
„Ob man ihn mit „Herr“ bezeichnen kann, weiß ich nicht recht, Muttchen. Er sah eigentlich mehr nach einem einfachen Landwirt aus, trug eine dicke Joppe, lange Stiefel und einen grünen Jägerhut.“
„Den Deubel auch!“ platzte Willi Reikmer da heraus. „Ist das eine Art zu erzählen! Rein verrückt kann man bei solchem Gefasel wenden. Tu’ mir einen Gefallen, Traude, und berichte eins nach dem andern.“
„Aber Junge! Nicht fluchen!“ mahnte die Rätin mild. „Traude wird ja schon alles mitteilen. Laß ihr nur Zeit!“
„Ach, Muttchen hat ganz recht,“ erklärte Traude nun und strich über die Stirn. „Ihr werdet ja kaum glauben, was ich erlebt habe. Wenn ich das nicht so erzählen kann, wie –“
„Na ja doch! Also los!“ fuhr Willi abermals dazwischen. „Ich ahne schon so etwas: dieser Landonkel hat Dir den Karton vorläufig zur Aufbewahrung oder dergleichen übergeben, und Du sollst ihm das Ding nachher wieder aushändigen.“
Traude nickte. „So ist’s. – Ich kam aus der Leipziger und ging die Friedrichstraße entlang zum Friedrichstraßen-Bahnhof, um von dort zurückzufahren.“
„Überflüssig! – Weiter!“ knurrte der Bruder.
„So warte doch!“ meinte Traude jetzt gereizt. „Nichts ist davon überflüssig. – Als ich die Fahrkarte gelöst hatte und die Treppen zum Bahnsteig emporstieg, war gerade ein Zug eingelaufen, und eine Menge Menschen strömten mir entgegen. Plötzlich, grade auf dem Treppenabsatz, sah ich von oben sehr eilig jenen Mann herabstürmen. Er stieß die Leute beiseite, und mit einem Male – ich war etwas zurückgetreten, um dem Gedränge zu entgehen – stand er vor mir, flüsterte keuchend:
„Da – nehmen Sie. Liefern Sie mir das Paket um halb acht vor dem Brandenburger Tor wieder aus.“
Er drückte mir den Karton halb gewaltsam in den Arm und war geradezu blitzschnell verschwunden.“
„Nicht möglich!“ rief die Rätin.
„Das war ein Spitzbube!“ meinte die blonde Else. „Der wollte nur seinen Raub loswerden. Sicherlich war ihm die Bahnhofspolizei auf den Fersen!“
„Ja – das glaube ich auch,“ sagte Traude wieder mit einem leisen Aufseufzen. „Obwohl – ja – obwohl der Mann gar nicht wie ein Dieb aussah.“
„Na – die Geschichte werden wir schnell herauskriegen,“ meinte Willi Reikmer, kam um den Tisch herum und stellte den Karton auf seinen Stuhl, begann dann den dicken Bindfaden aufzuknoten und kümmerte sich nicht im geringsten um Traudes energisches:
„Bitte – unterlaß das! Ich verbiete es Dir –“
„Sei nicht albern!“ rief er grob.
Und auch die Rätin meinte zögernd: „Man muß doch mal nachschauen, was drin ist, Traude.“
Diese schwieg jetzt. Der ehemalige Student hob den Deckel ab. Ein paar ausgebreitete Zeitungen kamen so zum Vorschein. Darunter aber lagen sauber in Fettpapier eingeschlagene, dicht bei dicht viereckige, hellgelbe Päckchen, denen man sofort die Butterpfunde ansah.
„Ah – Butter!“ lachte Willi Reikmer. „Donnerwetter – so ein Dusel! Zählen wir mal. Oberschicht zehn Stück, unten ebenso viel. Also Summa Summarum zwanzig! – Kinder – das ist ein kleines Vermögen! Natürlich war der Kerl ein Schieber, dem die Kriminalpolizei nachsetzte. Na – der kann lange auf seinen Karton warten! Oder – hast Du ihm etwa Deinen Namen und Deine Wohnung genannt, Traude?!“
Die war so sprachlos über die offenbare Absicht des Bruders, dieses Fettpaket zu behalten, daß sie rein mechanisch erwiderte:
„Ich habe ja gar keine Zeit gehabt, auch nur ein Wort mit dem Menschen zu wechseln –“
„Famos! – Also bleibt diese Butterfülle unser wohlerworbenes Eigentum!“ sagte Willi. „Dem Schieber ist dieser Verlust als Strafe nur zu gönnen.“
Da hatte Traude sich wieder gefaßt, erklärte nun empört:
„Beachte gefälligst, daß ich andere Begriffe von Ehrlichkeit habe als Du! Ich werde dem Manne das Paket aushändigen, ganz bestimmt. Ob er Schieber ist, kann ich nicht entscheiden. Seinem Gesicht nach ist er’s nicht. Das ist mir auch alles ganz gleichgültig. Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen, wenn –“
Willi stieß eine höhnische Lache aus.
„Hat man solche Verrücktheit schon erlebt!“ meinte er mit überlegener Ruhe. „Muttchen – hier hast Du ein Machtwort zu sprechen. Ich möchte den Menschen sehen, der heutzutage ein derartiges Geschenk des Himmels wieder abgibt! Niemand täte das! – Muttchen, Du wirst mir hierin beipflichten müssen. Rede Traude den Unsinn aus.“
Die Rätin rückte unruhig auf ihrem Stuhle hin und her. Not und Entbehrungen hatten auch ihr Gewissen abgestumpft. Die Krankheit der Zeit, Selbstsucht bis zur Unehrlichkeit, hatte auch sie in gewissem Grade schon befallen. Sie schaute verlegen auf ihre Stickereien und murmelte scheu:
„Das – das macht unter Euch ab, Kinder. Ich – ich gebe allerdings zu, daß ich Butter ja nur noch dem Namen nach kenne, da wir nicht einmal in der Lage sind, die Butterrationen zu kaufen.“
Diese Bemerkung war deutlich genug. Traude starrte die Mutter ganz fassungslos an, sagte dann schnell, um an der Schwester wenigstens einen Rückhalt zu haben:
„Else – und Du?!“
„Wir sind keine Diebe, wir – weiblichen Reikmers!“ entgegnete das blasse Mädchen mit scharfem Ton und warf dem Bruder dabei einen besonderen Blick zu.
Willi wechselte die Farbe, biß sich wütend auf die Lippen und verließ mit einem halblauten „Alberne Gänse!“ die Küche. Gleich darauf fiel die Flurtür knallend ins Schloß. Er hatte die Wohnung verlassen.
– – – – – – – –
Es hatte vorhin zu schneien begonnen. Der Platz vor dem Brandenburger Tor hüllte sich schnell in das winterliche Gewand der Reinheit und Unschuld.
Ernst Bohlke hatte sich in eine der Durchfahrten des Brandenburger Tores gestellt, sog an der längst ausgegangenen Tabakspfeife und beobachtete scharf jeden Menschen, der vor ihm auftauchte. Der herabrieselnde Schnee erschwerte ihm das Warten auf jenes Mädchen, dem er vor zwei Stunden den Karton in die Hand gedrückt hatte, nur zu sehr.
Seine Gedanken weilten seit jenem Moment, wo er in der Angst vor dem Kriminalbeamten wie ein Verrückter gehandelt hatte, nur bei dieser Unbekannten.
Ja – eine Verrücktheit war’s gewesen, dieser Einfall! Wie hatte er nur so vollständig der Eingebung des Augenblicks folgen können. Wie war’s nur gekommen, daß ihm beim Anblick jenes Mädchens die Hoffnung sozusagen angeflogen war, gerade diese Fremde würde ehrlich genug sein, das wertvolle Paket ihm wieder auszuhändigen?!
Unzählige Male hatte er sich diese Fragen schon vorgelegt, unzählige Male sich ein Esel gescholten, der jetzt noch dumm genug sei anzunehmen, das Mädchen würde sich hier auch wirklich einfinden.
Wütend kaute er jetzt an dem Mundstück seiner Pfeife.
Herr Gott – wenn er nun wirklich morgen ohne die 800 Mark heimkehrte –?! Was dann?! – Er sah die Mutter schon vor sich, hörte ihre Vorwürfe, ihr sinnloses Schimpfen und Toben.
Da – wie ein Ruck ging es ihm durch den Körper. – Wahrhaftig – das war ja dieselbe Gestalt, derselbe Mantel, derselbe Hut – und sein Paket!
Er schoß jetzt förmlich vorwärts, stand vor Traude Reikmer, sagte stotternd vor Freude:
„Sind Sie also doch gekommen! Oh – ich hatte damit gar nicht gerechnet!“
Dann besann er sich, daß er sich hier soeben wie ein Tölpel benommen, riß den Hut vom Kopf, machte eine linkische Verbeugung und stammelte:
„Entschuldigen Sie, Fräulein. Es gibt jetzt wirklich so wenig ehrliche Menschen.“
Traude mußte lachen. Dieser Landjunker hatte so treuherzig gesprochen, hatte so ein gutes, biederes Gesicht.
„Da haben Sie recht,“ meinte sie. „Sie haben eben Glück gehabt, daß Sie gerade mir Ihr Butterpaket aufdrängten.“
Er schrak leicht zusammen.
„Sie haben also nachgesehen?“ stotterte er wieder so ängstlich.
„Nicht ich. Mein Bruder tat’s“ –
Sie gingen nun die Mittelallee der Linden entlang.
Da fiel ihm plötzlich ein, daß er diesem ehrlichen Mädchen noch nicht einmal seinen Namen genannt hatte. Er war jetzt nicht mehr so befangen wie erst. Er sah ja, daß diese hübsche Berlinerin sich so natürlich gab und ihn nicht verspottete, was ihm so oft widerfuhr, wenn er in der Hauptstadt geschäftlich zu tun hatte.
„Verzeihen Sie, Fräulein,“ sagte er plötzlich in anderem Tone, der jetzt weniger an einen verschüchterten Bauer als vielmehr an einen einfacheren Gutsbesitzer erinnerte. „Sie müssen mich wirklich für sehr ungebildet halten, weil ich mich Ihnen noch nicht einmal vorgestellt habe. Mein Name ist Ernst Bohlke. Ich bin der einzige Sohn des Gutsbesitzers Wilhelm Bohlke aus Neufrenzhof am Stettiner Haff.“
Er hatte den Hut wieder gezogen, blieb einen Augenblick stehen und verbeugte sich vor Traude recht gewandt.
Ihr machte dieses kleine Abenteuer als angenehme Abwechselung in dem öden Einheitsgrau ihres Daseins große Freude. Sie befand sich heute seltsamer Weise in geradezu übermütiger Stimmung.
„Und ich heiße Traude Reikmer,“ meinte sie vergnügt und nickte ihm abermals zu. „Nicht oft werden zwei Menschen auf solche Weise bekannt werden wie wir,“ fuhr sie fort. „Gehen wir aber weiter, Herr Bohlke. – Sie wollen die Butter doch irgendwo abgeben, nicht wahr?“
„Benutzen wir die Kleine Passage,“ bat er da und schwenkte nach rechts auf den Durchgang ab. „Sie haben recht: die Butter muß ich in der Leipziger Straße in der Konditorei Winkler abliefern. – Ich möchte Ihnen nun auch erklären, weshalb ich heute in meiner Angst gerade Ihnen den Karton anvertraute. Ich bin schon einmal – vorige Woche – beinahe von einem Kriminalbeamten bei meiner Ankunft auf dem Stettiner Bahnhof abgefaßt worden. Diesmal war ich vorsichtiger, stieg auf der Station Gesundbrunnen aus und fuhr mit dem Nordring nach Bahnhof Friedrichstraße. Ja – und denken Sie, dieses Pech: plötzlich bemerke ich da beim Verlassen des Zuges denselben Beamten, der mich schon damals beinahe angehalten hatte. Ich rannte daher auch ganz sinnlos davon. Zwanzig Pfund Butter – das ist doch ein böser Verlust! Außerdem auch die Strafe noch wegen Schleichhandels, und schließlich daheim die –“
Er hatte sagen wollen: „die Mutter!“
Aber er schämte sich einzugestehen, wie man ihn zu Hause behandelte und änderte daher schnell das Weitere ab:
„– die Blamage, wenn man so dumm gewesen ist, sich ertappen zu lassen. – Und daß ich gerade Ihnen das Paket in die Hand drückte, Fräulein Reikmer, – hm – Sie – Sie hatten so ein vertrauenerweckendes Gesicht.“
Traude lachte. „Oh, jetzt wollen Sie mir schmeicheln, Herr Bohlke!“
„Wirklich nicht, wirklich nicht!“ beteuerte er eifrig. „Sie wurden gerade vom Lampenlicht so hell beschienen, und kaum hatte ich Sie angeschaut, als –“ Er begann zu stottern. Er konnte ihr doch nicht gut mitteilen, daß es nicht lediglich das Vertrauenerweckende in ihrem Gesicht gewesen, das ihn zu diesem schnellen Entschluß verleitet hatte, sondern vielmehr ihre ganze Erscheinung, die ihm sofort gefallen hatte.
Traude ahnte ungefähr den unausgesprochen gebliebenen Schluß des Satzes. Sie hatte Ernst Bohlke nun ja bereits eingehender betrachten können, und so machte denn diese versteckte Huldigung auf sie insofern Eindruck, als er äußerlich gar nicht so übel aussah. Sie hatte in ihrem Leben so wenig Schmeicheleien oder liebenswürdige Bemerkungen von Männerlippen gehört. Die Eltern hatten ja stets so zurückgezogen gelebt, hatten nie großen Umgang gehabt. Und sie war ja in der einen Beziehung ganz Weib, daß sie sich gern huldigen ließ, ohne dabei irgendwie kokett zu sein. Sie wußte, daß sie zum mindesten ein pikantes Gesichtchen und sehr ausdrucksvolle Augen hatte.
Sie bogen nun nach der Wilhelmstraße ab. Die Schneewolke hatte ihren Inhalt über Berlin ausgeschüttet und zog nach Westen zu weiter. Klarer Sternenhimmel überspannte das Häusermeer.
Traude klopfte sich mit dem Muff den Schnee vom Mantel.
„Wie die Schneemänner sehen wir aus!“ rief sie heiter.
Er war plötzlich auffallend still geworden, schritt mit gesenktem Kopf neben ihr her.
„So nachdenklich?!“ meinte sie nach einer Weile.
„Was sind Sie?“ platzte er mit einem Male heraus. „Ich – ich meine,“ stammelte er, „was für einen Beruf Sie haben, Fräulein Reikmer?“
„Gar keinen.“ Sie war neugierig, was nun folgen würde, denn daß er diese Frage in bestimmter Absicht gestellt hatte, erschien ihr gewiß.
„So, so – gar keinen,“ wiederholte er nachdenklich. „Hm – sind Sie reich, Fräulein?“ fügte er zögernd hinzu.
Traude schaute ihn übermütig an. „Kolossal reich, Herr Bohlke! – So reich, daß wir für ein Geschäft Stickereien anfertigen, um nicht verhungern zu müssen.“
„Oh – oh!“ machte er mitleidig. „Hm – können Sie kochen?“
„Na ja – Hausmannskost!“
„Das genügt!“ sagte er schnell. Aber wieder erst nach längerer Pause fragte er dann:
„Würden Sie wohl eine Stelle auf dem Lande, auf einem Gute annehmen?“
Traude hatte Ähnliches schon vorausgeahnt, nachdem ihm die Hausmannskost „genügt“ hatte. Sie war also gar nicht so sehr überrascht und hatte sich sogar blitzschnell bereits so allerlei überlegt.
„Stelle? – Ja – das käme darauf an, was man von mir verlangt,“ meinte sie nun.
