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Die verschwundene Million (1. Auflage)

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 11

 

Die verschwundene Million.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin 26.
Druck P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin 26.

 

Wir saßen in Harsts Arbeitszimmer beim ersten Frühstück. Die Fenster standen offen, und nach einer regnerischen Nacht strömte nun bei klarem Sonnenschein die gereinigte, erquickende Luft eines bereits von Herbstahnen erfüllten Septembertages herein.

Draußen klappte die Pforte des Gitterzaunes am Vorgarten.

„Der Briefträger kommt, und zwar ist’s der alte Schmiedicke,“ meinte Harst. „Nur er versetzt der Zauntür stets einen Stoß mit dem Fuß, so daß sie nachher mit allzuviel Schwung zufällt. Das gibt ein anderes Geräusch beim ins Schloß fallen ab, wenn die Pforte nur durch den Federtürschließer zugeworfen wird. Der Unterschied liegt in den Nebengeräuschen der stets quiekenden Angeln. – Bitte – vielleicht siehst Du einmal nach, ob Schmiedicke für uns Post hat, lieber Schraut.“

Ich bezweifelte ein wenig, ob Harst recht hätte. Ich hatte ja die Pforte auch bereits unzählige Male zufallen gehört, aber noch nie eine Verschiedenheit in dem Kreischen der Angeln wahrgenommen. Harsts Personenbestimmung lediglich nach diesen nervenangreifenden Tönen erschien mir etwas gewagt.

Aber – natürlich hatte er wieder recht! Es war Schmiedicke. Er reichte mir einen einzigen Brief, brummte was von „schönem Wetter, herbstklarem Himmel“ und stapfte wieder davon. Ich rief ihm noch nach: „He, bester Schmiedicke, – schonen Sie doch unsere Gartenpforte.“ –

Wenn man wie ich Privatsekretär eines so berühmten Liebhaberdetektivs ist, gewöhnt man es sich bald an, selbst die harmlosesten Dinge als Prüfsteine für seine eigene Intelligenz – was hier so viel wie Detektivbegabung bedeutet – zu benutzen. Während ich dem Kaffeetisch zuschritt, schaute ich mir den Brief von beiden Seiten an.

Blaugrüner Geschäftsumschlag, kleines Format; Adresse mit Maschine geschrieben; Aufgabeort Berlin; abgestempelt gestern zwischen 9–11 Uhr abends; Briefklappe sehr sorgfältig zugeklebt; auf der Rückseite kein Absender vermerkt, auch kein Firmenstempel oder dergleichen.

„Du witterst, scheint’s, in dem Brief etwas Besonderes, lieber Schraut,“ lächelte Harst und schob die Kaffeetasse beiseite, langte nach dem silbernen Zigarettenbehälter und steckte sich eine seiner heißgeliebten Mirakulum an. – Mein Brotherr und Freund hatte mir ganz zwanglos und ohne viele Worte letztens das Du angeboten. Für mich, den reuig in die Gesellschaft der ehrbaren Leute zurückgekehrten ehemaligen Schmierenschauspieler und Taschendieb war dieses gegenseitige Du erneut die Veranlassung gewesen, diesem prächtigen Menschen in meinem Innern Treue und Ergebenheit zu geloben.

Harst besichtigte nun gleichfalls den Brief, ließ sofort ein Hm, hm! hören. „Die für die Aufschrift benutzte Schreibmaschine kenne ich,“ meinte er. „Sie steht im Schreibzimmer des Universum-Klubs. Marke Habicht. Sie läßt das kleine a ein wenig über die Zeilenhöhe hinausschnellen. Ich weiß nur nicht, wer sie benutzt haben kann. Sie ist mehr zum Staat da. Nur ich habe zuweilen aus Langeweile darauf herumgetippt. Ich spiele ja so gern Klavier. Und ich könnte Dir hier einen langen Vortrag darüber halten, daß Tippen und Klavierspielen unsere Gedanken –“ Er hatte inzwischen den Umschlag aufgeschnitten und ein rechteckiges Blättchen Papier, etwa 7 mal 9 Zentimeter groß, herausgezogen und die Aufschrift schnell überflogen.

Das, was er da gelesen hatte, mußte wohl recht merkwürdig sein, denn er führte den begonnenen Satz nicht zu Ende, sondern rief jetzt:

„Entweder ein Ulk – oder eine unerhörte Frechheit!“

Er reichte mir das Blättchen. Es war der obere Teil eines gestempelten Briefbogens des bekannten Klubs. – Ich las – es war wieder Maschinenschrift:

„Ich bereite Sie auf den Besuch des Kommerzienrats Kammler, des Beauftragten Ihrer Wettgegner, vor. Kammler dürfte im Laufe dieses Tages merken, daß er gestern abend seine Pflichten als Klubvorstand grob vernachlässigt hat. Ich könnte Ihnen jetzt schon sagen, welche Aufgabe Ihnen Ihre Wettgegner als letzte stellen werden. Natürlich die, herbeizuschaffen, was verschwunden. Die Herren waren fest überzeugt, daß Sie siegen würden, und hatten daher alles für ihre Niederlage schon bereit, um Ihnen feierlichst die Siegespalme überreichen zu können. Zwei von diesen Herren unterhielten sich vor ein paar Tagen im Cafee des Westens darüber. Diese Anregung genügte mir, dem zufällig in Berlin Anwesenden, Ihnen, sehr verehrter Herr Harst, zu einer Schlußaufgabe zu verhelfen, die die Aussichten Ihrer Wettgegner wieder beträchtlich bessert. Ich möchte sogar behaupten: nicht nur bessert, sondern geradezu todsicher macht. Ich bin ein bescheidener Mensch. Aber – jeder weiß, was er kann. Manche tun nur so, als ob sie noch mehr können. Das sind Leute Ihres Schlages, – Leute, die eben Glück haben. Und – Glück haben Sie bei dieser Wette insofern gehabt, als Sie es wirklich stets nur mit halben Dilettanten des Verbrechertums aufzunehmen hatten. –

Beweisen Sie mir, daß Sie tatsächlich so viel können, wie die ganze Welt glaubt, die in Ihnen eine Art Überdetektiv anbetet. Beweisen Sie’s, und es soll mich freuen. Denn ich liebe die Intelligenz in jeder Form.

(B) K P K S A B K M H N A L G A L B.“

So lautete der Inhalt dieses Zettels. Sonst enthielt er nichts außer dem Klubstempel links oben in der Ecke. Von den 17 großen Buchstaben der Unterschrift war der erste, B, eingeklammert. Daß diese Unterschrift kein Name sein konnte, war mir sofort klar. Sie mußte zweifellos eine andere Bedeutung haben.

Harst hatte mein Gesicht beobachtet, lachte jetzt herzlich auf. „Du schaust etwa so drein, als hätte ein Zauberer plötzlich das Steinbild der ägyptischen Sphinx, dieses Symbols des Rätselhaften, vor Dir aufgebaut. Dabei ist die Geschichte doch recht einfach. Entweder hat ein Klubmitglied sich einen Scherz machen und mich etwas in Unruhe versetzen wollen, oder – die Million ist tatsächlich gestohlen.“

„Welche Million?“ platzte ich heraus.

„Aber Schraut – aber Max Schraut, Du Leuchte aller Privatsekretäre! Lies doch nochmals den Zettel! Der Inhalt weist doch eindeutig darauf hin, daß jemand die „Siegespalme“ gestohlen hat, meine Siegespalme, eben die Million, die mir meine Wettgegner zu zahlen haben, wenn ich –“

Draußen war ein Auto vorgefahren. Harst schwieg plötzlich, eilte ans Fenster. Da hörte ich schon eine Stimme:

„Dem Himmel sei Dank, daß Sie daheim sind, bester Harst!“

Ich trat neben Harald, sah, wie Kommerzienrat Kammler den Chauffeur bezahlte, wie er dann, uns erregt zuwinkend, durch den Vorgarten dem Hause zustürmte. Ich ließ ihn ein, und ganz atemlos sank er in den nächsten Klubsessel, warf den Hut achtlos auf den Teppich, trocknete sich die schweißfeuchte Stirn und schaute Harst mit Augen an, in denen meines Erachtens ein viel zu starker Ausdruck hellsten Entsetzens lag, als daß es sich hier nur um eine gestohlene Million handeln könnte. Die Mitglieder des Universum-Klubs waren ja sämtlich reich! Was konnte es den Wettgegnern Harsts da ausmachen, ihre Anteile an der Wettsumme auf diese Weise eingebüßt zu haben!

Kammler schnappte noch immer nach Luft. Harst stand vor ihm und schüttelte langsam den Kopf.

„Aber bester Kammler – wegen einer Million!“ meinte er achselzuckend.

Der Kommerzienrat schnellte hoch. „Sie – Sie wissen bereits?“ stieß er hervor. „Ja – von wem denn?! Ich habe ja noch keinem Menschen etwas –“

Harst reichte ihm die seltsame Benachrichtigung mit der nicht minder seltsamen Unterschrift. Kammler überflog die getippten Zeilen, stotterte dann, abermals mit einem so furchtbaren Grauen im Blick, daß ich mich auf Außerordentliches gefaßt machte:

„Das – das ist ja nicht alles. – Unten – im Tresor – lag – nein, liegt noch – die Leiche des Klubdieners Häske. – Ich – ich habe die Tür – wieder zugeworfen und bin – hier zu Ihnen gefahren –“

Harsts Gesicht straffte sich. Die Backenknochen traten schärfer hervor. Die Lippen schienen zu verschwinden, so fest preßte er sie aufeinander. Dann ein Sprung nach dem Fenster.

„Chauffeur – Chauffeur, – warten Sie!“ – Der Mann hatte sich beim Anzünden einer Zigarette, die er heimlich und schnell genießen wollte, etwas länger aufgehalten.

„Gehen wir, lieber Kammler,“ wandte Harst sich nun an den Kommerzienrat. „Im Auto erzählen Sie die Einzelheiten. Vorher aber noch ein Gläschen Sherry. – Keine Widerrede! Sie müssen. – Sie sind ja vollständig verstört. So wie heute habe ich Sie noch nie gesehen.“

Gleich darauf fuhren wir nach dem Hause des vornehmsten Klubs der Reichshauptstadt. – Kammler hatte nun etwas sein seelisches Gleichgewicht wiedergewonnen und berichtete folgendes. –

Gestern gegen sechs Uhr nachmittags hatte er allein im Vorstandszimmer des Klubs gearbeitet, Rechnungen geprüft, die Bücher in Ordnung gebracht und dabei aus dem halb in die Wand eingemauerten Stahlschrank wiederholt dies und jenes von Papieren herausgenommen. Dabei hatte er zweimal nach dem im ersten Stock bedienenden Häske, einem älteren Manne mit graublondem Vollbart geklingelt und sich Erfrischungen bringen lassen.

Der Klub war gestern von keinem anderen der Mitglieder um diese Zeit besucht worden, weil in Hoppegarten ein Rennen stattfand. – Um sieben etwa war Kammler mit seiner Arbeit fertig geworden, hatte die Bücher und Papiere wieder in den Tresor eingeschlossen und sich in die Ecke des Ledersofas gesetzt, weil er sich abgespannt fühlte. Er war dann eingeschlafen und erst munter geworden, als ein anderes Vorstandsmitglied, der Freiherr von Bolly, das Zimmer betreten und ihn wachgerüttelt hatte. Dies geschah gegen ¼10.

Kammler war dann sofort mit Herrn von Bolly, dem bekannten Universitätsprofessor für orientalische Sprachen, in die unteren Klubräume gegangen, wo sich jetzt einige zwanzig Herren befanden. Er hatte mit wenig Appetit im Speisesaal mit Bolly zusammen noch zu Abend gegessen und war schon um halb zwölf zu Hause, ging zu Bett und wurde erst gegen acht Uhr morgens von seinem Diener geweckt, der ihm meldete, daß die Frau des Klubdieners Häske ihn sprechen wolle. Ihr Mann sei gestern nicht aus dem Klub heimgekehrt, obwohl sein Dienst doch schon um neun Uhr abends beendet gewesen.

Kammler beruhigte die Frau, begab sich denn auch, um sofort nach dem Verbleib dieses ältesten Angestellten des Klubs Nachforschungen anzustellen, nach dem von außen so schlichten, aber infolge des als Baumaterials überall mitverwendeten Sandsteins außerordentlich vornehm wirkenden Eigenheim des Klubs und sehr bald in das Vorstandszimmer, da er von dem Pförtner nur das eine hatte in Erfahrung bringen können, daß der „alte“ Häske, wie er allgemein genannt wurde, kurz nach acht Uhr bereits das Haus verlassen hätte. Der Zufall wollte es, daß Kammler, kaum im Vorstandszimmer angelangt, durch einen der Diener eine Rechnung eines Weinhauses vorgelegt erhielt und sofort das Geld dem Boten mitgeben wollte. Er schloß den Tresor auf, gab dem Diener die Summe und wollte die Tür schon wieder zudrücken, als ihm auffiel, daß aus einem der Mittelfächer ein Blatt Papier ein Stück hervorschaute.

Kammler, die Ordnungsliebe in Person, wußte nun ganz genau, daß er gestern alles ganz sorgfältig weggepackt hatte und daß ihm schon gestern abend diese Papierecke hätte auffallen müssen, die sich von dem dunklen Anstrich der Innenfächer so deutlich abhob. Ein unbestimmter Argwohn ließ ihn nun den Tresor auf den Inhalt hin genauer prüfen, und zu seinem Schreck hatte er denn auch bald festgestellt, daß die in einem besonderen Fach niedergelegte Million, 1000 Banknoten zu tausend Mark in einem versiegelten Päckchen, verschwunden war. Als er nun in wilder Hast auch alle anderen Gelasse des fast drei Meter hohen und etwa anderthalb Meter breiten Panzerspindes durchsuchte, als er schließlich sogar die untere, nur für Geschäftsbücher bestimmte Hälfte des Schrankes öffnete, war er mit einem Schrei zurückgeprallt, denn eng zusammengepreßt hatte er darin einen Mann erkannt, dessen wachsbleiches, verzerrtes Totengesicht ihn aus verglasten Augen wie ein furchtbarer Spuk angegrinst hatte.

Aber – es war kein Spuk gewesen! Es war Georg Häske, der treue, erprobte Klubdiener.

– – – – – – – –

Es war genau zehn Uhr vormittags, als wir drei das Vorstandszimmer betraten. Harst verriegelte die schwere, geschnitzte Eichentür und hängte sein Taschentuch über das Schloß. Kammler drehte sofort die elektrische Krone an, während ich auf Harsts Wink die Fenstervorhänge zuzog.

Dann mußten Kammler und ich uns dem Stahlschrank gegenüber auf das Sofa setzen. Harst entledigte sich seines Rockes und begann seine Arbeit. Ich habe ihn oft genug dabei beobachten dürfen. Und doch blieb es mir stets interessant, ihm zuzusehen, wie er mit nie erlahmender Geduld und Genauigkeit einen Tatort absuchte, was er alles in Augenschein nahm und wie sein Gesicht dabei nur einem, der ihn sehr gut kannte, seine Gedanken ein wenig verriet. – Eine halbe Stunde brauchte er heute. Zuletzt hatte er den vor dem Tresor liegenden kleinen Perserteppich aufgehoben und über ein paar ausgebreiteten Zeitungen geschüttelt. Ein paar Steinchen oder dergleichen waren hierbei auf das Papier gefallen, die er auflas, in ein Stückchen Zeitung wickelte und einsteckte. – Nun ließ er sich von Kammler die Schlüssel zu dem Stahlspind geben. Der Kommerzienrat war Kassierer des Klubs, und nur er besaß die passenden Schlüssel.

Während Harst nun die vordere, dicke Panzertür öffnete, sagte er: „Lieber Kammler, die nächsten Minuten werden an Ihre Nerven schwere Anforderungen stellen. Schauen Sie zur Seite, falls Sie den Anblick einer Leiche nicht ertragen.“

Dann schloß er die untere Innentür auf. Ich hatte mich erhoben und war neben ihn getreten. Die Tür schlug zurück. Das Licht des Kronleuchters traf blendend hell das entstellte Gesicht des Toten. Der Anblick dieser offenbar mit großer Kraft in das Behältnis hineingezwängten Leiche war tatsächlich vielleicht grausiger, als der eines blutbespritzten Opfers irgend eines Verbrechens.

Harst kniete schon und hatte auch schon seine Taschenlampe eingeschaltet, leuchtete damit, den Arm über den Toten hinwegreckend, in die tiefsten Winkel hinein, zog dann aber mit einem leisen: „Ah – das hätte ich nicht gedacht!“ die Hand blitzschnell zurück, warf die Innentür mit der Fußspitze zu und drehte den Schlüssel um.

Als er sich aufrichtete, war er auffallend bleich.

„Es hätte nicht viel gefehlt,“ meinte er trotzdem mit seiner gewohnten Ruhe, „und ich wäre in fünf Minuten dem armen Häske in die Ewigkeit nachgefolgt. Man stirbt nämlich spätestens in fünf Minuten nach dem Biß einer grünen Dschungelviper, einer zum Glück sehr seltenen indischen Giftschlange, die an Gefährlichkeit selbst die brasilianische Schararaka übertrifft.“

Kammler stand jetzt neben uns.

„Schlange – Giftschlange?“ sagte er stockend. „Aber um alles in der Welt, wie –“

Harst war schon an den Arbeitstisch getreten, hatte den Hörer abgehoben und rief das Polizeipräsidium an. Kommissar Bechert von der Mordkommission, unser alter Bekannter, war anwesend und ließ sich von Harst kurz den Tatbestand schildern.

Harst legte den Hörer zurück. – „So,“ meinte er, „wir haben hier nun genug gesehen. Wir wollen das Zimmer abschließen. Sie, lieber Kammler, erwarten dann wohl die Herren von der Kriminalpolizei. Ich muß nach Hause. Der Schneider erwartet mich, und ich will mich noch umziehen.“

Kammler machte ein sehr enttäuschtes Gesicht. „Aber lieber Harst, Sie sind jetzt doch hier weit nötiger. Ihr Schneider kann doch warten,“ meinte er, fast ein wenig verletzt.

„Hm,“ erklärte Harst zerstreut, „warten?! – Nein, das geht nicht. – Aber, wie wär’s, Kammler, wenn dieser Fall als letzte meiner Wettaufgaben gelten würde? Er ist alles andere als einfach. Das muß jedes Kind einsehen. – Einverstanden? Wenn ich die Million wieder herbeischaffe, ist sie mein, das heißt, ich habe die Wette gewonnen.“

„Natürlich einverstanden,“ erwiderte Kammler eifrig.

„So – dann muß ich erst recht zum Schneider. Bitte grüßen Sie Bechert von mir und bestellen Sie ihm, er möchte doch vielleicht gegen sechs Uhr nachmittags zu mir kommen.“

Kammler zuckte die Achseln. „Sie sind ein unbegreiflicher Mensch, lieber Harst. Nun – Ihnen verzeiht man vieles, auch – die Vorliebe für einen erstklassigen Schneider.“

Harst und ich verließen das Klubhaus. Als wir den Lützowplatz überschritten, faßte er mich unter und sagte lebhaft: „Wenn Kammler nicht mehrfacher Millionär wäre, könnte man leicht auf den Verdacht kommen, er habe vielleicht selbst – und so weiter. Die Sache ist ja so, wie er sie schildert, reichlich rätselhaft. Ich habe durch die in seinen Bericht eingestreuten Fragen festgestellt, daß sowohl der Diebstahl als auch der Mord an dem armen Häske nur in der Zeit verübt sein können, als Kammler in der Sofaecke fest schlief. Er hatte ja, bevor er sich ein wenig ausruhen wollte, den Tresor abgeschlossen und die Schlüssel zu sich gesteckt. Er wird wie gesagt sehr fest geschlafen und nicht gemerkt haben, daß jemand ihm die Schlüssel aus der Tasche zog und nachher wieder zusteckte. – Jemand! – Wer ist nun dieser Jemand? – Natürlich derselbe Mann, der sogar die Keckheit besessen hat, nach Verübung dieser Verbrechen den Zettel in dem neben dem Vorstandszimmer gelegenen Schreibzimmer mit der Maschine zu tippen und auch einen der dort ausliegenden Umschläge zu benutzen. Der Brief an mich ist zwischen 9 und 11 Uhr abends abgestempelt. Dies paßt genau zu der Zeit, während der Kammler schlief. Nehmen wir an, der Mörder war gegen ½8 im Vorstandszimmer und im Schreibzimmer, so kann er gegen acht Uhr den Brief in den Kasten geworfen haben. Das stimmt alles sehr schön zusammen. Nur etwas stimmt nicht. – Bitte, lieber Schraut, nun bist Du an der Reihe.“

„Der Pförtner hat Häske um acht Uhr noch lebend gesehen, nämlich wie dieser das Klubhaus verließ,“ erklärte ich sofort. „Daher können die beiden Verbrechen auch erst später –“

Harst drückte plötzlich meinen Arm. Wir kamen gerade an einer leeren Bank des Lützowplatzes vorüber.

„Setzen wir uns, Schraut,“ fiel er mir gleichzeitig ins Wort. „Hinter uns scheint jemand her zu sein. Deshalb ließ ich auch meine Zigarette viermal ausgehen und blieb ebenso oft stehen, um sie wieder anzuzünden.“

Er nahm Platz, lehnte sich bequem zurück und fuhr fort: „Wir werden beobachtet. Damit habe ich gerechnet. Der Mann, der uns nachschleicht, hat fraglos in der Nähe des Klubhauses auf uns gewartet. Er ist klein, hager, bartlos und sieht wie einer aus, der mit dem Pferdesport zu tun hat. – Überlegen wir, wie wir ihn schnell und sicher loswerden. – Halt – ich weiß bereits etwas, das gelingen muß. Wir stellen uns nach einer Weile dort an die Haltestelle der Straßenbahn, besteigen den Anhänger und –“

Harst schwieg. Ein Herr hatte sich mit höflichem: „Sie gestatten,“ neben uns gesetzt. Es war dies ein alter, stattlicher Graubart, sicherlich ein pensionierter Beamter, der selbst im Alltagsrock das Ordensbändchen im Knopfloch trug.

Harst sprach jetzt in harmlosem Tone weiter: „Ich habe noch in der Friedrichstraße etwas einzukaufen. Wollen wir zu Fuß dorthin? Ich denke, wir benutzen besser die Straßenbahn.“

Der alte Herr wandte Harst jetzt sein rotes, gesundes Gesicht zu. – „Entschuldigen Sie, meine Herren, ich bin fremd in Berlin und zum ersten Male hier. Meine Älteste ist hier an einen Kaufmann verheiratet. Ich soll nun für heute abend Theaterbillette in der Rudenschen Theaterkasse in der Potsdamer Straße besorgen. Meine Tochter hat mir zwar die Nummer der Straßenbahn genannt, die von hier aus bis zum Potsdamer Platz geht, aber – ich habe sie schon wieder vergessen. Wenn man 68 Jahre auf dem Rücken hat, läßt das Gedächtnis nach.“

Ein paar recht zudringliche Wespen umschwärmten die Bank. Der alte Herr schlug mit dem Spazierstock nach ihnen. Und als Harst ihm[1] nun die betreffende Nummer der Straßenbahn nannte, wiederholte der Graubart seine Lufthiebe und meinte wütend: „Dieses Viehzeug hasse ich. Immer haben sie’s auf mich abgesehen! – Wart’, Bestie, Dir werd’ ich –“

Schon wieder fuchtelte er mit dem Stock herum, bis Harst dann leise „Au! das war meine Wade!“ rief.

Der Alte entschuldigte sich wortreich. „Der Schlag war etwas grob, Herr. Verzeihen Sie nur. Aber wie gesagt: ich bin schon so oft von Wespen gestochen worden, daß ich – Ah – da ist ja die 69! – Nochmals besten Dank!“ – Er eilte recht schnellfüßig nach der Haltestelle.

Harst schaute ihm sehr aufmerksam nach, sagte dann leise: „Schraut – das war auch einer von ihnen, – das war ein Spion, – oder ich will nicht Harald Ha…“ Er führte das Wort nicht zu Ende, sank nach vorn. Ich fing ihn auf, hielt ihn fest, lehnte ihn halb an mich.

Da raffte er nochmals seine letzten Kräfte zusammen, flüsterte heiser und stockend: „Schraut – schnell – irgendwo – mir – Rum – zu trinken – geben – sehr viel Rum – ganze – Flasche –“

Ich war so verwirrt, daß ich Minuten brauchte, ehe ich mir bewußt wurde, hier könne kein gewöhnlicher Ohnmachtsanfall vorliegen. Harst war jetzt bereits ohne Bewußtsein. Sein Gesicht jedoch hatte merkwürdigerweise die gesunde, leicht gebräunte Farbe beibehalten.

Ich rief eine vorübergehende Dame an, und dann half mir ein Schutzmann Harst in eine nahe kleine Kneipe zu tragen. Hier forderte ich sofort eine Flasche Rum. Der Schutzmann wurde grob, als ich den Wirt bat, mir behilflich zu sein, dem Ohnmächtigen den scharfen Alkohol einzuflößen. Erst als ich ihm sagte, daß es sich um Harald Harst handele und weshalb ich diese etwas ungewöhnliche Art, jemanden ins Leben zurückzurufen, anwende, gab er sich zufrieden. Zehn Minuten drauf war schon ein Arzt zur Stelle. Dieser machte mir Vorwürfe, weil ich Harst bereits über die Hälfte der Rumflasche in die Kehle löffelweise hineingegossen und durch Halsmassage die Schluckbewegungen ersetzt hatte. Als er dann aber Harsts Puls untersucht und auch die völlige Gefühllosigkeit der Haut festgestellt hatte, wurde er stutzig. Man schaffte Harst dann im Krankenwagen nach der nächsten Unfallstation. Hier verlangte ich sehr energisch, daß auch der Rest Rum – die Flasche hatte ich mitgenommen – meinem Freunde und Gönner eingelöffelt würde. Es geschah.

Erst drei Stunden später begann Harst zunächst die Finger krampfhaft zu bewegen. Man hatte ihn inzwischen elektrisiert, massiert, künstliche Atmung eingeleitet und alles mögliche versucht, diese seltsame Art von Starrkrampf, von der er befallen schien, zu beseitigen. Um halb fünf nachmittags konnten wir dann in einem Auto heim nach der Blücherstraße fahren. Harst war noch so schwach, daß er nicht sprechen konnte. Ich hielt ihn wie ein Kind in den Armen. – Seine Mutter zerfloß in Tränen, als sie ihren Einzigen in diesem Zustande wiedersah. Wir brachten ihn zu Bett, und dann hauchte er die ersten Worte über die Lippen:

„Burgunder, ganz alten – aus dem Keller – recht viel –“

Ich verstand. Er trank zwei Flaschen von dem schweren Wein aus, von dem schon ein Glas genügte, das Blut in Aufruhr zu bringen. Dann traf Kommissar Bechert ein. Harst verlangte, ich solle Bechert in sein Schlafzimmer führen.

Ich werde nie vergessen, wie entsetzlich Harsts Gesicht sich vor übermäßiger Anstrengung verzerrte, um die noch bestehende halbe Lähmung seiner Sprechorgane zu überwinden. Er saß jetzt aufrecht, von Kissen gestützt, im Bett. Bechert hatte auf dem Bettrand Platz genommen. Ich stand neben dem Nachttischchen.

„Es – es – ging – heute – zum zweiten – Mal ums Leben,“ quälte Harst hervor. „Erst – die – Dschungelviper, – dann – der – Spazierstock –“

Er winkte mir, und ich reichte ihm ein frisches Glas Burgunder. Er trank in kleinen Schlucken. Und wieder verzerrten sich seine Gesichtsmuskeln, wieder brachte er stoßweise über die Zunge:

„Bechert – sofort – bei – allen – Schneidern nachfragen lassen, wer von diesen – in den letzten Tagen – eine grünblaue – Dienerlivree für – einen – Angestellten – des Universum-Klubs angefertigt hat, – sofort! Dann – mein Haus hier – dauernd überwachen – lassen, – sofort! Jeden irgendwie – Verdächtigen – verhaften –“

Dann machte er eine schwerfällige Handbewegung nach dem Munde, schüttelte ebenso schwerfällig den Kopf, drehte das Gesicht nach der Wand und verhielt sich regungslos. Das hieß: er könne jetzt nicht noch mehr sprechen, sei zu schwach dazu und wolle Ruhe haben.

Wir gingen nebenan in Harsts Arbeitszimmer, lehnten die Tür an, setzten uns in die Sessel an das Rauchtischchen und tauschten einen langen, hilflosen Blick aus. Dann flüsterte Bechert:

„Unsereiner erlebt doch so allerlei. Aber dies hier! Schon der Mord und der Diebstahl im Klub geben uns haufenweise Rätsel auf. Der alte Häske ist noch lebend, wenn auch durch einen furchtbaren Schlag auf den Hinterkopf schwer betäubt in den Tresor hineingezwängt worden. Den Tod hat ihm das kleine Reptil gebracht. Die linke Hand ist schwarzblau verschwollen. Dort sitzen die giftigen Bisse. – Wer war der Mörder und Dieb? Wer nur?! – Und dann – dann dieses Attentat auf Harst! Ich verstehe ja etwas von Nervengiften. Er selbst muß sofort geahnt haben, als ihm die Sinne schwanden, daß der anscheinend so harmlose alte Herr ihn absichtlich mit dem Stock gegen die Wade geschlagen hat. Der Stock muß mit einer vergifteten Nadel versehen gewesen sein. Nur so –“

Plötzlich schnellten wir beide hoch. Aus Harsts Schlafzimmer war der Ton der kleinen Klingel, die ich ihm auf den Nachttisch gestellt hatte, zu uns gedrungen. Dann hörten wir die Klingel auf die Dielen fallen. – Ich war mit einem Satz an der Tür, riß sie auf. Bechert gab mir einen Stoß in den Rücken. Wir stürzten an Harsts Bett.

– – – – – – – –

Und Harald Harst? – Er saß aufrecht da wie vorhin, lächelte uns an und sagte ganz deutlich und ziemlich fließend:

„Die Krisis ist vorüber. Ich kann die Beine bewegen. – Schraut – ein Glas Burgunder.“ Er goß es hastig hinunter. „Es war das einzige, was mich retten konnte,“ fügte er nun hinzu. „Eben Alkohol im Übermaß! – So – und jetzt – an die Arbeit! – Bechert, ich gab Ihnen vorhin schon einige Weisungen. Hören Sie weiter. Lassen Sie unverzüglich in allen Hotels und Fremdenheimen nach zwei Männern forschen, von denen der eine wie ein Jockei aussieht, an der linken Hand nur vier Finger hat – der Zeigefinger fehlt! – und Schuhe mit runden, untergenagelten Gummiabsätzen trägt, sogenannten Drehabsätzen; der andere Mann ist groß, hager und wird im Besitz eines Spazierstocks mit silberner Krücke in Form eines Aststückes sein, außerdem sich vielleicht heute früh zum Kaffee Brot mit Honig bestrichen haben geben lassen. – Beeilen Sie sich, Bechert, es ist keine Zeit zu verlieren. Die Mörder Häskes haben mich vorläufig kaltgestellt. Ich werde noch bis morgen warten müssen, ehe ich persönlich mich an diese Leute heranmachen kann. Sie müssen daher jetzt zunächst das Nötige zunächst veranlassen. – Auf Wiedersehen! Und vergessen Sie nicht: mindestens vier Beamte als Wachen für mein Haus!“

Noch ein Händedruck, und Bechert eilte davon.