„Nein – es wird doch nichts für Sie sein,“ sagte er jetzt grüblerisch, aber mit deutlichem Bedauern im Ton. „Sie sind ein zu feines Fräulein, und die Mutter hatte doch so – so ein Mädchen für alles zu besorgen mir aufgetragen. Morgen früh wollte ich zu einer Stellenvermittlerin. Die Mutter hat ja so vielerlei Wünsche, was dieses Mädchen anbetrifft, das sie fürs Haus einstellen will. Sie soll gut schreiben können, das heißt, – so die Bücher für die Steuerbehörde und die Kommissionen, die jetzt überall herumschnüffeln. Aber – die Mutter will keine – keine „ganz Feine“ haben, hat sie noch extra betont. Und Sie – Sie sind doch offenbar aus sehr guter Familie.“
Traude antwortete nicht gleich. Sie war jetzt gerade dabei, in Gedanken sehr reiflich zu prüfen, welche Vorteile sie und die Mutter hätten, wenn sie eine solche Stelle annahm. Denn – bot diese für die Mutter keine Verbesserung der jetzigen Lage, dann wollte sie doch nicht so tief herabsteigen und – Dienstmädchen spielen. In ihr lebte ja noch immer trotz aller Sorgen und trotz allen Darbens ein Restchen Stolz auf den Vater, der Akademiker gewesen.
Nun war sie zunächst mit sich einig geworden und erwiderte auf Bohlkes letzten Satz:
„Nein – aus sehr guter Familie stamme ich nicht. Mein Vater war Amtsgerichtsrat. Er starb vor zweieinhalb Jahren.“
„So – Amtsgerichtsrat! Also hatte ich doch recht: Sie passen nicht für die Stelle.“
„Oh – sagen Sie das nicht. Was hätte ich denn im Hause alles zu tun?“
„Hm – kochen, plätten, Wäsche ausbessern, so allerlei Schreibereien für meine Mutter, die mir dies nicht überträgt, weil sie mir keinen Einblick in unsere Verhältnisse geben will!“ Eine starke Bitterkeit klang plötzlich in diesen Worten mit, so daß Traude erstaunt aufblickte und fragte:
„Wie – Ihre Mutter zieht Sie nicht bei allem zu Rate?“ – Sie konnte sich ja bisher von den näheren Verhältnissen in Ernst Bohlkes Elternhaus so gar keine Verstellung machen.
Er lachte hart auf. „Nein – sie schiebt mich wie einen dummen Jungen stets beiseite! Als ob ich nicht mehr von der Landwirtschaft verstände als sie. Aber – was ist dabei zu machen?! Sie hat ja bei Vater damals durchgesetzt, daß er das Testament so aufsetzte, wie’s sonst nie auf dem Lande üblich ist. Sie hat Vater stets völlig beherrscht. Und – nun werde ich nicht eher mein eigener Herr, als es ihr paßt! Ich bin nur Nacherbe, Fräulein Reikmer. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen.“
„Ja, ich verstehe es sehr wohl. Da sind Sie wirklich zu bedauern.“
„Freilich – mit dreißig Jahren auf dem eigenen Grund und Boden nur so ’ne Art Inspektor zu spielen, das – das ist bitter!“ –
Und sie gingen weiter und sprachen wieder über die Stelle des Mädchens für alles. Höchstens 80 Mark Lohn wollte die Mutter bezahlen, erklärte Ernst Bohlke. „Aber – ich würde Ihnen heimlich noch zwanzig zulegen, Fräulein Reikmer,“ meinte er treuherzig. „Auch dreißig. Und – so manches könnten Sie nach Hause schicken – heimlich natürlich! Das läßt sich schon machen. – Trotzdem – ich – ich will ehrlich sein. Es wäre nichts für Sie! Mit meiner Mutter ist sehr schwer auszukommen. Wer da empfindlich ist, der – der hält’s nicht 24 Stunden bei uns aus. Deswegen sollte ich ja auch hier in Berlin jemand besorgen. Bei uns in Pommern sind Frau Therese Bohlke und der Neufrenzhof schon weit und breit verschrien.“
Sie waren jetzt vor der Konditorei angelangt. Bohlke bat Traude, mit hineinzukommen. „Sie müssen mit mir eine Tasse Schokolade trinken, Fräulein Reikmer. Das dürfen Sie mir nicht abschlagen.“
Traude dachte: „Mag diese Frau Bohle auch noch so scheußlich sein! Die Pakete locken mich! Else muß unbedingt besser ernährt werden. Sie hustet jetzt so häufig. Und Muttchen könnten Speck und Eier auch nur guttun. Ich will Ernst Bohlke also noch weiter ausfragen, ob die Stelle nicht doch für mich paßt.“
So betraten Sie denn die Konditorei und nahmen in einer Nische Platz. Ernst Bohlke brachte das Paket in die Backstube, kehrte sehr bald zurück und legte ein Päckchen vor sich hin. –
Um halb zehn begleitete er dann Traude bis zum Untergrundbahnhof Leipziger Platz. Sie trennten sich mit festem Händedruck. Er fragte: „Es bleibt also dabei?“
„Ja – abgemacht,“ sagte Traude fest.
Dann drückte er ihr noch schnell das Päckchen in die Hand. „Hier – ein Pfund Butter. Mag es Ihnen gut schmecken.“
Er eilte schnell von dannen. –
Als Traude heimkehrte und Mutter und Schwester mitteilte, daß sie am 1. Februar als Mädchen für alles auf dem Neufrenzhof eintreten würde, gab es zunächst von Seiten der Mutter viele Tränen.
Dann sprach man die Sache in Ruhe durch. Und bei der Rätin gab schließlich die Hoffnung den Ausschlag, daß aus Traude und dem Nacherben ein Paar werden könnte.
– – – – – – – –
Zehn Tage später. – Der Bummelzug hielt auf der kleinen Station. Aus einem Abteil 3. Klasse stieg Traude Reikmer aus – in demselben Hut und Mantel wie damals, als sie Ernst Bohlke kennen gelernt hatte. Außer Schirm und einfachem Koffer hatte sie kein Gepäck.
Der Zug dampfte weiter. Ein feiner Sprühregen ging hernieder. Vergebens schaute Traude nach Bohlke aus. Er hatte sie doch mit dem Wagen oder Schlitten abholen wollen. So war’s vereinbart worden.
Sie nahm den Koffer und schritt der Sperre zu. Da trat ein langer, schlanker Herr an sie heran, der halb ländlich, halb städtisch gekleidet war. Er lüftete den weichen Filzhut: tadellose Verbeugung, nur etwas nachlässig.
„Fräulein Reikmer?“ fragte er leicht näselnd.
Traude musterte ihn überrascht. Sein hageres, frisches Gesicht mit der messerscharfen Hakennase und dem ganz kurz gestutzten Schnurrbart, den grauen, durchdringenden Augen unter sehr starken, dunklen Brauen und ein gewisser Zug von Selbstbewußtsein und kühler Überlegenheit um den etwas vorgebauten Mund riefen irgend eine ferne – ferne Erinnerung in ihr wach. Diesen Herrn mußte sie bereits irgendwann und irgendwo des öfteren gesehen haben.
Er ließ sich diese Prüfung seiner äußeren Erscheinung geduldig gefallen, bis Traude dann ein wenig hastig erklärte:
„Ja, ich bin das neue Mädchen für den Neufrenzhof.“
„Dann is die Jeschichte ja im Lot, mein Kind,“ meinte der Schlanke freundlich. „Her mit dem Koffer! Ich sehe ja, das Ding ist schwer. Kommen Sie. Draußen steht der Wagen. Für ’n Schlitten ist der Dreck zu groß.“
Er ging voran. An der Sperre faßte der Schaffner, der die Fahrkarte abnahm, an die Mütze.
„Mahlzeit, Herr Rittmeister,“ sagte er dann.
„Mahlzeit!“ nickte der Schlanke.
Traude grübelte. – Rittmeister?! – Wo – wo nur war sie ihm schon begegnet?! Und, wenn sie ihn nun vielleicht persönlich kannte, wenn er sich dann auch allmählich auf sie besann, würde er dann nicht ihr Geheimnis hier gefährden? Frau Bohlke war ja von ihrem Sohne gesagt worden, Traude sei die Tochter einer Witwe eines einfachen Gerichtsbeamten; jedenfalls sollte der Amtsgerichtsrat verschwiegen werden.
Dann stand sie schon neben einem kleinen, zweiräderigen Kastenwagen, der mit einem struppigen Braunen bespannt war.
„Klettern Sie nur rin in den Landauer, Kind,“ meinte der Herr nun und band den Koffer hinten fest. „Wühlen Sie die Füße ordentlich ins Stroh ein,“ fügte er hinzu. „Es pfeift ein ekliger Wind, und wir haben zwei Stunden zu fahren.“
Dann stieg er selbst ein und setzte sich rechts neben Traude. Der Sitz war so eng, daß sie eng aneinander gepreßt wurden.
Der Gaul zog an. Erst ging es noch eine halbe Stunde die Chaussee entlang. Traudes Nachbar begann sofort eine Unterhaltung.
„Hören Sie mal, wie konnten Sie als Berlinerin nur hier in diese gottverlassene Jejend kommen?! Sie seh’n so aus, als hätten Sie bisher Kammerzofe gespielt, liebes Kind. Na – da werde ich dann wohl übermorgen das Vergnügen haben, Sie wieder nach der Bahn zu kutschieren. Sie halten’s bei unserer Jnädigen nich zwölf Stunden aus! Wetten?!“
„Ich – ich will aber!“ sagte Traude kleinlaut.
Er lachte. „Jut jesagt – wollen! Was heißt wollen, wenn man’s mit ’nem leibhaftigen Satan zu tun hat!“
„Sie – sind wohl der Herr Inspektor?“ fragte Traude, um endlich zu erfahren, wer dieser Herr war, den Ernst Bohlke doch gar nicht erwähnt hatte.
„Ne, Kind, – Inspektor will ich erst werden. Ich bin seit acht Tagen Gutseleve bei Frau Bohlke, das heißt also: ich bin ’n Mensch, der dafür noch bezahlt, daß man seine Arbeitskraft restlos auspumpt! – Wenn ich nicht der Jnädigen 1000 Märker für die Lehrzeit jeboten hätte, hätte sie mich nie jenommen. Für 1000 Mark aber – da hätte sie ’n ollen Mümmelgreis einjestellt. Für Jeld tut sie alles, janz unter uns jesagt! – Der Neufrenzhof ist als Musterwirtschaft bekannt. Nur deshalb bin ich hineingegangen. Die Frau Therese Bohlke versteht den Agrarier-Rummel aus dem ff! Und auch manches[4] andere versteht sie noch. – Übrigens – mein lieblicher Name lautet Meier mit e, – Traugott Heribert Alfred Meier. Und jelernt hab’ ich seiner Zeit weiter nischt als Rekrutenausbilden. Damit is heutzutage nich mehr recht satt zu werden, liebes Kind, dieweil die Herren Entente Brüder aus angeerbtem Judenbammel alias Angst vor dem deutschen Michel uns nur noch ein Armeechen von 100 000 Männekens huldvollst bewilligt haben und weil mithin dreiviertel von uns Offiziersbande einen Tritt gegen die Kehrseite wejen Überfüllung des Berufs kriegen mußte.“
„Wie – wie kommen Sie denn mit Frau Bohlke aus?“ fragte Traude nach einer Weile.
„Ich?! Jott, liebes Kind, – man muß Leute von der Sorte dieser Jnädigen eben zu nehmen wissen! Dazu jehört aber mehr, als Sie fertig bringen. Wenn ich Ihnen raten darf – denn Sie jefallen mir, Kleine –, dann schmeicheln Sie ihr von vornherein recht faustdick! Diese Jnädige kann nämlich zur Not ihren Namen schreiben, rangiert also unter die Klasse der reichen, mit unjeheuer viel Mutterwitz ausjestatteten Unjebildeten, die jeden Jebildeten übers Ohr hauen, dabei aber den Vornehmheitsfimmel in Bezug auf manche Lebensnotwendigkeiten haben. – Seh’n Sie, Kindchen, ich würd’ hier Ihnen jejenüber nich so frei von’s Leberorgan runter reden, wenn ich nich Menschenkenner wär’! Sie werden mich nie bei Frau Therese wejen dieser Kritik ihrer Persönlichkeit verpetzen. Das weiß ich bestimmt. Ihr Jesichtchen is beinahe zu – zu jut und anständig für ’n Mädchen für alles, die aus dem Seelenmorast Berlin kommt. Wo waren Sie denn zuletzt in Stellung, Kleine?“
Traude war verschiedentlich sehr rot geworden, hatte sich aber bald an das „Kind“ und „Kleine“ gewöhnt und lauschte nun mit stiller Heiterkeit den ulkigen Worten dieses Rittmeisters, den sie leider noch immer nicht in ihrer Erinnerung unterbringen konnte. Diese Frage kam ihr jetzt jedoch sehr ungelegen. Sie fürchtete des offenherzigen Rittmeisters durchdringende Augen, wenn sie nun sagte, dies sei die erste Stelle, die sie annehme.
„Na, Kind?!“ munterte er sie da schon auf. „Sie überlegen jetzt wohl, was Sie mir vorflunkern sollen.“ Er lachte halblaut in sich hinein. „Ich erspare Ihnen die Antwort, Kleine. Daß Sie noch nie Mädchen für alles waren, sah ich auf den ersten Blick. Außerdem hat auch der brave Ernst Bohlke mir anvertraut, daß Sie totaler Neuling sind und daß er seiner Mutter nur vorgeschwindelt hat, Sie wären seit zwei Jahren ohne Stellung, um daheim die Mutter zu pflegen.“
Er hatte den Kopf nach ihr hingewandt und betrachtete still ihr vom Winde gerötetes Gesicht, das jetzt infolge Verlegenheit sich noch dunkler färbte.
„Weshalb fragten Sie denn überhaupt, wenn Sie Bescheid wußten,“ stieß Traude jetzt zum ersten Male unwillig hervor, vermied es aber, ihn anzusehen.
„Weshalb?! Na – das war so’n bißchen auf den Strauch geschlagen, Fräulein Reikmer,“ lächelte er vergnügt. „Der gute Ernst Bohlke hat mir da ’ne große Lügengeschichte aufgebunden, wie er Sie kennengelernt haben will: – Butterpaket, Bahnhof Friedrichstraße, rettender Engel – und so! – Ich sehe jetzt diesem kleinen Roman bis auf den Grund. Aber – ich werde weiter so tun, als wüßte ich von nischt!“
Traude schaute ihn an. „Sie irren, Herr Rittmeister. Herr Bohlke sprach die Wahrheit. Von – von einem Roman ist nur insofern die Rede, als es sich eben um den Butterkarton und meine Rolle als halb unfreiwillige Helferin beim Schleichgeschäft handelt.“
Er knallte mit der Peitsche, und der Gaul schlug wieder einen mäßigen Trab an. Der Landweg führte hier durch ein Gehölz. Ganz plötzlich öffnete sich dann eine weite Fernsicht über das Stettiner Haff und ein paar Gehöfte unten am Ufer.
„Wie schön!“ rief Traude unwillkürlich. „So groß habe ich mir das Haff nicht vorgestellt.“
„Dja – man stellt sich manches anders vor, Fräulein Reikmer! – Ihr Vater war Gerichtsunterbeamter, nicht wahr? Wenigstens sagte das der brave Ernst.“
„Ja –“, erwiderte Traude zögernd.
„So – so!“ Dann verstummte er.
Traude fühlte sich jetzt sehr unbehaglich neben ihm. Sie vermutete, daß der Rittmeister sie längst durchschaut hätte, also wüßte, daß sie ihrer Herkunft und Erziehung nach nicht als Dienstbote auf den Neufrenzhof gehöre. Vorhin, als sie betont hatte, der „Roman“ sei lediglich ein Schleichhändlererlebnis, hatte er sich dazu völlig ausgeschwiegen. Er schien also mehr seiner eigenen Kombinationsgabe, seinem Roman zu trauen. – Was aber meinte er mit diesem Roman, dem er „bis auf den Grund sehe“?! – Traude begann zu grübeln. Dann durchzuckte sie etwas wie ein leiser Schreck. Unwillkürlich flutete ihr wieder helle Glut in die Wangen. Mein Gott – nahm etwa der Rittmeister an, daß sie zu Ernst Bohlke in zärtlicheren Beziehungen stand und daß er sie nur in das Gutshaus als Mädchen für alles eingeschmuggelt hatte, um –
Scham und Empörung ließen sie jetzt völlig vergessen, was sie hier vorstellen wollte. Sie drehte sich halb nach ihrem Nachbar um, sagte rasch:
„Herr Rittmeister, um nochmals auf die Art und Weise zu sprechen zu kommen, wie ich Herrn Bohlke kennen lernte: unsere Bekanntschaft rührt von jenem merkwürdigen Abenteuer auf dem Friedrichstraßen-Bahnhof her! Bitte zweifeln Sie nicht daran! Ich – ich möchte nicht, daß Sie –“
Da unterbrach er sie: „Fräulein Reikmer, ich weiß, was ich von Ihnen zu halten habe. Das mag Ihnen genügen.“
Der Ton seiner Stimme war herzlich und gütig. Eine fast väterliche, warme Anteilnahme strahlte ihr aus seinen Augen jetzt entgegen. Dann nickte er ihr zu.
„Nur Mut! Ich werde Ihnen helfen, sich auf dem Neufrenzhof einzuleben. Aber – lange werden Sie dort trotz meines Schutzes kaum bleiben. Sie sollen Frau Therese bei den Schreibereien helfen. Und – das werden Sie vielleicht sehr schnell ablehnen.“
Traude beschlich ein Unbehagen. „Weshalb erwähnen Sie gerade die Schreibereien, Herr Rittmeister?“ fragte sie zögernd.
„Warten Sie nur ab,“ lautete seine ausweichende Antwort. „Übrigens – das dort ist schon das Gutshaus. Der einstöckige, alte Ziegelbau nimmt sich nicht sehr vornehm aus. Dafür sind die Stallungen erstklassig. Als der „alte“ Bohlke sich 1913 in allen Ehren totgesoffen – pardon, aber es ist so – also totgesoffen hatte, wobei ihm Frau Therese insofern half, als sie stets den nötigen Schnaps bereithielt, da übernahm sie die Regierung – und wie! Die Nachbarn sperrten Mund und Ohren auf vor Staunen! So schnell machte sie der früheren Lotterwirtschaft ein Ende. Und heute – heute sind die Bohlkes ganz sicher mehrfache Millionäre.“
Durch einen verwilderten Obstgarten mit schiefem Holzzaun ging’s nun auf das Gutshaus zu. In der Mitte des langen, niedrigen Gebäudes gab es eine Glasveranda, und von dieser gelangte man durch eine plumpe, mit großen Nägeln beschlagene Holztür in eine Vorhalle.
Der Rittmeister trug Traude den Koffer. Pferd und Wagen hatte er draußen stehen lassen. Er drehte nun das elektrische Licht in der Vorhalle an. Traude schaute sich überrascht um. Korbmöbel, Teppiche, große Bilder, ein paar Fuchsfelle als Vorleger, Rehgehörne und anderes machten den großen Raum recht behaglich.
Da – von links her eine schrille, unangenehme Stimme. Dort war eine Tür zu sehen mit einem Pappschild „Bureau“.
Der Rittmeister flüsterte: „Die Gnädige!“ und zwinkerte Traude vielsagend zu.
Traude verstand nicht Platt. Immerhin konnte sie aber doch so einiges von dem Inhalt dieser sehr lebhaften Auseinandersetzung da drinnen erraten.
Jetzt kreischte Frau Bohlke wieder:
„Wat – wat?! Sei schiefbeen’ger Jodejong wull’n mi segge, min Bodder sei tau Hälft mit Majarin verfälscht! Rut mit Sei ut min Hus, Sei oll krummnos’jer Kierl – rut mit Sei!“
Dann die Antwort, eine vor Wut überschnappende Fistelstimme:
„Frau Bohlke, das – das reicht für zwei Beleidigungsklagen aus! Sie haben mich Judenjunge genannt, Sie –“
„Wat – wat hebb ick?! Beleidigungsklogen?! He – he! Noch beeter! Hebb’n Sei amend ’n Tügen, Sei Schopskopp, Sei! Ohne Tügen (Zeugen) kunn’n Sei mir den –“ Es folgte eine Gemeinheit, die Traude zum Glück nicht verstand.
Dann flog die Tür auf, und heraus stürzte rot wie ein Puter Herr Sigurd Schleimizer aus Wolgast. Kaum hatte er den Rittmeister erblickt, als er auch schon rief:
„Sie müssen gehört haben, was Frau Bohlke soeben –“
Der lange Rittmeister winkte schon ab. „Bedaure, Herr Schleimizer[5]. Ich habe an der Front das Gehör links verloren. Hätte ich wie Sie den Krieg bei der Reichsstelle für Öle und Fette mitgemacht, könnte ich Ihnen jetzt als Zeuge dienen. So aber –“
Herr Schleimizer merkte den blutigen Hohn, wollte nun weiter zur Haustür. Da erschien in dem hellen Rahmen jener Bureautür eine hagere, große Frau, über deren niedriger Stirn das schwarze Haar in straffem Scheitel sich zu den stark abstehenden Ohren hinzog.
Ohne den Rittmeister und Traude zu beachten, sagte sie mit ihrer schrillen Stimme zu dem kleinen jüdischen Aufkäufer:
„Und der Weizen, Schleimizer?!“
Der Wolgaster drehte sich zögernd um.
„280 Mark – nicht e Pfennig mehr!“ murmelte er widerstrebend.
„Kommen Sie –“ Frau Bohlke winkte, und Schleimizer verschwand wieder im Bureau.
„So werden hier Geschäfte gemacht,“ meinte der Rittmeister auflachend. „Frau Bohlke spricht übrigens nur Platt, wenn sie grob wird. Sie werden das auch noch erleben, Fräulein Reikmer.“
„Nennen Sie mich einfach Gertrud,“ bat Traude schnell. „Ich – ich bin die andere Anrede nicht gewöhnt.“
„Hm – na ja! Wenn’s sein muß! – Ich werde Sie jetzt nach Ihrer Bodenstube bringen. Ich gehe voraus.“
Im Hintergrunde der Diele führte eine breite Treppe auf einen mit Wäschestücken behängten Trockenboden. Dann stieß der Rittmeister eine gekalkte Brettertür auf, die nur ein einfaches Kastenschloß hatte. Durch ein winziges Fenster fiel ein breiter Lichtstrom auf ein eisernes Bett mit bunten Betten darauf.
„So – das ist Ihr Reich, Gertrud.“ Er stellte den Koffer hin. „Auf Wiedersehen –“ Und er verließ den kahlen Raum, in dem außer dem Bett nur noch ein kleiner Holztisch, ein Schemel und auf einem Holzstuhl eine Blechwaschschüssel sich befanden.
Traude stand regungslos da. Hinter ihr zog der Rittmeister die Tür ins Schloß.
Sie stand und fühlte plötzlich eine namenlose Sehnsucht nach Mutter und Schwester. Gerade diese eisigkalte, unfreundliche Kammer machte ihr urplötzlich klar, was sie auf sich genommen hatte.
Da – ein Pochen an der Tür, eine Stimme:
„Darf ich mal eintreten?“
Sie flog förmlich herum. – Ernst Bohlke! Oh – ihr war’s, als rufe ein lieber Bruder ihr das zu.
„Herein – herein!“ sagte sie schnell. Streckte ihm nun die Hände hin – beide Hände, während ein Schluchzen ihr in der Kehle würgte.
Hand in Hand blieben sie so eine Weile wortlos stehen. Er sah das Zucken in Traudes Gesicht, sah die von Tränen verschleierten Augen. Er war so bewegt, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Dann stammelte er:
„Ich – ich heiße Sie hier von ganzem Herzen willkommen – auf meinem Grund und Boden!“ Wie in trotziger Aufwallung fügte er das letzte hinzu. Es klang wie eine versteckte Drohung gegen die tyrannische Mutter.
Traude hörte, wie seine Stimme bei diesen ersten Worten der Begrüßung gebebt hatte. Sie schaute ihn an[6], und wie eine Welle warmer tiefer Zärtlichkeit ging es von seinem Gesicht, seinen Augen aus.
„Er liebt Dich!“ sprang da in ihrem Herzen die sichere Erkenntnis auf. „Er hat Dich schon geliebt beim ersten Sehen! Nur deshalb vertraute er gerade Dir den Karton an!“
Plötzlich fühlte sie sich so geborgen hier, so heimisch! Das Bewußtsein, einen Menschen in der Nähe zu haben, der ihr so ganz ergeben war, der in scheuer Anbetung um sie warb, verlieh ihr mit einem Male wieder Mut und Kraft.
Sie lächelte ein wenig.
„Gut, daß Sie gerade jetzt kamen, Herr Bohlke,“ sagte sie innig. „Ich hatte plötzlich so – so großes Heimweh.“
Er hielt ihre Hände noch immer fest. In seinen graublauen, treuen Augen leuchtete die Zärtlichkeit unverändert weiter, als er nun hastig flüsterte:
„Das Heimweh mußte wohl kommen. Sie sind doch zum ersten Male in der Fremde. Aber – es wird vorübergehen. Nur – Mut müssen Sie haben, und nicht empfindlich sein! Ich – ich werde Ihnen beistehen, Fräulein Reikmer, lieber Fräulein Reikmer, denn – ich bin jetzt nicht mehr so wie vor kurzem noch, – nein, nein, ich bin anders geworden, und die Mutter soll’s schon merken.“
Er drückte ihre Finger plötzlich so kräftig, daß sie zusammenzuckte. Seine Mienen hatten in jähem Wechsel von stummer, schlecht verhehlter Zärtlichkeit zu einer Anwandlung feindseliger Energie sich geradezu verzerrt.
„Oh, sie soll nur wagen, Sie irgendwie zu beleidigen,“ stieß er nach kurzer Pause hervor. „Dann soll sie mich kennenlernen!“
Von unten, von der Diele her, die schrille schneidende Stimme der Frau Bohlke:
„He – wo is denn dat Berlinsche Minsch?! (Mensch).“
Ernst Bohlke raunte Traude zu: „Gehen Sie hinab – schnell, sonst gibt es sofort Krach –“
Er eilte davon, trat in die Obstkammer ein.
– – – – – – – –
Traude wollte wieder ängstlich, wieder mutlos werden. Aber sie raffte sich auf. In Hut und Mantel ging sie die Treppe hinab.
Mitten in der Diele stand das große, hagere Weib.
„Ah – da sind Sie ja! Und noch nicht mal ausgezogen. Sie scheinen’s nicht sehr eilig zu haben, an die Arbeit zu gehen! Hier auf dem Neufrenzhof wird nicht gefaulenzt. Das merken Sie sich man gleich.“
Das waren Traudes Begrüßungsworte von Seiten der Herrin dieses Hauses. Und die Art, wie sie dem jungen Mädchen das zurief. erhöhte noch das Verletzende und Gefühllose dieser unberechtigten Vorwürfe.
Traude preßte die Lippen fest zusammen. Sie hatte etwas erwidern wollen. Eine maßlose Empörung war in ihr für einen Moment aufgestiegen. Aber sie bezwang sich.
Frau Bohlke ging ihr voraus in das helle, zweifenstrige Bureau, lehnte sich an den großen, mit Papieren bedeckten Holztisch und musterte Traude mit ihren kleinen, dunklen Augen lange und eingehend.
Therese Bohlke mit ihrem mageren aber noch frischen Gesicht, in dem jede Linie rücksichtslose Energie und Strenge verriet, erinnerte Traude unwillkürlich an die beliebten Witzblattdarstellungen von älteren Erzieherinnen. Die Frau bestand eigentlich in ihrer erschreckenden Magerkeit nur aus eckigen Linien. Nichts – nichts Weiches, Weibliches war an dieser Erscheinung. Das blaue Tuchkleid mit dem Perlbesatz und dem niedrigen Stehkragen, aus dem ein langer, dünner Hals herauswuchs, umspannte ganz eng die völlig flache Brust. Es war sehr unvorteilhaft gearbeitet. Der Leib trat plump und unschön hervor, und so, wie Therese Bohlke jetzt mit in die Seiten gestemmten Fäusten dastand, war sie der Typ der reichgewordenen ungebildeten Bäuerin mit allen Fehlern und Schwächen, aber auch mit all der Zähigkeit und Schlauheit, die man so oft bei den Weibern auf dem Lande so stark ausgebildet findet. –
Die Musterung war nun vorüber. „Hm – also das sind Sie nun!“ sagte sie, als hätte sie soeben ein Stück Vieh geprüft, um das sie handeln wollte. „Fürs Land sind Sie viel zu schwächlich. Na – wir werden ja sehen! – Was Sie hier zu tun haben, zeig’ ich Ihnen nachher. Eins muß ich aber gleich mit Ihnen besprechen. Von dem was Sie hier hören und sehen, wird nichts – nichts weitergetragen – nichts! Auch nicht etwa Ihrer Mutter geschrieben! – Dann: Sie sollen hier so mehr das Wirtschaftsfräulein spielen. Ich werd’ Sie Fräulein anreden, und das müssen meine Leute auch. Ich bin für Sie Frau Bohlke. Ich bin man eine einfache Frau. Mein Mann hat mich geheiratet, als ich zum Kartoffelausnehmen mich hier verdingt hatte. Wer stets weiß, was er will, bringt’s weit. Und – ich weiß heut’ erst recht, was ich will! – Noch was, Fräulein. Ihr Berliner Weiber habt den Kopp allzeit voll von verliebten Geschichten[7]. Das gibt’s hier nich – verstanden! Merk’ ich so was, fliegen Sie raus. Hier ist so ’n Windhund von früh’rem Offizier als Eleve, der Rittmeister von Meier-Meiersberg. Er hat Sie ja von der Bahn abgeholt. Vor dem nehmen Sie sich in acht! Der macht hier alle Leut’ verrückt mit seinen Schrullen. – Und die Hauptsache –“ Sie richtete sich noch höher auf, die Stimme wurde noch schriller: „Zu befehlen hab’ ich hier allein. Mir gehört das Gut! Mir! Keiner hat hier was zu kommandieren außer mir. Danach richten Sie sich, Fräulein!“
Sie schaute Traude aus den kleinen, schwarzen Augen durchdringend an, daß das junge Mädchen diesen Blick nicht ertrug und zur Seite sah.
„So, nun will ich Ihnen das Haus zeigen. Hut und Mantel bleibt hier,“ fuhr Frau Therese fort. „Bißchen fix, – zieh’n Sie sich aus! – Nur nich so nöhlig bei allem. Sich regen bringt Segen.“ –
Vom Bureau führte eine Tapetentür in das große Speisezimmer. Schwere, moderne Eichenmöbel, eine riesige, elektrische Krone, Zwei kostbare Perser und gute Gemälde hätten, wenn sie geschmackvoller gestellt und angeordnet gewesen wären, den Raum vornehm und behaglich erscheinen lassen. So aber wie hier neben wertvollen Stücken allerlei Trödel mitaufgebaut war, zum Beispiel auf Büfett und Anrichte neben einer Unmenge Kristallsachen billigste, grellbemalte Schalen und versilberte Kannen standen, wirkte das Ganze lediglich wie eine Schaustellung dessen, was Frau Bohlke sich leisten konnte.