„Schraut, Schraut, – ihm nach!“ rief Harst wenige Sekunden später. „Mein Hirn ist noch träge. – Der Jockei-Mann muß gestern nachmittag einen braunen Anzug von flockigem Stoff getragen haben. An dem einen Knie der Beinkleider wird sich vielleicht ein kleines Eckloch befinden.“

Ich erhaschte Bechert auf der Straße vor dem Hause. Während wir noch miteinander sprachen, kam ein offenes Auto langsam vorüber. Und in diesem Auto saß der alte würdige Herr, der Wespenjäger.

Nur einen Augenblick dauerte meine jähe Überraschung. Dann riß ich Bechert mit fort. „Er ist’s!“ keuchte ich. „Der Mann vom Lützowplatz –“

Bechert war schnellfüßiger. Der Mann im Auto hatte sich aufgerichtet und dem Chauffeur offenbar den Befehl gegeben, schneller zu fahren. Doch der Kommissar rannte wie ein Windhund. Jetzt war er neben dem Wagen, jetzt sprang er auf das Trittbrett. Ich hörte ihn brüllen:

„Chauffeur, halt! – Kriminalpolizei!“

Der gehorchte auch sofort. Nun war auch ich zur Stelle. Ich glaubte bestimmt, der würdige Herr würde sich zur Wehr setzen. Nichts geschah. Er musterte uns nur mit erstaunten, kühlen Blicken. Und mir wurde etwas unbehaglich zumute, als ich bemerkte, daß dieser Herr kein Ordensbändchen im Knopfloch und eine blauweiß gestreifte Krawatte trug, während der andere, wie ich mich sehr genau besann, einen schmalen, schwarzen fertigen Schlips umgehabt hatte. Daß die Kleidung im übrigen übereinstimmte, konnte mich nicht recht beruhigen, denn dunkelgraue Jackenanzüge dieser Art gab es zu Tausenden, ebenso schwarze steife Filzhüte und derbe schwarze Schnürschuhe. Dann suchten meine Blicke hastig nach dem Spazierstock. Ja – ein schwarzer Ebenholzstock lag auf dem Rücksitz. Aber – die Krücke war aus Elfenbein und sollte einen Rehfuß darstellen. Im übrigen glich jedoch das Gesicht so vollkommen dem des Mannes, mit dem wir auf der Bank zusammengesessen hatten, daß ich alle Bedenken kurz entschlossen unterdrückte und recht energisch zu Bechert sagte: „Er ist’s ohne Zweifel.“

Der alte Herr faßte jetzt leicht an die Hutkrempe, wandte sich an Bechert, meinte in schlechtem Deutsch, das sofort den Engländer oder Amerikaner verriet: „Weswegen Ihr haltet meine Wagen an, he? Ich uabe gehört, Ihr seid von der Polizei. Uat der Fahrer da gefahren zu schnell?“

„Steigen Sie aus!“ erklärte Bechert. „Chauffeur, Sie warten da vor jenem Hause.“ Er deutete auf das Harstsche Grundstück.

Dann nahmen wir den Graubart in die Mitte und brachten ihn, nicht ohne daß er erregt protestiert hätte, in Harsts Arbeitszimmer. Ich öffnete die Tür nach dem Schlafzimmer und rief Harst zu: „Den einen haben wir schon –“

Aber – die Sache nahm sehr bald eine recht unangenehme Wendung. Der Herr legitimierte sich zweifelsfrei als früherer Major der indischen Kolonialarmee namens Edward Orkney, zur Zeit auf einer Vergnügungsreise begriffen. Er war im Besitz eines Passes für Rußland mit genauer Personalbeschreibung.

Bechert machte ein langes Gesicht. Und der Major wurde immer gröber, drohte mit der englischen Botschaft und zeigte eine so verblüffende Ruhe und Sicherheit, daß der Kommissar mich jetzt schon recht ärgerlich anschaute.

Harst hatte uns gesagt, er würde sofort aufstehen. Jetzt erschien er, in seinen türkischen Schlafrock gehüllt, im Arbeitszimmer. Unter seinen Augen lagen breite, schwarze Schatten. Das Gesicht sah ungesund gelblich aus. Der Blick war matt wie seine ganze Haltung. Er machte wirklich den Eindruck, als käme er aus dem Grabe. Ich sprang zu und führte ihn nach dem Klubsessel am Fenster.

Der Major verbeugte sich leicht. Seine Mienen drückten etwas wie Mitgefühl aus. Dann aber polterte er schon wieder los:

„Ich verlange augenblicklich nach der englischen Botschaft gebracht zu werden. Dort habe ich Bekannte.“

Harst musterte ihn. Sein Blick bekam Leben. Eine feine Röte stieg ihm in die Wangen. Dann fragte er ohne besondere Betonung: „Wo wohnen Sie hier in Berlin, Herr Major? Haben Sie heute früh sich vielleicht mit Honig zufällig den Anzug beschmutzt.“

Es gibt Momente, die wie bei einem nächtlichen schweren Gewitter sind, wenn soeben ein Blitz herabgezuckt ist und man nun in krampfhafter Spannung den nachfolgenden Donnerschlag erwartet. – So war es auch damals nach dieser Frage Harsts, die mir in ihrem letzten Teil ganz unbegreiflich war. Was wollte er nur wieder mit dem Honig? – Mir kam diese Einzelheit beinahe etwas lächerlich vor. Aber – sie war es nicht, – nein, im Gegenteil! Denn – die Frage nach seinem Quartier hätte bei dem Major wohl kaum diesen kurzen, aber deutlichen Farbenwechsel, dieses leichte Zusammenzucken hervorgerufen. Doch: er hatte sich gut in der Gewalt. Er hob jetzt hochmütig die Achseln, meinte kalt: „Diese Komödie langueilt mich. – Nun – ich wohne im Edenhotel. Honig esse ich nie. Wie soll ich mir da meine Kleider beschmutzen.“

Harst lächelte. „Man braucht kein Honigliebhaber zu sein, und kann trotzdem Honig benutzen, zum Beispiel um Wespen anzulocken. Es ist wissenschaftlich festgestellt, daß alle honigliebenden geflügelten Insekten bis auf zweihundert Meter den Duft des Honigs spüren und ihm nachgehen. Sie haben Ihren Mordversuch auf mich sehr schlau vorbereitet gehabt, sehr schlau. Sie hofften, irgendwo im Laufe dieses Tages Gelegenheit zu finden, eine Weile sich neben mir aufhalten zu können. Dann sollten Bienen oder Wespen uns umschwirren, wie’s ja auch tatsächlich auf dem Lützowplatz der Fall war. So fanden Sie Gelegenheit, den Spazierstock zur Abwehr gegen die stechenden Tierchen zu gebrauchen und mir die vergiftete Nadel dieses Teufelswerkzeugs in die Wade zu jagen. Der Schlag gegen den Unterschenkel war recht heftig, so daß ich nicht unterscheiden konnte, ob ich gleichzeitig durch einen Stich verletzt wurde.“ Harsts Lächeln hatte einem Ausdruck drohender Aufmerksamkeit Platz gemacht.

Als Edward Orkney jetzt ausrief: „Herr – Sie sein nicht klar in die Kopf!“ erhob sich Harst schnell. Seine eiserne Willenskraft hatte den letzten Rest von Schwäche für kurze Zeit bezwingen können. Er trat dicht an den Major heran, deutete auf drei dunklere Flecken auf dessen Anzug; zwei davon befanden sich vorn am unteren Teile des Jackenaufschlags, einer unten in der Schienbeingegend des rechten Hosenbeins.

„Hier hat der Honig gesessen,“ sagte er und blickte Orkney durchbohrend an. „Hier haben Sie mit Wasser den Honig beseitigt. Aber unsere Gerichtschemiker werden beweisen, daß Honig in diese Stellen eingerieben war!“ Dann wandte er sich an den Kommissar. „Bechert, verhaften Sie diesen Menschen auf meine Verantwortung! Er trägt nur eine graue Scheitelperücke, und der dicke graue Schnurrbart ist künstlich gebleicht. Der Mann ist keine vierzig Jahre alt.“

Edward Orkney verbeugte sich ironisch: „Sie irren – 45 Jahre zähle ich. Gewiß – ich trage eine Perücke, – weil ich völlig kahlköpfig bin. – Ihre famosen Honig-Phantasien genügen für eine Beleidigungsklage. Ich bin englischer Untertan, und meine Regierung wird mich nehmen sehr nachdrücklich in Schutz.“

Harst erwiderte nichts, machte nur eine einladende Handbewegung nach einem der Sessel hin und setzte sich wieder in den anderen neben das Rauchtischchen. Edward Orkney zögerte. Harsts unerschütterlicher Gleichmut seinen Drohungen gegenüber brachte ihn doch ein wenig in Unruhe. Man sah ihm dies deutlich an.

„Bitte, so nehmen Sie doch Platz, Herr Major,“ meinte Harst jetzt liebenswürdig. „Ich möchte mit Ihnen ein wenig plaudern, bevor Bechert Sie verhaftet. Vielleicht vermag ich Ihnen die Überzeugung beizubringen, daß Sie klüger tun, einzugestehen, der Genosse eines Diebes und Mörders zu sein. Ihren Mordversuch gegen mich dürfte derselbe Mann angestiftet haben. Sie verbessern Ihre Lage ganz erheblich, wenn Sie ein offenes Geständnis ablegen.“

Es lag wieder etwas wie elektrische Hochspannung in der Luft. Gerade der gemütliche Ton, in dem Harst dies alles sagte, bewies mir, daß er zu einem entscheidenden Schlage ausholte. Er mußte fraglos über das Verbrechen lediglich auf Grund scharfsinniger Kombinationen bereits so genau Bescheid wissen, daß er es wagen durfte, diesem Manne hier sozusagen die Pistole auf die Brust zu setzen. – Bechert und ich hatten uns mehr in den Hintergrund des Zimmers an den großen Mitteltisch gesetzt. Dem linken, offenen Fenster am nächsten stand der von Orkney eingenommene Klubsessel. – Ich erwähne dies, weil es wichtig ist.

Der Major hatte Harst ruhig ausreden lassen. Scheinbar ganz gelassen saß er da. Nur seine Augen glitten unstät bald hierhin, bald dorthin. Jetzt versuchte er ein ironisches Auflachen. Es klang sehr gezwungen. Dann rief er achselzuckend: „Immerhin ist dies hier ein Erlebnis, das man nicht alle Tage hat! Der Major Edward Orkney soll ein Mörder oder doch Gehilfe von Mördern sein – sehr spaßig!“

„Ich finde, Ihre deutschen Sprachkenntnisse haben in den letzten Minuten geradezu fabelhaft zugenommen,“ sagte Harst darauf völlig ernst und sachlich bleibend. „Dürfte ich fragen, weshalb Sie vorhin, als Sie scheinbar so wütend im Zimmer auf und ab rannten und mit der Rechten in der Luft herumfochten, dem Chauffeur des hellgelben Autos zuwinkten, worauf der Kraftwagen eiligst davonfuhr?“

Bechert schnellte hoch. „Ich hatte dem Mann doch befohlen –“

Harst unterbrach ihn. „Der Chauffeur war gleichfalls eingeweiht, wie Sie jetzt sehen, lieber Bechert. – Behalten Sie Platz.“ Dann zu dem Major: „Nun, Master Orkney, – Ihre Antwort auf meine Frage?“

„Sie – Sie sein verrückt!“ zischte dieser mit wutverzerrtem Gesicht. „Das Auto war ein Taxameterwagen. Woher soll ich so genau kennen den Chauffeur, daß –“

„Oh – die Sache ist ziemlich nebensächlich. Anders steht es mit diesem Stock.“ Er hatte sich blitzschnell weit vorgebeugt und dem Major den schwarzen Ebenholzstock entrissen.

Da – in diesem Moment geschah etwas, auf das weder Bechert noch ich vorbereitet gewesen waren.

Orkney sprang auf, tat einen Satz nach dem Fenster hin und sprang hinaus. Da Harsts Zimmer im Hochparterre lagen, landete er glücklich im Vorgarten und stürmte auf die Straße, indem er sich nicht einmal die Zeit ließ, die Pforte zu öffnen. Vielmehr setzte er über den Eisenzaun mit einer so verblüffenden Sicherheit hinweg, wie dies nur ein Akrobat von Beruf fertiggebracht hätte.

Doch Orkney hatte nicht mit Becherts Gewandtheit gerechnet. Harst war noch zu geschwächt, die Verfolgung aufzunehmen. Aber der Kommissar bewies jetzt, daß er über einen tadellos trainierter Körper verfügte. Bevor der Major noch fünfzig Meter links hinunter die Straße entlanggelaufen war, hatte Bechert ihn bereits eingeholt.

Harst und ich beobachteten vom Fenster aus, wie Bechert den Flüchtling am Kragen packte, wie er mit der Linken ihm seinen Revolver vor das Gesicht hielt und ihm irgend etwas zurief. Und weiter sahen wir nun, daß dasselbe hellgelb gestrichene Auto in toller Fahrt auf die beiden nun zuraste. Es mußte sich also nur scheinbar entfernt und ohne Zweifel dort weiter die Straße hinauf gewartet haben, um Orkney aufzunehmen.

Auch Bechert gewahrte das Auto jetzt, zerrte den sich sträubenden Major dem linken Bürgersteig zu, konnte den sich heftig zur Wehr Setzenden jedoch nicht schnell genug vom Fahrdamm entfernen.

Meinen Lippen entfuhr ein Schrei des Entsetzens. Der Kraftwagen mußte ja im nächsten Moment die beiden Männer überfahren haben.

Da – Bechert sprang wirklich im allerletzten Augenblick rückwärts auf den Bürgersteig. Auch Orkney suchte sich in Sicherheit zu bringen, aber – wir bemerkten’s ganz deutlich – der Chauffeur ließ das Auto sofort eine kurze Schwenkung nach links machen und – überrannte den Unglücklichen, der im hohen Bogen zur Seite und gegen einen eisernen Laternenpfahl geschleudert wurde. Der Kraftwagen sauste davon, bog um die nächste Ecke und ließ hinter sich einen Todgeweihten zurück.

Bechert und ich trugen den nur noch schwach atmenden Major in Harsts Arbeitszimmer und legten ihn mitten auf den Teppich, stützten ihm den Kopf durch Kissen und flößten ihm auf Harsts Geheiß etwas Kognak ein.

Nach einer Weile schlug er die Augen auf. Harst kniete neben ihm, sagte nun eindringlich: „Edward Orkney, Sie werden bald vor dem ewigen Richter stehen. Erleichtern Sie Ihr Gewissen –“

Der Liegende suchte sich aufzurichten, blickte wild um sich. Seine Gesichtsfarbe war erdfahl. Dann sank er zurück. Und wie ein Hauch nur kam’s über seine Lippen – ein einzelnes Wort:

„Cecil Warbatty –“

Dann verdrehten sich seine Pupillen in schrecklicher Weise; ein feiner Blutfaden entquoll dem Munde; noch ein letztes krampfhaftes Zucken, – und alles war vorüber.

Harst erhob sich, setzte sich wieder, sagte leise: „Der Chauffeur hat ihn absichtlich überfahren, da er erkannte, daß dieser Mensch da nicht mehr aus unseren Händen zu befreien war und weil er von ihm – Verrat fürchtete. Ich sah voraus, daß der angebliche Orkney fliehen würde, sobald ich seinen Stock in Händen hatte. Und – er sollte einen Fluchtversuch machen, daher ließ ich ihn auch so dicht am Fenster Platz nehmen. Die Flucht ist ja der schwerste Beweis gegen ihn – außer diesem Stock!“ – Er nahm ihn vom Tisch, faßte ihn aber wieder ganz oben unter der Krücke an. Dann tasteten seine Finger an der Unterseite der Elfenbeinkrücke umher, und plötzlich hielt er uns – eine mit verborgenen Scharnieren versehene Zelluloidkapsel in Form einer Krücke hin, die die eigentliche Silberkrücke des Stockes ganz eng umschlossen und verdeckt hatte.

„Ein ganz schlauer Gedanke,“ meinte Harst nun. „Man kann auf diese Weise einer gefährlichen Mordwaffe schnell ein anderes Aussehen geben.“

Wir, Bechert und ich, bückten uns und beobachteten, wie Harst jetzt auf einen der Vorsprünge der aststückförmigen Krücke drückte. Und dieser Druck ließ etwa zehn Zentimeter über der Zwinge aus einem kaum wahrnehmbaren Löchlein des schwarzen Holzes eine feine Nadel ungefähr drei Zentimeter weit hervorschnellen.

Harst sagte leise: „Die vergiftete Nadel! Beinahe wäre ich ihr zum Opfer gefallen!“ Und lauter nach kurzer Pause: „Ich merkte sehr bald, daß die helle Krücke kein Elfenbein, sondern nur Zelluloid war. Und ich dachte: „Wer wird sich an einen Ebenholzstock eine solche billige Imitation anschrauben lassen?!“ Ich fand dann auch heraus, daß das Zelluloid oben drei Erhöhungen hatte. Dort saßen eben die kleinen Scharniere. So kam ich der Verwandlungsfähigkeit dieses Stockes auf die Spur!“

– – – – – – – –

Bechert und ich nahmen wieder Platz. Wir hatten vorher den Toten ins Schlafzimmer getragen, und der Kommissar hatte das Polizeipräsidium angerufen, damit die Leiche abgeholt würde. – Wir rauchten Harsts Spezialzigarette Mirakulum, und er selbst schilderte uns mit knappen Worten den Hergang der beiden Verbrechen im Universum-Klub. –

„Der Mörder und der Dieb der Million ist der Mann, der nur vier Finger an der Linken hat. Er hat fraglos, wie er dies in seinem Brief an mich angibt, zwei meiner Wettgegner belauscht, erfuhr so von der Million im Tresor des Vorstandszimmers, beobachtete das Klubhaus und die Dienerschaft eine Weile, wird auch nachts vom Garten aus in das Vorstandszimmer schon vor der Tat wiederholt eingedrungen sein, verschaffte sich so die nötige Kenntnis von den Gepflogenheiten im Universum, ließ sich bei einem Schneider eine Livree gleich der der Klubdiener anfertigen, fand die Gelegenheit für den Diebstahl gestern nachmittag überaus günstig (wahrscheinlich war er schon im Vorstandszimmer unter dem Sofa versteckt, als Kammler es gegen sechs Uhr betrat), kroch ganz leise, während Kammler mit dem Rücken nach der Tür am Mitteltisch arbeitete, zum Zimmer hinaus, lauerte im Vorraum dem alten Häske auf und schlug ihn nieder. Er muß dies getan haben, während Häske auf dem Tisch im Vorraum das Teebrett mit den Brötchen und dem Tee niedergesetzt hatte, die von Kammler bestellt worden waren. In den Tee schüttete er irgend ein Betäubungsmittel, trug dann das Tablett keck und im Vertrauen auf seine vorzügliche Maske als Häske (diese Maske täuschte nachher sogar den Pförtner!) in das Vorstandszimmer, wird es schweigend niedergesetzt haben und wieder hinausgegangen sein. Das weitere ist bis auf die unten im Stahlschrank mit eingeschlossene Dschungelviper leicht zu verstehen. Kammler wird müde, schläft ein. Der Mörder nimmt ihm die Tresorschlüssel ab, stiehlt nur die Million; die noch im Geldspinde liegenden 6000 Mark läßt er unberührt. Mit Kleinigkeiten befaßt dieser Mann sich nicht. Dann zwängt er den noch immer bewußtlosen Häske unten in den Stahlschrank, tut die kleine Viper mit hinein, schließt ab, steckt Kammler die Schlüssel wieder zu und verläßt durch den Haupteingang das Haus – auch dies wieder mit einer frechen Kaltblütigkeit, die diesen Neunfingrigen zu einem Verbrecher besonderer Art stempelt. Dieser Mensch, dessen Fingerabdrücke ich sowohl auf dem Fensterkopf als auch auf dem gewachsten Fußboden unter dem Sofa fand, muß nebenbei aber auch eine Schlauheit und ein Selbstvertrauen besitzen, wie die englischen Zeitungen diese vor einem halben Jahre etwa dem Oberhaupt einer weitverzweigten Gaunergemeinschaft nachsagten, von dem man nur wußte, daß er sich mal irgendwo Cecil Warbatty genannt hatte, – sonst nichts, gar nichts, und den die Polizei heute noch vergeblich in allen Erdteilen sucht, wie Ihnen, lieber Bechert, nicht unbekannt sein dürfte.“

Der Kommissar schlug sich gegen die Stirn. „Natürlich – natürlich! Nein – daß mir dies nicht gleich einfiel. Der etwas sagenhafte Warbatty, der ja auch aus der Bank von London eine Riesensumme in Gold zu stehlen versuchte!“

„Nun gut!“ nickte Harst, „dieser Cecil Warbatty wird jetzt hier eine Gastrolle gegeben haben. Orkney flüsterte seinen Namen wohl in der Absicht, uns auf dieses Verbrechergenie aufmerksam zu machen, – denn nur ein erstklassiger Vertreter der internationalen Gaunerzunft konnte einen Plan wie diesen zur Beraubung des Geldschrankes ausklügeln und auch durchführen, konnte nebenbei noch mit teuflischem Raffinement die Absicht verfolgen, mich, den er wohl als gefährlichen Gegner fürchtet, zu – beseitigen! Die Dschungelviper sollte nicht nur den armen Häske vollends abtun, sondern auch mich beißen, wenn ich, durch den heute früh eingetroffenen Brief aufmerksam gemacht, meine Ermittlungen bis zur genauen Durchsuchung des unteren Tresorteiles fortsetzte. Als ich heil davongekommen, trat Orkney auf und wollte mich nicht weniger raffiniert für alle Zeit stumm machen. Nachher mußte dieser Orkney dann auf Befehl Warbattys in einem von den Verbrechern entweder gemieteten oder ihnen vielleicht gar gehörigen Auto hier an meinem Hause langsam vorüberfahren, um zu spionieren. Es ist ihm schlecht bekommen. Warbatty ist vielleicht selbst der Chauffeur gewesen und hat sich durch einen neuen Mord vor einem Verräter geschützt. – So, das ist in großen Zügen der Hergang. Einzelheiten kann ich mir sparen. Daß ich die Abdrücke der Gummiabsätze im Vorstandszimmer auf der feinen Wachsschicht des Fußbodens bemerkte, daß ich auf dem Fensterkopf draußen an einem Nagel Fäden eines Stoffes fand, die nur jemand beim Einsteigen in das Fenster von den Knien der Beinkleider sich losgerissen haben konnte, – dies nur der Vollständigkeit halber. – Lieber Schraut, Dein fragender Blick erinnert mich an das, was ich aus dem kleinen Perserteppich auf die ausgebreiteten Zeitungen schüttete. – Nun – nichts weiter als Erdkrümchen aus dem Klubgarten, dessen Wege mit ganz feinem gelben Zierkies bestreut sind. Und zwischen den Erdkrümchen waren auch gelbe Kiesteilchen; für mich ein weiterer Beweis, daß der Mörder vom Garten aus eingestiegen und dann vor dem Tresor längere Zeit sich zu tun gemacht hatte.“ –

Die folgenden zwei Tage will ich hier nur kurz skizzieren. – Der Schneider, der die Livree gefertigt hatte, wurde ermittelt; ebenso der Verleiher des Autos, der dieses gegen 8000 Mark Kaution einem Irländer namens Mac Mondy für eine Woche überlassen hatte; weiter, daß dieser Mac Mondy fraglos Warbatty gewesen; schließlich noch, daß Orkney (dessen wahren Namen erfuhr man nie!) tatsächlich seinen Anzug mit Honig eingerieben gehabt hatte. – Nicht ermittelt wurde, wo Warbatty in Berlin gewohnt und wohin er sich nun gewandt hatte, nachdem er das geliehene Auto einfach in einer wenig belebten Straße von Berlin W hatte stehen lassen. – All dies ist ganz unwichtig gegenüber der Fortsetzung, die dieser Kampf gegen den „vielbegehrten“ Warbatty ganz gegen mein Erwarten nahm.

Es war am Morgen des dritten Tages nach Harsts gefährlichem Abenteuer mit Warbattys Spießgesellen Edward Orkney. Wieder saßen wir am Frühstückstisch. Harst hatte sich in diesen letzten zwei Tagen wenig um mich gekümmert und zumeist in seinem Bibliothekszimmer gearbeitet. Er war längst wieder bei vollen Kräften. Was er arbeitete, was ihn so sehr fesselte, daß er selbst bei den Mahlzeiten ganz versonnen vor sich hin starrte, wußte ich nicht. – Jetzt erklärte er ganz unvermittelt: „Wir reisen noch heute mittag nach England, lieber Schraut. Packe unsere Koffer. Du bist ja genügend vertraut mit meinen Reisebedürfnissen.“

Dann faßte er in die Brusttasche seiner Hausjoppe und reichte mir zwei quadratische Stücke Papier.

„Da – das hat man in Orkneys Brieftasche gefunden,“ meinte er. „Du siehst, es sind Teile von Stadtplänen, – Bleistiftskizzen in recht sauberer Ausführung. – Aber nur Teile von Stadtplänen ohne Straßennamen! Daher habe ich auch vorgestern und gestern nichts anderes getan, als herauszusuchen mich bemüht, welche Städte hier in Frage kommen. Eine böse Arbeit war’s! Diese Skizzen geben ja nur zwei sich kreuzende Straßen mit etwa sechs Häuserblöcken wieder. Aber – Geduld führt zum Ziel. In der Mitte der einen Skizze ist ein sechseckiger Platz mit einer Kirche darauf sichtbar. Platz und Kirche verrieten mir die Stadt, die in Frage kam. Auf der zweiten Skizze wieder sind noch zwei nicht benachbarte Straßenquadrate unbebaut, außerdem ist auch eine Meeresküste und ein großer Park angedeutet. Auch dies genügte. – Der erste Ort ist Kingston in England, der zweite Palermo auf Sizilien.“

Ich schaute mir die Skizzen genauer an. Mir fiel sofort auf, daß sogar in den Straßen die einzelnen Gebäude sehr sorgfältig eingezeichnet waren und daß auf jeder Skizze ein einzelnes Haus mit einem dicken Bleistiftkreuz besonders kenntlich gemacht war, weiter, daß von diesem angekreuzten Gebäude punktierte Linien nach anderen Straßen und Häusern hinliefen. – Daß diese Skizzen eine nicht alltägliche Bedeutung haben müßten, war hiernach ganz klar. Welche Bedeutung aber, blieb mir – ganz unklar!

„Wir reisen nach Kingston,“ sagte Harst nun und steckte die Skizzen wieder zu sich. „Wir werden aber sehr vorsichtig sein müssen. Wir fahren erst nach Hamburg. Dort – verschwinden wir in einer Verkleidung und setzen so die Reise fort. Mit Warbatty ist nicht zu spaßen. Ich möchte gern noch ein paar Jahre leben. Du doch auch, Schraut. – Also: seien wir vorsichtig und wachsam! Warbatty könnte noch ähnliche Mordwerkzeuge wie Dschungelvipern und Spazierstöcke besitzen.“

– – – – – – – –

Kingston, eigentlich Kingston on Thames, in der englischen Grafschaft Surrey und am rechten Ufer der Themse gelegen, erhielt zwei Tage darauf den Besuch eines älteren Ehepaares, von dem die Frau mit einem Gesichtsleiden behaftet war und daher stets einen dichten schwarzen Schleier trug. Der Mann war gut einen Kopf größer, sehr kurzsichtig, hatte einen grauen, kurzen Bart und nannte sich Privatgelehrter Doktor Howard Reed aus Newyork, wollte in Kingston die reichlich vorhandenen alten Bauwerke studieren und war mit seiner Gattin in einem bescheidenen Hotel in der Henry-Straße abgestiegen, bewohnte dort im zweiten Stock zwei Zimmer nach hinten heraus und wurde von niemandem weiter beachtet. – Wer dieses Ehepaar war, brauche ich wohl nicht näher zu erläutern. Mir als ehemaligem Komiker fiel es nicht schwer, eine ältere Dame sehr naturgetreu darzustellen, und daß Harst jeder Rolle gerecht wurde, ist bei seiner Vielseitigkeit selbstverständlich.

Harsts Geheimniskrämerei ist zuweilen für mich fast verletzend. Auch diesmal hatte er mir bisher weder über die beiden Skizzen noch über sonst etwas Aufschluß gegeben, was mit dieser Reise zusammenhing. Daß er es auf Warbatty abgesehen hatte, dem er fraglos die gestohlene Million wieder abnehmen wollte, stand ja fest. Im übrigen wußte ich nichts weiter – gar nichts. Er sprach immer nur von den alten Bauwerken, besonders von der seit 1389 stehenden ältesten St. Thomas-Kirche auf dem sechseckigen Chester-Platz und dem zweitältesten Gebäude, einem Privathause in der Gorlickstraße, in dem sich seit anderthalb Jahrhunderten das Bankgeschäft von Joe Philippson befand. – Unsere Straße hieß Maxwell-Garden, unser Hotel Schottischer Hof. Von den Zimmerfenstern aus hatten wir die Rückseite des genannten Bankgebäudes etwa 25 Meter vor uns. Beide Grundstücke trennte eine hohe, ebenfalls sehr ehrwürdige Mauer.