Traude dachte an des Rittmeisters Rat: „Schmeicheln Sie ihr!“ – Aber – sie bekam es nicht fertig. Sie sagte nur: „Ach – so schöne Teppiche!“ Denn diese echten Perser verdienten diese Bezeichnung.
„Na – von alledem werden Sie nich vielversteh’n,“ meinte Frau Therese wegwerfend. Und dann kam ihre Charakterschwäche zum Durchbruch. „Das da ist echtes Kristall – alles!“ erklärte sie stolz. „Wenn Sie hier was beim Staubwischen kaputt machen, kostet’s ’n Jahreslohn. Denken Sie dran! Und das da,“ – sie zeigte auf ein Bild – „ist ein echter Böchlihne.“
Nun – es war nur eine farbige Reproduktion von Böcklins „Toteninsel“. Traude wollte schon verbessern. „Der Maler heißt Böcklin.“ – Aber sie besann sich noch zur Zeit, daß sie ja nur ein Mädchen für alles mit dem Titel „Fräulein“ war.
Dann kam der Salon heran. Auch hier nur neue, gefällige Möbel. Jedoch auch hier der Eindruck verschandelt durch allerlei grobe Geschmacklosigkeiten.
Genau dasselbe traf auf das Herrenzimmer zu, wo sogar zwei Rindlederklubsessel und ein Diwan mit Perserrückwand standen. – Traude mußte heimlich lächeln. Diese drei Prunkräume waren eiskalt und wurden offenbar nie benutzt. Es waren eben Renommierzimmer, um den Reichtum des Hauses vor Augen zu führen.
Traude hatte noch dies oder das wie verzückt tuend gelobt. Ihr wurde dies jetzt nicht mehr schwer, da sie unwillkürlich an des Rittmeisters merkwürdige Ausdrucksweise sich erinnert hatte und das, was sie sagte, nun ebenfalls stets halb ironisch färbte. Frau Therese Bohlke mochte schlau sein: aber so schlau war sie doch nicht, diese Ironie herauszuhören.
Nun öffnete sie eine Tür, die durch einen Vorhang verdeckt gewesen war.
„Dies ist unser Eßzimmer für alle Tage,“ sagte sie und betrat eine zweifenstrige Stube, die mit uraltem Hausrat völlig vollgepfropft war. In der Mitte stand ein langer Fichtentisch mit Wachstuchbezug, der vielfach zerrissen war. Die Stühle waren gleichfalls aus Fichtenholz und hatten zumeist schadhafte Rohrsitze. Der Fußboden war hier gescheuert und mit Sand bestreut. In dem braunen Kachelofen glühte Torf, und vor dem Ofen war ein mit Torfziegeln angefüllter Weidenkorb aufgestellt.
Frau Bohlke hielt sich hier nicht lange auf. Kaum daß Traude Gelegenheit fand zu rufen: „Ach – wie gemütlich!“ – Mit einer gewissen Hast ging das hagere Weib über den Flur in die Küche, die noch einen riesigen Kaminherd und Ziegelfußboden hatte.
Jetzt lernte Traude auch das weibliche Faktotum des Hauses, das alte Fräulein Anna Bohlke, eine Schwester des alten Bohlke, ebenso das Hausmädchen für die gröberen Arbeiten, eine noch junge, dralle Dirne mit Stupsnase und stets erstaunten, wässerigen Augen kennen.
Das alte Fräulein war ein schwerhöriges, scheues verhutzeltes Weibchen, das offenbar vor Frau Therese noch mehr Angst hatte als die dralle Marie.
Hiermit war der Rundgang zunächst beendet. Frau Bohlke hatte auch ihrer Schwägerin und dem Mädchen bedeutet, daß Traude mit Fräulein anzureden sei. Traude merkte jetzt schon: sie war ebenfalls offenbar mehr als „Renommierstück“ gemietet worden! – Frau Therese mochte wohl annehmen, daß ein Wirtschaftsfräulein unbedingt mit zu einem „feineren“ Gutshause gehöre.
Traude mußte sich nun eine große Schürze aus ihrem Koffer holen und dann den Tisch für das Mittagessen decken. Das bunte Tischtuch war gestopft. Servietten gab es nicht. Die Ansprüche Frau Bohlkes an eine gedeckte Tafel waren nicht sehr hoch. Die Messer und die Gabeln, die Löffel und das Geschirr: alles plump und abgenutzt.
Mit dem Glockenschlag ein Uhr wurde gegessen. Nachdem Traude die Suppe aufgetragen hatte, mußte sie gleichfalls am Tische Platz nehmen. Anwesend waren Frau Bohlke, Fräulein Bohlke, der Rittmeister, Ernst Bohlke und Traude. Diese saß ganz unten, durch leere Stühle von den „Herrschaften“ getrennt. Am nächsten nach ihr hin hatte der Rittmeister seinen Platz. Als man sich kaum gesetzt hatte, erklärte er schon, er habe auch nicht die Spur Hunger.
Der Ton, in dem er dies sagte, fiel Traude auf. Und – seltsam: Ernst Bohlke wurde rot und schaute verlegen vor sich hin, während Frau Therese bissig und schrill rief: „Sie haben nie Hunger! Unsere kräftige Hausmannskost ist Ihnen nicht gut genug!“
Der Rittmeister schwieg.
Kräftige Hausmannskost! – Ach – Traude hatte einen Riesenappetit nach der Wagenfahrt und freute sich so recht auf ein schmackhaftes, einfaches Essen. Aber wie enttäuscht war sie! Es gab nur eine Kohlsuppe, eine dünne Brühe, mit Kartoffeln darin. – Traude dachte: „Da hat Muttchen daheim ja noch fetter gekocht!“ – Es blieb bei dieser Wasserbrühe. Der Rittmeister hatte sich den Teller nicht mal halb gefüllt. Traude aß, weil sie Hunger hatte.
Die Unterhaltung bei Tisch führte der Rittmeister allein. Ernst Bohlke starrte vor sich hin und warf nur zuweilen einen scheuen Blick zu Traude hinüber. Als Herr von Meier Traude zweimal angesprochen und mit seinen Scherzen ein Lächeln auf ihrem Gesicht hervorgezaubert hatte, sagte Frau Therese plötzlich grob:
„Lassen Sie die Witze! Das paßt sich nicht für ’n anständiges Haus.“
Traude wunderte sich, daß der Rittmeister diese grobe Ungezogenheit sich gefallen ließ.
Es wurde nun sehr ungemütlich, da kein Mensch ein Wort sprach. Dann erhob Frau Therese sich, murmelte unfreundlich „Mahlzeit allerseits“ und fügte für Traude sehr hoheitsvoll hinzu:
„Räumen Sie ab, Fräulein!“
Traude konnte nicht anders, – sie wollte dieser Haustyrannin eins auswischen, erwiderte recht laut:
„Sehr wohl, gnädige Frau.“
Frau Bohlke fuhr sofort herum. „Sind Sie – verrückt?!“ rief sie mit fast überschnappender Stimme. „Gnädige Frau – gnädige Frau! Das verbitt’ ich mir! Ich denk’, ich hab s Ihnen schon befohlen, wie ich genannt sein will.“
Der Rittmeister steckte sich gerade eine Zigarette an und sagte jetzt:
„Fräulein, wie konnten Sie nur! Gnädige Frau! Das paßt nicht für ’n anständiges Haus!“
Traude bückte sich schnell, sonst hätte Frau Therese unfehlbar ihr Lachen bemerkt.
Das hagere Weib hatte diesen Hieb doch verstanden. Sie war plötzlich rotblau vor Wut geworden, keifte nun mit tückischem Blick den Rittmeister an:
„Sei wull’n mir upptein (aufziehn), wat?! Na, dat looten Sei man bliewe (lassen Sie man bleiben)! Sunst flöge Sei hi rutt mit Ihr koddriges Muhl (Maul)!“
„Aber meine verehrteste Frau Bohlke,“ meinte der Rittmeister, sich leicht verbeugend und die Hacken zusammenklappend, „von Aufziehen ist doch keine Rede. Man muß dem Fräulein doch klarmachen, daß in ein ehrbares Gutshaus diese veraltete Anrede gnädige Frau nicht hineingehört. Das Fräulein kommt doch aus Berlin, wo in gewissen Kreisen leider ja immer noch nicht der modernen Zeit genügend Rechnung getragen wird.“
Frau Therese verstand diesen letzten Satz offenbar[8] nicht ganz, brummelte etwas vor sich hin und rief dann ihrem Sohne im Feldwebelton zu:
„Wie weit seid Ihr mit ’m Erbsendreschen.“
Die Antwort genügte ihr nicht. „Ich werd’ selbst nachher in die Scheune kommen! Gar nichts habt Ihr geschafft. Aber nadeirlich (natürlich), dei fine junge Herr hefft nich mit anfooten – nadeirlich nich! Du warst ook noch mal upp ’n Mist umkommen vor Fuhlheet (Faulheit)!“
„Ich habe mit angefaßt!“ verteidigte sich Ernst Bohlke flammend rot und schaute die Mutter herausfordernd an.
„Wat – wat!“ Mit zwei langen Schritten war sie dicht vor ihm. „Du wagst, Din Modder so antaufahre, Du schnoddernes’jer Jong, Du!“
Sie holte zum Schlage aus.
Ernst Bohlke wurde leichenblaß, duckte sich, machte schnell kehrt und verließ die Stube.
Auch Frau Therese verschwand sofort, nachdem sie noch dem Sohne ein höhnisches Auflachen nachgeschickt hatte.
Das alte Fräulein war schon vorher hinausgeschlichen. Der Rittmeister und Traude waren allein.
„Widerwärtig!“ rief Traude jetzt ziemlich laut. Sie mußte ihrem empörten Herzen Luft machen.
„Pst!“ warnte Meier. „Das Weib horcht an jeder Tür – ist stets überall.“ Er flüsterte nur. „Na – habe ich zu viel gesagt?!“ fügte er hinzu.
„Eine entsetzliche Person!“ nickte Traude.
„Hm – sie hat auch ihre guten Seiten, arbeitet für drei, steckt selbst den geriebenen Herrn Sigurd Schleimizer in die Tasche und kratzt mehr Geld zusammen als die ganzen benachbarten Agrarier es fertig kriegen! Und das will was heißen, – denn verdienen tut die Gesellschaft ja, daß sich einem vor Neid das Portemonnaie umkrempelt! – Übrigens – das Mittagessen war erstklassig, nicht?! – Ich esse nachher immer im Dorfkrug oder mause mir aus der Speisekammer ein Ende Wurst, – das heißt: aus der geheimen Speisekammer. Es gibt nämlich zwei hier. In der „offiziellen“ herrscht Öde und Leere – wie bei arme Leut’! Aber die andre, die hat’s in sich! Mein Stubenschlüssel paßt zu der Tür. Ich pumpe ihn Ihnen gern mal. Eine Sünde ist dieses Mausen keineswegs, denn –“
Da flog die Tür nach der Küche auf. Frau Therese erschien. Ihre kleinen, schwarzen Iltisaugen funkelten.
„Fräulein, zum Zeitvertreib für ’n Herrn Rittmeister dienen Sie nicht bei mir! – Abräumen! Und dann packen Sie Ihren Koffer aus. Den Koffer nehm’ ich unter Verschluß, damit mir’s nich so geht wie bei Ihrer Vorgängerin, die eines Nachts mit zwei Schinken verschwand!“
Krachend wurde die Tür zugeworfen.
Traude rührte kein Glied. Ganz hilflos schaute sie den Rittmeister an. – Ihren Koffer wollte dieses Weib wegschließen, damit – sie nicht stehlen könnte! – Das – das war denn doch mehr, als sie sich bieten lassen wollte!
Sie zitterte am ganzen Leibe. Tränen drängten sich ihr in die Augen.
Da war der Rittmeister schon neben ihr, strich ihr zart über die Hand.
„Ruhe, Ruhe!“ mahnte er. „Diese Frau kann Sie doch gar nicht beleidigen, Fräulein Traude!“ sagte er ganz leise. „Derartiges muß bei Ihnen zu einem Ohr hinein und zum andern gleich wieder hinaus – wie bei mir! Und – lächeln lernen müssen Sie über so was, innerlich lächeln! – Auf Wiedersehen!“
Er drückte ihre Finger, nickte ihr herzlich zu und ging.
Traude versuchte es mit dem Lächeln. Und siehe: es ging! – Während sie die Teller auf das große Holztablett setzte, dachte sie an Meiers unvollendet gebliebenen Satz: „Eine Sünde ist dieses Mausen keineswegs, denn –“
Was wohl sollte auf dieses „denn“ folgen?! Sie konnte dem Rittmeister nicht recht zutrauen, daß er in eine Speisekammer heimlich eindrang. Dahinter mußte etwas besonderes stecken!
– – – – – – – –
Traude hatte den Inhalt ihres Koffers in eine leere Holzkiste verstaut, die Marie ihr gebracht hatte. Um jetzt nicht müßig zu sein, wollte sie sich von Frau Bohlke neue Arbeit auftragen lassen. Sie irrte sich jedoch unten in dem langen Flur in den Türen, glaubte ins Speisezimmer – in das für den täglichen Gebrauch bestimmte zu gelangen, sah sich aber zu ihrem nicht geringen Schreck nun in einem einfenstrigen Stübchen, wo rechts ein uraltes Bett mit geblümten Vorhängen und vor dem Fenster ein Tisch stand, auf dem Frau Therese gerade auf einem Spirituskocher in einer Pfanne sich – Speckeierkuchen briet, wie Traude sofort am Geruch merkte.
Frau Bohlke war blitzschnell herumgefahren. Als sie Traude erblickte, stellte sie sich hastig vor den Spirituskocher. Ihr Gesicht verzerrte sich. Um den Mund und die Nase erschienen die weißen Flecke höchster Wut.
„Frechet Minsch – rutt, oder –“, kreischte sie, griff schon nach einem auf dem Tische gleichfalls stehenden Teller und –
Traude hatte die Tür rasch geschlossen. Krachend flog der Teller gegen die Türfüllung, zersplitterte und klirrte in Stücken auf die Dielen herab.
Bevor Traude sich noch irgendwo in Sicherheit bringen konnte, schoß das dürre Weib aus der Stube hervor, packte das junge Mädchen mit der Linken bei der Schulter und hätte wohl sicher mit der Rechten ihr ins Gesicht geschlagen, wenn Traude nicht in ihrer Angst vor diesem ganz entstellten, furienhaften Antlitz laut um Hilfe gerufen hätte, wobei ihre Stimme bei dem zweiten „Hilfe“ überschnappte und in einem durchdringenden Schrei ausklang.
Diese Szene, die sich in dem das Haus durchschneidenden Längsflur abspielte, wurde beleuchtet von der gerade über dem Haff in heller Röte untergehenden Sonne, die ihre zartroten Strahlen ungehindert durch das große Flurfenster über die beiden Frauengestalten ergoß.
Ernst Bohlke hatte gerade in der nahen Küche einen Schluck Kaffee getrunken. Kaum hörte er Traudes Stimme, als er schon vorwärtsstürmte. Er kam noch zur rechten Zeit. Er griff zu, umklammerte der Mutter erhobenen Arm, brüllte, daß nun auch der Rittmeister aus seiner Stube am anderen Ende des Ganges herbeistürzte:
„Rühr sie nicht an, sag’ ich Dir! Rühr’ sie nicht an! Sonst –!“
Mutter und Sohn maßen sich mit haßerfüllten Blicken.
Dann lachte Frau Bohlke kurz auf, ließ Traude los und – wollte mit der Linken nun den Sohn treffen. Doch der hatte aufgepaßt. Ein Griff, und er hielt auch das andere Handgelenk der Mutter fest, sagte nun mit unheimlicher Ruhe fast flüsternd:
„Du – Du! Halte Frieden! Ich warne Dich! Ich – weiß zu viel von Dir – zu viel! Du verstehst wohl!“
Ihre Augenlider schlossen sich. Die weißen Flecke aus ihrem Gesicht verschwanden. Plötzlich war dieses Antlitz dunkelrot, dabei aber noch verzerrter vor kochender Wut. Aber gerade die geschlossenen Augen waren’s, die es noch abschreckender machten. Die Phantasie konnte sich nach Belieben den Ausdruck dieser Augen vorstellen. Und die Zuschauer dieses auf dem Neufrenzhof noch nie dagewesenen Auftritts wußten, wie diese Augen jetzt aussehen mußten!
Dann hob Frau Therese die Lider – ganz allmählich. Ein Blick glitt über den Sohn und das Fräulein hin, in dem es wie teuflischer Triumph leuchtete.
„Laß mich los, Jung,“ sagte sie kurz. „Und Sie, Fräulein, – klopfen Sie das nächste Mal gefälligst bei mir an, bevor Sie eintreten.“
Ernst Bohlke hatte der Mutter Hände freigegeben.
Bevor sie aber noch in ihrem Zimmer verschwinden konnte, rief er barsch:
„Halt – Du bleibst!“
Sie wandte nur den Kopf zurück. Etwas wie Unruhe zeigte sich auf ihrem Gesicht.
„Du wirst Dich bei Fräulein Reikmer entschuldigen,“ sagte Ernst Bohlke schnell und in einem Tone, der den Rittmeister zu einem anerkennenden Kopfnicken veranlaßte. „Tust Du es nicht, so –“
Er trat einen Schritt vor, flüsterte ihr etwas zu, trat wieder zurück.
Das hagere Weib senkte den Kopf ganz tief, drehte sich langsam um und streckte Traude die Hand hin.
„Entschuldigen Sie. Ich – ich bin etwas jähzornig,“ sagte sie leise, und die Silben kamen ihr so mühsam über die Lippen, so abgehackt, daß jeder spürte, eine wie unendliche Überwindung es diese Frau kostete, sich so zu demütigen.
Dann ging sie in ihre Stube, zog die Tür leise hinter sich zu.
Der Rittmeister schritt ebenfalls pfeifend den Gang wieder hinunter. Ernst Bohlke aber nahm Traude bei der Hand und führte sie in den kalten Salon, drückte die Tür ins Schloß und flüsterte dann, indem er Traude angstvoll prüfend anschaute:
„Werden Sie jetzt – wieder abreisen?“
Er stand so, daß die Helle der Fenster sein Gesicht voll traf. Traude bemerkte, daß er den blonden Schnurrbart kürzer geschnitten hatte, so daß die Haare nicht mehr halb den Mund bedeckten. Er war auch frisch rasiert, hatte das blonde, volle Haar straffer gescheitelt und trug zu der grüngrauen, dicken Joppe einen höheren Kragen und einen dunkelgrünen Schlips mit einem goldenen Hufeisen als Nadel.
Weiter sah Traude aber auch, daß in seinen ehrlichen, großen Augen ein Ausdruck stummen Flehens lag. Wieder wurde sie sich da bewußt: Er liebt Dich! – Und diese Überzeugung stimmte sie weich und versöhnlich, ohne jedoch in ihrem Herzen irgend welche Wärme hervorzurufen, – wenigstens nicht die, auf deren Aufkeimen Ernst Bohlke vielleicht hoffen mochte. Nein – und auch dies glaubte Traude jetzt mit aller Bestimmtheit –, nein, lieben würde sie diesen guten, braven Menschen nie können – nie! Dazu haftete in ihrer Erinnerung noch zu fest der erste Eindruck. den er auf sie bei der Begegnung am Brandenburger Tor gemacht hatte. Da war er ihr doch zu sehr als halber Bauer erschienen!
Sie zögerte mit der Antwort nur deshalb, weil all diese Gedanken ihr durch den Kopf schossen.
„Also wollen Sie wirklich wieder fort,“ sagte er plötzlich ganz trostlos. „Ach – und Sie – Sie würden aus mir einen anderen Menschen –“
Sie ließ ihn nicht aussprechen. Herzlich streckte sie ihm die Hand hin.
„Nein nein – ich bleibe ja! Und – wie würde ich mich freuen, wenn Sie durch mich – Mann würden.“
Ein glückliches Lächeln umflog seinen Mund.
„Ich werde es werden, Fräulein Reikmer,“ sagte er fest, und auch seine Linke legte sich nun auf ihre Hand. So hielt er diese nun mit seinen beiden Händen umklammert, wiederholte fast feierlich: „Ich werde – Mann sein! – Der Anfang ist gemacht. Was ich heute der Mutter gegenüber wagte, hätte ich noch gestern für unmöglich gehalten. – Ich – ich danke Ihnen – so recht vom Herzen.“
Noch einen Moment stand er da, und seine Augen brannten nun in verzehrender Sehnsucht auf des Mädchens Gesicht. Dann – eilte er hinaus, als ob er vor etwas flüchte, das vielleicht stärker war als alles, was er bisher empfunden.
Traude fühlte jetzt erst, wie sehr die Szene im Flur sie angegriffen hatte. Ganz matt sank sie in einen der Seidensessel, schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen.
Sie überhörte, daß die Salontür geöffnet wurde. Erst die schrille, widerwärtige Stimme Frau Bohlkes ließ sie zusammenschrecken.
„So zimperlich – he?! Tränen! Na – wenn’s Ihnen hier nicht paßt bei mir, können Sie ja wieder weg! Aber – denken Sie man nicht, daß ich Ihnen dann die Reise ersetze! Wär’ ja noch schöner. Wenn der dumme Bengel mir so ’ne Heulliese –“
Sie verstummte plötzlich vor Traudes kühlem, geringschätzigem Blick, fuhr etwas liebenswürdiger fort: „Kommen Sie, ich hab’ Ihnen im Bureau ’n Brief zu diktier’n.“ –
Traude saß an dem großen Tisch im Bureau und hatte einen billigen leeren Briefbogen vor sich liegen. Hinter ihr schritt Frau Therese langsam auf und ab, begann nun:
„Schreiben Sie – Ort und Datum von heute. – Dann weiter:
Liebe Anna!
Bild’ Dir man nicht ein, daß ich nicht Bescheid weiß! Was auf ’nem Bauernhof, wie Ihr ihn habt, heut verdient wird, kann ich Dir auf Heller und Pfennig nachrechnen. Mein Nachbar Strehlke, der auch man 180 Morgen und wenig Vieh hat, hat seine halbe Million daheim im Kasten liegen. Und da willst Du Deiner Minna nicht mal 150 000 Mark mitgeben, wo sie noch buckelig ist? Denkst Du Dir denn, mein Ernst kriegt keine reichere?! Wenn Du mir nicht in einer Woche die Zusage schickst, daß die Minna 145 000 in Papier und 5000 in Gold und Silber mitbekommt, wird aus der Verlobung nichts. Das merk’ Dir man! Du kennst mich. So ’nen forschen Menschen wie meinen Ernst – den bring’ ich überall unter! Strehlkes Auguste hat auch ’n Auge auf ihn geworfen. Und Strehlke hat noch mehr an Gold und Silber gehamstert als wir zusammen, das kannst mir schon glauben. Also nach einer Woche, liebe Anna! Und wenn Ihr dann gleich zur Verlobung rüberkommen wollt, muß die Hälfte von dem Geld mitgebracht werden. Ich gehe stets sicher. Verlobungsringe kosten heut’ 1000 Mark, und die schmeiß’ ich nicht leichtsinnig hinaus. – Indem ich Euch herzlich grüße, wünsche ich uns ein baldiges frohes Wiedersehen. –
So – nun lesen Sie vor, Fräulein.“
Traude hatte ganz mechanisch geschrieben.
Ihre[9] Abscheu vor diesem kaltherzigen Weibe, das dergestalt den Sohn verschacherte, wuchs ins ungemessene. Sie hatte keine anderen Gedanken als nur die des Widerwillens, der dieser Frau galt, und zugleich auch solche aufrichtigen Mitleids für Ernst Bohlke.
Sie ahnte ja die Kämpfe voraus, die dieser Verlobungsplan zur Folge haben würde. Sie war überzeugt, daß der Sohn noch nicht das Geringste von alledem wußte. Und – nie würde Ernst diese bucklige Minna heiraten – nie! Er – er liebte ja eine Andere! Und wie er diese Andere liebte, hatten seine Augen heute im Salon verraten, als er so plötzlich flüchtete. –
Traude las den Brief vor. Und als sie damit zu Ende gekommen, stieß hinter ihr Frau Therese eine häßliche höhnische Lache aus, sagte nun:
„Nicht wahr, Fräulein, – das wird doch helfen! Ich kenn’ meine Kusine Anna. Geizig ist die – geizig! Aber den Ernst will sie doch zu gern zum Schwiegersohn haben. Der Jung’ ist ja auch was wert! Und dann noch später der Neufrenzhof, wenn ich mal die Augen zumache! So ein schönes Gut, schuldenfrei! Ja – da möcht’ wohl manche hier die Herrin mal spielen. Aber – hat sich was! Der Jung’ muß die Minna heiraten!“
Plötzlich kam Traude die Erkenntnis: Das Weib ahnt, daß Ernst Dich liebt! Nur deshalb diktiert sie Dir diesen Brief, damit Du Dir ja keine Hoffnungen machst!
Inzwischen hatte Frau Bohlke schon weiter gesprochen:
„Ja – ja, – er muß sie nehmen, die Minna, muß! Ob er will oder nicht! Als Kind hat er sie mal von der Schaukel heruntergeworfen, und davon hat die Minna den Buckel. Das weiß er auch, und er wird nicht so gottlos sein, das arme Mädchen nun sitzen zu lassen, mit ihrem krummen Rücken. – So – nun schreiben Sie die Adresse:
Frau Besitzer Anna Sauck
Schnellerthin bei Usedom.
– Haben Sie’s. – Gut. Sie können sich dann auf dem Hofe und in den Ställen mal umsehen, wenn Sie wollen. Nach dem Vesper sollen Sie mir hier die Steuererklärungen ausfüllen helfen.“ –
Traude atmete auf, als sie die Tür des Bureaus hinter sich zudrücken konnte. Dieses Weib rief jetzt schon bei ihr etwas wie ein Übelkeitsgefühl hervor. So groß war ihre Abneigung gegen diese rücksichtslose, brutale und herrschsüchtige Frau.
Sie ging in ihre Kammer nach oben, um den Mantel anzuziehen. Es war inzwischen schon dämmerig geworden. Sie schaltete daher die elektrische Birne ein, die an einem Stück Leitungsdraht von der Decke herabhing.
Ihr erster Blick fiel auf den Deckel der Kiste, in der nun ihre Wäsche und ihre Kleider lagen. Da stand ein Pappteller; und auf diesem lachten ihr förmlich appetitanregend ein großes Stück Dauerwurst, ein Stück kalter Braten und zwei ganz dick mit köstlicher Butter bestrichene Brötchen von schneeweißem Weizenmehl entgegen.
Ernst Bohlke! Der liebe Mensch! Nur er konnte ihr ja diesen Imbiß gespendet haben! – Und – sie hatte ja auch schon wieder Hunger, denn die dünne Wassersuppe hatte nichts vorgehalten.
Sie schaltete das Licht wieder aus, setzte sich aus ihr Bett und – aß – aß! Mein Gott – wie lange war’s her, daß sie die letzte Dauerwurst gekostet hatte, dazu noch solche – mit so großem Fettgehalt!
Da – ihre Gedanken flogen heim. Sie sparte die Wurst auf, wollte sie gelegentlich nach Hause senden. Nur den Braten vertilgte sie bis auf den letzten Rest. –
Nachher zum Vesper gab es in der Eßstube einen widerlichen Kaffeeersatz-Aufguß, schwarzes, klitschiges Brot und bittere Marmelade.
Der Rittmeister fehlte bei dieser Zwischenmahlzeit, bei der kein Wort gesprochen wurde. Frau Bohlke trank nur eine Tasse und aß nur eine halbe Schnitte. Traude wußte jetzt schon Bescheid: in ihrem Schlafzimmer würde Frau Therese sich besser sättigen – wie nach dem miserablen Mittagessen.
– – – – – – – –
Mit Sonnenuntergang war es wieder kalt geworden. Der Wind hatte nach Nordost gedreht.
Um 7 Uhr aß man zu Abend auf dem Neufrenzhof. Es gab gestampfte Kartoffeln und als Tunke dazu einen sauersüßen Brei, in dem vereinzelte Fettaugen sich zeigten.
Als man schon bei Tische saß, erschien der Rittmeister, entschuldigte sein Verspäten, wurde von Frau Bohlke unliebenswürdig angehaucht, setzte sich und erklärte mit einer Jammermiene: „Ich werde zum Arzt gehen müssen. Mein Appetit läßt hier bedenklich nach! Ich habe wieder gar keinen Hunger!“
Traude verbiß nur mühsam ein Lächeln.
Herr von Meier legte sich nur ganz wenig auf den Teller und ließ selbst das Wenige liegen, trank nur eine Tasse Gesundheitstee – Lindenblütenaufguß.
Dann wurde es draußen plötzlich laut. Marie kam und sagte:
„Die vom Wasserschutz sind da.“
Eilfertig erhob Frau Bohlke sich und holte zwei Leute in Uniform herein. Inzwischen hatte der Rittmeister Traude schon erklärt, was der Wasserschutz bedeute. Motorboote kreuzten auf dem Haff, um den Schleichhandel zu Wasser zu verhindern.
Die beiden Beamten, die ihr Motorboot unten am Haffufer am Bootsstege des Gutes vertäut hatten, nahmen Platz, und wie durch Zauberhand war der Tisch plötzlich mit allerlei guten Dingen – Wurst, Schinken, Spiegeleiern, Butter und weißem Brot – besetzt.
Merkwürdig: Herrn von Meiers Magen war mit einem Male recht gesund! Er aß für drei, und auch Traude langte ohne weiteres zu und wünschte, daß der Wasserschutz hier recht oft landen möchte.
Frau Therese schimpfte jetzt weidlich auf die Schleichhändler. Die Beamten erzählten, daß sie in der verflossenen Nacht einen Kutter abgefaßt hätten, der einen geschlachteten Ochsen an Bord hatte, dazu noch zehn Zentner Weizen. – Sie blieben, wärmten sich auch noch durch Grog gehörig auf und belachten des Rittmeisters Späße.
Ernst Bohlke war schon vor längerer Zeit hinausgegangen und nicht wiedergekehrt. Traude, der einer der Beamten allerlei plumpe Schmeicheleien sagte, erhob sich nun ebenfalls, wünschte gute Nacht und stieg die Treppe empor. Aus dem Boden war es bitter kalt; ebenso in Traudes Kammer. Sie verriegelte die Tür und entkleidete sich schnell. Die buntbezogenen Betten stießen sie ab. Aber sie überwand sich und schlüpfte nun unter das Zudeck.
Ah – wie behaglich warm war das Bett! Und – zu Füßen lag eine große heiße Wärmkruke.
Ernst Bohlke – nur er konnte so für sie gesorgt haben! – Traude wurde ganz gerührt von so viel liebevoller Aufmerksamkeit. Der gute, liebe Mensch! Geradezu brüderlich – nein doch wohl anders! – dachte er stets nur an sie!