Nachdem ich diese langweilig erscheinenden Ortsangaben – die doch so sehr nötig sind! – erledigt habe, wird der Fall Warbatty sofort wieder spannender. – Harst ließ mich in unseren Zimmern am ersten Tage allein (wir waren morgens eingetroffen) und bummelte mit seinem Momentapparat durch die Stadt. Nach dem Abendessen, das wir wieder oben bei uns einnahmen, setzen wir uns an das offene Fenster und genossen die milde Abendluft. Von der Themse her waren nur leichte Nebel über die Stadt hingezogen, so daß wir das Bankgebäude recht deutlich sahen. Harst plauderte über die St. Thomas-Kirche, mit deren Küster er sich bereits angefreundet hatte. – „Der Mann erzählte mir, daß früher einmal, wie aus der Stadtchronik ersichtlich, mehrere unterirdische Gänge aus den Gewölben der Kirche unter der Stadt entlangführten. Sie sind jetzt zum Teil eingestürzt, zum Teil ist die Kenntnis ihrer geheimen Türen verloren gegangen. Dann zeigte er mir auch den in der Sakristei in einem eingemauerten Eisenschränkchen untergebrachten sogenannten Wunderschrein des St. Thomas, ein Holzkästchen von Zigarrenkistengröße, das sehr reich mit Edelsteinen geschmückt ist und in dem eine Mumienhand liegt, deren Finger mit noch wertvolleren Brillantringen dicht besteckt sind. Diese Hand hat einmal zu dem schönen Körper der Lady Roockwell gehört und ist ihr durch Gerichtsurteil 1528 abgeschlagen worden, da die Dame in ihrer krankhaften Sucht nach kostbarem Schmuck zur gefährlichen Diebin geworden war. – Der brave Küster kramte noch mehr recht merkwürdige Dinge aus. Er hat zu mir volles Vertrauen gefaßt, denn ich habe mich ihm zu erkennen gegeben und ihm meinen von der Berliner Polizei ausgestellten Ausweis vorgelegt, nachdem er mir etwas verängstigt mitgeteilt hatte, seit einiger Zeit – spuke es in den Gewölben des Gotteshauses. Für Geister interessiere ich mich sehr, lieber Schraut.“ – Dann sprach Harst von der Brücke, die über die Themse führt und die 20 Bogen hat, lobte ihre Konstruktion und fügte ohne jeden Zusammenhang hinzu: „So, nun kann’s losgehen, Schraut. Werde wieder ein Mann! In diesem soliden Hotel schläft längst alles.“

Ich verstand, legte die Frauenkleider ab und war nun wieder Max Schraut. Harst steckte seine Pistole und einen Bund Dietriche ein, ergänzte die Trockenbatterie in seiner Taschenlampe und führte mich – wir trugen unsere ledernen Morgenschuhe – sehr leise auf den Hotelboden und von da auf das flache Dach, weiter dann auf das des linken Nebenhauses, öffnete hier die nur aufgelegte Dachluke und stieg die Treppe bis zum Erdgeschoß hinab, schloß mit einem Dietrich die Kellertür auf und drückte sie leise wieder hinter uns zu.

Mir war durchaus nicht behaglich bei alldem. Wir hatten ja schon ähnliche Ausflüge anderswo des öfteren gewagt und waren zuweilen nur gerade so mit einem blauen Auge davongekommen. – Unten an der Kellertreppe standen leere, sehr große Kisten. Harst wählte die größte aus, und wir krochen hinein, breiteten den Holzdeckel wieder über uns und setzten uns auf die in der Kiste noch befindliche Holzwolle.

Harst schaltete jetzt seine Lampe ein. Die Kiste hatte in der vorderen Seitenwand eine breite Spalte und ein Astloch. – „Schraut, die Spalte für mich, das Astloch für Dich,“ meinte er leise. „Sie werden bald kommen, schätz’ ich. Sie arbeiten fraglos jede Nacht.“

Es gehörte nicht viel Geist dazu, zu erraten, daß er Warbatty und einige von dessen Bande meinte.

„Es sind ihrer drei,“ fuhr er fort. „Warbatty, der Neunfingerige und zwei junge Burschen, die er als seine Söhne ausgibt. Sie wohnen in diesem Hause im Erdgeschoß bei einer alten Witwe und spielen die harmlosen Hausierer. Das Haus ist das drittälteste der Stadt, wie Du wohl schon an den Treppen gemerkt hast. Solche Hühnerstiegen baut man seit hundert Jahren nicht mehr. Du siehst, ich habe mich heute im Laufe des Tages nicht nur mit dem Küster unterhalten, sondern habe auch aus Orkneys Stadtplanskizze von Kingston und aus den punktierten Linien leicht herausgefunden, wo Warbatty hier sein Hauptquartier aufgeschlagen hat. Warbatty bewegt sich hier sehr zwanglos in seiner wirklich tadellosen Verkleidung. Er gleicht jetzt einem gebrechlichen Greise, dem es Mühe macht, seinen Hausiererkasten zu schleppen. Dieser Mensch ist in der Tat ein würdiger Gegner. Nun – ich hoffe ihm sowohl die Million wieder abzunehmen als auch seine hiesigen Pläne gegen die St. Thomas-Kirche und das Bankgeschäft Joe Philippson etwas zu stören. Das auf der Kingston-Skizze angekreuzte Haus ist nämlich das Gebäude unseren Hotelfenstern gegenüber. Ich werde –“ – Er schwieg plötzlich. Und auch ich vernahm nun das leise Knarren der Kellertreppenstufen, ebenso flüsternde Stimmen.

Harst hatte die Lampe schon vorhin gleich wieder ausgeschaltet. Ich lugte nun durch mein Astloch, durch das ein feiner Lichtstrahl in die Kiste fiel. Ich konnte drei Gestalten erkennen. Einer der Männer trug eine recht große Azetylenlaterne.

„Die Kellertür war offen,“ sagte der kleinste der drei. Die beiden anderen schienen wahre Athleten zu sein. „Sie war noch nie unverschlossen. Mir will das nicht recht behagen. Seit Orkneys Tode bin ich noch mißtrauischer. Dieser deutsche Schnüffler wird sich ja fraglos alle Mühe geben, mich abzufassen.“ Er lachte leise auf. „Wenn er nochmals meinen Weg kreuzt, werde ich eine Radikalkur gebrauchen. – Warten wir noch ein paar Minuten, ob sich was im Hause rührt.“ – Der Mann war fraglos Warbatty, und der deutsche Schnüffler natürlich Harald Harst.

Sie schwiegen jetzt und verhielten sich ganz still. Einmal traf der Laternenschein Warbattys Gesicht. Harst hatte recht: der Mann schien seinem Äußeren nach bereits einige siebzig Jahre zu sein. – Dann verschwanden sie lautlos in dem Kellergang, an dem rechts und links die Verschläge der Hausbewohner lagen.

Harst hob geräuschlos den Deckel auf, raunte mir zu: „Bin gleich wieder da.“ – Er huschte davon. Es verging eine Ewigkeit, ehe er zurückkehrte. Ich hatte ihn nicht kommen gehört. Als er mir auf die Schulter tippte, fuhr ich ganz entsetzt zusammen. Dann blitzte seine Taschenlampe auf. Ich erkannte, daß er triumphierend lächelte.

„Meine Vermutung war richtig, Schraut,“ meinte er nicht allzu leise. „Aus diesem Keller führt ein unterirdischer Gang wahrscheinlich nach der Thomas-Kirche. Ich kenne jetzt auch die Art, wie man hineingelangt. Das genügt vorläufig. – Beeilen wir uns.“

Wir verließen den Keller und drangen mit Hilfe der Dietriche in die beiden Zimmer ein, die Warbatty mit seinen Spießgesellen bewohnte. Das vordere hatte seinen Eingang vom Hausflur aus. Wir schlossen hinter uns ab. Wir fanden in dem ärmlich möblierten Schlafzimmer der drei unter dem Bett einen noch recht neuen, mittelgroßen Rohrplattenkoffer mit zwei Patentschlössern, bei denen mit Nachschlüsseln nichts auszurichten war. Harst schickte mich als Wache an die nach dem Flur hinausgehende Tür. Ich konnte von dort aus beobachten, wie er im anderen Zimmer die Scharniere des Kofferdeckels mit einem kleinen Brecheisen lockerte. Dann schlug er den Deckel zurück, wühlte in dem Koffer Kleidungsstücke durcheinander und hielt dann ein Päckchen hoch, indem er das Licht der Taschenlampe voll auf dieses kleine Paket fallen ließ. Ich ahnte: es mußte die gestohlene Million sein!

Harst brachte die Scharniere wieder leidlich in Ordnung und schob den Koffer unter das Bett zurück. Das Päckchen hatte er in die linke Brusttasche gezwängt. – Ich hoffte, wir würden nun wieder sofort in unsere sicheren Hotelzimmer zurückkehren. Harst dagegen, der jetzt dicht neben mir stand, flüsterte: „Ich werde mich hier noch näher umsehen. Der schlaue Bursche dürfte noch mehr Verstecke haben als nur den Koffer mit dem doppelten Boden. Die Million habe ich jetzt. Ich möchte aber auch versuchen, noch mehrere dieser Stadtplanskizzen in die Hand zu bekommen.“

Es war nicht gerade warm hier, aber ich schwitzte doch wie in einem Sonnenbade – vor Aufregung! Wenn Warbatty plötzlich hier erschien, mußte es ganz sicher zu Auseinandersetzungen mit Pistolenschüssen kommen.

Harst suchte auf seine Art wohl eine halbe Stunde. Er fand nichts. „Gehen wir,“ meinte er recht enttäuscht.

Aber – wie gerechtfertigt waren meine Besorgnisse gewesen. – Die Tür ließ sich nicht öffnen! Der Riegel schnappte unter dem Druck des Dietrichs zwar zurück, aber – das war auch alles! – Harst besichtigte die Tür. Sie bestand aus dickem, tief nachgedunkeltem Eichenholz.

„Verdammt – wir scheinen in eine Falle geraten zu sein!“ flüsterte er und eilte nach dem nächsten Fenster. Diese waren von innen mit Holzladen verwahrt. Auch hier Eichenholz und dazu eisernen Querstangen, deren Haken mit Patentschlössern versehen waren.

Harst überlegte, starrte vor sich hin. Dann meinte er achselzuckend: „Wir müssen Lärm schlagen. Es hilft nichts. Weder die Tür noch die Laden lassen sich aufsprengen –“

Mir lief der Schweiß über das Gesicht. Plötzlich packte Harst meinen Arm. „Schraut – vielleicht liegt’s an dem Koffer!“ Er huschte davon, leuchtete unter das Bett, zog dann den Koffer hervor und kroch halb unter das Bett. Schon hörte ich sein leises: „Da haben wir’s!“

Er brachte hastig den Koffer an die alte Stelle zurück, winkte mir, steckte den einen Dietrich wieder in das Schlüsselloch der Flurtür und – jetzt ließ sie sich öffnen.

Ich atmete auf. Wir hatten für heute nun wohl genug erlebt. Oben in unseren Zimmern würde ich sofort einen großen Kognak trinken. Das nahm ich mir fest vor, als wir jetzt der Treppe zuschlichen. Zu meinem Schreck bog Harst links ab – nach dem Keller zu, öffnete die Tür, lauschte eine Weile und zog mich mit die Stufen hinunter in die muffige, feuchtkalte Luft, in die nachtschwarze Finsternis. Und abermals sagte mir eine innere Stimme: die Geschichte hier nimmt ein böses Ende.

Und – es war so! – Urplötzlich zuckte vor uns ein breiter Lichtschein auf. Dann fühlte ich mich von hinten mit Riesenarmen umschlungen; eine schwere Decke fiel mir über den Kopf; ich wollte schreien, spürte aber sofort den widerlich süßen Geruch von Chloroform, hielt den Atem an, mußte schließlich doch Luft holen und – verlor sehr bald die Besinnung.

Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich an einen Stuhl aufrecht sitzend gefesselt. Und mir gegenüber saß Harst, dem Arme und Beine gleichfalls mit dünnem Kupferdraht an den einfachen Holzstuhl gebunden waren. Er war bereits bei Bewußtsein. Unsere Stühle standen etwa anderthalb Meter auseinander. Das Zimmer, in dem wir dergestalt uns wiedersahen, war der Schlafraum Warbattys und seiner Genossen. – Über uns brannte eine elektrische Lampe, und neben uns saß auf dem Rande des einen Bettes der gebrechliche Greis: Warbatty selbst! – Er hielt in der Rechten einen Porzellandruckknopf, wie er bei elektrischen Hausklingeln benutzt wird. Von diesem Druckknopf liefen zwei dicke besponnene Drähte nach dem einen Fenster und unseren Stühlen hin.

„Wag nicht etwa um Hilfe zu rufen!“ sagte er jetzt zu mir. „Deinen Freund Harst habe ich bereits gewarnt! Sobald ich auf diesen Knopf drücke, erhaltet Ihr von der Starkstromleitung einen Schlag, der für noch größere Ochsen genügt, als Ihr es seid. – Meine Alarmvorrichtung hat sich tadellos bewährt. Sobald ein Unberufener den Koffer hervorzieht, ereignet sich zweierlei: Erstens: die Tür läßt sich nicht mehr öffnen. Zweitens: irgendwo ertönt eine Klingel – irgendwo!“ Er grinste. „Und daher haben wir Euch beide erwartet. Ich ahnte gleich, wer hier in meinen Zimmern war. Ich stand draußen, als Ihr mit dem Dietrich im Schloß herumarbeitetet. – Allerhand Achtung, daß Harst so schnell herausgefunden hat, daß unter dem Koffer in den Dielen Kontakte angebracht waren und daß er auch die Sperriegel der Tür ausschalten konnte. – Harald Harst, Du bist ohne Zweifel ein bedeutender Mensch. Nur – mit mir hättest Du nicht anbinden sollen! Es tut mir leid, Euch beide im Interesse meiner eigenen Sicherheit hier auf amerikanische Weise, durch einen elektrischen Hinrichtungsstuhl, beseitigen zu müssen. Ihr werdet aber selbst einsehen, daß jeder sich selbst der Nächste ist. – Wir können jetzt unser Gespräch fortsetzen, Harald Harst. – Wie ist es Dir möglich geworden, meine Spur bis hierher zu verfolgen?“

Harst erwiderte gelassen: „Wenn ich nicht mehr könnte, als hinter einem Manne herbleiben, der durch seine Hagerkeit und seine geringe Größe auffällt, wäre ich ein kläglicher Stümper. – Falls Du von mir aber etwas dazulernen willst, Warbatty, bin ich gern bereit, mit Einzelheiten zu dienen.“

Warbatty zuckte die Achseln. „Ich – von Dir etwas lernen!“ Er war offenbar in seiner Verbrechereitelkeit gekränkt und fragte nichts weiter. Harst war dies nur lieb. Denn er hatte ja ohne Frage von den beiden Skizzen schweigen wollen, die er jetzt stets sehr gut in seiner Reisehandtasche in dem Buchdeckel eines Romans versteckt hielt. Sein ironisches Angebot an Warbatty, diesen so etwas zu belehren, war wieder einmal einer jener feinen Tricks gewesen, bei denen er sich als glänzender Menschenkenner zeigte.

Warbatty hatte nach kurzer Pause hinzugefügt:

„Ich kann mich mit Euch beiden hier nicht länger aufhalten. Es ist jetzt,“ – er zog eine brillantenbesetzte Kapseluhr hervor und ließ den Deckel springen – „kurz nach zwei Uhr morgens. Wir haben noch etwa zwei Stunden zu tun, bis wir die Stahlkammer von Joe Philippson ausgeräumt und auch den Wunderschrein aus der St. Thomas-Kirche für uns mit Beschlag belegt haben. Damit Du es nämlich weißt, hochverehrter Harst: zwei Leute meiner weitverzweigten Bande haben hier seit einem Monat alles vorbereitet, damit wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe fangen können. Von der Thomas-Kirche führen unterirdische Gänge nach diesem Hause und nach Philippsons Bank. Um aber bis an die Stahlkammer dieser Bank vorzudringen und um auch in der Kirche in kurzer Zeit die hindernden Türen öffnen zu können, war wie gesagt noch manches zu tun. Heute sind wir so weit.“ Er schaute Harst höhnisch-überlegen an. „Ja, die Welt wird noch so manches von Cecil Warbatty hören, und die Polizei wird sich die Fersen hinter mir wundlaufen!“

„Nicht möglich!“ rief Harst mit glänzend gespieltem Erstaunen. „Unterirdische Gänge soll’s hier geben?! – Hm – Du wirst ein wenig renommieren, Warbatty!“

Der kleine, magere Verbrecher, der doch ein so großes Genie in seiner Art war, lachte belustigt auf. „Ich – ich und renommieren! Da kennst Du mich schlecht, Harald Harst! – Aber Du wirst mich sofort näher kennen lernen.“

Er stand auf, legte den Druckknopf mit den Drähten auf den Fußboden, nahm ein kleines vierbeiniges Tischchen, stellte es unter eine alte Wanduhr mit mächtigen Gewichten, schraubte den Druckknopf unter einem dieser Gewichte fest, nachdem er genau ausprobiert hatte, daß das Gewicht mit seiner platten Unterseite beim Tiefersinken den weißen Porzellanknopf herabdrücken mußte, warf das Päckchen mit der Million mit einem ironischen: „Da – holt es Euch!“ auf dasselbe Tischchen, drehte an den Zeigern der Uhr, ließ sie des öfteren schlagen, bis das eine Gewicht (es war das des Schlagwerks) kaum ein Zentimeter über dem Knopf schwebte.

„So,“ erklärte er dann mit wahrhaft teuflischem Hohn, „nun werde ich Euch noch Knebel in den Mund zwängen und diese so festbinden, daß Ihr sie nicht mit der Zunge hinausstoßen könnt. Eure Stühle sind am Fußboden angeschraubt. Ihr müßt also wehrlos mit ansehen, wie nach zehn Minuten, sobald der große Zeiger ebenfalls die Zwölf erreicht hat, die Uhr zu schlagen beginnt, das Gewicht sich dann senkt, den Knopf herunterdrückt und der elektrische Strom geschlossen wird. Ihr werdet zugeben, daß ich diese Hinrichtungsart recht geschickt ersonnen habe – Eurer Berühmtheit entsprechend. Harst und sein Gehilfe dürfen doch nicht auf gewöhnliche Weise sterben! – Während dieser zehn Minuten könnt Ihr Euch noch an dem Anblick der Million erfreuen, die Ihr so gern zurückerobern wolltet. – Lebt wohl. Wenn der Morgen graut, reise ich bereits dem schönen Süden zu – zu noch schöneren Taten!“ Er verbeugte sich, ging eilig davon. Das Licht ließ er brennen.

Meine Augen suchten Harsts Gesicht. Aber da der kalte Schweiß mir in die Augen lief, mußte ich sie schnell wieder zudrücken. Sie tränten und brannten. Und in meinem Hirn lohte wie ein Feuerbrand nur ein Gedanke: Noch sieben oder acht Minuten vielleicht! Dann ist’s aus mit Dir! – Da – eine Stimme, Harsts Stimme! Und erst in diesem Moment wurde es mir klar, daß Warbatty ja vergessen hatte, uns zu knebeln! Wir konnten also um Hilfe rufen! Ein kleiner Hoffnungsstrahl also! – Doch – wie schnell erlosch er wieder! Denn Harst sagte leise: „Lieber Schraut, dieser Warbatty hat absichtlich unsere Todesangst noch durch die Möglichkeit erhöhen wollen, uns durch unsere Stimmen bemerkbar machen zu können – absichtlich! Wir sollten rufen, brüllen, sollten uns an die Hoffnung klammern, jemand würde noch zur rechten Zeit uns aus dieser Lage befreien, – sollten gleichzeitig die Sekunden, die Minuten über diesen nutzlosen Versuchen verstreichen sehen. Er weiß eben genau, daß uns niemand hören kann, und wenn ja, daß die Hilfe dann doch zu spät kommt. Als Du noch bewußtlos warst, sagte er mir, daß die Witwe hier, die Zimmervermieterin, taub und die Wohnung über uns leer ist, daß die doppelten Fenster noch durch dicke Decken außer den Laden verhängt sind! Nie hätte er uns die Knebel erspart, wenn er nicht ganz bestimmt gewußt hätte, daß wir uns umsonst heiser schreien könnten. Ich verzichte daher auch darauf. Es gibt für uns nur eine Art der Rettung! Ob sie glückt, weiß ich nicht. Die Hauptsache ist, daß wir diese kritischen Minuten überleben. Dann wird schon Rat werden. Nimm all Deine Energie zusammen, Schraut! Von unserem kaltblütigen, planmäßigen Vorgehen hängt unser Leben ab. Das Schlaggewicht ist von uns vielleicht anderthalb Meter entfernt. Es hängt von der Uhr gerechnet an einer jetzt etwa ebenso langen Kette. Wenn wir –“ Er sprach weiter. Und – ganz plötzlich lief mir nicht mehr der Schweiß über die Stirn. –

Ich verlege den Schauplatz der Handlung in den Universum-Klub nach Berlin zurück.

Am folgenden Abend elf Uhr waren Harsts Wettgegner im Vorstandszimmer des Klubs vollzählig versammelt. Als letzter trat Kommerzienrat Kammler ein. Er war sichtlich erregt.

„Meine Herren,“ begann er, „ich habe Sie zu dieser Stunde sämtlich hierher gebeten, weil ich nachmittags eine Depesche von Harst aus Kingston in England erhielt, in der er mich bat, wir sollten ihn hier erwarten. Er würde fünf Minuten nach elf hier eintreffen. Ich hatte keine Ahnung, daß er in England weilte, und ich kann nur annehmen, daß er die Million –“

Da – von der Tür her vollendete eine andere Stimme den Satz:

„– die Million mitgebracht hat. Das stimmt!“ Es waren Harst und ich, die nun eintraten. Und Harst fuhr fort: „Guten Abend, meine Herren. Ich habe mich um drei Minuten verfrüht. Es ist erst zwei Minuten nach elf. Und – hier ist die Million!“ Er warf das Päckchen auf den Mitteltisch. „Bitte – nehmen Sie Platz, meine Herren. Ich bin Ihnen einige Erklärungen schuldig.“ In knappen Worten schilderte er, wie er durch die Skizzen gerade auf Kingston gekommen sei und was wir dort dann erlebt hatten. „Unsere Rettung vor dem elektrischen Starkstrom,“ sagte er nun lebhafter werdend, „hing einzig von unserer – Lungenkraft ab. Gelang es uns, das Schlaggewicht durch planmäßiges Blasen zum Schwingen zu bringen, so mußte es schon ein sehr unglücklicher Zufall sein, wenn das beim Schlagen ruckweise tiefer gleitende Gewicht gerade den kleinen Knopf berührte und auch herabdrückte. Wir hatten Glück: in kurzem schwang das Gewicht so stark hin und her, daß es an der Wand entlangscheuerte und die Uhr dann schlug, ohne unser Lebenslicht punkt Zwölf auszulöschen. Das Gewicht legte sich nachher neben das weiße Köpfchen an dessen runde Umhüllung. Wir waren also vorläufig gerettet. Und nun begann ich mich auf meinem festgeschraubten Stuhl ruckweise nach hinten zu werfen. Auf die Dauer verträgt das keine Stuhllehne. Genau eine halbe Stunde später krachte der Stuhl auseinander und ich fiel auf den Fußboden, konnte mich jetzt bis zu Schraut hinwälzen und seine Kupferfesseln aufdrehen und loswickeln. Auch dies verlangte eine halbe Stunde. Meine Dietriche lagen auf einem der Betten. So gelangten wir ins Freie, eilten nach der nächsten Polizeiwache, und bald darauf waren sowohl die Thomas-Kirche als auch die Bank und Warbattys Haus besetzt. Die Verbrecher hatten bereits die Stahlkammer geplündert und wollten gerade in die Sakristei eindringen. Sie flüchteten in die Gewölbe zurück, wo die Beamten dann – die Leichen der beiden Helfershelfer Warbattys mit Stirnschüssen vorfanden. Warbatty ist mit einem Teil der Beute aus Joe Philippsons Bank leider entwischt. Ich selbst habe geholfen, die unterirdischen Gänge abzusuchen. Er war und blieb spurlos verschwunden.“ Harst verneigte sich. „Das wäre alles, meine Herren. – Meine letzte Aufgabe lautete: Die Million soll wieder herbeigeschafft werden. – Die Million liegt dort auf dem Tisch.“

In den sich nun erhebenden Bravos und Hochs wurden Kammlers feierliche Worte, mit denen er Harst die Million überreichte, die dieser nun den Wettbedingungen gemäß gewonnen hatte, kaum beachtet. Erst seine letzten Sätze vernahm man deutlicher, da die Erregung sich inzwischen gelegt hatte:

„Ja, meine Herren, eigentlich ist es schade, daß unser Harst jetzt nicht mehr wie bisher ein bestimmtes Ziel vor sich hat! Diese Wette spornte ihn an, alle seine wunderbaren Fähigkeiten aufs äußerste auszunutzen. Nicht die Million lockte ihn dabei. Nein, er ist ja selbst Millionär! Er wollte nicht unterliegen, nicht als Besiegter dastehen, – das war’s! Dieser Ansporn fehlt jetzt, und vielleicht wird er –“

„Verzeihung, lieber Kammler,“ unterbrach Harst hier den Kommerzienrat. „Wenn die Anwesenden mir einzeln ihr Ehrenwort geben, daß sie über das, was ich noch zu bemerken habe, nicht nur schweigen, sondern auch untereinander nie mehr davon sprechen wollen, so will ich Ihnen beweisen, daß ein – anderer Ansporn jetzt vorhanden, – einer, der noch weit wirksamer als diese Wette ist. – Ich danke Ihnen, meine Herren. Ich habe jetzt von Ihnen die verlangte Versicherung erhalten. Also hören Sie. – Warbatty schickte mir damals jenen Brief mit 17 Buchstaben als Unterschrift, von denen der erste, B, durchstrichen war. Außer den beiden Skizzen der Städte Kingston und Palermo wurde bei Edward Orkney noch eine kleine Weltkarte gefunden, auf der mit blauer Tinte 16 Städte unterstrichen waren, darunter Berlin, Kingston, Palermo, Kairo und andere. – Dies nun hat mich zu der Überzeugung gebracht, daß Warbatty, dieser gefährlichste aller internationalen Verbrecher, in diesen Städten Unternehmungen ähnlicher Art wie in Kingston vorbereitet hat. Denn – die 16 Buchstaben der Briefunterschrift entsprechen den Anfangsbuchstaben dieser sechzehn Städte. Das B war durchgestrichen, – denn das hier in Berlin geplante Verbrechen war ja bereits ausgeführt, erledigt. Nun ist auch K, Kingston, Warbatty zum Teil geglückt, und nun wird er nach P, Palermo, nach dem schönen Süden reisen! Ich aber werde heimlich dasselbe tun und versuchen, diese fünfzehn sicherlich sehr großzügigen Pläne zu vereiteln, will gegen Warbatty, dieses vielleicht einzigartige Genie, den Kampf fortführen! Das ist der neue Ansporn, meine Herren! Wenn ich vorhin Ihr Ehrenwort erbat, so bedenken Sie, daß ich bei diesem Kampf jeden Moment vielleicht in größter Lebensgefahr schwebe. Merkt Warbatty, daß ich hinter ihm her bin, wird mir die Erreichung meines neuen Zieles ungeheuer erschwert. Daher nochmals: bitte tiefstes Schweigen! – Die gewonnene Million stifte ich hiermit dem Klub zur Verteilung an wirklich Notleidende. In erster Linie soll die Witwe des armen Häske 50 000 Mark erhalten. – So, auch das wäre erledigt. – Ich bin müde, meine Herren. Ich verabschiede mich jetzt für längere Zeit von Ihnen. Bereits morgen früh reise ich mit meinem braven Schraut gen Sizilien – nach Palermo. Ob wir uns lebend wiedersehen, steht dahin. – Ich habe die Ehre, meine Herren.“ –

Harsts Kampf gegen Cecil Warbatty werde ich in den folgenden Bändchen schildern unter dem Gesamttitel:

 

Harald Harst gegen Cecil Warbatty.
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient.

 

 

Die Schmuggler von Palermo.

 

Der Luxuszug Messina–Palermo, der eigens für die zahlreichen Touristen zwischen diesen beiden Hafenstädten Siziliens verkehrt, war heute an einem der ersten Septembertage nur wenig besetzt. Die Fahrt nach Palermo bietet dem Fremden eine solche Fülle von Naturschönheiten, daß die Reisenden fast dauernd in den gleichzeitig als Speisesalons dienenden Aussichtswagen sitzen, deren Seitenwände eine fortlaufende Reihe von Fenstern sind. Die Bahnstrecke führt zumeist dicht am Meere vorbei und durchschneidet die zahlreichen, von Palmen-, Oliven- und Orangenbäumen bedeckten Berge in oft endlosen Tunneln.

In einem Abteil erster Klasse saßen zwei Herren, denen man auf den ersten Blick die Künstler ansah. Sowohl das reichlich lange Haar und die dunklen Bärte als auch die großkarierten[2] Anzüge, die weichen Umlegekragen und die farbenfrohen, wehenden Schleifen ließen erkennen, daß die beiden aus ihrem Beruf kein Geheimnis machen wollten. Während der größere, ein sehr schlanker Mann, vor den Augen eine Hornbrille mit runden, leicht bläulichen Gläsern trug, schaute der kleinere, etwas korpulente sich die Welt durch einen Hornkneifer an. Ihre tief gebräunten Gesichter verrieten, daß sie sich viel in der sengenden Sonne irgendwo an der See zuletzt aufgehalten haben mußten. Sie waren von Messina an allein in ihrem Abteil geblieben, und der Größere von ihnen hatte dies schon bei der Abfahrt in Messina durch ein dem Schaffner gespendetes sehr reichliches Trinkgeld durchzusetzen gewußt. Sie sprachen jenes Elsässer Deutsch, das so sehr mit französischen Ausdrücken behaftet ist, daß ein Uneingeweihter es leicht für reines Französisch hält. Ein Eingeweihter freilich, ein geborener Elsässer, hätte sehr bald gemerkt, daß dieser Sprachenmischmasch der beiden niemals echt war.

Wenn die beiden aber, wie jetzt wieder, eng nebeneinander saßen und die Köpfe zusammensteckten, dann gebrauchten sie das reinste Hochdeutsch und bewiesen so, daß ihr Elsässertum wohl nur zur Täuschung anderer dienen sollte. – Der Zug hatte Villabate, die letzte Hauptstation vor Palermo, verlassen. Soeben war wieder ein Herr mit gelbbraunem Sizilianergesicht und schwarzem Spitzbart draußen im Gange langsam an dem Abteil der beiden Maler vorübergeschlendert. Und da hatte der Größere dem Freunde zugeflüstert:

„Lieber Schraut, der Mann bummelt jetzt zum dritten Mal draußen vorbei. Mir behagt das nicht. Wenn’s ein Spion Warbattys ist, so fängt die Geschichte hier recht unangenehm an, denn der Kerl schenkt uns eben eine sehr auffällige Beachtung, wenn er auch den Harmlosen zu spielen sucht. Wir hätten doch vielleicht besser getan, jeder allein zu reisen. – Nun – ich werde mir sehr bald Aufschluß über diesen Herrn verschaffen.“

Der, der so zu seinem Privatsekretär und Freunde gesprochen, war niemand anders als Harald Harst, jener in kurzem weit über die Grenzen Deutschlands hinaus berühmt gewordene Liebhaberdetektiv, der durch die Aufdeckung von zwölf überaus schwierigen Kriminalfällen eine Millionenwette gewonnen und nun den Kampf gegen den gefährlichsten, schlauesten und rücksichtslosesten aller internationalen Gauner, den fast sagenhaften Cecil Warbatty, aufnehmen wollte, – sagenhaft insofern, als noch niemand dieses Mannes wahres Gesicht geschaut hatte, der sich stets in tadellos gelungenen Verkleidungen bewegte und vielgestaltiger als der beste Schauspieler war.

Harst erhob sich, sagte zu seinem Gefährten, zu mir, der ja schon die früheren Abenteuer seines Brotherrn und Gönners in Form von Erzählungen veröffentlicht hat: „Ich bin sofort wieder da. Der Gelbbraune draußen reizt mich.“

Er betrat den Gang. Der ihm so verdächtig erscheinende Herr stand am dritten Fenster und betrachtete angelegentlich die von der Sonnenglut völlig ausgedörrten, weiten Felder einer Ebene, durch die der Zug gerade hindurchbrauste. In Sizilien wird ja das Getreide im Winter gesät und im Frühjahr geerntet. Die große, fruchtbare Insel kennt keine kalte Jahreszeit. Sie ist in Wahrheit der Übergang zu den Ländern des Orients, zu dem alten Kulturlande Palästina und der Märchenwelt Ägyptens mit seinen Pyramiden und dem Riesensteinbilde der Sphinx, diesem verkörperten Geheimnis längst entschwundener Zeiten.