Traude konnte nicht einschlafen. So unendlich viel ging ihr durch den Kopf. Es war ja die erste Nacht unter diesem Dach! Was würde sie wohl träumen? Denn diese Träume sollten ja in Erfüllung gehen. – Ihr Denken eilte aber doch sehr bald zu den beiden Männern hin, die ihr hier in so seltsamer Weise nähergetreten waren: der Rittmeister und Ernst Bohlke! – Und – abermals grübelte Traude nun darüber nach, wo sie nur diesem Herrn von Meier schon begegnet sein könne, – wieder umsonst! Sie besann sich nicht, fand auch keinen Anhalt, um auch nur auf irgend eine Vermutung zu kommen. – Diese beiden Männer! So grundverschieden: hier der elegante Weltmann mit dem nachlässig-sicheren Auftreten, dort der arme, bisher so unfreie, bescheidene und unbeholfene Ernst Bohlke! – Aber – beide hatten Herz, Gemüt! Und Ernst Bohlke – liebte sie!
Sie träumte. Und dann fuhr sie plötzlich bebend vor Grauen empor.
Irgendwoher, kaum noch vernehmbar, war ein entsetzliches Kreischen, Jammern und Stöhnen an ihr Ohr gedrungen. Nicht durch diese Laute war sie wieder munter geworden. Nein – diese schwer zu beschreibende Reihe von Tönen hatte in ihrem Hirn ein schreckliches Traumgesicht erzeugt. Erst hatte sie sie nur wie etwas Unwirkliches mit schlafumfangenem Geiste vernommen. Jetzt aber, wo sie aufrecht im Bett saß und mit angespannten Sinnen horchte, wo diese fürchterlichen Klagelaute sich abermals hören ließen, wo sie aus allen Winkeln der dunklen Kammer hervorzudringen schienen, überliefen das geängstigte Mädchen Eisesschauer eines nie gekannten Entsetzens.
So unheimlich still. Nur der Frostwind fegte durch die knarrenden Äste der Linden vor dem Hause, und in dem Holze des Schemels tickte der unermüdliche Totenwurm.
Traude begann zu frieren. Es war so kalt hier, so bitter kalt. Sie streckte sich wieder aus, zog das Zudeck ganz hoch.
Nicht lange währte diese ebenso peinvolle Stille. Jetzt abermals dieses Kreischen und Jammern, dann ein schriller Schrei, ausklingend in Tönen wie das Wimmern eines Kindes.
Traude sprang aus dem Bett. Sie hielt es hier allein nicht aus; sie glaubte jetzt erkannt zu haben, daß die Töne von unten aus dem Hause kämen; ihre überreizte Phantasie malte ihr etwas Grauenvolles aus –: vielleicht wurde Ernst Bohlke ermordet – oder seine Mutter; Überfälle auf Gutshäuser ereigneten sich jetzt ja so häufig.
An allen Gliedern zitternd tastete sie nach dem Lichtschalter, kleidete sich notdürftig an, zog den Mantel über, schlüpfte in die weichen Morgenschuhe, verließ die Kammer, schlich nach der Treppe hin. Da – gerade als sie die Diele erreicht hatte, von neuem diese furchtbaren Töne; jetzt aber deutlicher, lauter.
Dann – nichts mehr. Lähmend fast wirkte die Stille ringsum. Traude vermochte sich nicht zu rühren.
Plötzlich – ja – da wurde von außen ein Schlüssel in die Haustür geschoben – sehr leise. Nun knarrte die Tür, nun schoß ein weißer Lichtkegel durch die Finsternis, beschrieb schnell einen Bogen und beleuchtete das Türschloß. Undeutlich erkannte Traude eine schlanke Männergestalt, sah eine in einem Pelzhandschuh steckende Hand, die den Hausschlüssel in das Schlüsselloch schob.
Ah – der Rittmeister!
Sie flog auf ihn zu. Er vernahm das Rauschen ihrer Röcke, drehte sich um …
Gerade da begannen wieder die entsetzlichen Töne. Und geisterbleich stand Traude vor dem Überraschten, brachte kaum verständlich über die Lippen:
„Ich – ich hatte so wahnsinnige Angst da oben allein. Mein Gott, was bedeuten –“
Er hatte schon den Arm um sie gelegt, stützte sie und drückte sie sanft an sich.
„Mein armes Kind,“ sagte er schnell, „Sie ängstigen sich so grundlos!“
Traude begann zu schluchzen. Ach – sie fühlte sich jetzt so geborgen hier, so sehr geborgen, – an seiner Brust.
Er merkte, wie ihr Körper hin und her flog.
„Kommen Sie,“ meinte er so gütig wie ein treusorgender Vater. Und er führte sie in den langen Flur, schloß eine Tür auf, schaltete das Licht ein, geleitete sie weiter zu einem Klubsessel, drückte sie hinein und sagte: „So – nun erholen Sie sich hier erst mal von dem Schreck.“
Er nahm ihre Hände und streichelte sie.
„Wenn Sie erst wissen, was diese Töne bedeuten, werden Sie vielleicht lächeln, Fräulein Reikmer,“ fuhr er fort. „Die Sache ist nämlich die, Frau Bohlke weiß jetzt ganz genau, daß das Motorboot des Wasserschutzes drüben am anderen Haffufer auf der Lauer liegt. Und deshalb findet heute hier im Keller großes – Schweineschlachten statt. Die gemordeten Borstentiere bringt Frau Bohlke dann persönlich in ihrem Kutter irgendwohin, wo der Schleichhändler wartet. Die grausigen Laute sind also die Todesschreie armer Borstentiere. Mich selbst vermutet Frau Therese noch im Dorfkrug beim Skat. Ich kehre sonst nie vor 2 Uhr morgens heim. Na – von mir hat sie keinen Verrat zu fürchten. Ich bin hier Gast im Hanse!“
Er gab ihre Hände frei, holte eine Flasche Sherry und ein Glas und schenkte ihr ein.
„Da – trinken Sie!“
Sie tat’s. Und dann schaute sie dankbar zu ihm auf, atmete tief und ruhig, lächelte ein wenig und sagte verlegen:
„Ich habe mich wirklich entsetzlich geängstigt.“
„Sehr verständlich. – Da – bitte, noch ein Glas! Sie müssen, Fräulein Reikmer! Oder – es holt Sie der Deubel! – Das war ein Lieblingsausdruck Ihres Herrn Vaters!“
Da kam Traude plötzlich die Erleuchtung: der Vater hat hin und wieder aus seinem Etappenort Liebhaberphotographien geschickt. Und auf den meisten dieser Gruppenaufnahmen war auch der lange Rittmeister mit der Hakennase deutlich zu erkennen gewesen.
Nun gab auch Herr von Meier das Versteckspiel auf.
„Ich wußte sehr bald, Fräulein Reikmer, daß Sie die Tochter des Majors Reikmer waren – sehr bald! Ihr Herr Vater hatte in der Etappe auch Ihr Bild in seinem Zimmer. Ich war sieben Monate lang nach meinen Salon-Beinschuß sein Nachbar als Etappenonkel. Daher unsere Bekanntschaft.“
Traude hatte sich inzwischen in dem zweifenstrigen Zimmer umgeschaut. Sie sah sofort, daß dies Möbel, Bilder, Bronzen und anderes nur Eigentum des Rittmeisters sein konnten. Vor ihr auf dem Sofatische stand ein wundervoller, geschnitzter Elfenbeinrahmen mit dem Kabinettbilde einer sehr elegant gekleideten Dame.
Unwillkürlich hafteten ihre Blicke jetzt abermals auf dieser Photographie.
Der Rittmeister hatte Traude beobachtet.
„Meine Braut, meine heimliche Braut,“ sagte er leise. „Die Eltern – der Vater ist Geheimer Kommerzienrat – haben den sogenannten Offizierskoller, wollen von dem Rittmeister von Meier-Meiersberg als Schwiegersohn nichts wissen. Nach einem Jahr ist Dita mündig. Dann kaufe ich mir eine winzige Bauernklitsche, wir heiraten und – werden sehr glücklich sein.“
Traude wurde plötzlich klar, daß sie unmöglich noch länger hier im Zimmer des Junggesellen bleiben dürfe. Aber – noch etwas anderes trieb sie so eilig fort: die Scham! – Sie schämte sich vor sich selbst, daß sie so voreilig in dem Rittmeister einen vielleicht ernsthaften Bewerber gesehen hatte, lediglich zu diesen Gedanken verführt durch seine kameradschaftlich-scherzhafte Art, die sie ganz anders gedeutet hatte. Und gleichzeitig wurde ihr auch klar, daß Ernst Bohlke lediglich deshalb ihr auch hier auf seinem eigenen Grund und Boden so unbedeutend erschienen war – so wenig herrenmäßig und so ungewandt, weil er gerade diesen besonderen Typ von einem eleganten Gesellschaftsmenschen, eben den Herrn von Meier, sozusagen als stete Aufforderung zum Vergleichen neben sich gehabt hatte.
Traude erhob sich etwas hastig, dankte dem Rittmeister für seine liebenswürdige und herzliche Fürsorge, reichte ihm die Hand und schritt zur Tür.
„Bitte, nehmen Sie meine Taschenlampe mit,“ sagte er, als sie die Tür schon halb geöffnet hatte. „Begleiten möchte ich Sie nicht. Es könnte uns jemand sehen, und – böse Zungen gibt es überall.“
Traude fand so beim Scheine der kleinen Glühbirne ganz leicht und schnell in ihre Kammer zurück. Im Hause war jetzt jedes Geräusch verstummt. – Ihr Bett war eisig. Aber die beiden Gläser Sherry wirkten noch und halfen mit, daß sie sich bald wieder erwärmte. Der Schlaf jedoch wollte und wollte nicht kommen. Traude hatte ja auch wieder so viel Neues zu überdenken: daß der Rittmeister verlobt war, daß er ihren Vater gekannt hatte.
Ach – wie gelassen hatte Herr von Meyer nur gesagt:
„Dann kaufe ich eine kleine Bauernklitsche, und wir heiraten und – werden sehr glücklich sein!“
Also – Bauer wollte er werden! Und er nahm es so ganz für gewiß an, daß seine Braut als verwöhntes Kommerzienratstöchterchen sich in die Rolle der Bäuerin ohne weiters hineinfinden würde!
Wie überzeugt mußte er da wohl von der Größe der Liebe seiner Verlobten sein!
Und dann irrten Traudes Gedanken jetzt fast scheu zu Ernst Bohlke hin. Ihr kam nun so recht zum Bewußtsein, wie sehr sie leider noch immer an Äußerlichkeiten hing! Ja – nur weil dieser gute, liebe Mensch kein fertiger Kavalier war, hatte sie über all seine vortrefflichen Charaktereigenschaften hinweggesehen. Wie kläglich war das von ihr! Als ob ein gewandtes Benehmen den Menschen ausmachte! Gewiß – es gehörte wohl zu einem Manne, der gezwungen war, viel mit anderen Leuten zu verkehren; es verlieh fraglos ein Gefühl der Sicherheit und stärkte das Selbstbewußtsein. Aber – mit dem inneren Gehalt eines Menschen hatte es doch nichts zu tun.
So dachte Traude jetzt. Und sah plötzlich diesen scheinbar so schüchternen Ernst Bohlke vor sich, wie er seiner Mutter Handgelenke umklammert hielt und ihr die versteckte Drohung zurief!
Nein – dieser Mann war kein – kein Waschlappen! Der war nur durch jahrelange Tyrannei langsam zu einer Sklavennatur herabgedrückt worden. Der würde sich zurückfinden zu seinem wahren Wesenskern, wenn er jemand neben sich wußte, um den es wert war, diese Fesseln mit Gewalt zu brechen!
Meine Mission! dachte Traude abermals. Und fühlte plötzlich im Herzen linde Wärme – wie Frühlingswind, der die welken Blätter von den ersten zarten Blümlein, Anemonen und Schneeglöckchen, wegweht und sie so dem freudig staunenden Auge enthüllt.
Und das, was Traude jetzt im eigenen Herzen an Frühlingsblüten sah, war die erste – erste weiche bräutliche Sehnsucht nach der Liebe eines guten, braven Menschen.
– – – – – – – –
Vier Tage drauf schrieb Traude ihrer Mutter einen Brief, den ihr der Rittmeister im Dorfe in den Kasten warf, da er sie gewarnt hatte, die Briefe durch das Hausmädchen Marie dorthin tragen zu lassen.
„Marie hat eine hündische Angst vor unsrer Jnädigen,“ hatte er gesagt. „Und unsere Jnädige könnte ihr befohlen haben, die Briefe ihr erst auszuhändigen. Ja – die Frau tut vieles, was strafbar ist!“
In diesem Briefe hatte unter anderem folgendes gestanden:
„– Frau Bohlke läßt mich ihre Abneigung jetzt in der Weise fühlen, daß sie mir die niedrigsten Arbeiten aufträgt. Ich darf auch nicht mehr mit am Tische essen, sondern „speise“ jetzt zusammen mit Marie in der Küche. Marie ist ein harmloses, gutmütiges Ding. Ihre Angst vor der „Jnädigen“, wie v. Meier stets sich ausdrückt, ist unglaublich. Als ich sie mal fragte, weshalb sie denn diesen Dienst nicht verließe, erklärte sie, ihr Vater schulde Frau Bohlke Geld, und diese Summe müßte sie nun „abdienen“ – Ihr, meine Lieben, werdet Euch nun ein ziemlich vollständiges Bild von „meiner Herrin“ zusammenstellen können. Sie hat nur ein Gutes: Sie ist ungeheuer fleißig und klug, was den landwirtschaftlichen Betrieb angeht. – Aber auch dieser Fleiß und dieses „Agrarier-Talent“ dienen ihr leider nur dazu, ihrem[10] Geiz und ihrer Geldgier zu frönen. Übrigens macht sie es, wie es nach des Rittmeisters Behauptung die meisten Landwirte bescheideneren Schlages tun: sie verzichtet auf Zinsertrag des leicht verdienten Geldes und verwahrt Kassenscheine in ganzen Bündeln in einem Kasten auf, den sie sich offenbar eigenhändig in ihre Bettmatratze eingebaut hat. Ich bin ganz zufällig hinter dieses Geheimnis gekommen. Ich mußte ihre Schlafstube scheuern (wo sie stets ihre „Fettmahlzeiten“ einnimmt!) und blieb mit dem Scheuerlappen unter dem Bett an einem Nagelkopf der Dielen hängen. Da der Lappen anders nicht loszubekommen war, kroch ich halb unter das Bett, stieß mit dem Hinterkopf dann gegen etwas Hartes, hob es von seinen Stützen und – plumps – da lag ein Holzkistchen auf dem Fußboden, das nur mit einem kleinen Eisenhaken verschlossen gewesen war! In dem Kistchen aber waren, wie gesagt, Pakete von Banknoten verstaut. Ich brachte diesen merkwürdigen „Tresor“ mit Mühe wieder in der Matratze an der alten Stelle unter und dankte meinem Schöpfer, daß Frau Therese mich hierbei nicht überraschte! – Mit Ernst Bohlke komme ich selten zusammen. Ich merke, daß die Jnädige ihm dauernd auflauert und achtgibt, daß wir nicht miteinander sprechen. Deshalb nur schickt sie ihn jetzt so oft mit dem Wagen bald hierhin, bald dorthin, deshalb darf ich nicht mehr mit am gemeinsamen Tisch essen und habe lediglich noch Marie als Gesellschaft. Doch – Ernst Bohlke ist schlauer als die Jnädige ahnt! Wenn ich jetzt morgens die Schweine füttere, dann wartet er zumeist schon im Stall auf mich, während seine Mutter ihn bereits beim Stubbenroden im Walde vermutet. Er hat sich übrigens in ganz kurzem merkwürdig verändert – innerlich und äußerlich. Ich glaube fast, Meier gibt ihm „Anstandsstunden“. Bitte – lächelt nicht darüber. Dieser liebe Mensch will eben nachholen, was er einst – nicht durch seine Schuld! – versäumte. Mit seiner Mutter wechselt er kaum mehr ein Wort. Gestern sagte er mir, daß er jede weitere Teilnahme an Schleichgeschäften abgelehnt habe. Auch damals, als die sechs frisch geschlachteten Schweine über das Haff verschoben wurden, hat nur der Jnädigen intimster Vertrauter, und das ist ein alter, finsterer H[ausmeist]er[11] namens Repke, dabei geholfen. Marie war damals nachts zu ihren Eltern geschickt worden, wie sie mir in aller Unschuld erzählte. Die Jnädige ist eben sehr vorsichtig – sehr! Mich fragte sie am anderen Morgen, ob ich gut geschlafen hätte. Ich log und behauptete, ich sei nicht ein einziges Mal aufgewacht – Ja – ich erlebe hier so manches! – Leider kann ich aber auf Deine Frage, liebes Muttchen, ob denn „hier für mich keine Aussichten vorhanden wären,“ nur mit der Dich sicher enttäuschenden Erklärung antworten, daß der gute, brave Ernst, der mich noch immer mit nahrhaften Dingen und Wärmflaschen als stets aufmerksames Heinzelmännchen versieht, kaum den Mut haben wird, sich mir zu nähern, da er ja von seiner Mutter völlig abhängig ist. Das Testament seines Vaters ist so verklausuliert, daß er bis zum Tode seiner Mutter hier auf dem Neufrenzhof fast Knecht spielen muß. Er weiß also, daß er mir keine Zukunft zu bieten hat, und wird schweigen. Vorgestern im Stall konnte er nur schwer seine Bitterkeit über dieses Testament verheimlichen.
„Wenn der Wisch Papier nicht wäre!“ stieß er hervor. „Dann, Fräulein Traude, dann –!“
Und er schaute mich wieder so – so an, wie ein so recht – Doch nein, das will ich für mich behalten. – Gespannt bin ich nur, wie das von Frau Therese geplante „Verlobungsgeschäft“ enden wird. Bisher hat sie Ernst davon nichts gesagt. Ich tippte mal ganz vorsichtig bei ihm an, ob er denn noch nähere Verwandte hätte – und so weiter. Da erwähnte er auch die Frau Anna Sauck und kritisierte sie als ein herzloses Weib, die ihre einzige Tochter Minna ganz in ihrem Geiste erzogen hätte. Dann sprach er ebenso gleichgültig auch von anderen Verwandten.
Ich muß jetzt schließen, meine Lieben. Ich schreibe am Küchentisch bei der Küchenlampe, während in den drei Prunkräumen die heute morgen geheizt wurden, die Viehankaufskommission für die Entente in Schinken usw. und in Rotwein schwelgt. Die Jnädige hat die Herren wieder mächtig bemogelt, wie mir der Rittmeister vorhin zuflüsterte. Sie hat heimlich drei entsetzlich magere Milchkühe letztens gekauft und diese anstelle unserer drei besten Kühe in den Stall gestellt. Die drei Prachtexemplare wurden auf dem Felde in einem hohlen Strohstaken versteckt. Dieser Betrug schadet nichts, denn diese Kuhablieferung an die Entente ist ja mit die größte Gemeinheit, die die Herren Sieger sich ausgedacht haben. – Gute Nacht! Ich bin hundemüde, aber kreuzfidel! Das Paket habt Ihr hoffentlich erhalten. Ich habe den Inhalt Ernst Bohlke bezahlt. Geschenkt nehme ich nichts. Morgen will er zwei Pfund Butter und Eier schicken, der liebe Mensch. Wohl bekomm’s! – In alter Liebe grüßt Euch Eure Traude.
Nachschrift. Daß Willi Mamas goldene Uhr aus dem Schubfach genommen hat, wie Else argwöhnt, kann ich nicht glauben. Vielleicht hast Du die Uhr nur verlegt, Muttchen. Wie tief müßte Willichen gesunken sein, wenn er die eigene Mutter bestiehlt!“ –
Zwei Tage drauf – Traude fing den Briefträger immer schon auf dem Hofe ab – erhielt sie von Else folgende Antwort:
„Liebe alte Traude! Ich bewundere Dich! Wie hältst Du dieses Leben nur aus?! Du warst doch mehr als Sekretärin denn als Stallmagd gemietet. – Ich schreibe heute ohne Mamas Wissen. Willi hat die Uhr bestimmt gestohlen. Auch meine goldene Brosche fehlt, ebenso Papas Uhrkette, die Muttchen doch so gut versteckt hatte. Muttchen will noch immer nicht einsehen, daß an diesem verkommenen Menschen kein gutes Haar ist! Deinen Brief von vorgestern hat er fraglos vorher heimlich geöffnet gehabt, wieder zugeklebt und wieder draußen in den Türbriefkasten geworfen. Wer weiß, was wir an dem Bruder – meine Feder sträubt sich, diese Bezeichnung Bruder zu schreiben! – noch erleben werden! – Ach Traude – wie unendlich würde ich mich freuen, wenn aus Ernst und Dir ein Paar würde! Ich lese ja genug zwischen den Zeilen! Gib nur ruhig zu: er ist Dir nicht gleichgültig. Weshalb willst Du vor uns so tun, als empfändest Du nichts für ihn?! Meinst Du, ich würde mich daran stoßen, daß ich einen Schwager bekäme, der nicht dauernd mit „gnä’jes Fräulein“ herumwirft und der keine tadellosen Verbeugungen zu machen weiß?! Schäfchen – wenn ich einem Manne so recht von Herzen gut wäre, könnte er Holzpantinen tragen –“ –
Das Thema Ernst Bohlke nahm in diesem Briefe noch anderthalb Seiten ein. Traude mußte lächeln. Diese Else! Die schien sich hier ja einen Kuppelpelz verdienen zu wollen! –
Auch diesen Brief verbrannte Traude dann sofort. Sie besaß ja kein Behältnis, das vor Frau Theresens Spioniersucht sicher gewesen wäre. –
Und wieder vergingen fünf Tage. Seit gestern ging Frau Bohlke im Hause mit einem merkwürdig schadenfroh-strahlenden Gesicht herum. Heute – es war Sonnabend morgen[12] – kam sie in die Küche, als Traude gerade aus dem großen Kessel die Eimer mit dem Schweinefutter füllte.
„Heizen Sie sofort die drei Vorderzimmer, Fräulein!“ befahl sie im gewöhnlichen Kreischton, fügte dann aber plötzlich sehr süßlich-vertraulich hinzu: „Denken Sie, Fräulein, meine Verwandten, Mutter und Tochter Sauck, kommen nun doch abends zum Besuch und bleiben bis Montag. Wir werden ihnen die Eßstube als Fremdenzimmer einräumen. Morgen wird dann Verlobung gefeiert werden.“
Traude sah die tückischen, kleinen schwarzen Augen in haßerfülltem Triumph auf sich gerichtet. Sie merkte: dieses Weib hoffte, daß sie sich irgendwie verraten und Schreck oder Enttäuschung zeigen würde.
Sie tat ihr den Gefallen nicht, sagte nur: „Gut, Frau Bohlke, ich werde die Eßstube nachmittags herrichten. Bitte geben Sie nur die nötige Bettwäsche heraus.“
Dann ging sie mit den Eimern nach dem Stall, hörte noch hinter sich das höhnische Auflachen der Haustyrannin vom Neufrenzhof.
Heute erwartete Ernst sie nicht im Stall. Und sie hätte doch so gern gewußt, ob Frau Bohlke ihm nun etwas von diesem Heiratsprojekt mitgeteilt hätte. Nur der Rittmeister erschien heute ganz unerwartet neben ihr, nahm ihr den einen Eimer ab und goß den Inhalt in den Trog.
„Sie haben Energie!“ sagte er herzlich-anerkennend. „Aber – wie soll das hier mal enden, Fräulein Traudchen? Weshalb nehmen Sie all diese Demütigungen auf sich – so tapfer auf sich?! – Ich darf doch ganz ehrlich sein, nicht wahr? Ich bin doch Ihr Freund. Sehen Sie, Fräulein Traude, Sie haben –“
Da – hinter ihnen die schrille Stimme Frau Bohlkes:
„Sie sollen die Zimmer heizen, Fräulein, und sich hier nicht –“ Sie wollte fraglos eine gemeine Redewendung gebrauchen, verstummte aber, als der Rittmeister schnell auf sie zutrat und rief nun diesem zu:
„Sie haben wohl nichts zu tun?! Sie sollten doch die eine Kartoffelmiete öffnen lassen!“
„Weiß ich, liebe Frau Bohlke! Weiß ich sehr gut! Nur allein kann ich’s nicht. Von den Leuten ist keiner hier. Und Ernst ist nach Wollin unterwegs.“
„Marie soll Ihnen helfen!“ Damit drehte sie sich um und verschwand wieder.
Der Rittmeister flüsterte Traude noch schnell zu:
„Kommen Sie abends zu mir, wenn alles schläft. Ich muß Sie mal ungestört sprechen.“
Traude hauchte ein Ja, und dann eilte sie mit den leeren Eimern dem Hause zu. –
Gegen sechs Uhr kamen die beiden Saucks im eigenen Fuhrwerk an.
Traude war mit Recht neugierig auf diese Minna Sauck, an deren Rückgratverkrümmung Ernst schuld sein sollte. Nun – ein einziger Blick im strahlend hellen Salon genügte Traude dann, diesen Heiratsplan noch schärfer zu verurteilen als bisher, wobei sie ihre eigenen Gefühle für Ernst Bohlke ganz ausschaltete. Minna Sauck war nur wenig verwachsen, hatte aber ein so verschlagenes, verkniffenes Gesicht, das jedem unsympathisch sein mußte. Ihre Stimme war heiser, und ihr Benehmen so linkisch und dabei wieder so geziert, daß sie ebenso albern wie abstoßend wirkte.
Ernst Bohlke kehrte von Wollin erst eine Stunde später heim. Er begegnete Traude auf der Diele, wo die Mäntel, Tücher und Hüte der Gäste hingen. Er drückte Traude schnell die Hand und schaute sie glücklich an.
„Besuch?“ fragte er dann.
„Ja – Saucks aus Schnellerthin,“ erwiderte Traude ernst. Sie konnte jetzt nicht länger schweigen. Überhastet erzählte sie, weshalb Saucks hier erschienen seien. Als sie erwähnte, daß Frau Bohlke ihm die Schuld an der körperlichen Verunstaltung Minna Saucks beimesse, rief er ganz verstört:
„Und das – das soll ich so – so büßen!“
Dann stürmte er wie von Sinnen in sein Zimmer, das neben der Eßstube lag.
Traude kämpfte mit Tränen. Eine namenlose Angst packte sie plötzlich, daß Ernst Bohlke aus falsch verstandenem Pflicht- und Ehrgefühl womöglich den Wünschen der Mutter nachgeben könnte. In diesem Moment erst wurde sie sich so recht bewußt, wie rasch in ihrem Herzen eine völlige Wandlung vor sich gegangen war. Das, was sie noch vor kurzem weit von sich gewiesen, stand nun groß und klar in ihrer Seele: Die Erkenntnis, daß die Liebe, die vielleicht erst nur auf dem Boden der Dankbarkeit aufgekeimt war, bereits zur – Leidenschaft geworden!
Nein – nein! schrie eine Stimme überlaut in ihrem Herzen – nein – niemals darf Ernst diesen törichten Schritt tun – niemals! Du wirst dies verhindern! Du wirst ihm sagen. daß Du ihn liebst, daß ihr beide arbeiten wollt von früh bis spät an einer gemeinsamen, noch so bescheidenen Zukunft!
Ihre Angst schwand wieder, als sie sich zu diesem Entschluß durchgerungen hatte. Ganz heiter und zuversichtlich wurde sie.
Aber – sie fand an diesem Abend keine Gelegenheit mehr, sich mit Ernst auszusprechen. –
Gegen elf Uhr war’s still im Hause. Da kleidete sie sich wieder an, nahm des Rittmeisters Taschenlampe und huschte die Treppe hinab in sein Zimmer.
Er hatte sie erwartet, riegelte hinter ihr ab, flüsterte, nachdem sie im Sessel Platz genommen hatte, wobei er ihre Rechte zwischen seinen Händen sanft drückte:
„Fräulein Traudchen, – ich will mich kurz fassen. – Wissen Sie auch, daß Sie den armen Menschen, den Ernst, nun ganz – ganz unglücklich gemacht haben?! Bevor er Sie kannte, lebte er wie der Vogel im Käfig, der nie die Freiheit draußen – die grünen Bäume und Sträucher, die Sonne und den Himmel – und auch nie ein – Weibchen gesehen hatte, dem er seine unbewußten Sehnsuchtslieder widmen konnte. Dann aber – wurde der arme Vogel sich bewußt, daß es noch ein Besseres auf der Welt gab als seinen Käfig! Und – er wurde unzufrieden, begehrte auf und suchte hinauszukommen aus seinem Gefängnis – hinaus zu dem kleinen Vogelweibchen, das da draußen am Fenster sich zeigte und ihm zurief: „Das Dasein kann ja so viel inhaltreicher sein – kann!“ Aber all sein Mühen war umsonst: seine Sehnsucht war zwecklos. Er blieb ein Gefangener. Aber er war jetzt verbittert, – er hatte eben von fern einen Glücksschimmer gesehen und – ihn doch nicht erhaschen können!“
Traude hatte erst den Kopf gesenkt gehalten, hatte ihn dann aber langsam gehoben und den Rittmeister so fest angeblickt, daß dieser allmählich immer unsicherer sprach.
Als er nun schwieg, flog über Traudes Gesicht ein Lächeln.
„Ihr Vergleich von den beiden Vögelein stimmt nicht ganz,“ sagte sie mit einem schalkhaften und doch halb verschämten Aufstrahlen ihrer klaren, ehrlichen Augen. „Sie glauben, ich hätte Ernst Bohlke, ohne die Folgen zu überdenken, durch mein Erscheinen hier auf dem Neufrenzhof wachgerüttelt und würde ihn nun wieder nachher – allein lassen. Sie irren, lieber Rittmeister. Ich – werde Ernst Bohlke volle Freiheit bringen – durch meine Liebe.“
Er beugte sich ganz tief.
„Traude – wirklich, Sie lieben ihn?“ fragte er in so freudigem Tone, daß Traude ebenso freudig nickte und erwiderte:
„Ja – ich liebe ihn!“
„Kind – Kind, dann – ja, was sage ich denn jetzt nur schnell vor Rührung, vor Überraschung, vor – Ach was – einen Kuß kriegen Sie – auf die Stirn!“
Und er nahm ihren Kopf in seine Hände, küßte sie, flüsterte dann weiter: „Fräulein Traudchen, der Ernst ist eine Seele von Mensch! Er verdient Ihre Liebe! Ich konnte ja aus Ihnen und Ihren Gefühlen bisher nicht recht klug werden. – Tatsache: ich bin jetzt beinahe ebenso glücklich, wie Ernst es sein wird, wenn er Ihnen den ersten Kuß – anderswohin verabfolgen darf! Ich möchte –“
Er schwieg plötzlich, hob warnend die Hand, hauchte:
„Ein Geräusch im Flur!“
Dann drehte er schnell das Licht aus. Dunkelheit umgab sie beide. Und sie lauschten angespannt: Traude mit jagendem Herzen.