Harst schritt gemächlich an dem Fremden vorüber, griff in die Brusttasche, holte seine Zigarettendose hervor und ließ dabei absichtlich einen Brief zur Erde flattern, schien dies aber nicht zu bemerken und ging weiter, nachdem er die Zigarette angezündet hatte. In dem nächsten Wagen angelangt, stellte er sich so auf, daß er in dem in die Tür des Waschraumes eingelassenen großen Spiegel den Gelbbraunen genau beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

Und – der Mann schaute sich jetzt wirklich scheu um, schoß dann wie ein Habicht auf eine Beute auf den grauen Geschäftsumschlag zu, raffte ihn auf und schob ihn blitzschnell in die Tasche seines nur für flüchtige Blicke noch elegant wirkenden Rockes. Dann schlenderte er nach der anderen Seite zu davon, blickte sich nochmals ängstlich um und betrat schnell das letzte leere Abteil des Wagens, griff wieder nach dem Briefe und zog aus dem Umschlag einen zusammengefalteten Bogen und fünf Hundertlirescheine heraus. Seine Augen leuchteten auf. Ebenso blitzschnell wie er vorhin den Briefumschlag an sich genommen, verbarg er nun die Banknoten in seinem Strohhut unter dem Schweißleder, knüllte Umschlag und Briefbogen zusammen und wollte sie unter die Polstersitze werfen.

Wollte! Er kam nicht dazu. Harst war ihm lautlos und eiligst nachgeschlichen, hatte, da der Mann sich mit dem Rücken nach der Glastür gestellt hatte, ihn unbemerkt abermals beobachtet und sagte nun höflich in etwas dürftigem Italienisch:

„Signore, Sie scheinen den Brief, den ich soeben verloren habe, gefunden zu haben.“

Der Sizilianer schnellte herum, wurde bleich, stotterte ebenso angstvoll wie verlegen: „Oh, ich glaubte, jemand hätte das Schreiben als wertlos weggeworfen. Daher wollte ich –“

Harst unterbrach ihn lächelnd. „Wertlos?! – In dem Umschlag befanden sich fünf Banknoten, die ich in Messina auf dem Bahnhof aus Bequemlichkeit nicht in meine Brieftasche gesteckt hatte.“

Dem Sizilianer schoß jetzt die helle Röte ins Gesicht. Seine Mienen zeigten den Ausdruck eines kurzen inneren Kampfes zwischen Gut und Böse. Dann senkte er den Kopf, erklärte leise und mit flehender Stimme: „Signore, Sie sind fraglos ein Ausländer. Sie werden reich sein, und deshalb bitte ich Sie, einen armen Teufel wie mich nicht etwa der Polizei zu übergeben. – Ich habe die Banknoten behalten wollen. Ich räume das ohne weiteres ein. Aber – mir geht es schlecht, jämmerlich schlecht.“ Er blickte auf und Harst ehrlich an.

Harst, dieser vorzügliche Menschenkenner, merkte, daß der mit so fadenscheiniger Eleganz Gekleidete nicht log und kein gewöhnlicher Spitzbube war. Dieser Mann hatte fraglos einst bessere Tage gesehen. – Daher erwiderte er auch sofort liebenswürdig: „Seien Sie außer Sorge. Ich denke gar nicht daran, Ihnen Ungelegenheiten zu bereiten.“

Da nahm der Sizilianer schnell den Strohhut ab und die Banknoten heraus. „Bitte, Signore. – Ich kann auf mein Wort versichern, daß dies meine erste derartige Entgleisung vom Wege der Ehrlichkeit ist. Wenn nicht die Not so furchtbar –“ Er schwieg, denn Harst hatte mit der Hand eine ablehnende Bewegung gemacht und erklärte nun: „Stecken Sie das Geld nur wieder ein. Sie scheinen es tatsächlich dringend zu brauchen. Ich kann es unschwer entbehren.“

Der Andere wich vor Erstaunen etwas zurück. „Wie, – Sie – Sie wollen diese – diese große Summe mir wirklich schenken?“ – Harst nickte. „Gewiß. – Vielleicht können Sie mir dafür einen Gefallen tun.“

Ich saß derweil in unserem Abteil. Ich hatte erst den Gelbbraunen und gleich darauf Harst an der Tür vorüberhuschen sehen und sagte mir, daß unsere Tätigkeit in Palermo wohl schon mit einem kleinen Abenteuer hier im Zuge beginnen würde.

Gleich darauf betraten Harst und der Fremde das Abteil, und mein berühmter Freund und Gebieter sagte in einem Ton, als befände er sich in einem Berliner Salon: „Lieber[3] Schaper, ich stelle Dir hier den Conte (Grafen) Cesare Leonforte vor. – Herr Graf – mein Kollege und Freund Maxim Schaper, – Kunstmaler wie auch ich und gleichfalls in Straßburg daheim.“ – Ich hatte mich erhoben. Ich reiste jetzt als Maxim Schaper und Harald Harst als Heinz Horn. Diese Namen hatten wir der Monogramme in unserer Wäsche wegen gewählt – M S, H H.

Wir nahmen wieder Platz, und Harst fuhr in leichtem Plaudertone fort: „Der Herr Graf Leonforte hat mir soeben mitgeteilt, daß er sich zur Zeit in etwas bedrängter Lage befindet. Er ist seit einem Jahre mit einer Deutschen verheiratet, die in Palermo im Hause seiner Eltern Erzieherin war. Dieser Heirat wegen haben seine Eltern, die durch seinen älteren Bruder hierzu noch aufgereizt worden sind, sich mit ihm entzweit. Da er wie die meisten Söhne der reichen sizilianischen Groß-Grundbesitzer nichts Rechtes gelernt hat, versucht er als Fremdenführer und Klavierspieler sein Brot ehrlich zu verdienen. Nun ist jedoch seine Gattin bereits wochenlang krank, und die Not ist in das bescheidene Heim des Grafen als ständiger Gast eingezogen. Er wohnt außerhalb Palermos in einem alten, halb verfallenen Palast unweit des Meeres. Diesen Palast hat der Eigentümer, soweit die Gemächer noch bewohnbar sind, an ärmere Familien vermietet, zumeist Fischer. Es ist sogar ein recht bekannter Palazzo (Palast), um den es sich hier handelt, nämlich der Palazzo Batticino, der früher in Reisehandbüchern stets als Sehenswürdigkeit mit aufgeführt wurde. Vor fünf Jahren hat jedoch ein Erdbeben dem wohl 500 Jahre alten Bauwerk so übel mitgespielt, daß es zur Ruine geworden ist und der Besitzer alles Wertvolle daraus entfernen ließ. – Der Conte ist vorhin an unserer Tür schon ein paarmal vorübergegangen, um irgendwie Gelegenheit zu finden, sich uns als Führer für Palermo anzubieten. Er pflegt wie viele andere, die gewerbsmäßig Touristen die Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen, bis Villabate dem Luxuszug entgegenzufahren, um sich dann gleich hier nach Verdienst umzusehen. Ich freue mich nun sehr, daß ich die Bekanntschaft des Grafen gemacht habe, denn er will uns von seiner für ihn zu großen Wohnung zwei Räume überlassen. Ich habe sofort zugegriffen, denn der Palazzo Batticino liegt ja inmitten eines jetzt zwar recht verwilderten, aber immer noch sehr schönen Parkes, dazu keine achtzig Meter von der Steilküste der Bucht von Palermo ab. Wir werden dort also die beste Gelegenheit haben, in Ruhe – arbeiten zu können.“

Bei dem Worte Batticino hatte Harst mich beide Male schärfer angesehen. Ich verstand sofort.

Harst hatte nämlich bei seinem ersten recht gefährlichen Zusammentreffen mit Cecil Warbatty, der ja das Oberhaupt einer glänzend organisierten Verbrecherbande sein sollte, einem von dessen Spießgesellen unter anderem auch eine Skizze eines Teiles des Stadtplanes von Palermo abgenommen und auf Grund scharfsinniger Kombinationen sich die Überzeugung verschafft, daß Warbatty gerade in Palermo einen neuen großen „Schlag“ plane. Und auf dieser Skizze, auf die ich später noch näher zu sprechen komme, hatte der Palazzo Batticino eine ganz besondere Bedeutung gehabt.

Harst log also durchaus nicht, als er erklärte, er freue sich über die Bekanntschaft mit dem Grafen. Waren wir doch so auf eine ganz unverfängliche Art und Weise Untermieter in einem Gebäude geworden, das ganz ohne Zweifel bei Warbattys Plänen irgend eine Rolle spielte. Gerade weil Cesare Leonforte Fremdenführer war, lag es so nahe, daß er zwei Malern seine leerstehenden Zimmer anbot.

Anderthalb Stunden später brachte ein Wagen uns samt unserem Gepäck in Begleitung des liebenswürdigen und bescheidenen Grafen nach dem südöstlich von der Stadt gelegenen Palazzo, der mit seinem großen Park sozusagen das Zierstück eines neueren, nur von der ärmeren Bevölkerung bewohnen Viertels bildete. –

Der altehrwürdige Palazzo hat seine Hauptfront nach dem Meere zu und bildete früher ein riesiges, innen offenes Viereck. Diese Öffnung in Gestalt eines kleinen Gartens ist jetzt größtenteils mit den Trümmern der beiden Seitenflügel und des später angebauten, nach dem Parke zu gelegenen Hinterflügels ausgefüllt, die jenem Erdbeben zum Opfer gefallen sind. Bewohnbar ist also nur noch der älteste Teil des Hauses, der in der Mitte eine mächtige Flügeltür hat[4], zu der eine bogenförmige Treppe emporläuft und durch die man dann in eine riesige Vorhalle gelangt. Im Hintergrunde führt eine fast fünf Meter breite Treppe in die zwei oberen Stockwerke hinauf. –

Der Graf wohnte im Erdgeschoß rechter Hand. Hier durchschneidet ein langer Flur das Gebäude, in den zahllose Türen münden. Dieser Korridor ist stets in geheimnisvolles Halbdunkel gehüllt, so daß man leicht über die sehr schadhaften Steinfliesen stolpern kann.

Cesare Leonforte schloß rechter Hand die dritte Tür auf und geleitete uns so in unser Wohngemach, einen dreifenstrigen Raum, der ein sehr gutes Atelier abgeben mußte. Nach links zu ging eine hohe Flügeltür in das zweifenstrige Schlafgemach. – Die Einrichtung der beiden Gemächer war überaus dürftig. Dem Grafen merkte man an, wie peinlich ihm dies war. Er entschuldigte sich bei Harst deswegen, doch der klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und meinte, er finde es hier wunderschön.

So hielten wir unseren Einzug in den Palazzo Batticino, in dem wir sehr bald Dinge erleben sollten, die, wenn ich sie voraus geahnt hätte, mich wohl zum schleunigen Aufgeben dieses Quartiers veranlaßt haben würden. – Der Graf besorgte uns dann sofort eine ebenfalls im Erdgeschoß wohnende junge Sizilianerin, die Tochter eines Fischers, als Bedienung, und Signorita Olivella Oreto holte für uns allerlei zum Abendessen ein. Sie war ein flinkes, hübsches Mädchen von sechzehn Jahren, vollerblüht, mit feurigen Augen, eben eine jener Schönheiten, die unter der Strahlensonne Italiens so häufig in aller Ungebundenheit aufwachsen, nur zu schnell aber dahinwelken, wenn sie erst verheiratet sind und schwerere Arbeiten tun müssen.

– – – – – – – –

Wir waren gegen halb acht abends im Palazzo angelangt. Um halb neun saßen wir bei offenen Fenstern beim Abendbrot. Den wackeligen Tisch hatten wir dicht an das mittlere Fenster gestellt.

Harst war bester Laune. Er hatte mir soeben den Trick mit dem „zufällig“ verlorenen Brief geschildert. Dieser Brief war nebenbei bemerkt mein Machwerk und an Herrn Kunstmaler Heinz Horn adressiert gewesen. Auch ich besaß wie Harst einige harmlose Schreiben mit der Anschrift Maxim Schaper. Wir hatten diese Briefe absichtlich hergestellt, damit wir, falls man unsere Sachen mal heimlich durchstöberte, noch mehr den Eindruck „echter“, harmloser Künstler machten.

Harst schob seinen Teller zurück und holte aus dem Futter seines Rockes die bereits erwähnte Skizze dieses Stadtviertels hervor, breitete sie auf dem Tische aus und flüsterte: „Du – schau her. – Hier geht eine punktierte Linie von unserem Palazzo mitten durch den Park bis zu einem kleinen Viereck hin. Und an dieses Viereck ist ein dickes Kreuz gemalt. Die Linie verläuft weiter nach Süden zu bis zu einem Hause in einer der neuesten Straßen hart am Meere. Die Straße heißt Via Piccio. Die Punkte folgen nun der Küste und endigen etwas nordwestlich von unserem Palazzo scheinbar auf freiem Felde. – Das sagt uns die Skizze über Warbattys hiesige Pläne. Etwas wenig! – Na – morgen werden wir schon mehr wissen, hoff’ ich. Jedenfalls müssen wir baldigst feststellen, ob unser Gegner bereits gleichfalls hier eingetroffen ist, nachdem er mir vor drei Tagen leider bei unserem ersten Renkontre so spurlos entschlüpfte.“ Er gähnte zwanglos. „Die Hitze im Zuge war geradezu erschlaffend,“ fuhr er fort und langte nach seiner Zigarettendose. „Wie gefällt Dir der Graf? – Ohne Frage ein anständiger Charakter. Der ältere Bruder Viktor dagegen scheint ein böses Früchtchen zu sein. Er hat den Jüngeren – darüber besteht kein Zweifel – nur deswegen mit seinen Eltern entzweien wollen, um alleiniger Erbe der großen gräflichen Besitzungen zu werden, die man hier Latifundien nennt. Ich bin auf unsere Landsmännin recht gespannt, auf die Gräfin Gertrud Leonforte, geborene Schmidt. – Schmidt! Wie heimatlich das klingt!“ Er gähnte wieder, stand dann auf, schaute zum Fenster hinaus. „Das Meer brandet recht stark, lieber Maxim,“ meinte er. „Die Abendröte ist herrlich. Und“ – leiser – „man kann ganz bequem durch die Fenster aus- und eingehen. Sehr wertvoll.“

Ich stellte mich neben ihn. Durch die Bäume nach der See hin war eine breite Lücke geschlagen in Gestalt einer von Zypressen eingefaßten Allee. Diese sah genau so verwahrlost aus wie alles hier.

Plötzlich sagte Harst: „Ah, wie unangenehm, – dort kommt ein Kollege von uns die Allee entlang mit Malkasten und Staffelei. – Sehr unangenehm! Wenn der Mensch gar hier in dieser Ruine ebenfalls wohnt, wird es uns höllisch schwer fallen, unsere Rollen als Maler leidlich echt durchzuführen, oder aber wir müssen gerade die Übermodernen spielen und zum Schein unsere Leinwand mit etwas beklecksen, das ebenso gut eine Kuh, eine Landschaft oder ein Stilleben sein kann. – Entfernen wir uns vom Fenster. Der dicke Kollege da braucht nicht gerade heute schon auf uns aufmerksam zu werden.“

Wir traten zurück, drehten uns gleichzeitig um, zuckten auch gleichzeitig überrascht, wohl gar etwas erschrocken zusammen, – denn hinter unserem Abendbrottisch stand eine schlanke, blonde Frau in einem dunklen Kleid, – eine Frau mit abschreckend magerem Gesicht, in dem ein Paar große, dunkle Augen krankhaft leuchteten wie die einer Fiebernden. Sie trug das hellblonde, reiche Haar in losem Knoten aufgesteckt, darin einen langen Haarpfeil aus Bronze in Form eines dünnen, leicht gebogenen Dolches. Die Abendröte umfloß ihre Gestalt mit rosigem Glanz und täuschte auf den eingefallenen Wangen eine sanfte Röte vor. Trotzdem erkannte man sofort, daß dieses junge Weib eine Schwerkranke war, daß sie mit zu den vielen anderen Unglücklichen gehörte, die hier in der milden Winterluft Palermos Heilung oder doch wenigstens eine Verzögerung ihres Leidens erhoffen, – genau wie alle die, denen man in den Schweizer Winterkurorten begegnet und deren Lungen gleichfalls von diesem winzigen Feinde der Menschheit, dem Tuberkelbazillus, verheert werden.

Wer diese Frau war, darüber gab es keinen Zweifel. Wir verbeugten uns denn auch tief, und Harst schob ihr sofort den einzigen hier vorhandenen alten Ledersessel hin. – „Bitte, Frau Gräfin, nehmen Sie Platz. – Sie gestatten: mein Name ist Horn. Das dort ist mein Freund und Kollege Schaper. – Ihr Gemahl war so liebenswürdig –“ Er schwieg, denn die Kranke hatte sich matt in den Sessel sinken lassen und jetzt eine müde Handbewegung gemacht.

„Ich weiß alles, meine Herren,“ sagte sie mit etwas heiserer Stimme. „Der gute Alfio – dies ist meines Mannes zweiter Vorname – ist so glücklich, daß es durch Ihre Güte ihm möglich geworden, wieder einige Lebensmittel für mich einzukaufen. – Entschuldigen Sie bitte, daß –“ – sie hüstelte leise und preßte dabei die Linke auf die Brust, – „daß ich hier ohne weiteres eingedrungen bin.“ Ihre Stimme ward zum Flüstern. „Ich huschte schnell über den Flur; ich wollte mich nicht sehen lassen. Ich darf mein Bett nicht verlassen. Ich fand Ihre Tür unverriegelt und –“ – bei den letzten Worten hatte sie in den Schoß geschaut – „und trat ein. Mein Klopfen haben Sie wohl überhört.“ – Abermals das röchelnde Hüsteln. Harst warf mir einen langen Blick zu. Seine Augen wanderten dann nach der Tür des Zimmers. Und da besann ich mich: Harst hatte sie vorhin verriegelt, bevor er auf die Skizze zu sprechen kam. – Ah – die Gräfin hatte also soeben ein wenig die Unwahrheit gesagt. Sie konnte nicht vom Hausflur aus bei uns eingetreten sein, selbst nicht durch das Schlafzimmer, dessen Flurtür ja auch durch das eine Bett verstellt war.

Mein Gesicht muß wohl Harst meine Gedanken verraten haben. Denn jetzt wanderte sein Blick nach links hin, wo eine durch einen mächtigen Eichenschrank verdeckte Tür in die Räume des gräflichen Paares führte.

Dann sagte Harst schon: „Frau Gräfin, – das bedarf doch wirklich keiner Entschuldigungen. Wir sind jetzt doch Hausgenossen, sozusagen Ihre Gäste, und da muß man etwas zwangloser miteinander verkehren, um so ein wenig deutsche Gemütlichkeit zu erzielen. Wir, mein Freund und ich, sind jetzt zwar in Straßburg ansässig, aber doch keine geborenen Elsässer, vielmehr aus Pommern gebürtig. Deshalb könnten wir auch deutsch miteinander sprechen. Wir wollen jedoch bitte beim Italienisch bleiben, denn Schaper und ich möchten unsere mangelhaften Sprachkenntnisse gern ergänzen. – So, Frau Gräfin, nun, hoffe ich, wissen Sie, daß wir ein paar Malersleute sind, die mit Ihnen und Ihrem Gatten sich auf recht freundschaftlichen Fuß stellen möchten. Und – noch eins: man kann uns Vertrauen schenken, Frau Gräfin! – Wirklich! – Ich nehme an, daß ein Anliegen besonderer Art Sie zu uns führt. Wenn eine Kranke heimlich ihr Bett verläßt und – einen geheimen Zugang zu diesem Zimmer benutzt, so muß sie etwas sehr Schweres auf dem Herzen haben. – Liebe Landsmännin, erschrecken Sie nicht! Bleiben Sie ganz ruhig. Wir haben unsere Flurtür dort nämlich vorhin abgeschlossen. Also muß es wohl einen anderen Verbindungsweg zwischen Ihren Räumen und diesem Zimmer geben. Wir befinden uns in einem viele hundert Jahre alten Palazzo, sogar in dessen ältestem Flügel. Damals bauten die reichen Nobili (Edelleute) in ihre Häuser stets Notausgänge in Gestalt von geheimen Türen und Gängen ein, zumal hier in Sizilien, wo politische Unruhen und Meuchelmorde stets an der Tagesordnung gewesen.“

Die Gräfin streckte Harst die abgezehrte Hand hin. „Ich danke Ihnen. Sie sind ein gütiger, ein guter Mensch. – Ja – es gibt eine Verbindung zwischen unserem Schlafzimmer und diesem Gemach – dort im Wandgetäfel.“ Sie deutete etwas rechts neben den riesigen Eichenschrank. „Alfio kennt die Geheimtür nicht. Ich vertraue ihm gerade so etwas ungern an, denn – er sucht mit allem Geld zu verdienen, nur um mich pflegen zu können. – Ich entdeckte jene Tür zufällig beim Staubwischen vor zwei Monaten. Die Mauer dort ist fast zwei Meter dick, aber – hohl. Und zwischen diesen Doppelwänden führt noch eine Treppe in die Tiefe. Alfio hätte nun sicher nachgeforscht, wo diese Treppe endet, hätte vielleicht gehofft, Schätze oder sonst Wertvolles zu finden und sich dabei womöglich Gefahren ausgesetzt. Ach – er liebt mich ja so, obwohl ich ihn doch nur unglücklich gemacht, in Armut gebracht habe! Er lebte früher ganz wie ein Nobili, und erst die Liebe zu mir –“ Sie begann zu schluchzen, faßte sich aber schnell und fuhr fort: „Auch jetzt ist er bereits wieder in der Stadt und spielt in einer Hafenspelunke Klavier. Oh – wie soll ich ihm alle diese treue Sorge um mich je vergelten, ich, die ja doch bald sterben muß.“ Sie sprach das Letzte ganz ruhig aus, wie jemand, der sich mit einem furchtbaren Geschick abgefunden hat.

Harst stand auf, holte ein sauberes Weinglas aus seinem Koffer und schenkte es für die Gräfin voll. Der dunkelgelbe Sizilianer Wein sah im Schein der Abendröte wie Blut aus. – „Bitte, trinken Sie, Frau Gräfin. – Und dann erleichtern Sie sich Ihr Herz ohne Scheu. Mir sind schon viele Geheimnisse mitgeteilt worden, und vielen seelisch Bedrückten habe ich helfen dürfen, – nicht nur durch Geld oder dergleichen, nein, auch mit der Tat.“ Er sagte dies in so energischer Art, daß die Gräfin, die das Glas gerade am Munde hatte, es schnell absetzte, ihn forschend ansah und dann nachdenklich flüsterte: „Sie – Sie können nicht nur Maler sein, Herr Horn. Ich hörte vorhin, wie Sie zu Herrn Schaper am Fenster äußerten, es würde Ihnen schwerfallen, Ihre Rolle als –“

„Verzeihung,“ unterbrach Harst sie. „Wir sind Maler. – Und nun, Frau Gräfin, schenken Sie Ihren Landsleuten vollstes Vertrauen.“

Sie nickte. „Ach – so freudig tue ich’s! Ich stehe ja hier ganz allein da – ganz allein! Habe niemanden, dem ich das berichten könnte, was mich quält. Gewiß – Olivella Oreto betet mich an. Aber – sie ist ja nur ein lebenslustiges Fischermädel, die für solche Dinge kein Verständnis hätte. Vielleicht werden auch Sie mich belächeln, meine Herren, vielleicht meine durch die Krankheit erschöpften Nerven beschuldigen, mich genarrt zu haben. – Doch – trotzdem: ich will Ihnen alles erzählen. – Wir wohnen hier jetzt sechs Monate. Wir mußten diese vier Zimmer mieten, da der Besitzer des Palazzo daraus eine Wohnung gemacht hat. Sonst hätten wir uns mit zweien begnügt. Diese beiden, die Sie jetzt innehaben, gaben wir wiederholt an Ausländer ab. Zuerst hatten wir eine schwindsüchtige junge Französin mit ihrer Mutter als Mieter. Sie starb hier plötzlich. – Dann kam ein amerikanisches Ehepaar. Er war Ingenieur und baute hier eine Maschinenfabrik. Dann erschien ein reicher Engländer, ein Sonderling, der stets mit den Fischern zum Fang aufs Meer fuhr. Er war unendlich lang und sehr dürr, dieser Master Reginald Swarter. Eines Morgens fanden wir dann hier auf dem Tisch einen Zettel von ihm, daß er in der Nacht abgereist sei. In der Tat fehlte sein ganzes Gepäck. Er hatte uns auch noch 900 Lire dagelassen. – Mein Mann meinte, diese Art Abreise entspreche ganz Swarters sonstigen Schrullen. Und ich hätte dasselbe gedacht, wenn – wenn ich nicht in der Nacht, in der Swarter verschwand, bis zum Morgen von traurigen Gedanken gequält wach gelegen hätte. Und deshalb hörte ich auch genau um Mitternacht hier in diesem Gemach etwas wie einen kurzen gellenden Aufschrei. Die dicke Mauer läßt ja so leicht kein Geräusch hindurch. Aber es ist doch eben die geheime Verbindung zwischen den beiden Räumen vorhanden, das heißt, auf dieser Seite im Wandgetäfel eine kleine, niedrige Tür, und bei uns drüben eine zweite, genau so gearbeitete. Und diese Türen –“

Harst nickte. „Gut – ich verstehe! Nun weiter, Frau Gräfin!“

„Ah – die Sache scheint Sie zu interessieren, Herr Horn. Leider kann ich aber zu diesem meinem Sorgenpunkte nichts mehr angeben. Wir haben von Swarter nie mehr etwas gehört. – Ich erzählte Alfio nichts von dem Schrei. Absichtlich nicht. Ich hätte ihm ja sonst von den Geheimtüren ebenfalls Mitteilung machen müssen, durch die der Schrei bis zu mir drang. – Das war vor einem Monat etwa. Am Tage nach Swarters Abreise mietete ein österreichischer Maler nachmittags diese beiden Räume. Er hieß Sendling, Josef Sendling, und war ein sehr netter und sehr humoristischer Mensch. Er blieb drei Wochen. Dann fuhr er nach Wien zurück. Ja – denken Sie – und gerade als Alfio Sie beide vorhin hierher gebracht hatte und Sie eingezogen waren, schickte Sendling aus dem Hotel Imperial in Palermo durch einen Boten einen Brief und teilte uns mit, daß er die Zimmer wieder für 14 Tage belegen möchte. Nun – wir gaben ihm natürlich den Bescheid, die Räume seien jetzt nicht zu haben.“

„Eine Frage, Frau Gräfin,“ warf Harst ein. „Ist dieser Kollege von uns klein und dick?“

„Ja – und er trägt das blonde Haar noch länger als Sie beide, dazu ist er stets unrasiert.“

„Dann haben wir ihn vorhin gesehen. Er kam die Allee entlang auf den Palazzo zu.“

„Oh – er wird sicher zu uns gewollt und bei uns geläutet haben. Fraglos hatte er die Absicht, diese Zimmer sich um jeden Preis wieder zu beschaffen, sie Ihnen sozusagen abzukaufen. Er fühlte sich hier so sehr wohl. Und er muß sehr reich sein. Auf Geld kommt es ihm nicht an – für seine eigene Person. Bei all seiner Fröhlichkeit ist er doch wohl ein rechter Egoist. – Nun – er wird zu Oretos hinübergegangen sein. Mit Olivellas Vater hatte er sich recht angefreundet. Und Oretos werden ihm sagen, daß ich jetzt bettlägerig bin und –“

„Pst,“ machte Harst da. „Still – ganz still!“

Inzwischen war die Abendröte erloschen, und in dem großen Gemach war’s dunkel geworden. Desto geisterhafter leuchtete das bleiche Gesicht der kranken Gräfin. Ihr Kopf hob sich über der Lehne des Sessels scharf ab und schien geradezu in der Luft zu schweben, während ihr dunkles Kleid mit dem tiefbraunen Sessel in eins zerfloß.

– – – – – – – –

Harsts Worten folgte lautlose Stille. Nur aus den übrigen Teilen des Palazzo drangen allerlei Geräusche zu uns herein. – Minuten vergingen. Dann sagte Harst:

„So, Frau Gräfin, nun haben Sie sich etwas erholt. – Stört es Sie, wenn ich auf und ab gehe?“ – „Durchaus nicht, Herr Horn.“

Harst stand auf. „Bitte, Frau Gräfin, – Sie haben doch fraglos noch mehr auf dem Herzen. Aber – strengen Sie Ihre Stimme nicht an. Sprechen Sie leise. Ich habe vorzügliche Ohren. Ich höre alles, auch wenn ich auf dem Bastteppich hin und her wandere.“

Die Kranke begann wieder, während Harsts Gestalt fast lautlos in dem dunklen Zimmer dahinwandelte, bald hierhin, bald dorthin. Aber immer kehrte er, ohne Zweifel absichtlich, nach jener Stelle der Wand zurück, wo etwa die Geheimtür sich befinden mußte.

„Ja, ich habe noch mehr auf dem Herzen, Herr Horn, – sogar die Hauptlast noch! – Es betrifft Alfio. Ich – ich fürchte, er hat allerlei sonderbare Geheimnisse vor mir. Ich habe bestimmte Beweise, daß er nicht jeden Abend dort in der Hafenkneipe – sie heißt Bodega d’Italia – Klavier spielt und dazu Gassenhauer singt. Ach – seine Stimme ist so schön, und die häßlichen Lieder verachtet er. Aber – er muß ja singen, was der Wirt verlangt. – Er will mich glauben machen, er hätte dort jeden Abend zu tun. Wie gesagt: ich habe Beweise, daß er mindestens zweimal in jeder Woche nachts auf See gewesen ist.“

Sie führte allerlei an, was bewies, daß sie gut beobachten und kombinieren konnte. – Nun schloß sie folgendermaßen:

„Ja – seine Kleider riechen dann stets nach Teer, – eben so, als habe er sich auf einem Segelschiff stundenlang aufgehalten. Und verschiedentlich spürte ich in seinem Haar auch den scharfen Geruch eines Ölhutes, wie ihn die Fischer bei stürmischem Wetter tragen. Immer, wenn ich den Argwohn hege, er sei nicht in der Bodega d’Italia bis gegen Morgen gewesen – vor Tagesanbruch kehrt er nie heim –, handelte es sich um dunkle regnerische Nächte. – Was halten Sie von alledem, Herr Horn? – Ich fürchte ja nur zu sehr, daß Alfio sich, um Geld zu verdienen, mit Leuten eingelassen hat, die nach den Moralbegriffen der hiesigen Bevölkerung keineswegs verachtungswert erscheinen, im Gegenteil, die genau so wie unsere[5] sizilianischen Briganten, und die gibt’s wirklich hier noch immer, mehr als Helden bewundert und beschützt werden, – ich meine mit – Schmugglern. – Könnte ich hierin nicht recht haben, Herr Horn?“

Ich hatte, da es infolge schneller Bewölkung des Himmels bei uns im Zimmer jetzt stockfinster war, von Harst in den letzten Minuten nichts mehr bemerkt.

Eine Weile Schweigen. Dann abermals die Stimme der Schwindsüchtigen: „Herr Horn, bitte antworten Sie doch. Sie brauchen mich nicht zu schonen. Gewiß – ich lebe dauernd in furchtbarer Angst um Alfios Sicherheit. Aber – ich bin noch stark genug, ihn, falls Sie meine Befürchtungen teilen, offen zu bitten, sich meinetwegen nicht weiter noch der Gefahr auszusetzen, von den Zollbeamten abgefaßt zu werden und ins Gefängnis zu kommen. Sie sollen mir ehrlich erklären, Herr Horn, was Sie zu alledem meinen. – Bitte, sprechen Sie. – Wo sind Sie eigentlich? Ich sehe Sie nicht. Hier ist’s so dunkel. Machen Sie doch bitte Licht.“

Da mischte ich mich ein. Ich wußte jetzt, daß Harst zu irgend einem Zweck lautlos das Zimmer verlassen hatte, und ich hielt es für ratsam, daß wir im Dunkeln blieben.

„Frau Gräfin,“ sagte ich leise. „Mein Freund wird sofort zurückkehren. Er ist für einen Moment hinausgegangen.“

Sie erwiderte nichts. Ich sah ihr weißes Gesicht nur noch als verschwommenen Fleck. – Wir warteten schweigend. Draußen war ein heftiger Wind aufgekommen. Die Parkbäume rauschten, und das Meer brandete heftig gegen die felsige, so nahe Küste. Die Fensterflügel bewegten sich ebenfalls unter den Stößen des schnell anwachsenden Sturmes, und ich spürte einen kühlen Luftzug, der mich veranlaßte, im Interesse der Kranken die Fenster zu schließen und auch die groben Leinenvorhänge vorzuziehen.

Da, als ich gerade die letzten Vorhänge übereinander schlug, ganz plötzlich Harsts Stimme von dem mächtigen Schranke her: „Frau Gräfin, ich werde mit Ihrem Gatten über diese Dinge demnächst sprechen, wenn es Ihnen recht ist. Ich hoffe noch leichter als Sie das zu erzielen, was Sie wünschen. Vertrauen Sie mir restlos, liebe Landsmännin. Ihre Sache ruht in guten Händen.“

Ein Streichholz flammte auf, und Harst zündete die auf einem Seitentischchen stehende Petroleumlampe an, ließ sie aber dort und kam nun zu uns an den großen Abendbrottisch.

Die Gräfin reichte ihm die Hand, nachdem sie schnell aufgestanden war. „Ja, Herr Horn, ich habe Vertrauen zu Ihnen,“ meinte sie hastig. „Wirklich vollstes Vertrauen! – Ich muß jetzt gehen. Gute Nacht, meine Herren. Ich hoffe, Sie werden die erste Nacht in diesem Hause gut schlafen.“

Auch ich durfte ihr die Hand drücken. Dann schritt sie auf die bis zur Decke hinauf getäfelte Wand rechts vom Schranke zu, tastete mit der Hand in einer Fuge zwischen zwei Zierleisten umher, und plötzlich tat sich die Geheimtür auf.

Harst hatte die Lampe ergriffen und leuchtete der Gräfin. Hinter der schmalen Tür befand sich ein enger, freier Raum. Ich schaute Harst über die Schulter. – Die Gräfin nickte uns nochmals zu und drückte dann die Geheimtür ins Schloß, das mit leisem Schnappen den Riegel vorschnellen ließ.

„Tadellos gearbeitet,“ sagte Harst. „Such’ doch mal, Schaper, ob Du irgendwo auch nur eine einzige verräterische Ritze bemerkst! Du wirst umsonst suchen. – Ja – diese Baumeister früherer Zeiten! Es waren Genies in ihrer Art. Was sie so alles in diese Paläste an geheimen Gelassen miteinschmuggelten, ist unglaublich.“

Er ging an den Tisch am Fenster zurück, setzte die Lampe ab und nahm in dem alten Ledersessel Platz.

Ich stellte mich neben ihn. „Wo warst du vorhin?“ flüsterte ich.

„Hm – in einem Warenhause,“ erwiderte er ebenso leise. – „Laß doch die Scherze. – Ich glaube, wir sind hier in ein böses Wespennest geraten,“ erklärte ich ärgerlich.

„Wieso denn – Wespennest?! – Die Gräfin und der Graf sind für uns ganz ungefährlich, wirklich!“

„Aber der dicke Maler nicht! Ich behaupte, es ist – Cecil Warbatty!“ hauchte ich mit aller Vorsicht. „Bedenke, daß aus der Skizze dieses neuen Stadtviertels hervorgeht, daß Warbatty Palermo sehr genau kennen muß. Wir wissen ja auch aus den anderen bei Edward Orkney gefundenen Papieren, daß Warbatty nicht weniger wie fünfzehn neue Verbrechen großzügigster Art aufs sorgfältigste vorbereitet zu haben scheint, von denen das erste eben hier in Palermo verübt werden soll, während wir von den übrigen vierzehn leider bisher nur die Orte kennen, wo diese „großen Schläge“ stattfinden sollen, so zum Beispiel der nächste in Kairo, der dritte in Suez – und so fort, sozusagen etappenweise bis nach Indien hin. – Warbatty ist zweifellos schon früher in Palermo gewesen. Und er ist klein von Statur. Allerdings hager. Aber Korpulenz läßt sich vortäuschen.“

Harst erwiderte nichts. Ich sah, daß ihm der Kopf matt auf die Brust gesunken war, beugte mich über ihn, fragte angstvoll: „Fühlst du dich krank, ist dir etwas zugestoßen?“

„Ja – ich – fühle mich sehr krank –“, stöhnte er. „Mir – dreht sich – alles – vor den Augen. Und – ich habe – so starkes Ohrensausen, daß ich – kaum höre, was – Du sprichst. Ich – fürchte –, ich werde mich in – Messina – angesteckt haben! Dort herrschte so sehr der Typhus – epidemieartig. – Schaper, – der Graf – sagte uns, daß – ein in Palermo ansässiger deutscher Arzt seine Frau behandelt. Schicke – zu ihm – sofort. – Ich – ich werde fast ohnmächtig vor Schwächegefühl –“

Meine Angst kann man sich leicht vorstellen. Harst war mein Freund, mein Wohltäter; er hatte mich wieder zum ehrlichen Menschen gemacht, nachdem der frühere Komiker zum – Taschendieb hinabgesunken war. – Ich rannte in den nur schwach beleuchteten Flur hinaus, rannte zu Oretos, klopfte dort an, wurde eingelassen und schickte Olivellas dreizehnjährigen Bruder Tonio zu dem Landsmann Doktor Schneider, den der Graf uns als den gesuchtesten Arzt der Stadt und als den gütigsten Menschen von der Welt hingestellt hatte.

Als ich zu Harst zurückkehrte, meinte der mit kaum vernehmbarer Stimme, ich solle mit Olivellas Hilfe unsere Betten in diesen Raum tragen. Im Schlafzimmer rieche es ihm zu muffig.

Olivella half mir. Dann brachte ich Harst zu Bett. Ich war in einer Aufregung, daß ich zu fiebern schien. Harst lag mit geschlossenen Augen da und antwortete auf keine Frage mehr. Sein Mund stand halb offen. Und röchelnd kam ihm der Atem stoßweise über die Lippen.

Olivella klopfte nach einer Weile an und fragte, ob noch etwas zu besorgen sei. Sie war ein mitleidiges Mädchen, und sie hatte mir vorhin erklärt, wenn die Gräfin stürbe, würde dies auch ihr Tod sein, so sehr liebe sie die blonde Kranke.

Dann endlich das Geräusch eines Autos. Gleich darauf öffnete ich Doktor Schneider die Tür. Er war ein würdiger, älterer Herr, etwas wortkarg, aber am Krankenbett mild und liebevoll wie ein Vater. Er schickte mich sehr bald zu Oretos nach frischem Wasser zu Kompressen. Als ich zurückkehrte, gab er mir ein Rezept. Sein Chauffeur solle damit sofort nach der Apotheke fahren. Ich erledigte auch dies. Dann trat er mit mir in den Flur hinaus.

„Herr Schaper, es ist Typhus. Ich – fürchte, die Krankheit wird einen sehr kurzen Verlauf nehmen,“ sagte er und drückte mir herzlich die Hand.

„Mein Gott – heißt das, daß er – nicht zu retten ist?“ stotterte ich. – Er zuckte nur die Achseln. Ich taumelte förmlich gegen die Wand. – Unmöglich – unmöglich! Harst sollte sterben! – Ich war ganz sinnlos vor Entsetzen. –

Aber – das Schlimmste stand mir noch bevor. Doktor Schneider war wieder davongefahren, wollte morgens wiederkommen. Ich hatte Harst drei Löffel von der Medizin gegeben. Er lag still da und murmelte allerlei wirre Worte. Um Mitternacht wurde er unruhig. – Für alle Fälle hatte ich Olivella gebeten, im Nebenzimmer zu schlafen, damit ich jemand bei der Hand hätte. – Er begann sich hin und her zu werfen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Dann stellte sich Erbrechen ein.

Oh – ich durchlebte furchtbare Stunden bis zum Morgen. Nach Tagesanbruch mußte Tonio wieder zu Doktor Schneider. Dann kam auch der Graf zu uns herein. Der ganze Palazzo wußte bereits, daß der eine der neu eingezogenen Maler Typhus hätte. – Ich war jetzt dem Umsinken nahe vor Müdigkeit und Abspannung. Der Graf tröstete mich, war auch ganz verzweifelt. Dann erschien der deutsche Doktor, begrüßte mich mit warmer Teilnahme, untersuchte den bewußtlos daliegenden Harst, behorchte das Herz, maß die Temperatur, schüttelte den Kopf, seufzte, sagte dann in Gegenwart des Grafen und Olivellas: „Ein geradezu rapider Verlauf! Der Ärmste wird die Mittagsstunde nicht überleben –“

Ich sank in den Sessel, schluchzte. Auch Olivella weinte. – Doktor Schneider flößte Harst noch ein Pulver ein. Dann verabschiedete er sich.

Um elf Uhr vormittags gab Harst keinerlei Lebenszeichen mehr von sich. Um ¼12 erschien Doktor Schneider abermals. „Es ist vorüber,“ meinte er.

In der offenen Flurtür drängten sich die Bewohner des Palazzo zusammen, traten scheu ein, knieten zum Teil nieder, bekreuzigten sich, bis der Doktor sie hinauswies. – Ich saß, selbst halbtot, im Ledersessel, hörte kaum auf das, was Schneider sagte. Dann fiel mir ein, daß ich mich nun doch dem Doktor anvertrauen müsse. Wir führten ja falsche Namen und Ausweispapiere. Ich mußte doch Harsts Mutter benachrichtigen. – So nahm ich mich denn zusammen, erzählte dem Landsmann alles, was nötig war, verschwieg nichts. – Er war so überrascht, daß der Tote Harald Harst sein sollte, daß er erst kein Wort hervorbrachte. Dann versprach er mir, da ich doch in Palermo ganz unbekannt, zu erledigen, was der Todesfall erheischte, und auch an Harsts Mutter zu telegraphieren.

Ich war froh, daß er mir in so liebenswürdiger Weise alles abnahm. Ich ließ mich nachher auch von dem Grafen in den Park führen, ließ mir Essen und Getränke aufzwingen. Um ein Uhr nachmittags kam ein Krankenwagen und holte die Leiche ab, die in der Kapelle des Friedhofs der deutschen Kolonie im Gewölbe so lange untergebracht werden sollte, bis Harsts Mutter eingetroffen war. Dann erschienen gleich darauf Leute von der Sanitätspolizei, desinfizierten beide Zimmer und wiesen mich an, vorläufig den Palazzo und den Park nicht zu verlassen; es müßte erst festgestellt werden, ob ich Bazillenträger sei. Also befand ich mich jetzt noch zu allem anderen in polizeilicher Quarantäne.

Das gräfliche Paar war die Liebe und Güte selbst. Ebenso suchte mir Olivella jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Um vier Uhr nachmittags mußte ich mich – der Graf wurde sehr energisch – in Kleidern auf mein Bett legen. Ich schlief auch bald ein, träumte wirres Zeug, – von Berlin, von einem Ballsaal, in dem nur Gerippe bei Walzermusik tanzten. Ich hörte den Walzer so deutlich.

Und da ging der Traum in Wirklichkeit über. Den Walzer spielte ein zerlumpter buckliger Leierkastenmann mit wilden Haarzotteln um das wohl seit Jahren nicht gewaschene Gesicht. Ich war im Nu am Fenster, brüllte dem Kerl zu, sich davonzuscheren, warf ihm eine größere Münze zu. Da schob er ab, begann aber auf der anderen Seite des Hauses nun einen Trauermarsch zu spielen. Die um ihn versammelten Kinder mochten ihm von dem Todesfall erzählt haben. Nach einer Weile schlich er wieder unter unsere Fenster, dudelte denselben Marsch, wohl in der Hoffnung auf neue zehn Lire. Er erhielt sie auch, aber unter der Bedingung, nun endgültig zu verschwinden. Er zog den zerrissenen Filz, verbeugte sich tief und schulterte seinen kleinen Leierkasten, suchte dann anderswo neue Opfer für seine musikalischen Darbietungen. Ich stand noch am Fenster, als ein Auto vor dem Palazzo vorfuhr, dem drei Polizeibeamte entstiegen. Sie betraten das Haus. – Und dann hörte ich nebenan aus den offenen Schlafstubenfenstern des gräflichen Paares einen gellenden Schrei herausdringen, den nur die arme Gräfin ausgestoßen haben konnte. Ich ahnte, daß die Beamten des Grafen wegen gekommen waren. Ich drehte mich um, wollte in den Flur und hinüber zu der kranken Landsmännin eilen, um ihr beizustehen, um sie zu trösten.

– – – – – – – –

Ich wollte! – Mein Fuß stockte. Da lag mitten auf dem Teppich ein roter Fetzen Zeug, und daran war ein eng zusammengefaltetes Stück Papier und ein Bleistückchen festgebunden.

Ich bückte mich. Das Papier konnte nur der Leierkastenmann vorhin hier hineingeworfen haben. – Eine seltsame Ahnung zuckte in mir auf. Doch nein – das – das war ja unmöglich – war ausgeschlossen! – Trotzdem entfaltete ich mit zitternden Fingern den Zettel und – begann am ganzen Leibe zu schlottern, fiel kraftlos in den Sessel.

Harsts Handschrift! Des Toten Handschrift! – Sollte meine Ahnung wirklich richtig gewesen sein?! – Ich raffte mich auf, las – las –:

„Mein lieber Freund und treuer Gehilfe! – Ich habe Dir leider viele traurige Stunden bereiten müssen. Nun – desto freudiger wirst Du jetzt die Nachricht hinnehmen, daß alles nur eine glänzend durchgeführte Komödie war, daß ich lebe und zur Zeit als Leiermann bei der Arbeit bin. – Ich will mich kurz fassen. – Als ich die Gräfin und Dich durch den Warnungsruf zum Schweigen veranlaßte, hatte ich einen sehr triftigen Grund dazu, nämlich folgenden. – Zunächst war in mir schon, als wir den Malerkollegen in der Allee sahen, der Verdacht aufgestiegen, der kleine Dicke könnte Warbatty sein. Als die Gräfin von den Vorbewohnern unserer Zimmer, dem Engländer und dem Österreicher Josef Sendling, sprach, da wurde mir zur Gewißheit, daß Warbatty hier als Sendling seine verbrecherischen Ziele verfolgte. Ebenso war ich überzeugt, er würde auch die geheime Tür kennen. Ein Mensch wie er ist auf alles geeicht, weiß auch von den Geheimnissen alter Palazzi genug, um nach verborgenen Gängen und so weiter zu suchen. Ohne Grund, sagte ich mir, wird er hier nicht gewohnt haben, und ohne Grund wird auf der Skizze nicht gerade dieser alte Steinkasten von Gebäude durch die punktierte Linie mit anderen Orten verbunden sein! – Also: Sendling ist Warbatty! Das stand für mich fest. Als ich nun leise im Zimmer auf und ab ging, hörte ich plötzlich hinter der Wandtäfelung an der bewußten Stelle ein Geräusch, das so klang, als fiele irgendein hohler Gegenstand herab. Ich lauschte weiter. Alles blieb still. Dann wollte ich den, der dort hinter der Geheimtür meiner Ansicht nach lauerte und horchte, dem ganz fraglos eine elektrische Taschenlampe beim Auswechseln der Trockenbatterien entglitten war, verscheuchen. Gleich darauf fühlte ich im Dunkeln die Wandtäfelung ab, fand auch den Knopf zwischen den Leisten, drückte und schob die Tür schnell auf. Nichts regte sich dahinter. Da wagte ich es, in das unbekannte Gelaß einzudringen. Meine Taschenlampe hatte ich schon vorher zu mir gesteckt. Ich schaltete sie ein und fand die enge Treppe, die steil abwärts führte, fand aber auch zwei Zündholzenden, deren verkohlte Spitzen sich noch warm anfühlten. Das bewies mir: Warbatty hat wirklich gehorcht; seine Lampe ist durch den Fall unbrauchbar geworden; die kleine Birne wird gebrochen sein. – Ich drang langsam weiter vor, fand noch fünf Zündholzenden, fand schließlich den Ausgang des gemauerten, niedrigen Tunnels, in dem Warbatty entlanggegangen. Dieser Ausgang ist eine zweite Geheimtür in dem halb zerstörten Erbbegräbnis der edlen Grafen von Batticino, das mitten im Parke liegt. – Ich hatte genug gesehen, kehrte schleunigst um, stellte fest, daß der unterirdische Gang sich nach Norden zu noch weiter fortsetzt, drang auch nach dieser Richtung etwa fünfzig Meter vor und gelangte so in eine natürliche Höhle, die geradezu mit Kisten, Ballen und Fässern vollgepfropft war. – Auch diese Feststellung genügte mir. (Deshalb sprach ich auch von einem Warenhause, lieber Schraut!) – Ich stellte mich nun wieder bei Euch ein und hatte von der Schilderung der Gräfin inzwischen nur ihre Schlußsätze nicht mitangehört. Als sie uns dann verlassen, war mein Plan schon fix und fertig. Daß Cecil Warbatty uns entweder schon erkannt hatte oder doch in kurzem als Harst und Schraut erkennen würde, war mit aller Sicherheit anzunehmen. Ein verbrecherisches Genie wie er wird stets zwei Malern, die ausgerechnet in den von ihm bewohnt gewesenen Räumen sich einmieten, größtes Mißtrauen entgegenbringen. Und – ist erst ein Argwohn da, dann durchschaut man leicht jede Verkleidung, wenn man eben Warbatty heißt. – Du kennst Warbatty. Menschenleben gelten ihm nichts. Du weißt, wie er seine Spießgesellen kaltblütig hinmordet, um sich vor Verrat zu schützen, weißt, daß er auf mein Leben bereits so raffiniert Anschläge versucht hat, wie sie nur dem Hirn eines wahren Teufels an Schlauheit entspringen können. Und – er ist mein Todfeind! Er hat mir Rache geschworen. Er ist der einzige Verbrecher, der mir bisher als ebenbürtiger Gegner gegenübergestanden hat. Mein Leben war also keinen Pfifferling mehr wert. Warbatty arbeitet mit Gift, mit Waffen, – mit allem, was es nur gibt, um jemand auszulöschen, den er beseitigen will. Ich hätte mich vor ihm hier kaum schützen können. Und wenn, dann nur so, daß ich ihn bei der Polizei sofort anzeigte. Das wollte ich nicht. Ich wollte ihm beweisen, daß ich der Stärkere bin, wollte und will ihn nun für alle Zeit unschädlich machen. Dazu war der beste Weg, ihn zunächst in Sicherheit zu wiegen. Also – ich mußte – sterben! Ich spielte vor Dir den Kranken. Dann vertraute ich mich Doktor Schneider an, als er Dich zweimal zu Oretos schickte. Er wollte mir helfen. Er verschrieb mir ein Brechmittel. Morgens gab er mir ein starkes Schlafmittel. Da er mit den Behörden hier auf bestem Fuße steht, gelang die Täuschung glänzend. Der Krankenwagen brachte meine „Leiche“ nach der Friedhofskapelle, wo Schneider schon wartete. Ich wurde in den bereitgehaltenen Sarg gelegt. Dann schickte er die Begleiter des Wagens weg, gab mir Gegenmittel ein; ich kam zu mir, verwandelte mich in den Leiermann, ließ den Doktor vorausgehen, wartete noch eine halbe Stunde, verschloß die Gruft und die Kapelle und schlich auf Umwegen in Schneiders elegante Villa, aß, trank, schlief zwei Stunden, schulterte den Leierkasten auf und durchstreifte die Umgegend des Palazzo, hatte dabei insofern Glück, als ich gerade dazu kam, als die hiesige Kriminalpolizei den Tatort eines in der verflossenen Nacht verübten Mordes besichtigte, von dem mir schon Doktor Schneider einiges erzählt hatte. Der Ermordete ist – Graf Viktor Leonforte, der ältere Bruder unseres Cesare-Alfio. – Doch hierüber mündlich Näheres. – Nun höre und gib genau acht: Du mußt unbedingt weiter den tief trauernden Hinterbliebenen spielen! Unbedingt! – Dann: schlafe bis zehn Uhr abends Vorrat! Von dieser Stunde an setze Dich, zum Ausgehen fertig und mit Revolver und Taschenlampe versehen, an das mittelste Fenster. Sobald ich etwas Sand gegen die Scheiben werfe, lösche die Lampe, warte noch zehn Minuten und springe zum Fenster hinaus, falls inzwischen nicht eine neue Sandladung die Scheiben trifft. Geschieht dies, so bleibe drinnen und warte geduldig weiter. Erst das dritte Sandsignal ruft Dich dann ins Freie. – So – Schluß jetzt, lieber Schraut. Auf Wiedersehen! (Verbrenne den Zettel sofort und verreibe die Asche! – Noch eins: Sollte Josef Sendling sich an Dich heranmachen, so sei ganz besonders auf Deiner Hut! Ich hoffe ja, er wird es auf Dein Leben nicht abgesehen haben. Aber – Vorsicht ist stets am Platze!) – Dein H. H.“ –

Harst lebte! Und jetzt, wo ich mir alle Einzelheiten seiner Krankheit nochmals ins Gedächtnis zurückrief, hätte ich mich am liebsten ohrfeigen mögen ob meiner Kurzsichtigkeit! Jetzt dachte ich an so viele Kleinigkeiten, die mir unbedingt hätten auffallen und in mir Zweifel an dem ganzen Todesfall hätten wachrufen müssen! – Ich will und kann zur Entschuldigung für meine geistige Blindheit nur das eine anführen, daß ich mich eben von Anfang an in einem Zustand schmerzlichster Erregung befand, der eine kritische Würdigung der Vorgänge gänzlich unmöglich machte. Jedenfalls ist das eine aber gewiß: so wenig ich mich dieser Komödie gewachsen gezeigt, desto glänzender hatte sie wieder einmal Harsts ungeheure Vielseitigkeit bewiesen! Er hatte ja nicht nur mich, sondern auch Olivella und den Grafen getäuscht – als gesunder Typhuskranker! –

Den Grafen! – Da erst dachte ich wieder an die arme Landsmännin nebenan, da erst eilte ich ans Fenster und wurde so gerade noch Zeuge, wie man Cesare Leonforte in das Auto brachte, wie dieses davonfuhr und wie sich rechts von mir die arme Gräfin weit zum Fenster hinauslehnte und in wilder Verzweiflung die Hände rang.

Ich verbrannte nun Harsts Zettel. Dann klopfte ich bei Leonfortes an. Olivella öffnete mir. Ich befand mich in einem dürftig eingerichteten Wohnzimmer. – Olivella schüttelte drohend die Faust, verwünschte die Polizei, schwor bei allen Heiligen, der Graf sei unschuldig und habe nie und nimmer seinen Bruder ermordet.

Dann meldete sie mich der Gräfin. Diese erschien bald, völlig aufgelöst in Tränen und in einem Zustand halber Geistesverwirrung. – Ich schickte Olivella weg und – tat etwas, das vielleicht Harst nie gebilligt hätte: ich erklärte ihr flüsternd, wer wir beiden Maler in Wahrheit seien, erzählte ihr auch, daß ihr berühmter Landsmann Harald Harst lebe und versicherte ihr, er würde ihrem Gatten fraglos beistehen.

Da wurde sie sofort ruhiger. Harsts Name war ihr nicht fremd. Sie hatte ja stets eine Berliner Zeitung gehalten, um mit der Heimat so in Verbindung zu bleiben. – Und bald hatte ich sie sogar so weit, daß sie mir ganz übersichtlich berichtete, was sie über den Mord wußte. – Ich will dies nachher in anderer Form einfügen. –

Um sechs Uhr nachmittags schlief ich gehorsam „Vorrat“, wie Harst befohlen hatte. Dessen Erlebnisse will ich nun nach seinen späteren Angaben jetzt gleich schildern.

– – – – – – – –

Als Harst die Friedhofskapelle gegen das behagliche Speisezimmer Doktor Schneiders vertauscht hatte und hier nun in aller Gemütlichkeit in Gesellschaft seines liebenswürdigen Landsmannes sich durch Speise und Trank stärkte, meinte der vielgesuchte Arzt plötzlich, er fürchte nur zu sehr, daß Cesare Leonforte sehr bald verhaftet werden würde.

„Spielende Kinder haben nämlich,“ fuhr er fort, „heute mittag in einem Gebüsch unweit der Küste etwa 300 Meter nordwestlich des Palazzo Batticino eine männliche Leiche entdeckt. Die Polizei stellte fest, daß der Tote der ältere der Brüder Leonforte und daß der Tod durch Erdrosseln mittels einer dünnen Schnur erfolgt ist. In der Nähe des Fundortes der Leiche lag ein eng zusammengeballtes, blutbeflecktes Taschentuch mit einer Grafenkrone und den Buchstaben C L als Monogramm. – Ich verdanke diese Einzelheiten meinem Freunde, dem Polizeiarzt Professor Salviolo. – Das Tuch ist fraglos Cesare Leonfortes Eigentum. – Das weitere können Sie sich denken, lieber Landsmann.“

Harst hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, ließ ein zweifelndes „Hm – hm“ hören, zündete sich eine Zigarette an, trank einen Schluck Kaffee und meinte: „Ich werde mir sofort nachher den Fundort ansehen – auf meine Weise! Dann werde ich Ihnen sagen, wie ich über dieses Taschentuch denke.“

Gleich darauf verließ der bucklige Leiermann die Villa durch die Hinterpforte des Gartens und wandte sich nach Osten, durchquerte die prachtvolle Via Macqueda, die neben der Via Vittorio Emanuele die schönste Straße Palermos ist, fuhr mit der Straßenbahn den südöstlichen Stadtvierteln zu und gelangte so bis an die nördliche Parkmauer des Palazzo Batticino, folgte ihr bis zur Küste und bog nun links in einen Oliven- und Palmenhain ein, in dessen Mitte die Überreste eines uralten Tempels noch aus der Griechenzeit sich unkrautüberwuchert erhoben. Dann gewahrte er keine fünfzig Meter weiter am Rande dieses Wäldchens die Gestalten mehrerer Polizisten, die eifrig den Boden und die Büsche ringsum absuchten.

Harst beobachtete, scheinbar unter einem nahen Baume sich ausruhend, mit Interesse die Arbeitsmethode der hiesigen Beamten, bat dann einen von ihnen, der in seine Nähe kam, kläglich um eine Zigarre und erfuhr bald von dem gesprächigen Sizilianer, die ja alle sehr redselig sind und sich gern wichtig machen, wo die Leiche und das Taschentuch gelegen hätten und daß der Haftbefehl gegen Cesare Leonforte bereits ausgefertigt sei. – Als die Polizei, ohne etwas Neues entdeckt zu haben, abgezogen war, nahm Harst den zerrissenen Filz vom Kopf und holte daraus die Skizze hervor, – die Skizze, auf der ja die eine punktierte Linie nordwestlich vom Palazzo Batticino auf freiem Felde endigte, beschaute sie, nickte befriedigt. – „Es stimmt,“ dachte er. „Stimmt ganz genau sogar. Der Endpunkt der Linie ist der alte griechische Tempel.“

Dann steckte er das Papier wieder in den Filz und begann mit einer Füllfeder für Schraut jenen Zettel zu schreiben, der diesem zeigte, daß sich selbst eine schwere Erkrankung mit nachfolgendem Tode leicht vortäuschen läßt, wenn nur ein verschwiegener Arzt mithilft.

Nachdem er den Zettel ganz unauffällig durch das Fenster in das Zimmer geworfen hatte, wanderte er durch den neuen Stadtteil, durch gefällige, wenn auch niedrige Reihenhäuser, die sämtlich Vorgärten hatten, ließ hier und da sein Instrument ertönen und hatte bald einen ganzen Schwarm von sizilianischer Straßenjugend hinter sich. So erreichte er denn auch ein einzeln stehendes älteres Haus, das von einer Mauer umgeben war, deren Mauersteine verrieten, daß sie ein sehr ehrwürdiges Alter besaß und nur stellenweise ausgeflickt war. Das Gebäude dahinter war gänzlich schmucklos, mehr ein Stall mit kleinen, grün angelaufenen Fenstern. Die Straße, in der es lag, hieß Via Piccio, und die Mauer des Gartens ging ähnlich wie beim Palazzo Batticino fast bis an die Küste heran.

Harst machte vor diesem Hause wieder halt, drehte drei Stücke herunter, fragte die Kinder, wer hier wohne, und erhielt den Bescheid: ein sehr langer dicker Engländer habe vor zwei Monaten etwa das Gebäude gemietet und lebe dort ganz für sich mit zwei Dienern; er sei wohl so etwas wie ein Erfinder. – Harst forschte weiter, wie groß der Engländer sei; vielleicht zwei Meter – oder noch größer? – „Oh,“ rief ein älterer Junge. „Er ist eben ein Riese! Hier gibt’s sonst keinen Menschen, der auch nur annähernd so lang wäre.“

Harst spielte noch zwei Stücke. Dann schickte er eins der Kinder an die Mauerpforte und ließ die elektrische Glocke in Bewegung setzen. Sofort erhob sich wütendes Hundegekläff und an einem offenen Fenster erschienen nun auch zwei Männer. Der eine war – Josef Sendling, also Warbatty, und der andere – ein ungewöhnlich großer Mensch. Dann wurde dem Leiermann von einem unsichtbar bleibenden Dritten eine Münze zugeworfen. – Harst war jetzt sehr zufrieden mit seinem Erfolge hier und kehrte zu Doktor Schneider zurück, dessen gleichfalls deutsche Hausangestellte durchaus zuverlässig und verschwiegen waren. Der Arzt hatte inzwischen für Harst einen Anzug und eine Mütze besorgt, wie sie die sizilianischen Fischer tragen, auch eine schwarze Perücke und allerlei Schminken. Während er nun staunend mit ansah, wie der berühmte Liebhaberdetektiv sich aus einem schmierigen Leiermann in einen schmucken Fischerburschen verwandelte, erzählte er ihm gleichzeitig, die Sache stehe für den Grafen Cesare sehr schlecht, da dieser bei seiner ersten Vernehmung sofort angegeben habe, er weigere sich zu sagen, wo er die letzte Nacht zugebracht hätte, und er sei auch nicht imstande, einen ihn entlastenden Alibibeweis zu führen. – Harst nickte kurz: „Verehrter Doktor, diese Angaben habe ich vorausgesehen. Ich weiß, wo der Graf gewesen. Jedenfalls nicht in der Bodega d’Italia und auch nicht an jenem Orte, wo der Graf Viktor Leonforte ermordet wurde. Doch – hierüber später mehr. – Kennen Sie den Grafen Viktor genauer?“

„Ja. Er ist ein sehr schlecht beleumundeter Mensch, ein Spieler, Trunkenbold und Schürzenjäger, vielleicht gar noch Schlimmeres – ein Verbrecher. Es gibt hier Leute, die ihm alles zutrauen. Er hat die jetzige junge Gräfin Leonforte ebenfalls geliebt. Und er soll dem Bruder vor allen Dienstboten am Tage der Trauung des jungen Paares in blinder Wut Rache geschworen haben.“

„Hm – recht interessant. – All das weiß natürlich auch die Polizei. Sie glaubt jetzt natürlich an eine Art Eifersuchtsdrama bei diesem Morde. Nun – ich würde Ihnen raten, Doktor, dem Polizeiarzt, Ihrem Freunde, nahezulegen, den Ermordeten zu sezieren und ganz besonders genau auf die Möglichkeit einer Vergiftung hin die Leiche zu untersuchen. Ich verstehe so einiges von Todesarten und ihren Merkmalen. Sie haben mir das Aussehen des Toten, der erdrosselt sein soll, genau beschrieben. Daraus erkannte ich sofort mit ziemlicher Sicherheit, daß die Schlinge erst einer Leiche um den Hals gelegt worden ist. Dem Ermordeten war zum Beispiel doch Blut aus dem Munde gelaufen, schaumiges Blut. Das deutet auf ein indisches Pflanzengift hin, Doktor, auf das sogenannte Manupar, dessen Zusammensetzung der modernen Chemie noch immer ein Geheimnis ist. – Ich bitte Sie: fahren Sie sofort zu dem Polizeiarzt und helfen Sie in Leonfortes Interesse bei der Sektion. – Dieses Manupar ist so selten, daß der jetzt Verhaftete es nie besessen haben kann. Es kann sich nur ein Mann dieses Giftes bedient haben, der selbst in Indien gewesen und zwar längere Zeit. Und – ich kenne diesen Mann, Doktor. Sie werden ja schweigen: es ist Cecil Warbatty, der sich hier Sendling nennt und der mich zwang, an Typhus zu sterben! Er hat bei dem jungen Paare gewohnt und konnte sich daher leicht eines der Taschentücher Cesares aneignen. – So, nun bin ich fertig. Ich werde mir jetzt noch Palermo etwas ansehen. Abends um zehn Uhr erwartet Schraut mich. Ich hoffe in dieser Nacht gewisse Leute dazu zu bewegen, für den Verhafteten einzuspringen.“

Der Doktor schüttelte den Kopf. „In der Tat, Landsmann, Sie sind ein seltsamer und seltener Mensch! Sie tun genau so, als hätten Sie hier Beziehungen angeknüpft, die recht weitverzweigt sind.“ – Harst lächelte. „Das habe ich auch. Aber – nicht persönlich. Nur – durch Kombinationen. – Auf Wiedersehen, Doktor.“ –

Ich saß am Fenster und wartete. Genau um zehn Uhr flog etwas Sand gegen die Scheiben. Zehn Minuten später sprang ich aus dem Fenster und stand einem jungen Fischer gegenüber, der mich sofort in das Gebüsch zog. Erst hier duldete Harst dann, daß ich ihn unter Tränen umarmte. Er war offenbar gerührt über meine Treue und Anhänglichkeit, drückte mir fest die Hand und meinte: „So beruhige dich doch, lieber Kerl! Ich lebe ja, wie du siehst – und wie ich lebe! Warbatty soll’s merken!“

Dann führte er mich nach dem Erbbegräbnis der Grafen Batticino mitten im Park und stieg mir voran in den unterirdischen Gang ein, befahl mir, jedes Geräusch zu vermeiden und eilte diesen engen, feuchten Tunnel leise entlang, bis wir an eine Mauer kamen, die das Ende des Ganges anzudeuten schien. Aber auch hier gab es eine geheime Tür, und gleich darauf befanden wir uns in der von Harst bereits erwähnten Grotte, die sich nach dem Meere hin fortsetzte und die mit diesem irgendwie in Verbindung stehen mußte, denn wir hörten deutlich das Branden der Wogen und spürten auch den Salzhauch der See ganz deutlich. Der weite Raum war tatsächlich bis obenan mit Kisten, Fässern, Ballen und Tonnen angefüllt. In einer Ecke stand ein langer Tisch; darum gab es einfache Bänke; darauf zwei große Petroleumlaternen.

Wir hatten unsere Taschenlampen nur immer für Sekunden eingeschaltet. Jetzt kroch Harst in der Nähe des Tisches hinter einen Stapel von Fässern, zwischen denen genug Lücken zum Hindurchsehen frei geblieben waren. – „Ich hoffe bestimmt, daß sie sich heute hier versammeln werden,“ flüsterte er mir nun. – „Wer denn?“ fragte ich, und ich gebe zu, daß mir dieses Abenteuer keineswegs behagte. – „Wer?! Natürlich die Schmuggler, zu denen auch Cesare Leonforte gehört. Seine nächtlichen Seefahrten galten dem Warenschmuggel. Und seine Genossen, denke ich, werden heute hier beraten, wie sie ihm helfen können. Du wirst hier fraglos auch einen Bekannten aus dem Palazzo wiedersehen, und zwar den alten Fischer Oreto, Olivellas Vater. Ich habe nämlich diese vorhin, so gegen acht Uhr, am Strande ein wenig ausgehorcht. Ich gefiel ihr. Und so kam heraus, daß Oreto immer dann fischen fährt, wenn … Still – es kommt jemand!“

Ja, sie kamen, elf an der Zahl, alles wetterharte Gestalten, den sizilianischen Dolch im Gürtel, setzten sich um den Tisch und hörten beim Scheine der beiden Laternen den alten Oreto schweigend an, der von dem Grafen Cesare als einem treuen Kameraden sprach, den irgend ein Schuft ins Unglück gestürzt hätte. „Wir können nur eins tun,“ erklärte Oreto weiter. „Da wir darüber schweigen müssen, wo Cesare in der verflossenen Nacht gewesen, werden wir die Gefängniswärter bestechen, den Grafen befreien und zu Schiff mit seiner Frau in Sicherheit bringen.“

Harst hauchte mir jetzt ins Ohr: „Nimm den Revolver zur Hand. Folge mir.“

Oreto hatte weiter gesprochen. „Das Bestechungsgeld geht aus der gemeinsamen Kasse. Wir haben gegen 5000 Lire liegen. Das wird genügen. Seid Ihr einverstanden. Wenn der Graf auch erst kurze Zeit zu uns gehört, so ist er’s doch wert, daß –“

In diesem Augenblick trat Harst aus dem Versteck hervor. – „Guten Abend, Signori! – Bitte – bleibt sitzen! Ich schieße jedem eine Kugel in die Stirn, der sich rührt! Und mein Freund hier trifft genau so gut wie ich. – Hört mich ruhig an. Wir sind keine –“

Da – ich hörte einen dumpfen Krach, blickte zur Seite, sah Harst wanken und zu Boden sinken. Ich ahnte, daß er von hinten niedergeschlagen worden war. Blitzschnell wollte ich zur Seite springen. Zu spät! Ein furchtbarer Hieb traf meinen Kopf. Ich drehte mich um mich selbst, erkannte noch – Olivella Oreto, dann verlor auch ich das Bewußtsein.

Zum Glück hatten Harsts Mütze und mein Hut die Schläge etwas gemildert. Wir kamen bald wieder zu uns. Wir waren mit Stricken brutal eng gefesselt und lagen oben auf ein paar Ballen neben dem Tisch.

Als wir mühsam die Köpfe hoben, versammelten sich die Schmuggler sofort um uns, und Olivella rief rachsüchtig: „Spione seid Ihr, keine Maler, Ihr Schurken! Und der da ist nur zum Schein gestorben! – Oh – diese verdammten –“

Oreto schob seine Tochter beiseite. „Schweig! Sie werden bald merken, wie tief das Meer draußen vor Palermo ist. – Ersäufen werden wir Euch, Ihr –“

Harst hatte sich zu sitzender Stellung aufgerichtet, unterbrach den Alten gelassen: „Wetten, daß Ihr uns nicht ersäufen werdet?! – Laßt mich jetzt einmal ruhig aussprechen. Wir sind Spione, gewiß, aber wir wollen Euch nichts anhaben. Wir sind hinter fremden Verbrechern her, von denen einer sich hier Josef Sendling nennt.“

Oreto lachte höhnisch. „Lügner – Lügner Du! Sendling ist ein harmloser Spaßmacher!“

„Ihr werdet bald anderer Ansicht sein. – Oreto, hat Sendling sich nicht an Euch herangedrängt und Eure Freundschaft gesucht? Hat nicht vor ihm bei Leonfortes ein langer Engländer gewohnt, der dann angeblich nachts abreiste? – Dieser Engländer haust jetzt unter dem Namen Dickinson in der Via Piccio mit zwei Spießgesellen in dem alten Hause. Er steckt mit Sendling unter einer Decke. Heute um sieben Uhr abends begegnete ich diesem am Hafen. Er besuchte einen dort ankernden älteren Dampfer. Und – der Kapitän dieses Dampfers war – derselbe Dickinson. – Geht Euch schon ein Licht auf? Noch nicht?! – So, dann frage ich Euch, Oreto, – wieviel etwa ist dieses Lager von Waren hier wert?“

„Hm – etwa eine Million. Wir haben all dies noch nicht ins Innere schaffen und verkaufen können, weil die Zollbeamten seit Monaten die Wege zu scharf bewachen.“

„So – eine Million! – Weiter: wißt Ihr, daß von dem alten Hause in der Via Piccio eine unterirdischer Gang bis in den anderen Gang führt, der von hier nach dem Erbbegräbnis und dessen rechte Abzweigung nach der griechischen Tempelruine geht?“

„Noch ein Gang?! Unmöglich!“ rief Oreto. „Ihr lügt schon wieder!“

Harst lächelte den Alten überlegen an. „Ich werde Euch nun anvertrauen, wer wir, mein Freund und ich, sind und wer Josef Sendling ist, auch erwähnen, weshalb ich diesen Mann verfolge.“ Er faßte sich sehr kurz. Die Skizze verschwieg er. – „So – Ihr wißt nun, daß Ihr einen deutschen Detektiv vor Euch habt. Und dieser Detektiv sagt Euch folgendes: Warbatty hat es auf dieses Warenlager abgesehen. Er hat alles sorgfältig vorbereitet. Der Dampfer soll diese Güter bei guter Gelegenheit an Bord nehmen. Vielleicht beabsichtigt Warbatty, Euch bei einer Zusammenkunft hier zu überfallen und wehrlos zu machen, um in Ruhe die Waren rauben zu können. Wir werden nachher durch den Gang in das Haus Dickinsons heimlich eindringen. Ich hoffe, daß wir die Leute dort so etwas belauschen werden. Dann wird sich vielleicht auch herausstellen, daß der ermordete Graf Viktor Leonforte ein Spießgeselle Warbattys gewesen ist, den dieser jetzt beseitigt hat, weil der Graf ein Trunkenbold geworden ist und weil Warbatty gefürchtet haben mag, jener könnte einmal im Trunk zum Verräter werden.“

Die Gesichter der Schmuggler waren nachdenklich geworden.

„Ich habe Euch nun einen Vorschlag zu machen,“ fuhr Harst fort. „Wenn wir Warbatty und seine Genossen festnehmen und dann der Polizei ausliefern, gibt er Euch als Schmuggler an, und man beschlagnahmt diese Waren und sperrt Euch ein. – Das werdet Ihr nicht wollen, und das will auch ich nicht. Ich kenne die hiesigen Verhältnisse. Nirgend anderswo steht protziger Reichtum und bittere Armut in so schroffem Gegensatz wie hier. Das Land gehört den Latifundienbesitzern, die ihre Pächter aussaugen. Ihr Schmuggler hier seid halb und halb gezwungen, dieses Gewerbe zu betreiben, wenn Ihr nicht wie die Bettler oder Fronknechte leben wollt. Ich habe ein Herz für die Armen. Ihr sollt nicht um den Lohn Eurer gefährlichen Tätigkeit kommen. Ich kann Warbatty den Mord an dem Grafen Viktor auf den Kopf zusagen. Wir werden ihn und seine Spießgesellen zwingen, ein Schriftstück zu unterzeichnen, daß er Euch nicht verraten und daß er sich hier niemals mehr sehen lassen will. Dann bringt Ihr die Leute zu Schiff nach Afrika oder nach Frankreich. – Einen anderen Weg, Euch und Cesare Leonforte vor dem Gefängnis zu bewahren, weiß ich nicht.“

Die Schmuggler berieten leise. Am eifrigsten aber redete Olivella Oreto – offenbar für Harsts Vorschlag. – Und eine halbe Stunde später befanden wir beide mit vier der kräftigsten Schmuggler uns bereits in dem Hause in der Via Piccio vor einer Tür, hinter der wir mehrere Stimmen vernahmen.

Harst riß sie auf, rief sofort: „Keinen Widerstand – oder wir schießen!“ – Fünf Mann, darunter Warbatty und der Riese, hatten um einen Tisch gesessen. Sie fuhren empor. Was für gefährliche Kerle es waren, zeigte sich nun so recht deutlich, da sie ebenso blitzschnell unter dem Tisch verschwanden.

Dann – sauste eine Kugel mir dicht am Ohr vorbei. Dann ging das Licht aus. Weitere Schüsse folgten. Ich hatte mich lang hingeworfen. Ich hörte laute Schreie, abermals Schüsse. Nun flammte das elektrische Licht wieder auf. Der Kampf hatte den vier Genossen Warbattys das Leben gekostet. Dieser selbst – war uns entwischt. Auch zwei der Schmuggler waren verwundet.

Harst hatte schnell einen der veränderten Sachlage entsprechenden Plan bereit. Wir ließen die vier Leichen liegen, und die Schmuggler schafften noch in derselben Nacht den Inhalt der Grotte nach einem anderen Versteck weiter östlich an der Küste. Wir halfen dabei. Uns kam es darauf an, Cesare Leonforte nicht als Schmuggler entlarvt zu sehen. Dann verschütteten die Schmuggler die unterirdischen Gänge an mehreren Stellen durch Sprengung des Mauerwerks mit Dynamitpatronen. Nun konnte Warbatty ruhig den Angeber spielen. Die Polizei würde keine unversehrten Gänge, keine Warenlager mehr vorfinden. – Harst riet dann Oreto, zur Polizei zu gehen und auszusagen, daß Graf Cesare heimlich bei ihm Fischerknecht gespielt habe, um etwas zu verdienen, und daß dieser auch in der vorvergangenen Nacht mit ihm auf See und bis zum Morgen zusammen gewesen sei. – Dies war ja auch richtig. – Und so geschah’s auch. Oreto und zwei andere Fischer wiesen so des Grafen Alibi nach, dessen Freilassung ohnedies bevorstand, da die Sektion ergeben hatte, daß tatsächlich der Graf Viktor erst vergiftet worden war und zwar mit jenem indischen, so seltenen Pflanzengift.

Harst meldete sich nun gleichfalls bei der Polizei und wußte alles so darzustellen, daß weder auf die Schmuggler noch auf Cesare Leonforte irgendein belastender Verdacht fiel. – Wer die vier Männer im alten Hause in der Via Piccio erschossen hatte, erfuhr nur Doktor Schneider. Alles ging glücklich ab dank Harsts klugen Maßnahmen und Aussagen. Die Polizei schenkte dem berühmten Detektiv natürlich vollen Glauben. – Ich will gleich noch erwähnen, daß der junge Graf sich mit seinen Eltern sehr bald aussöhnte und daß die blonde Gräfin jetzt völlig gesund und glückliche Mutter eines Knaben ist, der mit Vornamen Harald heißt. –

An demselben Tage gegen Abend erhielt der Kunstmaler Heinz Horn eine Depesche aus Messina. Sie lautete:

„Ich hoffe, wir sehen uns recht bald wieder. Ich möchte meine Rechnung mit Ihnen glatt machen. – Es grüßt Sie Ihr alter Freund Cecil Warbatty!“

Harst nickte ernst. „Ja – wir sehen uns wieder, Warbatty,“ meinte er leise. „Und – vielleicht wirst Du dann der Sieger sein, und ich – der Besiegte – vielleicht. Du besitzt ja etwas, das mir fehlt, das Dich mir überlegen macht: den rücksichtslosesten Vernichtungswillen eines raffinierten, kaltblütigen Mörders!“

Zwei Stunden später brachte uns Doktor Schneiders Motorjacht in aller Stille nach der nächsten größeren Hafenstadt Siziliens, nach Termini. Von da fuhren wir mit einem Lloyddampfer unter falschem Namen nach Alexandria in Ägypten, denn Harst war überzeugt, daß wir Warbatty in Kairo wiederfinden würden. Und – er behielt auch diesmal recht.

 

 

Der Kopf der Mumie Ramasenas.

 

Harsts Kampf gegen das größte Verbrechergenie aller Zeiten, gegen Cecil Warbatty, ging weiter. Es war ein ungleicher Kampf. Dreimal war er meinem Freunde und Brotherrn entgangen, und wie jetzt unser neuer Versuch, seiner in Kairo habhaft zu werden, enden würde, erschien äußerst fragwürdig.

Harst und ich hatten bis Alexandria[6], der Hafenstadt an einer der Nilmündungen, einen Lloyddampfer benutzt, hatten uns dann getrennt und uns in sorgfältigen Verkleidungen einzeln und mit äußerster Vorsicht nach Kairo hineingeschmuggelt. Seitdem war ich drei Tage ohne jede Nachricht von Harst. Ich wohnte als blondbärtiger, dicker Holländer in einem deutschen Fremdenheim in der Nähe des Esbekije-Platzes.

In diesen drei Tagen hatte ich mir die Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt unter Führung eines jungen Arabers, den ich zufällig kennen lernte, so etwas angeschaut. Mein kleiner Fremdenführer hieß Ali ben Abraw, radebrechte ein wenig Deutsch, Französisch und Englisch und war ein recht netter Bursche. Er hatte nur ein Auge noch. Das linke war ihm als Kind von einem Altersgenossen durch einen Pfeil ausgeschossen worden. Er trug daher stets ein Pflaster vor der leeren Augenhöhle.

Am Abend des dritten Tages saß ich gegen zehn Uhr in einem der Cafees am Esbekije-Platz, lauschte den Klängen einer ungarischen Kapelle und trank Eislimonade.

Unten an der Terrasse hockten mindestens ein Dutzend Bettler, zumeist Greise mit ehrwürdigen Bärten und ebenso ehrwürdig schmutzigen, malerisch drapierten, löcherigen Beduinenmänteln.

Gerade unterhalb meines Platzes war noch eine Stelle frei, in die sich jetzt ein neuer, mit wütendem Geschrei von den übrigen Gildemitgliedern empfangener Konkurrent eindrängte, ebenfalls ein älterer Mann mit grauem Patriarchenbart und einem braunen Burnus, der nur noch aus Fetzen bestand.

Dieser bucklige Araber, dessen Kapuze die Augen noch halb verdeckte, führte einen kleinen Kasten mit sich, den er nun an eine Zacke des Terrassengitters hängte, nachdem er ihm zwei Hände von Kindermumien entnommen hatte.

Diese kleinen Hände, an denen die helleren Fingernägel im Scheine der elektrischen Bogenlampen matt glänzten, waren weit begehrtere Artikel als Streichhölzer, Broschen und Ansichtskarten.

In englischer, französischer, italienischer und deutscher Sprache brüllte er in kurzen Zwischenräumen sein heiseres: „Echte Mumienhände aus den Gräbern von Memphis!“ – ganz wie ein aufgezogener Automat, indem er gleichzeitig beide Arme hob und den Passanten die braunen, am Handgelenk abgeschnittenen und hier mit einer Bronzekapsel versehenen kleinen Mumienhände empfehlend hinstreckte.

So verging eine halbe Stunde. Meine Gedanken waren trotz des belebten Bildes ringsum viel bei meinem Freunde, der in Alexandria sich in einen persischen Kaufmann verwandelt und den ich leider seitdem nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Ich sorgte mich bereits etwas um Harst, obwohl ich mir immer wieder vorhielt, daß es Warbatty in dieser Riesenstadt mit ihrem Völkermischmasch sehr schwer fallen dürfte, seinen gefährlichen, nein, gefährlichsten Gegner herauszufinden und vielleicht auf irgend eine heimtückische Art unschädlich zu machen.

Als ich dies gerade mir überlegte und in einem unbegrenzten Vertrauen zu Harsts Fähigkeiten jetzt all meine Sorgen um ihn verscheuchte und nun sogar fest überzeugt war, er würde in diesen drei Tagen fraglos bereits Warbattys Fährte gefunden haben, – gerade da hörte ich die helle Fistelstimme eines kleinen Extrablattverkäufers, der immerfort ausrief:

„Neuer Einbruch in das Museum in Gizeh! Die Brillanten der Prinzessin Sabirah gestohlen!“

Kein Wunder, daß es mich wie ein elektrischer Schlag durchzuckte. Mein erster Gedanke war: Natürlich Cecil Warbattys Werk.

Ich beugte mich über das Geländer, tippte dem alten Buckligen auf die Schulter, reichte ihm ein Geldstück und deutete auf den Extrablattverkäufer. Er erhob sich denn auch sofort, legte die Mumienhände schnell in den Kasten, bat mich durch eine Geste, auf diesen achtzugeben und erkämpfte mir wirklich einen der langen Zettel, reichte ihn mir zusammengefaltet hin, erhielt noch ein Trinkgeld von mir und nahm sein Handelsgeschäft sofort wieder automatenhaft wie bisher auf.

Ich war sehr gespannt, was das Extrablatt enthalten würde, faltete es auseinander und – sah sofort, daß darin ein kleinerer, mit Bleistift beschriebener Zettel lag.

Wenn man wie ich Privatsekretär und Gehilfe Harald Harsts ist, gewöhnt man sich eine gewisse Geistesgegenwart an, selbst wenn man zum Detektivberuf so wenig befähigt ist wie ich.

Der Bleistift-Zettel verschwand also unauffällig in meinem Ärmel. Den Inhalt des Extrablattes aber las ich mit recht geteilter Aufmerksamkeit, denn jetzt wußte ich ja, wo Harst sich zur Zeit aufhielt: dicht neben mir auf dem Promenadenweg unterhalb der Terrasse! – Er war der bucklige Händler, der die Mumienhändchen feilbot! Und – er mußte sehr gewichtige Gründe dafür haben, mir auf so vorsichtige Art eine Nachricht zukommen zu lassen.

Ich will den Inhalt des Extrablattes hier nur im Auszuge wiedergeben, obwohl es als Erinnerung an jene Tage in Kairo, vielleicht die aufregendsten meines Lebens, neben mir liegt, während ich dies schreibe und ich es also bequem wörtlich wiedergeben könnte. –

Das Museum für ägyptische Altertümer hatte sich früher in Kairo selbst befunden, war dann aber nach dem nahen Orte Gizeh (am linken Nilufer, eigentlich nur eine südwestliche Vorstadt Kairos und mit diesem durch eine eiserne Brücke verbunden) verlegt worden und zwar in ein umfangreiches, von einem schönen Park umgebenes Gebäude. In dieses waren vor sechs Wochen auf bisher unaufgeklärte Art nachts zwei Diebe eingedrungen, hatten in der Abteilung für alten Goldschmuck mehrere Kästen durch Zertrümmern der dreifingerdicken Glasscheiben ausgeraubt, waren aber durch einen der Wächter gestört worden und von den schnell durch elektrische Läutewerke alarmierten Beamten, die im Museum wohnten, am Verlassen des ausgedehnten Gebäudekomplexes gehindert[7] worden. Mit Hilfe der Polizei hatte man die Säle dann durchsucht und schließlich auch in einem Nebenraume des sogenannten Königsaales, wo die Mumien früherer ägyptischer Herrscher und Herrscherinnen ausgestellt waren, die beiden Diebe entdeckt – jedoch als Leichen. Der eine hatte sich erschossen (Schläfenschuß), der andere vergiftet. Neben diesem zweiten Toten hatte ein Fläschchen gelegen, das noch Reste von Blausäure enthielt. Die Leichen der Einbrecher wurden nach der Polizeiwache in Gizeh gebracht und hier in ein Kellergelaß gelegt. Am Morgen aber – waren sie verschwunden! Vermutlich hatten Leichendiebe sie geraubt und an Medizinstudenten der Universität Kairo verkauft. – Merkwürdig war, daß von dem Inhalt der ausgeplünderten Glaskästen gerade das wertvollste Stück, ein goldenes Armband mit zwölf bohnengroßen Smaragden (Wert 100 000 Mark etwa) fehlte und auch nicht wiedergefunden wurde.

Heute nun hatte sich mittags im Museum, wie das Extrablatt weiter berichtete, etwas Ähnliches ereignet. – Das Museum ist von 1 bis 3 nachmittags geschlossen. Nach Absperrung der Eingänge wird es dann sofort nach ein Uhr durch drei Wächterpatrouillen, die Polizeihunde bei sich haben, durchsucht, um Diebstählen vorzubeugen, die jemand verüben könnte, der sich in den Sälen einschließen läßt.

Die Patrouille, zu deren Revier auch der bereits erwähnte Königssaal gehört, wurde nun durch das Verhalten ihres Begleithundes darauf aufmerksam, daß der dicke Glasbehälter, in dem die Mumie der Prinzessin Sabirah in sitzender Stellung auf einem kostbaren Elfenbeinstuhl aufbewahrt wird, in Höhe des Halses der Mumie zertrümmert und der Halsschmuck der Prinzessin, eine zweifache Schnur von Perlen und Brillanten, entwendet war. Sofort wurde der Alarmapparat in Tätigkeit gesetzt. Gleich darauf hörte man im zweiten Nebenraum einen Schuß fallen. Und man fand dort einen Mann am Boden liegen, einen elegant gekleideten Europäer, der – in der Stirn eine frische Schußwunde hatte. Neben ihm lag ein Revolver, von dessen sechs Patronen eine soeben erst abgefeuert war, wie die Polizei feststellte. Der unbekannte Fremde (er trug nichts bei sich, das über ihn irgendwie hätte Auskunft geben können) hatte zweifellos zum Fenster hinausflüchten wollen, auch schon zwei Stäbe des Fenstergitters losgebrochen, dann aber wohl den Sprung in die Tiefe gescheut, da das Fenster sechs Meter etwa über dem Boden liegt.

Den Dieb hatte man also wieder gefaßt. Aber – als Leiche! – Was man jedoch nicht fand, war das Geschmeide, das im Katalog als „Brillanten der Sabirah“ bezeichnet ist, wie ich später selbst nachlas.

Die Polizei war sofort, als der Schmuck nirgends entdeckt werden konnte, auf den naheliegenden Gedanken gekommen, daß wie bei dem ersten noch unaufgeklärten Diebstahl hier abermals zwei Leute tätig gewesen sein könnten, von denen der eine den Sprung nach unten doch gewagt hatte. Man suchte also unter dem betreffenden Fenster auf dem um das Museum herumlaufenden Kieswege nach Spuren. Man suchte umsonst. Ein Mensch, der aus solcher Höhe herabsprang, mußte unbedingt tiefe Eindrücke in der Kiesschüttung zurückgelassen haben. Man nahm auch die Polizeihunde zu Hilfe. Alles vergeblich. Von einem zweiten Diebe auch nicht die geringsten Anzeichen – nirgends!

Da der Halsschmuck der Prinzessinmumie einen Wert von etwa 200 000 Mark hatte, war von der Direktion des Museums sofort eine Belohnung von 10 000 Mark für die Wiederbeschaffung des Geschmeides ausgesetzt worden, worauf das Extrablatt noch besonders hinwies. –

Als ich diesen Bericht (er war von dem Zeitungsmenschen, der ihn für sein Blatt verfaßt hatte, recht geschickt mit allerlei Einzelheiten gespickt worden) gelesen, war ich sofort überzeugt, daß sowohl dieser, als auch der erste Diebstahl von Warbattys Bande begangen sein mußten. Gerade der Umstand, daß beide Male die oder der Täter nachher als Leichen aufgefunden worden waren, erinnerte ja nur allzu sehr an Warbattys unheimliche Methode, bei einem mißglückten Streich seine Genossen lieber stumm zu machen, als sie in die Hände der Polizei fallen zu lassen. Weiter war ich nämlich auch davon überzeugt, daß bei dem ersten Diebstahl in Wahrheit drei und bei dem jetzigen zwei Täter mitgewirkt hatten und daß dieser unbemerkt gebliebene Beihelfer kein anderer als eben Warbatty gewesen, dem es dank seiner Schlauheit beide Male geglückt sein mußte, ohne Hinterlassung von Spuren, geradezu wie ein unsichtbarer Geist zu entwischen.

– – – – – – – –

Die Kapelle spielte gerade mit Feuer und Schmelz den Dollarprinzessinwalzer (ich habe dies nicht vergessen, weil es sich hier ebenfalls um den Schmuck einer Prinzessin handelte!), als ich Harsts Zeilen überflog:

„Lieber Schraut! Es ist ein Riesendusel von Dir, daß Warbatty Dich für ein so harmloses Kaninchen hält und daß er weiter noch hofft, durch Dich, den dicken Holländer Klaas Boorlem, auch mich aufstöbern zu können, sonst hätte er Dich längst bei Euren gemütlichen Spaziergängen durch Kairo abgemurkst.“

Als ich so weit gelesen, war’s mir, als erhielte ich eine Riesenmaulschelle.

Himmel! – fuhr’s mir durch mein begriffsstutziges Hirn, – wär’s möglich, – sollte etwa mein kleiner einäugiger Ali ben Abraw gar Warbatty sein?! – Und sofort reihte sich an diesen Gedanken, den mein Herr und Meister erst wachgerufen, eine Reihe anderer. Ich wußte ja: Cecil Warbatty war klein und hager; wußte weiter, daß ihm an der linken Hand der Zeigefinger fehlte. Und – mein Ali trug ja diese Hand dick verbunden, weil er sich angeblich schwer verbrannt hatte! – Nein – daß ich mich an Warbattys Neunfingrigkeit auch nicht früher erinnert hatte! Welche unglaubliche Geistesträgheit von mir! –

Dann las ich weiter. –

„Ja, mein lieber Max Schraut, – mir hat es eigentlich ungeheuren Spaß gemacht, Dich so einträglich fast Arm in Arm mit unserem Gegner gestern von der Terrasse der Alabastermoschee aus den Rundblick über das in die Wüste eingebettete Kairo genießen zu sehen! Ich stand dicht hinter Euch in der Uniform eines bärtigen Unteroffiziers der englischen Kolonialarmee und freute mich diebisch über den Meisterdieb Ali ben Abraw, der immer alle Leute, die in Deine Nähe kommen, mit Luchsaugen mustert, ob nicht vielleicht ein gewisser Harald Harst in irgend einer Maske darunter ist und sich mit Dir in Verbindung setzen will. Daß ich mich hier je nach Bedarf in einen buckligen, schmieriger Araber und in den Unteroffizier „auf Urlaub“ Robinson Draker verwandele, daß ich als Draker mir eine allerliebste französische Zofe als Begleiterin zugelegt habe, die in mir leider einen ernsthaften Bewerber um ihr kleines Händchen sieht (sie wird furchtbar enttäuscht sein, wenn Draker eines Tages spurlos verduftet!), – all das ahnt Ali ben Abraw (lies doch mal dieses Abraw von hinten, lieber Kerl, vielleicht erinnert es Dich dann etwas an Warbatty!) – nicht im geringsten. – Zu meinem Glück und zu seinem Pech! –

Du merkst wohl schon, daß ich diese Zeilen in glänzender Laune schreibe. Habe auch Grund dazu. Vielleicht hätte ich nie herausbekommen, was Warbatty mit seiner Garde hier plant, wenn nicht das Geschmeide der etwas angejahrten Prinzessin Sabirah (sie lebte um das Jahre 1012 vor Christi) jetzt gestohlen worden wäre.

Bis heute hatte Warbatty, auf den ich erst aufmerksam wurde, als er sich vorgestern nachmittag an Dich heranmachte, es nämlich verstanden, sich stets sofort spurlos (natürlich in anderer Verkleidung) mir zu entziehen, sobald er sich von Dir getrennt hatte. Jetzt kenne ich sein Quartier. Er haust inmitten des Araberviertels in einer baufälligen Baracke, in die ich nicht einzudringen wage. Sie hat sicherlich noch mehrere Ausgänge nach der Nachbargasse und den Nebengebäuden hin. In diesen Nebenhäusern wohnen nämlich vier angebliche Spanier „möbliert“, zwei links, zwei rechts von Warbattys Fuchsbau, die ich für Mitglieder seiner über alle Erdteile zerstreuten Bande halte. Die vier geben sich für Angestellte des spanischen Generalkonsulates aus, sind es aber nicht, wie ich schon festgestellt habe, trafen auch erst vor einer Woche hier ein. Warbatty dürfte sie vorausgeschickt haben, damit sie hier alles für den großen Coup vorbereiten. – Doch – alles andere mündlich.

Nun meine Instruktionen: Du kehrst jetzt heim nach Deinem Pensionat, ziehst Dich bei Licht aus (man kann vom Garten des Fremdenheims Dein Zimmer überblicken), tust ganz so, als ob Du schlafen gehen wolltest, drehst das Licht aus und legst Dich auch ins Bett. Um 12 Uhr mußt Du jedoch in möglichst veränderter Aufmachung (kein Licht einschalten bei dieser Verwandlung und beim Ankleiden überhaupt!) im Garten sein. Benutzte das Fenster jedoch nicht zum Verlassen des Zimmers, sondern den Gartenausgang des Hauses, der nie verschlossen ist, schleiche im Schatten der Büsche bis zu dem hohen Holzzaun, der den Garten von dem anstoßenden Grundstück der Parallelgasse trennt, und warte dort auf mich. Ich hoffe pünktlich sein zu können. Bin ich bis zwei Uhr morgens nicht erschienen, so gilt die gleiche Verabredung für morgen. Bringe Revolver und Taschenlampe und zwei Ersatzbatterien mit. – Komme ich heute nicht, dann laß Dich nur wieder wie bisher vor- und nachmittags von Deinem einäugigen Ali in Kairo herumführen und tu’ völlig harmlos. – Der Unteroffizier Robinson Draker wohnt im Hotel Bristol in der Nähe des Fischmarkts, der bucklige Händler, bisher namenlos, aber bei Mutter Grün, wie’s auf deutsch heißt, – also in den Ruinen der Kalifengräber östlich der Stadt in einem selbstgewählten, recht eigenartigen Versteck, das Du wohl auch noch kennen lernen wirst. – So, nun Schluß! Und nochmals: Vorsicht Deinem lieben Ali gegenüber! – Verbrenne diesen Zettel sofort unauffällig – sofort! – Gruß – H.“

Ich tat’s, indem ich ihn als Fidibus für eine Zigarre benutzte. Dann beglich ich meine Zeche und wanderte heim durch die hier noch recht belebten Straßen. Ich war etwas gedrückter Stimmung. Weiter nicht wunderbar, denn Harst hatte mir mal wieder gezeigt, wie unendlich viel mir noch zu einem auch nur leidlich gewandten Detektiv fehlte.

Dicht vor dem Hause der Frau Klara Winter (ihr Mann war Schiffskapitän gewesen und sie selbst war eine ebenso energische wie geschäftstüchtige Dame) strich ein buckliger Araber an mir vorüber und drückte mir schnell eine Papierkugel in die Hand. Es konnte nur Harst gewesen sein, und ich war nicht wenig neugierig, ob er etwa eine andere Verabredung mit mir treffen wollte.

Oben in meinem Zimmer (Hochparterre[8] neben der Gartenterrasse gelegen) tat ich so, als ob ich noch bei offenen Fenstern in einem Buche blätterte und las dabei das glatt gestrichene Papier, das nichts anderes als das Extrablatt über den Museumsdiebstahl war. Darauf hatte Harst mit Bleistift einzelne Worte dick eingeklammert, die, wenn man sie hintereinander setzte und richtig gruppierte, folgendes ergaben:

„Morgen mittag Hotel kommen, Aussehen wie jetzt, Umwege machen zur Vorsicht.“

Ich hatte also richtig vermutet: Harst widerrief die Verabredung für heute. Statt dessen sollte ich ihn, den Unteroffizier Robinson Draker, morgen im Bristol aufsuchen, natürlich mit der nötigen Vorsicht, damit mir niemand nachschlich.

Ich ging zu Bett, schlief auch bald ein. Das eine gazeüberspannte Fenster ließ ich offen. Insekten konnten ja infolge der engmaschigen Gaze nicht herein. –

Jemand rüttelte mich. Ich fuhr hoch, hörte, noch ganz schlaftrunken, Harsts Stimme:

„Zum Teufel, – so werde doch munter! – Weshalb hast Du Dich um 12 nicht am Zaun eingefunden?“

Im Zimmer war’s nur halbdunkel. Harst saß – oder besser der bucklige Araber – auf meinem Bettrand.

„Ich habe eine halbe Stunde umsonst gewartet,“ meinte er nun. „Dann schnitt ich die Gaze entzwei und stieg zu Dir hinein. – So rede nun endlich! Weshalb bist Du nicht um 12 erschienen?“

„Weil Du mir doch den zweiten Zettel zugesteckt hast,“ verteidigte ich mich, jetzt wieder ganz wach. „Die eingeklammerten Worte ließen doch nur die Deutung zu, daß ich mich morgen in Deinem Hotel einfinden sollte.“

Er erwiderte nichts, blieb ganz regungslos. Dann seufzte er leise, sprach wie zu sich selbst:

„Schade – er ist doch schlauer als ich! Ich sehe das immer mehr ein.“

Eine böse Ahnung stieg in mir hoch.

„Du – Du hast mir den Zettel wohl gar nicht in die Hand gedrückt, – wie?!“ fragte ich stockend.

„Leider nicht, lieber Schraut. – Wo hast du den Zettel?“

„Dort auf dem Tisch im Reisehandbuch liegt er.“

Harst holte das Buch, legte sich lang auf den Teppich, schaltete seine Lampe ein, beschattete sie mit der Hand und ließ nur einen dünnen Strahl auf das Extrablatt fallen.

Als er sich dann wieder zu mir auf den Bettrand setzte, flüsterte er nachdenklich:

„Diesen Warbatty habe ich noch unterschätzt. Wer weiß, wie lange er mich in dieser Verkleidung schon durchschaut hat. Nun haben wir das Spiel hier eigentlich schon verloren, denn – ich riskiere bei jedem Schritt, in jeder Sekunde jetzt mein Leben. Du kennst Warbatty ja. Er verfügt über tausend Mittel, einen Menschen zu beseitigen. Ein Wunder, daß ich überhaupt noch –“ Er schwieg plötzlich, senkte den Kopf tiefer und starrte vor sich hin.

Inzwischen hatte ich diese neueste Wendung der Dinge schnell im Geiste überprüft und sagte ganz zuversichtlich:

„Ich sehe nicht ein, weshalb Du anzunehmen berechtigt bist, Warbatty müsse Dich erkannt haben. Gerade weil er diesen Trick angewandt hat, dürfte er noch nicht wissen, wo Du hier steckst und welche Maske Du trägst. Er wird diese Weisung für mich, Dich in Deinem Hotel zu besuchen, als letztes Hilfsmittel benutzt haben, Dir auf die Spur zu kommen. Der Inhalt der eingeklammerten Worte ist ja so –“

„Aber Schraut,“ unterbrach er mich hier. „Wie unlogisch ist das alles! Bedenke doch: ein buckliger Araber, der meinem jetzigen Äußeren doch entfernt ähnlich gesehen haben muß, gab Dir die Papierkugel! Mithin wußte Warbatty sehr genau, wie er sich herausstaffieren mußte, um Dich hineinzulegen. – Ich bin überzeugt, er hat uns beide heute abend ständig beobachtet oder beobachten lassen, als wir vor dem Cafee saßen, Du auf der Terrasse, ich auf der Promenade! Und vielleicht hat er auch bemerkt, daß Du nicht nur das Extrablatt, sondern auch einen Zettel von mir erhieltest. Vielleicht wird er –“

Abermals schwieg er. Als ich etwas erwidern wollte, winkte er kurz ab. – Minuten vergingen so. Dann erklärte er plötzlich sehr lebhaft:

„Alles ist doch noch nicht verpfuscht. Ich durchschaue Warbatty jetzt. – Halb und halb hast Du doch recht, alter Freund: Warbatty kann erst heute abend gemerkt haben, daß hinter dem buckligen Araber vor der Terrasse sein schlimmster und hartnäckigster Feind sich verbirgt. Erst heute abend – ganz sicher! Und zwar hat er’s herausgefunden, als Du mich nach dem Extrablatt schicktest und ich es Dir hinreichte. Da ist er auf mich aufmerksam geworden, hat schleunigst sich ähnlich wie ich zurechtgemacht – sein Fuchsbau liegt keine vier Minuten vom Esbekije-Platz entfernt – und den Trick mit dem präparierten Zettel versucht. – Hätte er mich schon vorher durchschaut, würde er seine zeitraubende Rolle als Dein Fremdenführer nicht weitergespielt, sondern unter einem Vorwand sich von Dir losgesagt haben. Weiter: Ich bin sowohl als Robinson Draker als auch als Händler so überaus vorsichtig gewesen, wie ich bei genauer Prüfung mir jetzt selbst eingestehen muß, daß Warbatty mir niemals hätte auf den Fersen bleiben können. Ich habe hundert listige Schliche gebraucht, jeden Verfolger zu narren, habe nie etwas von einem solchen bemerkt, außerdem auch in meinem Versteck in den Kalifengräbern, zu dem es nur einen langen, gewundenen, engen Zugang gibt, beim Hinausgehen Sand gestreut, der mir sofort verraten hätte, wenn jemand in meiner Abwesenheit da gewesen wäre. – Aus alledem entnehme ich mit voller Sicherheit, daß Warbatty erst heute den buckligen Araber beachtet und mich erkannt hat.“

„Hm – einen Augenblick,“ flüsterte ich. „Angenommen, es ist so, wie Du sagst. – Weshalb hat er dann aber gerade mich verfolgt und mir den Zettel zugesteckt, anstatt zu versuchen, Dir nachzuschleichen und Dich schnell beiseite zu schaffen? Dies wäre für ihn doch am sichersten gewesen.“

„Ganz recht. Warum tat er das? – Nun, die Antwort ist nicht schwer. Ich denke, man wird hier Warbattys Rachsucht, seinen Wunsch, mich erst in seine Gewalt zu bekommen und dann zu „erledigen“, in Betracht ziehen müssen. – Gewiß: er hätte mich vielleicht in einer dunklen Gasse erschießen oder erdolchen können. Das genügte ihm nicht. Dreimal habe ich bisher seine Pläne gestört. Seine Wut gegen mich wird grenzenlos, sein Haß fast unnatürlich und seine gekränkte Verbrechereitelkeit der Ansporn sein, mir zu beweisen, daß er der intelligentere von uns ist. – Dies der eine Grund. – Dann: er kennt mich! Wir befinden uns hier in einer großen Stadt von ausgesprochen internationalem Charakter, wo man leichter als anderswo einen Verfolger täuschen und ihm entschlüpfen kann. Er will eben sicher gehen. Er ahnt natürlich, daß ich hier nicht lediglich als buckliger Händler auftrete, daß ich irgendwo mein Quartier in einer anderen Maske habe. Für morgen wird er umfassende Vorbereitungen treffen, daß ich mich ihm nicht wieder entziehen kann. – Es ist schon so, wie ich behaupte, lieber Kerl. – Immerhin: wir müssen jetzt unsere Vorsicht verzehnfachen, denn – ist Warbatty zusammen mit einem seiner Spießgesellen in der Nähe des Cafees gewesen, so liegt ja stets die Möglichkeit vor, daß man trotz all meiner Wachsamkeit hinter mir geblieben ist, – wohlverstanden: die Möglichkeit! – Hierüber müssen wir uns unbedingt Aufschluß verschaffen. – Zieh Dich an. Dann verlassen wir das Haus einzeln durch den Vordereingang. Ich zuerst. Du folgst auf etwa fünfzig Schritt. Halte aber den Revolver gespannt in der Tasche bereit. Und sobald Du nur irgendwie Unrat witterst, knalle los. Wir werden das Eingeborenenviertel durchqueren. Dort strolcht viel Gesindel umher. Erst wenn ich ein paar Walzertakte aus der Fledermaus pfeife, näherst Du Dich mir. – Vorwärts nun! Wollen sehen, wie weit ich mit alledem recht habe.“

Das konnte ja wieder eine recht gemütliche Nacht werden. – Ich gestehe ehrlich: ich habe keinerlei Sehnsucht nach nächtlichen Abenteuern, die, wenn man mit Harst zusammen ist, gut zur Hälfte einen recht scharfen Beigeschmack haben. Wie oft waren wir bisher bei solchen Unternehmungen nur mit knapper Not dem Tode entgangen! Ich denke nur an Palermo, wo man uns lebend ersäufen wollte. – Trotzdem beeilte ich mich, im Halbdunkel den dicken Holländer wieder recht echt herzustellen. Dann verließen wir auf leisen Sohlen das Haus.

– – – – – – – –

Der bucklige Händler schlurft vor mir her, so recht gemächlich wie einer, der nichts zu versäumen hat. In der Araberstadt ist’s im allgemeinen still. Wir passieren auch zumeist ganz enge Gäßchen, meiden die Basarstraßen. Manche unheimliche Gestalt regt sich hier und da. In den dunklen Winkeln der Baracken aus Holz und in den tiefen Türen der steinernen Häuser mit den glatten Fronten und vergitterten Fenstern hocken obdachlose Bettler. Mir, dem Weißen, klingen Verwünschungen nach. Der Haß der Bekenner Mohammeds gegen die Christen flackert nur nachts auf. Am Tage plündert man die dummen Touristen nach Kräften aus. – Mir ist’s, als ginge ich durch zwei Reihen von Todfeinden hindurch. Meine Hand spürt den kühlen Revolverkolben. Ich habe schießen gelernt, seit ich Harsts Privatsekretär bin. Und die Gewißheit, auf zwanzig Schritt meines Schusses sicher zu sein, beruhigt meine Nerven ebenso sehr, wie die gebückte Gestalt da einige fünfzig Schritt vor mir es tut. Es ist ja Harald Harst. Und für mich ist er ein Gott.

Wir passieren enge, überdachte Durchgänge, biegen um zahllose Ecken. Wir sind jetzt wohl mitten im Eingeborenenviertel, wie die Düfte ringsum verraten und auch die heimtückischen Hunde, die plötzlich aus dem Dunkel hervorschießen, kläffen und wieder verschwinden. – Der Himmel ist bedeckt. Vom Dschebel Mokattam, diesem zerklüfteten Gebirgszuge, der Kairo im Südosten wie ein Riesenwall einzuschließen scheint, weht ein kühler Lufthauch herüber und täuscht drohenden Regen vor.

Wieder geht’s um eine Ecke in eine enge Gasse hinein, in der nur ganz fern eine elektrische Birne zwischen den oft weit vorspringenden Häusern hängt. Harst ist meinen Blicken abermals für kurze Minuten entzogen. Nun umschreite auch ich die Ecke, sehe ihn wieder vor mir, sehe, daß er stehen bleibt, auf eine Haustür zuschleicht, dort in horchender Stellung Sekunden verharrt und dann langsam im Schatten der Häuser mir entgegenkommt. Noch zehn Schritt trennen uns. Er winkt, verschwindet hinter dem Holzvorbau eines Schusters, wie der an einem Draht hin und her pendelnde Pantoffel verrät. Ich beeile mich. Ich erblicke ihn gerade noch, wie er im Dunkel eines Hoftores mit der Finsternis in eins verschmilzt. Ich folge ihm: und fühle nun eine Tauschlinge blitzschnell über meine Brust gleiten. Dann ein Ruck – ich schieße hoch mit unheimlicher Geschwindigkeit. Wieder ein Ruck, und ich hänge in rabenschwarzer Nacht irgendwo – irgendwo. Und als erster Gedanke blitzt mir durch den Kopf: „Du bist in eine Falle gelockt worden! Es war gar nicht Harst, der dir winkte, – es war der verkleidete Warbatty!“ – Dann höre ich unweit von mir ein Summen. Es klingt wie das Geräusch eines Elektromotors. Und nun leuchtet eine große Laterne auf, die bisher mit einem Tuch bedeckt gewesen ist. Ein Mann in der Uniform der ägyptischen Polizei, ein kleiner, brauner Herr mit goldener Brille, hat es weggerissen, hält mir die Laterne vors Gesicht, fährt etwas zurück, ruft einem zweiten Manne in Uniform, der neben mir steht, auf englisch zu: „Ah – wir haben, scheint’s, den Falschen erwischt!“

Ich sehe nun, wo ich mich befinde: in einem Kornspeicher! Ich hänge über einer quadratischen Öffnung im Fußboden an einem elektrischen Lastenaufzug! – Die Uniformen sind mir nur angenehm. Ich sage daher sehr ruhig und höflich zu dem Herrn mit der Brille: „Fraglos haben Sie den Falschen hochgehißt. Ich bin –“

Da – hinter mir das Knarren von Treppenstufen und Harsts keuchende Stimme: „Bester Inspektor – ein peinliches Mißverständnis! Sie sollten doch erst den dritten Mann, der den Durchgang passiert, schleunigst nach oben befördern! Das ist mein Freund Schraut.“

Gleich darauf stand ich wieder auf meinen Füßen und der bucklige Bettler schlug mir lachend auf die Schulter. „Armer Kerl, Du hast wohl einen bösen Schreck bekommen! – Gestatte, daß ich Dich mit Herrn Kriminalinspektor Jussuf Mezzan bekannt mache.“

Der Bebrillte reichte mir die Hand und entschuldigte sich. Nun – ich mußte so tun, als fände auch ich diese Himmelfahrt nur spaßig. – Dann führte Harst uns auf den Hof und durch ein paar Bretterbuden nach der Rückseite eines neueren arabischen Hauses, das sogar eine eiserne eingemauerte Feuerleiter hatte. Wir kletterten daran hoch und schlichen nach rechts auf dem flachen Dach entlang, bis wir ein paar erleuchtete Fenster eines offenbar uralten Hauses halb unter uns hatten.

„Bitte,“ sagte Harst zu dem Inspektor Jussuf Mezzan und deutete auf das breiteste der erleuchteten Fenster. Es hatte keine Vorhänge. Der Anblick, der sich uns darbot, war eigentlich etwas komisch. In dem Raume dort war ein Tau etwa 2½ Meter über dem Fußboden sehr straff gespannt, und an diesem Tau hing ein Mensch in europäischer Kleidung und suchte schnell mit den Händen sich weiterzuarbeiten. Er benahm sich jedoch recht ungeschickt dabei. Mehr im Hintergrunde stand – ich erkannte ihn sofort! – mein bescheidener freundlicher Fremdenführer Ali Abraw alias Cecil Warbatty, machte jetzt eine ärgerliche Handbewegung, worauf der Mann das Tau fahren ließ und von einem anderen abgelöst wurde, der offenbar körperlich gewandter war und recht flink, immer mit der einen Hand das Tau loslassend und es mit der anderen weit vor sich ergreifend, sich auf diese Weise weiterschwang. Jetzt nickte Ali Abraw befriedigt. Wir sahen nun auch, daß sich im ganzen vier Leute in dem großen, leeren Gemach befanden, – Warbatty und drei Europäer.

„Wirklich – er ist’s,“ meinte der ägyptische Inspektor jetzt flüsternd. „Ich besinne mich ganz genau auf ihn. Er trieb sich gestern gegen sieben Uhr abends in der Nähe des Museums umher und fragte einen der Aufseher, weshalb denn die Polizei das Gebäude so eifrig umschwärme. – Sie meinen also, Herr Harst, dieser einäugige Araber mit der verbundenen linken Hand ist der Dieb des Schmuckes der Prinzessin Sabirah?“

„Vielleicht.“ Dann fragte Harst mich: „Wann hat sich Ali Abraw gestern vormittag von Dir getrennt, Schraut?“

„Um ½12 etwa. Er sagte, er müsse einen reichen Spanier nachmittags nach der Zitadelle führen.“

„Halb zwölf. Das stimmt recht gut zusammen,“ erklärte Harst, um dann sofort hinzuzufügen: „Gehen wir jetzt. Wir haben Glück gehabt. Eigentlich wollte ich Ihnen, Jussuf Mezzan[9], nur den Schlupfwinkel dieses internationalen Gauners zeigen. Wir kamen gerade zur rechten Zeit.“ Er verließ das Dach, und wir kletterten hinterdrein.

In dem Kornspeicher machte Harst wieder halt und meinte zu dem ägyptischen Beamten: „Da jetzt feststeht, daß weder ich verfolgt worden bin noch meines Freundes Schraut Fremdenheim in dieser Nacht beobachtet worden ist, können wir die Zeit am besten zu einem kurzen Ausflug nach Gizeh benutzen. Vorwärts, Jussuf Mezzan, – gähnen können Sie zwei Stunden später.“

Und gegen drei Uhr morgens rollte unser Kraftwagen über die 406 Meter lange eiserne Brücke hinweg und nach Gizeh hinein. Jussuf klingelte den Oberaufseher des Museums heraus, und wenige Minuten später standen wir vor dem zertrümmerten Glaskasten, aus dem heraus die Prinzessin Sabirah als Mumie uns mit ihren schillernden Glasaugen scheinbar wütend anstarrte. – Die ganzen Beleuchtungskörper waren eingeschaltet. Harst ging hin und her und machte allerlei streng wissenschaftliche Bemerkungen über die Kunst der altägyptischen Priester, Leichen so tadellos zu konservieren, wie wir dies hier an etwa fünfzehn Königsmumien sahen.

„Ich war bereits vorgestern in diesem Saale,“ erklärte er nun plötzlich. „Vorgestern – also am Tage vor dem Diebstahl, und zwar als Unteroffizier Robinson Draker in Begleitung meiner liebenswürdigen Französin. Ich hatte im Hotel Bristol durch einen Kellner so einiges über den ersten Diebstahl hier gehört, den gleichfalls Warbatty ausgeführt haben dürfte. Er war der, der sich vergiftet hatte, – ich meine, der andere Selbstmörder. Der Genosse Warbattys hatte doch einen Schläfenschuß, nicht wahr?“ Diese Frage richtete er an den mit wenig geistreichem Gesicht dastehenden Inspektor.

„Allerdings – Schläfenschuß, Herr Harst, – ganz recht! Aber – Sie gestatten –“

„Und der gestrige Selbstmörder hatte die Kugel in der Stirn,“ unterbrach ihn Harst schnell. „So steht’s in den Extrablättern. – Hm – die Ähnlichkeit der beiden Diebstähle springt sofort in die Augen, Jussuf Mezzan.“

„Freilich – freilich!“

„Die Leichen der beiden ersten Diebe vermuteten Sie nachher bei einem Studenten oder Arzte – zu anatomischen Studien geraubt. Diese Vermutung ist irrig. Darüber nachher etwas.“

Wir gingen nun in jenen kleineren Saal, in dem der gestrige Dieb sich erschossen hatte und in dem zwei Stäbe des Gitters des einen Fensters gelockert waren. Harst betrachtete sich alles auf das genaueste, steckte auch den Kopf durch die losen Eisenstäbe hindurch und wanderte dann wieder hier langsam und nachdenklich auf und ab.

Dieser Saal enthielt lediglich beschädigte, wertlosere Altertümer, so zum Beispiel unvollständige Mumien von Menschen, ausgestopfte Katzen, Krokodile und Vögel, alles Tiere, die den Ägyptern vor Jahrtausenden heilig gewesen, ferner Stücke von Tempelschnitzereien aus Elfenbein, Ebenholz und anderem Material, – kurz, es war dies gewissermaßen eine Rumpelkammer. – Harst blieb jetzt vor dem Inspektor stehen und meinte, er wolle sich doch auch einmal den Raum ansehen, in dem damals vor sechs Wochen die beiden Diebe und Selbstmörder aufgefunden worden seien.

Jussuf erklärte eifrig: „Herr Harst, – dort lagen die beiden Leichen!“ Dabei deutete er etwa in die Mitte des Saales.

„So, so, – also auch gerade hier!“ murmelte Harst, fragte dann lauter: „Herr Inspektor, Sie haben mit Ihren Beamten gestern das ganze Museum durchsucht?“

„Gewiß! Und wie haben wir gesucht! Nicht ein Zentimeter des Gebäudes und auch des Parkes blieb undurchforscht. Wir haben jeden Glaskasten geöffnet, jeden Vorhang abgetastet, jede Diele beklopft. Oh – wir verstehen zu suchen – wirklich!“

„Wirklich –“, wiederholte Harst leise, und es blieb unentschieden, ob’s ironisch klingen sollte.

Er ging jetzt abermals hin und her, und seine Augen glitten bedächtig von Gegenstand zu Gegenstand. Dann wies er auf ein Gestell, auf dem drei Mumien lagen, denen einzelne Gliedmaßen fehlten und deren Gesichter beschädigt waren. In der Mitte lag eine männliche Mumie ohne Arme und Beine.

„Wer ist das mal gewesen?“ meinte er und zeigte auf die Überreste eines offenbar bejahrten Mannes, dessen Kopf mit einer Binde bis zu den Ohren eng umwickelt war, so daß auch die Stirn unter diesem sicherlich uralten Gewebe verschwand.

„Es ist eine leider schwer beschädigte Königsmumie, und zwar die des Ramasena aus der sechsten Dynastie, eines Herrschers, der angeblich 200 Jahre alt geworden sein soll,“ erklärte der Oberaufseher anstelle Jussuf Mezzans. „Wir haben schon viele Bieter auf Ramasena gehabt. Der Direktor will ihn auch verkaufen. Aber das Ministerium hat als Preis 100 000 Mark festgesetzt, und das wollte nicht einmal der Milliardär Morgan geben.“

„So – so –“ Harst wandte sich nun wieder an den Inspektor. „Ich bin hier fertig. – Zeigen Sie mir doch mal jetzt den Keller des Polizeigebäudes hier in Gizeh, aus dem damals die Leichen der beiden Diebe geraubt wurden.“

Wir legten die kurze Strecke wieder im Auto zurück. Harst warf nur einen flüchtigen Blick in den Keller, wies auf die unvergitterten Fenster und sagte achselzuckend: „Allerdings – ein Kinderspiel!“

Dann führte er uns zu einem nahen, kaum fünfzig Schritt entfernten Seitenarm des Nils, an dessen schlammigem Ufer nur an einer Stelle kleinere Fahrzeuge an einem weit ins Wasser hinausgebauten Bootsstege anlegen konnten.

Harst schritt bis zum Ende des Steges und befahl dann einem der beiden Polizisten, die mit uns gekommen waren, einen längeren Bootshaken zu holen. Als der Mann mit einem solchen zurückgekehrt war, wurde auf Harsts Wunsch der schlammige Grund rings um die kleine Anlegebrücke sehr sorgfältig abgesucht.

– – – – – – – –

Inzwischen war die Morgendämmerung eingetreten. Harst mahnte immer wieder zu etwas eifrigerem Suchen. „Ich muß vor Sonnenaufgang von hier verschwunden sein,“ meinte er. „Warbatty gegenüber kann man nicht vorsichtig genug –“

Der eine der Polizisten, der vorhin einen Hundekadaver herausgezogen hatte, rief plötzlich überlaut:

„Ich habe eine menschliche Leiche jetzt am Haken!“

„Endlich!“ sagte Harst. „Heraus mit ihr – schnell!“

Es war die Leiche eines blondbärtigen Europäers. Allzu lange konnte sie noch nicht im Schlamm gelegen haben. An einen Fuß des Toten und an den Hals war je ein Ziegelstein mit einem Zeugfetzen angebunden.

Harst deutete auf ein Loch in der rechten Schläfe der Leiche. „Bitte, Herr Inspektor, dies ist der eine Dieb, den der andere, der sich vergiftet hatte, hier versteckt hat, damit der Schwindel nicht durchschaut wurde.“

Da ging Jussuf Mezzan ein Licht auf. „Ah – der zweite Halunke war gar nicht tot. Und um keinen Verdacht gegen sich aufkommen zu lassen, daß er lebend entflohen, hat er seinen Genossen aus dem Keller hierher –“

„Ganz recht,“ fiel Harst ihm ins Wort. „Er hat seinen Genossen, den er selbst ermordet hatte, hier verschwinden lassen und hat dann seine gefährliche Tätigkeit als Cecil Warbatty wieder aufgenommen, nachdem er die hiesige Polizei so gründlich getäuscht hatte. – Warbattys alte Methode ist’s, Herr Inspektor. Der „Vergiftete“ war doch von kleiner Gestalt und hager. – Warbatty also hat diesen Mann niedergeknallt, als der Diebstahl mißlungen war – teilweise mißlungen.“

Jussuf Mezzan verbeugte sich. „Meine Hochachtung, Herr Harst. – Als Sie gestern abend in dieser Ihrer Verkleidung als arabischer Händler kamen und mir Ihre Hilfe anboten, war ich erst etwas –“

„Schon gut. Ich habe leider keine Zeit mehr. – Auf Wiedersehen, Herr Inspektor. – Wir, mein Freund Schraut und ich, werden dieses Boot nachher am südlichsten Punkte der Insel Gesireh festmachen. Lassen Sie es doch bitte von dort abholen. Ich möchte zur Sicherheit auf dem Wasserwege nach Kairo zurück.“

Wir ließen uns auf dem Nil dann von der schwachen Strömung treiben. Harst rauchte eine Zigarette und lächelte zufrieden.

„Du, Freund Schraut, diesmal werde ich dafür sorgen, daß Warbatty nicht entwischt. In der kommenden Nacht fangen wir ihn ganz bestimmt.“

„Na – na!“ meinte ich zweifelnd. „Selbst wenn wir diesen Menschen hier im Boot gefesselt liegen hätten, würde ich noch nicht zu behaupten wagen, daß wir ihn wirklich –“

„Abwarten! – Ich werde ihm heimzahlen – mit Zinseszins, was er uns damals in Kingston aushalten ließ, als er uns auf die Stühle gesetzt hatte und die verdammte Wanduhr uns abtun sollte. – Doch – jetzt Deine Aufgaben für heute, lieber Kerl! – Also höre: Wenn Dein Ali Abraw sich wie stets um neun Uhr bei Dir einfindet, erklärst Du ihm, heute Briefe erledigen zu wollen. Dann gehst Du auf Umwegen und unter allerlei scheinbaren Vorsichtsmaßregeln nach dem Hotel Bristol, fragst dort aber nicht nach mir, das heißt nach dem Unteroffizier Robinson Draker, sondern nach dem Rentier August Lange aus Berlin. Der wohnt nämlich neben mir auf Nummer 32. Ich habe 31. Mit diesem harmlosen Gemütsmenschen August Lange, einem Witwer mit noch viel Lebenslust und einem blonden Teutonenbart, habe ich mich auch so etwas angefreundet, natürlich als Robinson Draker. – Auf diese Weise hetzen wir Warbatty mindestens den heutigen Tag über hinter Lange drein und sind ihn auf diese Weise los. Du mußt Dich natürlich zu Lange auf sein Zimmer begeben und Dich mit ihm, falls er anwesend, eine Weile unterhalten. Einen Vorwand für diesen Besuch wirst Du schon finden. – So, das ist Auftrag eins. Dann wirst Du, sobald Du das Hotel Bristol verlassen hast, sofort in Dein Fremdenheim zurückkehren und Dich nicht mehr aus dem Hause rühren. Um zehn Uhr abends begibst Du Dich nach dem Esbekije-Platz. Unterwegs wird von rückwärts ein leeres Mietauto an dir vorüberkommen. Dies rufst Du an und nennst dem Chauffeur den Nordbahnhof als Ziel. Der Mann weiß Bescheid. Sollte ich meine Absichten ändern, so wirst Du in der Abendzeitung im Annoncenteil eine Anzeige unter „Robinson“ finden, die Dir genügend Bescheid gibt. – So, das wäre alles.“

„Gestatte,“ meinte ich, als er nach den Rudern griff, „ich möchte doch gern etwas besser unterrichtet sein als zum Beispiel der Inspektor Jussuf Mezzan. Ich bin Dein Privatsekretär, und ich glaube ein gewisses Anrecht –“

„Schon gut,“ fiel er mir ins Wort und begann zu rudern. „Ich werde mich kurz fassen. – Zunächst den ersten Diebstahl, bei dem Warbatty seinen Begleiter erschoß und selbst sehr raffiniert einen Selbstmord mit Gift vortäuschte. – Man hat damals natürlich auch beide „Leichen“ nach dem Armband durchsucht. Aber – es ist bisher nichts gefunden worden! – Ich wette, Warbatty hat das Armband im Museum versteckt. Wo? – Das ist eine schwierige Frage. – Ebenso liegt die Sache jetzt: das Geschmeide der Prinzessinmumie hat er gleichfalls wieder im Museum verborgen, bevor er entkam.“

„Also wirklich wieder Warbatty?! Mir erscheint dies recht zweifelhaft, obwohl –“

„Ah – Du meinst zweifelhaft, weil keine Spuren seiner Flucht vorhanden. – Nun – es sind Spuren da, wenn auch nur wenige. Jedenfalls, mein lieber Schraut: auch dieser zweite Diebstahl und dieser „Selbstmord“ des als Leiche mit dem Revolver neben sich aufgefundenen Diebes kommt auf unseres Gegners schon überreich belastetes Konto. Auch hier hat er seine alte Methode angewandt: er hat sich vor Verrat des wichtigen Geheimnisses, wo das Geschmeide sich befindet, durch das radikalste aller Mittel geschützt, indem er den Mitwisser kurzer Hand niederknallte und dann entfloh.“

„Ja – entfloh?! – wohin denn aber?“ warf ich abermals recht zweifelnd ein. „Wäre er zum Fenster durch die Gitterstäbe hinausgeklettert, so hätte er auf den Kiesweg hinabspringen müssen, denn die Außenwand dort ist so glatt, daß nicht einmal eine Katze zum Klettern Halt fände.“

„Hm – wohin?! – Lieber Kerl, auch das ist eine schwierige Frage. Ich gebe Dir darauf heute nacht vielleicht eine klärende Antwort. – Ich möchte Dir nur noch sagen, daß ich in der vergangenen Nacht gehofft hatte, einen der Leute Warbattys in dem Kornspeicher statt Deiner in der Schlinge hängend vorzufinden. Ich hatte mit Jussuf Mezzan alles genau vereinbart. Ich rechnete bestimmt damit, Warbatty würde einen der drei überlebenden „Spanier“ – Du besinnst Dich auf meine Angaben über diese Leute; den vierten hat Warbatty gestern erschossen, wie wir wissen – als Posten vor das Fremdenheim gestellt haben. Diese Wache hätte ich gern unter Zusicherung voller Straflosigkeit und unter Hinweis darauf, daß Warbatty der heimtückischste und mordlustigste Verbündete ist, den es nur geben kann, für uns gewonnen, um uns die Sache zu erleichtern. Nun – es war ein Irrtum. Warbatty hatte das Pensionat gestern nacht unbeobachtet gelassen, und dieser Inspektor beförderte Dich nach oben. – Ah – da ist bereits die Südspitze von Gesireh.“ Er reichte mir die Hand. „Auf Wiedersehen! Ich werde Dich in der Nähe der Brücke über den rechten Nilarm absetzen.“ –

Wir trennten uns also. Ich war jetzt so müde, daß ich dann daheim sofort zu Bett ging.

Um 1 Uhr nachmittags suchte ich, wie befohlen, den deutschen Landsmann August Lange im Hotel Bristol auf und traf ihn beim Kofferpacken an. Ich entschuldigte mich: ich hätte geglaubt, in ihm einen alten lieben Bekannten hier wieder zu finden. – Lange war die Gemütlichkeit selbst, glaubte an meine holländische Nationalität ganz fest, kam mit mir ins Plaudern und erzählte, daß er heute um vier Uhr mit zwei eingeborenen Führern einen Kamelritt nach der achtzig Kilometer westlich von Kairo liegenden Oase Sheriak unternehmen und fünf Tage fortbleiben würde. Ich solle doch mitkommen, meinte er. Er habe denselben Vorschlag schon seinem Zimmernachbar vorhin gemacht, der aber leider dauernd mit einer niedlichen Französin zusammenstecke, mit der er jetzt auch wieder eine Tour nach dem Dschebel Mokattam mache.

Dann – dann kam der furchtbare Schreck für mich, – denn August Lange fügte hinzu: „Na – ich habe dem guten Robinson Draker die Freude an der zierlichen Französin nicht verderben wollen. Aber – wenn er denkt, daß sie ein unschuldsvoller Engel ist, dann irrt er sich sehr – sehr! Schon zweimal habe ich diese kleine Kröte in den Anlagen des Esbekije-Platzes heimlich beobachtet – wirklich ganz zufällig –, wie sie mit einem kleinen braunen Halunken, noch dazu einem Einäugigen, sehr eifrig plauderte, wobei das Pärchen so vertraut tat, daß ich –“

Ich sprang auf, griff nach meinem Hut, rief:

„Entschuldigen Sie, Herr Lange, – ich denke soeben daran, daß ich ja um ein Uhr eine Verabredung habe. – Viel Vergnügen in der Wüste –“

Ich rannte davon, fand ein Auto, ließ mich erst – zum Schein – nach dem Vizeköniglichen Schloß bringen, verschwand hier in den Parkwegen, lief durch eine Seitenpforte auf die Abdin-Straße und weiter im halben Trab nach dem nahen Polizeiamt. Ich hatte Glück. Inspektor Mezzan war noch anwesend, wollte aber gerade nach Hause gehen.

Fliegendem Atems teilte ich ihm mit, daß Harst von Warbatty heute fraglos in den Mokattam-Bergen mit Hilfe der Französin, die mein Freund in keiner Weise beargwöhne, in eine Falle gelockt werden würde. Wir müßten ihm unbedingt sofort zu Hilfe eilen und zwar mit einem größeren Polizeiaufgebot.

Der Inspektor war sofort einverstanden. –

Ich will nun an dieser Stelle das vorwegnehmen, was Harst mir über sein Abenteuer im Mokattam-Gebirge später berichtet hat.

– – – – – – – –

„Ich finde, Sie sind heute sehr zerstreut,“ meinte Minette Lavagaux zu ihrem schmucken Begleiter, als sie am Güterbahnhof im Süden der Stadt die Straßenbahn verlassen hatten und jetzt die Bergabhänge dicht vor sich sahen.

Harst, oder besser Robinson Draker, lächelte Minette harmlos an. „Vielleicht macht’s die bevorstehende Trennung, Minette,“ erwiderte er. „Sie waren eine so lustige Gefährtin. – Ich muß nämlich morgen abreisen.“

„Sie scherzen, lieber Robinson. Ihr Urlaub ist doch noch nicht zu Ende.“ Sie machte dazu ein sehr betrübtes Gesichtchen.

„Wollen uns diese letzten gemeinsamen Stunden nicht durch Abschiedsgedanken trüben, Minette. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet. Ohne Sie hätte ich mich kaum so ungehindert in Kairo bewegen können.“

Minette zuckte leicht die Achseln. „Ungehindert?! – Ich verstehe Sie nicht –“

„Ist ja auch nicht nötig. – Sprechen wir von etwas anderem. – Sie wollen sich also durchaus die alten Steinbrüche in den Südabhängen ansehen. Gut. Hier nach meiner Karte sind’s etwa sechs Kilometer dorthin, Minette. Wir werden also erst gegen halb vier Uhr dort sein.“

„Macht nichts. – Es soll dort tiefe, in die Felswände eingehauene Gänge geben, Robinson. Vor einem Jahr hat ein Engländer in einem solchen halb verschütteten Gang eine prächtige Mumie gefunden –“

Sie schritten rasch aus und plauderten von allerlei. Harst wunderte sich heute abermals, wie vielseitig gebildet die kleine französische Zofe war. Freilich – sie hatte ihm ja erzählt, daß sie aus guter, wenn auch verarmter Familie stamme.

Die alten Steinbrüche, in denen vor Tausenden von Jahren die Ägypter den Marmor für ihre wundervollen Riesenbauten gewannen, werden von Touristen sehr selten besucht. Sie ziehen sich in drei Tälern etwa eine viertel Meile nach Osten zu hin und sind nicht wieder in Betrieb genommen worden.

Die Französin und Harst durchstreiften jetzt das dritte, entlegenste Tal, wunderten sich, daß hier noch so zahlreiche Marmorblöcke unverwertet umherlagen und drangen dann auf Minettes Bitte in einen horizontalen breiten Gang ein, dessen Wände zumeist aus hellgrauem Marmor bestanden. Harst hatte eine Taschenlampe mit und besichtigte gerade mit Minette die hier überall eingemeißelten Bilder und Hieroglyphen, als die kleine Französin plötzlich fragte: „Waren Sie eigentlich schon mal in Palermo, Robinson?“

Harst wandte ihr langsam den Kopf zu. Während dieser gemächlichen Bewegung hatte jedoch sein Hirn mit jener Blitzesschnelle gearbeitet, wie sie nur ein besonders befähigter Geist bei der Denkarbeit zu erzielen vermag. In der Rechten hielt er die Taschenlampe, und die Linke glitt nun unauffällig nach dem Sportgürtel hin, während er gleichgültig erwiderte:

„Gewiß kenne ich Palermo. Sie doch auch, Minette, nicht wahr?“ Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, ließ jetzt wie durch einen Zufall die Lampe ausgehen, bückte sich ganz tief und lief auf Fußspitzen tiefer ins Innere des Berges hinein, glaubte sich schon vorläufig geborgen, als er zu seinem Unglück über einen kleinen Marmorblock stolperte und lang hinschlug. Ehe er sich noch aufrichten konnte, traf ihn schon ein blendend weißer Lichtkegel, knieten schon zwei Leute auf seinem Rücken, die ihm die Arme gewaltsam an den Handgelenken zusammenpreßten und ebenso schnell mit einem Strick fesselten. Dann hörte er Minettes helles Lachen. „Ah – wir haben ihn,“ rief sie schadenfroh. „Cecil, diesmal soll er Dir nicht entkommen.“

Und Cecil Warbatty sagte mit unheimlicher Ruhe:

„Nein – diesmal nicht!“

Harst wurde der Kopf mit einem Tuche verhüllt. Dann Warbattys Stimme: „Wenn Du nicht gehorchst, steche ich Dir durch das Tuch hindurch die Augen aus, Freund Harst.“

Sie führten ihn hinweg. Er gab genau acht, wohin. Es ging tiefer in den Gang hinein, dann nach links, wieder nach rechts, dann geradeaus, im ganzen dreihunderteinundsechzig Schritt. – Nun nahm man ihm das Tuch ab. Und Harst sah, daß er sich mit Warbatty, einem der angeblichen Spanier und Minette auf einer natürlichen, kleinen Felsterrasse befand, unter der ein Steilhang senkrecht gut fünfzig Meter in eine Schlucht abfiel.

„Setz’ Dich,“ befahl Warbatty. „Ich möchte Dir zunächst einige Deiner Dummheiten vorhalten. – Minette gehört zu uns, das heißt zu meinen hiesigen Verbündeten. Sie war es, die Euch in Alexandria beobachtete, als Ihr den Lloyddampfer verließt. Und ich wieder war jener Chinese, mit dem Ihr Euch auf dem Dampfer dreimal unterhalten habt, weil er –“

Harst lachte auf. „Aber Warbatty, wer wird denn derart renommieren!“ unterbrach er ihn. „Du willst der kleine chinesische Arzt gewesen sein! Der nette Doktor Fung-Tschien!“ – Harst hatte Warbatty schon einmal dadurch hineingelegt, daß er ihn des Maulheldentums bezichtigte. Warbatty hatte ja eine große Schwäche: seine Verbrechereitelkeit! Er, der nie die überlegene Ruhe des großzügigen Verbrechergenies verlor, wurde geradezu zum törichten Schwätzer, sobald man seine Intelligenz anzweifelte.

Auch jetzt fuhr er denn schon sofort los: „He – ich soll nicht der kleine Doktor gewesen sein?! Trug dieser nicht dauernd weiße Lederhandschuhe, weil er sich angeblich beim Experimentieren mit Radium die Hände verbrannt hatte?! Hat er Dir nicht über die Gefährlichkeit von Radiumbrandwunden einen langen Vortrag gehalten?! – He – sollten die Handschuhe nicht vielleicht das Fehlen meines linken Zeigefingers verdecken, indem der betreffende Handschuhfinger ausgestopft war?! – Ja, mein schlauer Herr Harald Harst, – ich habe Dich eben wieder mal gründlich hinters Licht geführt! Keine Ahnung hattest Du, daß die freundliche Minette meine Verbündete war, keine Ahnung, daß ich Deinem Gehilfen Schraut gestern nacht den Zettel – das Extrablatt mit den eingerahmten Worten – nur zusteckte, um Dich noch mehr in Sicherheit zu wiegen, um die Überzeugung in Dir noch zu festigen, ich hätte Dich hier noch nicht entdeckt! Denn gerade hier wollte ich Dich überfallen, Dich auslöschen! Sieh dort den Abgrund! Zehn Minuten später wirst Du da unten als unförmige Masse liegen. Und niemand wird wissen, daß hier kein Unglücksfall geschehen, sondern daß Warbatty sich gerächt hat! Das wird Dein Sterben sein! – Doch – weiter in der Reihe Deiner unsagbar albernen Dummheiten! Du hast Dich natürlich angeboten, den gestrigen Museumsdiebstahl aufklären zu helfen. Weißt Du, wer diesen sowohl als auch den früheren verübte? – Ich war’s, Harald Harst! Ich spielte damals den Vergifteten, schaffte die Leiche meines Genossen, der sich etwas vorschnell das Leben genommen hatte, beiseite! Ich flüchtete gestern aus dem Museum. Dem anderen gelang’s leider nicht mehr! Und ich habe sowohl das Brillantenarmband als auch den Halsschmuck so gut verborgen, daß ich mir beides mit Leichtigkeit holen kann!“

Harst zuckte die Achseln. „Cecil Warbatty – all das mußt Du einem anderen aufbinden! Ich habe das Fenstergitter und den Kiesweg unter dem Fenster untersucht. Nur dort könntest Du – Doch – was rede ich noch! Es ist sehr bequem für Dich, hier den geistvollen Einbrecher zu spielen! Hör’ auf mit dem Geschwätz! Einem Manne wie mir gegenüber sollte man derartige plumpe Lügen unterlassen.“

Warbatty, der auch jetzt die Verkleidung als Ali Abraw trug, schnellte wütend hoch. „Ich – ich ein Lügner? Ich werde Dir beweisen, daß ich die beiden Schmuckstücke jeder Zeit holen kann – jeder Zeit! So lange sollst Du noch leben, bis Du sie gesehen hast!“ – Er band Harst jetzt auch noch die Beine, verstärkte die Armfesseln, reichte Minette einen Revolver und sagte: „Wir kehren nach der Stadt zurück. Um Mitternacht etwa sind wir wieder hier. Falls er irgendwie aufsässig wird, wirfst Du ihn in den Abgrund, Minette!“

„Keine Sorge! Ich bin nicht furchtsam! Er wird hübsch verständig bleiben!“ meinte Minette mit ironischem Auflachen.

„Auf Wiedersehen also, Harald Harst,“ rief Warbatty seinem Gegner noch zu. „Ich hätte ohnedies heute abend die Schmuckstücke geholt, denn sie sind durch ein Geschäft, das die Museumsdirektion heute vormittag abgeschlossen hat, in Gefahr geraten. Langweile Dich nicht. Aber Du hast ja angenehme Gesellschaft!“

Harst war mit der kleinen Französin allein. Er suchte mit ihr ein Gespräch zu beginnen. Erst wollte sie nicht darauf eingehen. Dann wurde sie jedoch aufmerksam, fragte dies und jenes. Harst hatte ja ein Thema gewählt, das Minette recht nahe anging. Immer eifriger wurde die Unterhaltung. Die schlaue Französin, die jetzt zugab, von Beruf internationale Taschendiebin zu sein, war nun doch argwöhnisch geworden, blickte nachdenklich vor sich hin. –

Inspektor Mezzan und ich hatten daran auch nicht im entferntesten gedacht, daß Harst und die Französin nach den Steinbrüchen, also nach Südosten, sich wenden würden. Wenn Touristen im Dschebel Mokattam herumklettern, tun sie’s nur in den Nordschluchten, sehen sich die berühmte Mosesquelle und den versteinerten Wald an und sind in vier Stunden wieder in Kairo. – Mezzan hatte zehn seiner Beamten mitgenommen. Wir durchforschten die Berge bis gegen sieben Uhr abends unermüdlich, fragten jeden Touristen, jeden Einheimischen nach dem Paare. Natürlich: überall ein „Nein – nichts bemerkt.“ – Ich wurde immer besorgter. Ich fieberte vor Angst um Harst förmlich, trieb die Polizisten zu stets neuem Eifer durch das Versprechen einer hohen Belohnung an. – Es wurde dunkel. Mezzan erklärte nun, weiteres Suchen sei zwecklos. Er wollte jetzt aber sofort sowohl den Fuchsbau Warbattys als auch die Nebenhäuser, in denen die drei noch überlebenden Spanier wohnten, umstellen lassen und ausheben. – Ganz verzweifelt kehrte ich heim. Mezzan hatte mir zugesagt, mir sofort Bescheid zu geben, was bei der Razzia herausgekommen wäre. – Als ich die Treppe des Fremdenheims hinaufschritt, meldete mir eins der Stubenmädchen, unten im Lesezimmer warte ein Herr auf mich, ein Deutscher namens Müller. Sofort zuckte eine Hoffnung in mir auf: Harst! – Doch ich verwarf diesen Gedanken ebenso schnell. – Ich kehrte um und riß die Tür nach dem Lesezimmer auf. Aus einem Klubsessel erhob sich ein älterer Herr mit grauem Spitzbart, der einen grauen Flanellanzug trug und sehr vornehm aussah. Er verbeugte sich und reichte mir ein Extrablatt, das um 1 Uhr mittags heute erschienen war. Ich überflog es, böser Ahnungen voll. Ich erwartete irgend etwas zu finden, was meine Angst um Harst noch steigern könnte. Der Fremde hatte wieder Platz genommen. Aufgefallen war mir an ihm noch seine dicke Knollennase und sein nervöses Liderzucken. – Ich las:

„Zu dem gestrigen Diebstahl ist noch folgendes zu bemerken. Die Polizei sucht jetzt einen der Museumsdiener, der seit gestern verschwunden ist. (Es folgten eine sehr eingehende Personalbeschreibung und weitere Angaben, die diesen Diener als beider Diebstähle schwer verdächtig hinstellten. Dann zum Schluß:) Es dürfte das Publikum interessieren, daß heute vormittag ein deutscher Kunstmaler namens Müller die Mumie des Königs Ramasena gekauft hat. Bekanntlich handelt es sich um eine nur unvollständige Mumie. Diese wird morgen früh bereits verpackt und nach Deutschland geschickt werden. Wer sie sich also noch ansehen will, tut gut, noch heute nachmittag das Museum in Gizeh zu besuchen.“

Ich schaute von dem Blatt auf, schaute in Müllers Gesicht, prallte zurück. Die Nase war ganz normal, das Lidzwinkern war verschwunden. Und an dem vergnügten Schmunzeln erkannte ich – meinen Harald Harst.

Er legte schnell den Finger auf die Lippen. Ich drückte ihm daher nur stumm die Hand. Und erst auf meinem Zimmer machte sich eine überströmende Freude Luft. – Dann mußte ich von meinem Besuch bei Herrn August Lange im Bristol berichten, mußte schildern, weshalb und wie wir nach Harst die Mokattam-Berge durchforscht hatten. – Er lächelte und nickte mir zu: „Treue Seele!“ – Dann begann er von Minette zu erzählen.

„Ja – ich habe ihr bewiesen, daß Warbatty seine Helfershelfer zumeist beseitigt,“ sagte er gutgelaunt. „Schließlich einigten wir uns. Sie löste meine Fesseln, ich gab ihr dreitausend Mark, und jetzt ist sie bereits nach Alexandria unterwegs. Wir schieden als Freunde. – Hm – also Mezzan sucht Warbatty und dessen Spießgesellen dort im Eingeborenenviertel zu umzingeln. Er kommt zu spät, lieber Schraut. Die „Spanier“ sind bis auf einen mit dem Dampfer um sechs Uhr nach Siut verduftet, und dein Ali Abraw und der Turnkünstler, das heißt der, der am elegantesten sich am Seil entlangschwang, saßen vorhin noch in einer Spelunke in Gizeh und tranken Absinth, werden dort auch bis gegen halb elf bleiben und dann die Schmuckstücke holen.“

„Und dieses Extrablatt?“ fragte ich schnell, da es soeben geklopft hatte. – „Ist auf meine Veranlassung erschienen und von A bis Z Erfindung.“ – Ich rief: „Herein!“ Es war Jussuf Mezzan.

Harst streckte ihm die Hand hin. „Ich danke Ihnen, daß Sie so eifrig nach mir gesucht haben. Während Sie dies taten, hat Warbatty mir in drei Punkten bewiesen, daß ich diesmal etwas blind gewesen. Erstes: ich erkannte ihn in dem chinesischen Doktor nicht; zweitens: ich vertraute der Französin; drittens: ich durchschaute Warbattys List mit dem präparierten Extrablatt nicht. – Nun – in spätestens zwei Stunden werde ich diese Scharten ausgewetzt haben.“

Wir begaben uns sofort unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln nach dem Museum in Gizeh und verbargen uns im Erdgeschoß in einem Bureauzimmer, das gerade unter dem Saal mit den losgewuchteten Gitterstäben lag. Die Wächter des Museums waren von Mezzan angewiesen worden, wie üblich ihre Rundgänge zu machen. Dann verließ uns Harst nochmals und stieg in die oberen Räume hinauf. Was er dort vorhatte, verschwieg er genau so wie jede Aufklärung über das, was sich nun bald ereignen sollte.

Die Nacht war mondhell. Die Fenster des Bureauzimmers hatten Innengitter, die sich in Angeln aufdrehen ließen. Als Harst von oben zurückkehrte, tat er dies, hob auch die Riegel der Fenster, damit wir sofort in den Park hinabspringen könnten.

Um ½11 hörten wir über uns die Wächterpatrouille die Runde machen. Kaum waren die Schritte verhallt, als Harst uns zuraunte: „Aufgepaßt!“ – Wir standen im Dunkeln etwa einen Schritt vom mittleren Fenster ab. Wir sahen noch einen schmalen Streifen des Parkweges, dann die tropischen Büsche und zwischen zwei uralten Palmen den eisernen Mast der elektrischen Starkstromleitung, die in Gestalt von zwei dicken Drähten gerade über uns nach der Hauswand zu den Porzellanisolatoren hinlief.

Jetzt bemerkte ich eine kleine Gestalt, die blitzschnell an dem Mast hochkletterte. Ihr folgte ein zweiter, größerer Mann. Der erste packte nun das stärkere der beiden Lichtkabel und turnte daran, mit den Händen vor sich greifend, entlang auf das Museum zu. Der andere machte es in derselben Weise, kam aber nur bis etwa zur Mitte, hing nun gerade über dem Kiesweg. Wir hörten einen leisen Zuruf, auf den hin der Mann mit der Linken auch nach dem andern Draht griff. Plötzlich schnellte sein Körper ruckartig hoch, krampfte sich zusammen, und dann fiel der Mensch ohne jedes weitere Lebenszeichen herab, schlug unten dumpf auf.

„Ah – dieser – dieser Schurke!“ murmelte Harst, fügte hinzu: „Jetzt die Revolver bereit halten!“

Zwei Minuten nichts. Nur einmal über uns im Saale ein leises Geräusch. Nun jedoch abermals die kleine Gestalt, die mit geradezu affenartiger Geschmeidigkeit an dem einen Kabel dem Eisenmast zustrebte.

Harst riß das Fenster auf, brüllte: „Nicht mehr gerührt, Warbatty! Du bist umzingelt!“ – Mezzan und ich waren schon zum Fenster hinaus. Regungslos lag der andere Mann auf dem Kiesweg. Wir zielten auf den an dem Draht hängenden kleinen, einäugigen Araber. Und wieder Harsts Stimme: „Ich habe die Alarmklingel berührt. Die Wächter kommen schon.“

Gleich darauf mußte Warbatty sich herabfallen lassen – gerade in die Arme von drei sehnigen Wächtern, die ihn im Nu gebunden hatten.

Der Mond schien Warbatty in das braun gefärbte Gesicht. Furchtlos schaute er Harst an, sagte – wahrhaftig mit einem höflichen Lächeln und dem Anflug einer Verbeugung: „Meine Hochachtung, Herr Harst! Das hier haben Sie gut gemacht!“

Harst deutete auf den Toten, den der Starkstrom erschlagen hatte. „Es war auch die höchste Zeit, daß ein solches Ungeheuer für immer kaltgestellt wurde. – Wer von uns der klügere ist, werden Sie nun wohl erkannt haben, Warbatty. Als ich mir die Mumie Ramasenas oben im Saale heute in früher Stunde genauer ansah, entdeckte ich auf dem Gestell etwas weißes Knochenmehl, das Sie nicht sorgfältig genug weggewischt hatten, als Sie schon vor dem ersten Diebstahl für den Fall der Not ein Versteck für das Kostbarste der Beute dadurch vorbereiteten, daß Sie der verstümmelten Königsmumie das Schädeldach absägten. In dem leeren Schädel war gerade Platz genug für das Armband und dann auch für den Halsschmuck. Die bis in die Stirn reichende Binde hielt die Schädeldecke fest. Und niemand kam darauf, gerade da nach den beiden Schmuckstücken zu suchen. – Das Extrablatt heute mit der Nachricht über den Verkauf und die bevorstehende Absendung der Mumie sollte Sie zwingen, in dieser Nacht noch Ihr Versteck auszuleeren. Ihren Genossen aber haben Sie heimtückisch den zweiten Draht, angeblich weil der eine sich zu stark durchbog, berühren lassen, um durch diese Leiche dem neuen Diebstahl einen noch rätselhafteren Anstrich zu geben, genau so wie Sie hier die beiden anderen Leute nur erschossen haben, weil diese eben Zeugen gewesen, wo die Beutestücke verborgen wurden.“ – Er faßte in die Tasche und reichte Mezzan das Armband und die Halskette. „Da – ich hielt es doch für sicherer, dies hier vorhin an mich zu nehmen. – So, wir sind fertig miteinander, Warbatty. – Guten Abend, Herr Inspektor. Meine Aussagen gebe ich morgen zu Protokoll.“

Wir kehrten nach Kairo zurück. Und am folgenden Abend standen wir dann oben auf der Stufenpyramide von Sakkara, sahen im Westen über dem Wüstenrand das Sonnenrot verglühen und sprachen über Warbatty.

„Schade um ihn,“ meinte Harst. „Was hätte der Mann leisten können, wenn er –“

Da – eine Stimme hinter uns. „Herr Harst – Herr Harst!“ Es war Inspektor Mezzan, der schwer keuchend zu uns emporkletterte. „Herr Harst – ich bin wie ein Verrückter geritten. Er ist ausgebrochen – Warbatty ist entflohen!“

„So?!“ meinte Harst gelassen. „Eigentlich habe ich mir das gedacht!“

 

Inhalts-Verzeichnis

Die verschwundene Million

Die Schmuggler von Palermo

Der Kopf der Mumie Ramasenas

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „ihn“.
  2. In der Vorlage steht: „großkarrierten“.
  3. In der Vorlage steht: „Liebe“.
  4. In der Vorlage steht: „geht“.
  5. In der Vorlage steht: „unser“.
  6. In der Vorlage steht: „Alexandra“.
  7. In der Vorlage steht: „verhindert“.
  8. In der Vorlage steht: „hochparterre“.
  9. In der Vorlage steht: „Mezza“.