Und ihr fiel mit einem Male schwer auf die Seele, wie falsch dieser nächtliche Besuch bei dem Rittmeister gedeutet werden könnte, falls jemand merkte, daß sie bei ihm war.
Wenn Frau Bohlke draußen an der Tür gelauscht hatte, wenn sie Ernst nachher hohngeschwollen mitteilte, daß „das Fräulein“ mit dem Rittmeister „was vorhabe“, dann – dann –
„Ich werde mich doch wohl getäuscht haben,“ flüsterte der Rittmeister da. „Gute Nacht, Traudchen. Es ist besser, wir dehnen dieses Beisammensein nicht länger aus. – Meine Taschenlampe haben Sie doch noch bei sich. – Gute Nacht.“
Er schaltete das Licht wieder ein. Dann öffnete er ganz vorsichtig die Tür, lauschte nochmals in den Flur hinaus und ließ Traude an sich vorüber.
Der Lichtschein, der aus des Rittmeisters Tür in den Hausgang fiel, erlosch. Die Tür war wieder geschlossen worden, und Traude war allein mit ihrer plötzlich erwachten Angst vor irgend etwas, das sie erschrecken könnte. Sie wußte selbst nicht, woher diese Angst so schnell zu einem Gefühl ähnlich dem sich steigerte, das sie damals durchgemacht, als sie zum ersten Male bei Herrn von Meier Zuflucht suchte.
Sie schaltete mit bebenden Händen die Taschenleuchte ein. Der scharfe Kontrast zwischen dem dünnen weißen Lichtkegel und dem ringsum lauernden Dunkel ängstigte sie noch mehr. Nur zögernd schritt sie weiter. Überall glaubte sie schemenhafte Gestalten zu sehen.
Jetzt bog sie auf die Diele ein. Der Lichtschein glitt über einen Menschen hin, der regungslos am Treppengeländer lehnte.
Es war Ernst Bohlke.
– – – – – – – –
Traude fuhr zurück. Blitzschnell wurde ihr klar, daß Ernst diese Begegnung absichtlich herbeigeführt hätte, daß er es gewesen, den der Rittmeister soeben im Flur vor seiner Tür gehört hatte, und daß Ernst vielleicht ihrem Besuch bei Herrn von Meier eine ganz andere Deutung geben würde.
Hier hieß es, sofort jeden falschen Verdacht bei ihm zerstreuen, sagte sich Traude und raffte all ihre Energie zusammen, um ihre Verwirrung zu unterdrücken und recht harmlos zu erscheinen. Ihr gutes Gewissen half ihr. Nur Sekunden hatte ihr verlegenes, scheues Stutzen gedauert. Dann ging sie ruhig auf ihn zu, ließ den Lichtkegel auf sein Gesicht fallen und flüsterte:
„Sie haben mich hier erwartet. Ich weiß es. Sie könnten nun leicht zu einer völlig falschen Vermutung kommen, was den Grund meiner Anwesenheit bei dem Rittmeister anbetrifft. Herr von Meier ist ein Kriegskamerad meines Vaters. Er hatte mich gebeten, ihn zu besuchen, damit wir in Ruhe etwas durchsprechen könnten, was Ihre Person angeht.“
Sie wollte noch mehr hinzufügen. Aber ihre Zunge gehorchte ihr nicht mehr. Sie hatte jetzt sein Gesicht gesehen, und dieses Gesicht war erdfahl und geradezu entstellt durch einen Ausdruck des Schmerzes, der Verachtung und unsäglicher Geringschätzung. – Ihre Worte hatten keinerlei Eindruck auf ihn gemacht. Sonst hätte sich diese Verzerrung dieses farblosen Antlitzes mildern müssen.
Dann stieß er auch schon rauh hervor: „Über mich haben Sie beide gesprochen?! Über mich?! Wohl ausgelacht haben Sie mich Narren, der – sein Herzblut für – das Liebchen eines Anderen hingegeben hätte!“
Traude merkte, daß er vor Eifersucht kaum mehr wußte. was er sprach. Sie war durch diese häßliche Beschuldigung nicht im geringsten verletzt. Sie konnte sich sehr gut in seinen Seelenzustand hineinversetzen. Er tat ihr namenlos leid. Und aus diesem innigen Gefühl des Mitleids heraus tastete sie nun mit der Rechten nach seiner Hand, flüsterte:
„Ernst, ich bitte Sie herzlich, gewähren Sie mir eine Aussprache in Ihrem Zimmer – sofort! Ich muß auch mit Ihnen ungestört reden können! Ernst – bedenken Sie, daß – unser Glück davon abhängt.“
„Unser Glück?“ meinte er bitter. „Und – soeben sah ich durch das Schlüsselloch, daß der Rittmeister Sie – küßte!“
„Gut – dann also morgen, Ernst! Und dann wird Ihnen Herr von Meier auf sein Ehrenwort –“
Irgendwo in der Nähe wurde da anscheinend ein Fenster klirrend zugezogen. – Beide schraken zusammen.
„Licht aus!“ flüsterte Ernst Bohlke schnell und zog Traude dann eilig mit sich fort – hinein in sein dunkles Zimmer, das der Schlafstube seiner Mutter schräg gegenüberlag.
Er drückte die Tür ins Schloß, drehte den Schlüssel um und deckte sein Taschentuch über das Schloß. Dann erst schaltete er die Stehlampe auf seinem rot-braunen Fichtenschreibtisch ein, die mit ihrer grünen Glocke nur die nächste Umgebung erleuchtete.
Er wandte sich Traude zu, die mitten in dem kleinen Stübchen abwartend stehen geblieben war. Er sprach kühl und förmlich.
„Bitte, setzen Sie sich. Es muß noch jemand im Hause wach sein.“
Traude streckte ihm jetzt beide Hände entgegen.
„Ernst – seien Sie doch verständig! Der Rittmeister ist ja verlobt, und –“
„Verlobt – so?! Verlobt –?! Davon weiß ich bisher nichts!“ meinte er fast feindselig. „Ich weiß nur, daß er – ein Schuft ist, der mich schmählich betrogen hat, der so tat, als wäre er mein bester Freund, und der doch –“
Ein bellender Schrei ertönte da – nicht allzu weit entfernt. Dann ganz deutlich – vielleicht noch lauter:
„Hilfe – Hilfe!“
Traude zitterte; und auch Ernst Bohlke stierte bestürzt und blaß auf die Tür.
Dann wieder – ein Schuß, hart, hell, noch einer –
Traude flog Ernst an die Brust, umklammerte ihn. Sie war fast ohnmächtig vor Entsetzen.
Er wollte sie von sich drängen, wollte hinaus, – in den Flur, wo man nun des Rittmeisters Stimme hörte:
„Ernst – hierher – sofort, so, wie Sie sind!“
Dann eine kreischende Weiberstimme, – die der Frau Anna Sauck:
„Liebes Gottchen, wat ’s denn los?“
Fäuste donnerten gegen Ernst Bohlkes Tür; und der Rittmeister brüllte:
„Mensch, so kommen Sie doch!“
Ernst wollte rufen. Aber Traudes Hand verschloß ihm den Mund.
„Erst Licht ausdrehen –! Wenn man mich hier bei Ihnen sieht!“
Er war schon bei der Lampe. Das Licht erlosch.
Da – vom Flur her abermals Stimmen; dann ein Krach, als ob jemand eine Tür gewaltsam aufbricht.
Gleich darauf Frau Saucks gellendes Geschrei:
„Man het sei dotscheeten (totgeschossen) – man het sei dotscheeten! Minna, wir fohr’n no Hus! Hier jift’s (gibt’s) nur Mörders!“
Ernst und Traude standen im Finstern. Man vernahm jetzt auch das Angstgeheul der Magd und des alten Fräuleins.
Da flüsterte Ernst Bohlke: „Bleiben Sie hier. Ich klettere zum Fenster hinaus und komme von vorn ins Haus, als ob ich noch in den Ställen gewesen wäre.“
Er tat’s. – Traude war allein. Sie tastete sich nach dem alten Sofa hin, sank in eine Ecke, weinte still in sich hinein.
Dann – eine Stunde war vergangen – pochte es gegen die Tür. Ernst Bohlke rief von draußen leise: „Schnell – eilen Sie hinauf in Ihre Kammer.“
Traude flog empor, schloß auf, wollte ihn etwas fragen: er drängte sie weiter. Und so lief sie denn die Treppe hinan, riegelte sich ein, setzte sich auf ihr Bett und fragte sich immer wieder, was eigentlich vorgefallen war.
Dann kamen Schritte auf ihre Tür zu; dann Meiers Stimme:
„Fräulein Traude, Sie sind doch wach und wohl sehr in Angst. Ich –“
Da hatte sie schon aufgeriegelt. Er stand mit einer großen Stallaterne[13] vor ihr.
„Ein Verbrechen,“ sagte er hastig. „Diebe haben durch ein Fenster sich Zugang zu Frau Bohlkes Schlafstube verschafft, haben das arme Weib dann niedergeknallt. Sie ist – tot.“
Er brachte Traude hinab in das Stübchen des alten Fräuleins, wo dieses für sie auf einem Sofa ein Lager herrichtete. Aber niemand schlief in dieser Nacht in Neufrenzhof. Gegen drei Uhr morgens langte von der nächsten Stadt im Auto ein Amtsrichter und zwei Landjäger mit einem Polizeihund an.
Im Hause war ein dauerndes Hin und Her. Erst als der Morgen heraufdämmerte, schlief Traude ein, fuhr jedoch sehr bald wieder hoch. Maria hatte an die Tür geklopft, rief, daß der Amtsrichter die Hausbewohner sofort vernehmen wolle. –
Der Salon war als Verhörzimmer eingerichtet. Einer der Landjäger führte das Protokoll; der andere saß neben Ernst Bohlke auf dem Paneelsofa, während der Rittmeister auf einem Stuhl am Fenster Platz genommen hatte.
Dieses Bild bot sich Traude beim Eintritt dar. Aber sie sah sofort auch, daß Ernst Bohlke zusammengesunken dasaß und mit gesenktem Kopf vor sich hin stierte.
Der Richter bot Traude einen Stuhl an, begann dann, ihr die Personalien abzufragen. Dann sagte er, indem er Traude scharf musterte:
„Frau Anna Sauck hat hier soeben zu Protokoll gegeben, daß der Sohn der Ermordeten die Absicht gehabt haben soll, Sie zu heiraten, oder daß er doch jedenfalls in Sie verliebt ist und daß einer Ehe mit Ihnen lediglich die Tote im Wege stand. Sie hat weiter erklärt, daß das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn seit Ihrer Anwesenheit hier im Hause ein sehr schlechtes geworden ist. Da nun Ernst Bohlke nicht einwandfrei nachzuweisen vermag, wo er sich in dem Augenblick, als die Schüsse fielen, befand, da er sich auch in Widersprüche verwickelt hat, was diesen Punkt anbetrifft, da schließlich vor seinem Fenster Spuren im Schnee gefunden sind, die beweisen, daß er in dieser Nacht seine Stube durch das Fenster verlassen hat, erscheint der Verdacht begründet, daß er seine Mutter hat aus dem Wege räumen wollen, um Sie heiraten zu können. Herr Rittmeister von Meier hat nun jedoch zu Protokoll gegeben, daß Sie vielleicht imstande wären, jeden Verdacht gegen Ernst Bohlke zu zerstreuen. Wie verhält es sich damit?“
Traude blickte den Richter frei an, errötete leicht und sagte fest und bestimmt:
„Als die Schüsse fielen, war ich mit Ernst Bohlke zusammen in seinem Zimmer. Ich hielt ihn umklammert und hinderte ihn daran, sich zu melden, als der Rittmeister ihn rief. Und – ich war bei ihm, weil ich ihm Aufschluß darüber geben wollte, weshalb ich vorher bei Herrn von Meier gewesen war. Dieser meint es gut mit ihm, und er machte mir versteckte Vorwürfe, weil ich durch meine Anwesenheit hier Ernst Bohlkes Liebe zu mir noch gesteigert und ihn dadurch insofern um seine Seelenruhe gebracht hätte, weil ich Ernst Bohlke doch nicht wiederliebte. Da habe ich dem Rittmeister gesagt, daß er sich täusche und daß Ernst Bohlkes Neigung längst schon in meinem Herzen dieselben Gefühle geweckt habe. – Ich liebe diesen edlen Menschen von ganzem Herzen, – das wiederhole ich hier nochmals! Herr von Meier aber wird beschwören, daß dies der Gegenstand unserer Unterredung gewesen ist.“
„Ganz recht,“ erklärte der Rittmeister. „Aus Freude, daß mein lieber Bohlke nun ein Glück in diesem Mädchen gefunden bat, küßte ich Fräulein Reikmer auf die Stirn. Dann ging sie.“
„Ja – und dann traf ich mit Ernst Bohlke zusammen, der in seiner Eifersucht –“
Der Richter ließ Traude nicht aussprechen.
„Ich danke, Fräulein. Dies genügt mir vollauf. – Herr Bohlke, entschuldigen Sie bitte, daß ich –“
Ernst war plötzlich aufgesprungen, hatte die Arme nach Traude ausgereckt.
„Du – Du –!“ rief er. Die Stimme versagte ihm.
Traude flog auf ihn zu – ihm an die Brust, umschlang ihn.
Und er nahm sie, hob sie empor, trug sie mit starken Armen ins Nebenzimmer, stellte sie hier auf die Füße, riß sie an sich.
„Du – Du liebst mich also – Du – Du!“
Ihre Antwort erstickten seine Küsse. –
Nebenan sagte der Rittmeister zu dem Amtsrichter:
„Suchen wir nun also den wahren Mörder!“
Und die Herren legten den Polizeihund auf eine andere Fährte, die querfeldein dem am Ufer zugefrorenen Haff zuführte. Es war die Spur eines einzelnen Mannes mit schmalen, eleganten Schuhen. Sie endete an einer offenen Stelle im Eise. Hier war der Unbekannte hinabgeglitten in die eisige Tiefe. Man fischte mit Netzen nach der Leiche. Sie wurde nie gefunden. –
Willi Reikmer aber schien Berlin plötzlich für immer ohne jeden Abschied von der Mutter, den Rücken gekehrt zu haben. Man hörte nichts mehr von ihm.
Nur drei Menschen reimten sich das Richtige zusammen, und zwar Else Reikmer und das glückliche Brautpaar: daß Willi durch den Inhalt von Traudes Brief dazu verführt worden war, in das Gutshaus einzubrechen und den Geldkasten in der Matratze zu stehlen.
Diese drei aber schwiegen in Rücksicht auf die Rätin. Und das Haff meinte es gleichfalls gut mit einer unglücklichen Mutter und bewahrte sein Geheimnis für alle Zeit. –
Auf dem Neufrenzhof werden jetzt keine Geheimschlachtungen mehr vorgenommen, wird kein Weizen, keine Butter mehr verschoben. Dort wird ehrlich gewirtschaftet, dort sammelt man keine Reichtümer mehr, sondern verdient nur so viel, daß die Arbeit lohnt. Und Frau Traude gibt scharf acht auf alles; sie ist nicht zu bemogeln; sie hat von der Pike auf gedient – als Mädchen für alles. Und jetzt ist sie glücklich und – Herrin über alles. –
Wenn auf jeder ländlichen Besitzung so gewirtschaftet würde, wie auf dem Neufrenzhof, stände es besser um unser deutsches Vaterland. Leider findet man einen Ernst Bohlke ebenso selten wie – ein solches Mädchen für alles, wie Frau Traude Bohlke!
Leider –!
Ende!
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Anmerkungen: